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Der Stoff aus dem die Träume sind
Marielle beschließt, ihr größtes Hobby endlich zum Beruf zu machen: Sie will Schneiderin werden! Doch auf ihre Bewerbungen erhält sie nur eine einzige Zusage: Aus einem kleinen Château in einem noch kleineren Dorf im Pays de la Loire. Neugierig macht sich Marielle auf den Weg nach Courléon und stellt fest, dass ihre neue Chefin jede Hilfe gebrauchen kann: Im Schloss soll eine eigene Modenschau stattfinden. Was für eine Chance für Marielle, wären da nicht die Dorfbewohner, die das Vorhaben und Neuankömmlinge mit Skepsis beäugen. Zum Glück gibt es noch den charmanten Koch Robin, der Marielle mit seinen Köstlichkeiten im Château den Kopf verdreht - aber auch seine ganz eigenen Pläne verfolgt ...
Zwischen Nadel und Faden, Träumen und Herausforderungen wartet im malerischen Courléon ein Abenteuer, das Marielle nie vergessen wird. Ein herzerwärmender Roman über Mut, Neuanfänge und die Liebe. Der vierte, in sich abgeschlossene Roman der romantischen Reihe um das kleine Château in Frankreich mit einer neuen, liebenswerten Protagonistin.
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
Epilog
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Marielle beschließt, ihr größtes Hobby endlich zum Beruf zu machen: Sie will Schneiderin werden! Doch auf ihre Bewerbungen erhält sie nur eine einzige Zusage: Aus einem kleinen Château in einem noch kleineren Dorf im Pays de la Loire. Neugierig macht sich Marielle auf den Weg nach Courléon und stellt fest, dass ihre neue Chefin jede Hilfe gebrauchen kann: Im Schloss soll eine eigene Modenschau stattfinden. Was für eine Chance für Marielle, wären da nicht die Dorfbewohner, die das Vorhaben und Neuankömmlinge mit Skepsis beäugen. Zum Glück gibt es noch den charmanten Koch Robin, der Marielle mit seinen Köstlichkeiten im Château den Kopf verdreht – aber auch seine ganz eigenen Pläne verfolgt …
Marielle Maribeau war davon überzeugt, dass man jeden Tag der Woche einer bestimmten Farbe zuordnen konnte. Der Montag zum Beispiel war ein weißes Blatt. Er stand schließlich noch ganz am Anfang der Woche. Der Mittwoch hingegen verlangte eher nach einer kräftigen, gedeckten Farbe, einem Tannengrün oder einem matten Lippenstiftrot, während man sich weiter Richtung Wochenende vorarbeitete. Zum Wochenende hin griff Marielle dann nach den auffälligen Farben in ihrem Schrank. Am liebsten nach ihrem langen gelben Rock, der es schon so manches Mal geschafft hatte, die Sonne hinter den grauen Wolken über Avignon hervorzulocken.
»Mademoiselle?«
Marielle schreckte auf. Schon wieder. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, sich heute nicht beim Träumen erwischen zu lassen. Allzu große Vorwürfe wollte sie sich aber nicht machen. An diesem Morgen war nur eine einzige Kundin in den Laden gekommen.
Sie lächelte die Dame höflich an, die sie angesprochen hatte. Sie trug einen langen dunkelblauen Mantel, der nur wenige Zentimeter über dem Boden endete. Er war voller weißer Katzenhaare, und Marielle musste sich beherrschen, nicht nach dem Fusselroller unter der Theke zu greifen. Ihre Chefin hatte sie bereits darauf hingewiesen, dass es die meisten Menschen nicht schätzten, wenn man sie ungefragt mit einem quietschenden Roller bearbeitete. Marielle fiel diese Beherrschung allerdings schwer. Wenn sie etwas sah, das ihrer Meinung nach Verbesserungspotenzial hatte, überkam sie ein drängendes Gefühl: ein Kribbeln in den Fingerspitzen, das erst dann vergehen wollte, wenn dieser eine Knopf wieder richtig angenäht war oder die Schleife einer Bluse genau dort saß, wo sie hingehörte. Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
Die Kundin deutete auf einen der Kleiderständer, die man mit Müh und Not in den kleinen Raum gequetscht hatte.
»Ich habe da dieses Kleid entdeckt und finde es einfach wunderschön!«
»Magnifique, Madame! Welches denn genau?«
Marielle begleitete die Kundin zu dem Metallständer, wo sie einen Kleiderbügel herauspflückte. Sie hielt ein hübsches Kleid mit roten Punkten in das Licht der Deckenlampe. Marielle konnte sich sogar noch erinnern, wer es damals in den Laden gebracht hatte – und dass die ehemalige Besitzerin bestimmt zwei Köpfe größer und ein paar Zentimeter breiter als ihre jetzige Kundin gewesen war.
»Perfekt für den Sommer!«, verkündete diese gerade. Mit leuchtenden Augen befühlte sie den Stoff des Kleids. »Aber haben Sie es vielleicht ein oder zwei Nummern kleiner?«
Marielle lächelte entschuldigend. »Das wünschte ich wirklich, aber das hier ist eine Second-Hand-Boutique. Jedes Teil, das wir verkaufen, ist ein Einzelstück. Ich kann Ihnen aber gerne dabei helfen, etwas Ähnliches zu finden. Ich glaube, ich kann mich sogar an ein ganz ähnliches Kleid hier irgendwo erinnern …«
Marielle wollte bereits vorangehen, doch die Kundin blieb stehen, wo sie war. Sie hielt das Kleid ein Stück höher, sodass es die untere Hälfte ihres Gesichts verdeckte.
»Können Sie es denn nicht ändern?«
Marielle schüttelte den Kopf. »Leider führen wir in unserem Laden keine Anpassungen durch.« Sie näherte sich einem Kleiderständer am anderen Ende des Raums. »Aber ich bin mir sicher, wir haben ein ähnliches Modell hier …«
Sie begann mit flinken Fingern einen Kleiderbügel nach dem anderen zur Seite zu schieben. Sie war so in ihre Mission vertieft, dass sie erst aufblickte als sie das helle Klingeln der Ladenglocke hörte.
»Aber Madame …«
Die Frau hatte das Kleid auf die Ladentheke gelegt und war gegangen. Anscheinend hatte es für sie wirklich genau dieses Teil oder gar keines sein sollen. Marielle sah ihr etwas enttäuscht durchs Schaufenster nach. Über ihrem rechten Unterarm hingen noch die alternativen Kleidungsstücke, die sie herausgesucht hatte. Nun, sie konnte die Reaktion der Dame nachvollziehen. Wer kannte nicht dieses Gefühl, sich in ein ganz bestimmtes Kleidungsstück zu verlieben? Wenn man sich endlich mit seinem gut aussehenden Nachbarn verabredete, wollte man doch auch, dass er selbst erschien und nicht sein recht ähnlich aussehender Cousin. Wobei sich Marielle nicht erinnern konnte, wann sie sich zuletzt für ein Date zurecht gemacht hatte. An Ideen für die perfekte Garderobe mangelte es nicht. Das Problem war eher, dass sie die meiste Zeit in der Boutique verbrachte – auch wenn sie diesen Umstand nie als problematisch empfunden hatte. Marielle hängte sorgsam die Kleidungsstücke wieder zurück an die Stangen und summte dabei eine leise Melodie vor sich hin. Sie freute sich darauf, in das Hinterzimmer des Ladens zu verschwinden, um dort die Neuzugänge zu begutachten. Wer wusste, vielleicht würde die Dame ja zurückkommen und dann hätte sie ein Kleidungsstück in petto, das ihr gefiel und ihr diesmal perfekt passen würde! Marielle malte sich das glückliche Lächeln der neuen Kundin aus, die sich vor dem Spiegel hin und her drehte.
Beflügelt von diesem Gedanken, räumte sie die restliche Kleidung auf. Sie warf einen letzten Blick über die Schulter und ging dann – nur kurz! – in den hinteren Teil des Ladens. Wie ein Kind am Weihnachtsmorgen stand Marielle vor den zahlreichen Kartons, die dort aufeinandergestapelt waren. Dass, anders als an einem Festtag, diese nicht mit buntem Geschenkpapier umwickelt waren, sondern einige Schrammen aufwiesen und etwas muffig rochen, störte sie nicht. Für sie waren es Schatzkisten. Beherzt griff sie nach dem obersten Karton und öffnete ihn. Ihre Augen leuchteten auf, als sie erkannte, dass sich darin ein paar Handtaschen aus den 1950er Jahren befanden …
»Marielle?«
Sie zuckte zusammen und ließ die oberste Tasche wieder zurück in die Pappkiste fallen. Ihre Chefin hatte die Fähigkeit, hinter einem aufzutauchen wie ein Geist. Marielle hatte sogar schon einmal beobachtet, wie Kunden verschreckt zusammengezuckt waren, als sie urplötzlich neben ihnen erschienen war. Nur war klar, dass sie nicht gekommen war, um Marielle zu fragen, ob sie Unterstützung bei der Kleiderwahl brauchte. Sie kannte ihre Vorgesetzte schon eine Weile und wusste deren Gesichtsausdruck genau zu lesen. Sie war die meiste Zeit die Ruhe selbst. Obwohl Marielle an ihrem allerersten Arbeitstag einen Brandfleck in ein Hemd gebügelt hatte, hatte sie ihr keine Standpauke gehalten. Sie hatte lediglich den Kopf geschüttelt und mit großem Bedauern das ruinierte Kleidungsstück entsorgt. Und das war es. Hier wurde niemand mit einer Wutrede bestraft, sondern vielmehr damit, dass Madame Bonnefoy enttäuscht war. In diesem Augenblick sah sie jedoch nicht enttäuscht aus, sondern vor allem unruhig und besorgt.
»Ich muss mit dir sprechen«, sagte Bonnefoy.
»Natürlich«, erwiderte Marielle. Sie folgte ihrer Vorgesetzten aus dem Lagerraum und ging in das kleine Büro nebenan. Dort erledigte Madame Bonnefoy den Papierkram, der als Boutique-Besitzerin so anfiel. Hier roch es nach Kaffee und Druckertinte und es fielen keine weichen Sonnenstrahlen durch ein Schaufenster, sondern das grellweiße Licht einer elektrischen Lampe beleuchtete den Raum. Marielle nannte es das unfreundliche Weiß. Ein Weiß, das so hell und stark war, dass es einen fast etwas einschüchterte. Ganz anders als das vielversprechend freundliche Montagsweiß, das sie so gern mochte. Madame Bonnefoy setzte sich an ihren Schreibtisch und Marielle nahm gegenüber Platz. Sie sah kurz über die Schulter.
»Aber jetzt ist niemand im Verkaufsraum …«
Bonnefoy winkte ab. »Ich habe vorhin das Schild umgedreht – und selbst wenn nicht, es hätte keinen großen Unterschied gemacht.« Sie seufzte und ließ einen Moment lang ihren Blick über die Berge von Unterlagen wandern. »Ich wünschte wirklich, wir müssten dieses Gespräch nicht führen. Ich hatte noch nie ein Händchen für solche Unterhaltungen. Dabei sollte man das als Ladenbesitzerin können, n’est-ce pas? Unangenehme Wahrheiten aussprechen.«
Marielle runzelte die Stirn sagte aber nichts. Sie wollte lieber warten, wie Madame Bonnefoy fortfuhr, um selbst zu beurteilen, wie unangenehm ihre Mitteilung ausfallen würde. Sie wusste, dass sie auf andere zart wirkte mit ihrer kleinen Körpergröße und den schmalen Handgelenken. Aber das hieß nicht, dass sie keine Herausforderungen bewältigen konnte.
Madame Bonnefoy wirkte ein wenig enttäuscht, dass Marielle den Gesprächsfaden nicht aufnahm. Sie neigte leicht den Kopf, dann sagte sie: »Du warst immer zufrieden hier, nicht wahr?«
»Sehr sogar«, erwiderte Marielle. Die Vergangenheitsform dieser Frage behagte ihr gar nicht. Hatte sie in letzter Zeit etwas falsch gemacht? Einen Kunden verärgert? Ein teures Designerstück zu günstig hergegeben? Ihr fielen sofort ein Dutzend Vergehen ein, derer sie sich vielleicht schuldig gemacht hatte.
»Ich habe immer gesehen, dass du eine Leidenschaft für Mode besitzt«, fuhr Bonnefoy fort. »Zugegeben, im Umgang mit Kunden musstest du anfangs einiges dazulernen – und auch heute noch hast du die Angewohnheit, zu den Leuten aufzuschauen wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Aber ich habe noch nie zuvor jemanden getroffen, der so schnell einen Stoff erkennen konnte oder den Stil eines Designers … darum habe ich dich auch immer behalten, obwohl es oft eng wurde.«
Marielle hob erstaunt die Brauen. Sie hatte immer angenommen, sie hätten nur nicht zu jeder Zeit eine Aushilfe gebraucht. Wenn sie genauer darüber nachdachte, waren bereits einige Personen in der Boutique erschienen und wieder gegangen. Nur war Marielle zu dem Schluss gekommen, dass diese Leute eben lieber etwas anderes machen wollten, als Vintage-Kleidung zu verkaufen.
»Und dadurch, dass mir die Räumlichkeiten gehören, konnte ich schon so manche schwierige Zeit überbrücken, aber jetzt …«
Marielle zuckte zusammen, als Bonnefoy mit der flachen Hand auf einen Haufen Papiere schlug. »Jetzt geht es einfach nicht mehr. Es tut mir leid, Marielle. Aber dieser Monat ist der letzte Monat, in dem meine Boutique geöffnet sein wird. So ist es nun mal, ich habe es wirklich versucht, aber du hast es ja wahrscheinlich schon selbst gemerkt: Die Leute sind viel zu lange ausgeblieben und ich komme oft nicht mehr an die Stücke, mit denen man wirklich …«
Madame Bonnefoy verlor sich in einer ausschweifenden Rede, in der sie mehr mit sich selbst als mit ihrer Angestellten zu sprechen schien. Zur Zimmerdecke gewandt zählte sie all die äußeren Umstände auf, die dazu geführt hatten, dass ihre Boutique schließen musste. Eher ein Tagebuch der eigenen Enttäuschung als ein Trost für Marielle.
Sie hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und betrachtete das bunte Muster ihrer Nägel, das sie gestern erst lackiert hatte. Es hatte fast zwei Stunden gedauert, bis sie zufrieden gewesen war. Aber das mochte sie ja so gern daran. Zwei Stunden konzentrierte Ablenkung und danach konnte man einfach ins Bett gehen – wie hatte sich nur heute Morgen schon dieser Riss am Ringfinger gebildet?
»Marielle?«
Sie schreckte auf. Schon wieder. Aber diesmal war Träumen doch wohl erlaubt gewesen?
»Ja, Madame?«
»Ich habe gerade gemeint, ob du zurechtkommen wirst? Bestimmt, oder? Eine junge Frau, die so viel über Mode weiß wie du, du wärst in einer Stadt wie Paris viel besser aufgehoben als in Avignon.«
»Sie meinen wirklich, ich sollte nach Paris gehen?«, wiederholte Marielle unsicher.
Madame Bonnefoy lächelte lakonisch. »Ich bin noch nie jemandem begegnet, der Mode liebt und nicht dorthin wollte.«
Marielle sagte nichts darauf. Sie wollte gerade eigentlich nichts anderes als ihre Stelle und ihr kleines geordnetes Leben in Avignon zu behalten. Aber dann fiel ihr noch etwas anderes ein. »Meine Großmutter meinte immer, wer Paris nicht ein Mal im Leben besucht hat, stirbt als armer Mensch.«
»Na also«, sagte Bonnefoy nachdrücklich. »Und jetzt, Kopf hoch, meine Liebe. Ich habe mich selbst schon genug über diese Niederlage gegrämt. Aber ich bin schon so alt, für mich platzt damit kein Lebenstraum mehr. Und du hast noch sehr viele Jahre vor dir, in denen du etwas aus dir machen kannst. Es war beinahe schon egoistisch von mir, dich so lange hierzubehalten.«
Marielle war sich nicht sicher, ob Madame Bonnefoy das sagte, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen oder es tatsächlich ernst damit meinte. Sie erhob sich vorsichtig von ihrem Stuhl.
»Wie recht Sie haben, Madame. Also, wenn die Boutique nur noch diesen Monat geöffnet ist, dann … sollte sie das auch wirklich sein, oder?«, sagte sie und verließ das Büro, um draußen das Schild wieder umzudrehen.
Marielles kleine Wohnung in der Rue de la Liberté hatte alles, was sie brauchte, um glücklich zu sein. Genügend Fenster für Tageslicht, Wände und Böden, die eine Geschichte erzählten und einen Raum, den sie als begehbaren Kleiderschrank nutzen konnte. Streng genommen war die gesamte Wohnung so etwas wie ein begehbarer Kleiderschrank. Sie war wohl die einzige Person auf der Welt, die es schaffte, den Satz ich brauche mehr Platz für meine Kleider nicht wie einen extravaganten Sonderwunsch klingen zu lassen, sondern wie die mitfühlende Sorge eines Tierheimbesitzers. Denn die zahlreichen Mäntel, Röcke, Blusen, Taschen, Hosen und Oberteile, in Kisten, Schränken und an Haken verstaut, waren für sie so etwas wie zugelaufene Freunde. Sie hatte die meisten Teile auf Flohmärkten gefunden oder aus Altkleiderspendern gesammelt – manche in einem Zustand, der den Müllcontainer gerechtfertigt hätte – und fühlte sich für sie verantwortlich.
Marielle hängte ihre runde Handtasche mit Marienkäfermuster an einen Kleiderhaken. Würde sie die Wohnung überhaupt halten können, wenn sie in einem Monat keine Arbeit mehr hatte? Zum ersten Mal an diesem Tag erlaubte sie sich, wirklich ernsthaft das Gespräch mit Bonnefoy wirken zu lassen. Und es legte sich sogleich wie ein bleischwerer Mantel um ihre Schultern. Müde schlich sie in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Eine Tasse Tee würde zwar nicht das Problem lösen, dass sie bald arbeitslos war, aber wenigstens die Kälte in ihren Fingerspitzen vertreiben. Im April wurde es abends noch kühl draußen.
Marielle lehnte an der Küchentheke und lauschte den brodelnden Geräuschen des Wasserkochers. Begannen Geschichten über kleine Läden nicht normalerweise damit, dass man kurz vor der Schließung stand, anstatt auf diese Weise zu enden? Ein kleiner Teil von ihr war allerdings froh darüber, dass Madame Bonnefoy sie nicht vor die Aufgabe gestellt hatte, die Boutique zu retten. Sie war zwar erfinderisch, aber – wie hatte ihre Chefin es noch gleich formuliert? Sie schaute zu Leuten auf wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
Der Wasserkocher gab ein leises Klicken von sich, als der Hebel nach oben sprang. Marielle goss sich eine Tasse Rosenblütentee auf. Nun, es war zwar traurig, dass die Boutique schloss – sie war in den letzten drei Jahren dort sehr glücklich gewesen – aber dann würde sie eben wieder in die Jobs zurückkehren, zwischen denen sie vorher hin und her gesprungen war: Post sortieren, Tabellen abschreiben oder böse E-Mails freundlich beantworten. Sie war gut darin, mit weniger als dem zufrieden zu sein, was sie sich eigentlich wünschte. Marielle hatte sich früh beigebracht, die kleinen goldenen Körnchen aus dem überwältigenden Grau des Alltags zu picken. Und vielleicht, wenn sie geduldig war, ergab sich eines Tages wieder eine Arbeit wie die in der Boutique.
Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem Tee, froh, zu einem Entschluss gekommen zu sein, wie es weitergehen sollte. Und Paris? Nein. Zu groß, zu laut, zu viele Unwägbarkeiten. Rehe gehörten nun mal nicht in die Großstadt. Marielle schlenderte mit ihrer Tasse zurück zum Esstisch, wo sie heute Morgen achtlos die Post ausgebreitet hatte, bevor sie zur Arbeit aufgebrochen war, gedanklich bereits in eine bestimmte Farb-Kombination für ein Outfit vertieft.
Ihr Blick fiel auf einen rechteckigen flachen Karton. Sie kannte den Absender und das motivierte sie nicht unbedingt dazu, ihn zu öffnen. Aber der Kontakt mit ihrer Mutter ließ sich nicht immer vermeiden, und wenn sie auf den Umschlag nicht reagierte, würde sie womöglich noch auf die Idee kommen, sie anzurufen. Marielle stellte den Tee ab und öffnete den Karton. Er war erstaunlich schwer. Überrascht legte sie den Deckel zur Seite, als sie erkannte, was sich darin befand. Sie griff nach einer alten Ausgabe der Vogue aus dem Jahr 1971. Auf dem Cover lächelte eine Frau mit beeindruckender Dauerwelle. Die Blätter der Zeitschrift waren bereits gelb verfärbt. Marielle konnte sich genau erinnern, wie sie als Kind darin geblättert hatte. Immer dann, wenn sie Zeit bei ihrer Großmutter verbracht hatte. Marielle legte die Vogue auf den Tisch und griff nach einem Blatt Papier, das lose im Karton lag.
Deine Oma wollte, dass du sie bekommst. Es sind natürlich längst nicht alle. Ich habe die restlichen bei mir in der Wohnung. Du kannst sie gerne abholen, sobald es dir möglich ist. Bisous, Maman.
Marielle legte die Notiz weg und begann die Ausgaben der Vogue eine nach der anderen aus dem Karton zu ziehen. Eine helldunkle Mischung aus Freude und Traurigkeit erfüllte sie dabei. Ihre schönsten Kindheitserinnerungen lagen sehr nahe an denen, die sie lieber vergessen wollte. Der Schmerz über den Tod ihrer Großmutter saß immer noch tief. Die Beerdigung war bereits drei Monate her – wieso hatte ihre Mutter so lange gebraucht, um ihr die Zeitschriften zu schicken? Marielle setzte sich und begann erneut, durch die Vogue zu blättern. Als sie die letzte Ausgabe herausgenommen hatte, entdeckte sie darunter einen sorgfältig verschnürten Stapel Papier. Das erste Blatt war von oben bis unten mit Zeichnungen bedeckt. Gestalten in Kleidern, Mänteln, flattrigen Oberteilen. Marielle hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Tatsächlich war sie davon ausgegangen, dass sie gar nicht mehr existierten. Verwirrt griff sie nach dem Stapel. Unter der Verschnürung war eine kleine Notiz befestigt. Aber es war nicht die breite, etwas fahrige Handschrift ihrer Mutter, sondern die hohen spitzen Buchstaben von Großmutter.
Nicht nur dein Name ist etwas ganz Besonderes, sondern auch dein Talent. Mach etwas daraus, mon coeur.
Marielle drehte den Zettel herum, wie in der Hoffnung, dort noch eine weitere Nachricht zu finden. Wann hatte Großmutter das geschrieben? Vermutlich kurz bevor sie gestorben war. Marielle schnürte es die Kehle zu. Der Zweizeiler hatte sie in ein absolutes Gefühlschaos gestürzt. Sie vermisste ihre Oma in diesem Augenblick so sehr, dass es sich beinahe wie ein körperlicher Schmerz anfühlte. Ein dunkles, dunkles Blau, das in einer hohen Welle über ihr zusammenschlug.
Mach etwas aus deinem Talent,das war so einfach gesagt. Und überhaupt – sie griff erneut nach den Zeichnungen – war das wirklich Talent? Sie hatte die Entwürfe nie einer anderen Person als ihrer Großmutter gezeigt und seit Jahren schon nicht mehr zum Bleistift gegriffen. Das waren doch Träume aus ihrer Kindheit und ihrer Jugend. Damals, als sie Stapel von Blättern und Notizbüchern mit ihren Entwürfen vollgekritzelt hatte. Sich im Spiegel betrachtet und versucht hatte sich vorzustellen, wie die Kleidung wohl an ihr aussehen würde. Natürlich war sie in diesen Träumen eine echte Designerin gewesen mit einem eigenen Atelier und einer Nähmaschine und Angestellten.
Und ihre Großmutter hatte sich über diese Träume niemals lustig gemacht. Schließlich war sie die Person gewesen, die ihr immer neue Hefte gegeben und neues Papier und Stifte besorgt hatte, wenn es drohte auszugehen. Aber das war alles schon so lange her. Es war zu spät, oder? Sie hatte sich nie darum bemüht, wirklich zu lernen, eine echte Schneiderin oder Modedesignerin zu werden. Sie hatte nur diese Zeichnungen und ein paar selbst beigebracht Handgriffe und Kniffe. Wofür sollte das schon reichen? Aber andererseits … Sie griff erneut nach dem Zettel. War sie ihrer Großmutter nicht einen Versuch schuldig? Für die schönen Stunden ihrer Kindheit, die ihr sonst niemand gegeben hatte. Sie legte die Notiz zurück zu ihren Zeichnungen. In diesem Monat würde sie eine Menge zu tun haben.
Zehn weiße Umschläge. Abgesendet an einem Montag im April. Marielle war der Meinung, damit hatte sie dem Wunsch ihrer Großmutter mehr als genüge getan. Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, ob sie sich nun eine positive Rückmeldung wünschte oder nicht. Absagen würden jedenfalls nicht eintreffen, weil sie sich keine Mühe gegeben hatte. Sie hatte in den letzten Wochen jede freie Minute mit Stift und Papier verbracht und zu ihrer Überraschung festgestellt, dass die Ideen nur so aus ihr herausflossen. Dass es ihr sogar noch mehr Freude bereitete als normalerweise, die Eindrücke ihrer Umgebung aufzusaugen, denn nun schlugen sie sich in ihren Entwürfen nieder. Die Farben der Häuser auf dem Weg zu ihrer Arbeit, die Form der Knospen an den Bäumen.
Marielle hatte keine Ahnung, ob das, was sie gezeichnet und koloriert hatte, gut war, aber sie war sich fast sicher, dass es wenigstens schön war. Und es war eine Ablenkung von den anstrengenden Stunden, die sie zurzeit in der Boutique verbrachte. Jetzt, wo klar war, dass der Laden Endes des Monats schloss, gab es eine Menge zu tun. Marielle lag es sehr am Herzen, dass alle Teile im Laden einen guten Platz fanden und nicht etwa in einem Müllcontainer landeten.
So ging es auch Madame Bonnefoy, die an den Kleiderständern entlanglief und zwischen nostalgischen Erinnerungen und Bitterkeit schwankte. Zwar wurde sie nicht müde zu betonen, dass sie sich mit dem Ende ihrer Boutique abgefunden hatte und wunderbare Pläne für den etwas frühzeitigen Ruhestand geschmiedet hatte, trotzdem blieb sie immer wieder stehen, um wehmütig über ein altes Chanel-Kostüm oder eine Tasche zu streichen. Und nachdem sich in der Stadt herumgesprochen hatte, dass die Boutique schließen würde, kamen noch einmal erstaunlich viele Leute, um ihr Bedauern auszudrücken und Erinnerungen zu Kleidungsstücken auszutauschen, die sie einmal in diesem Laden gefunden hatten.
»Wo waren sie alle nur in den letzten Monaten, als wir sie wirklich gebraucht hätten?«, schimpfte Bonnefoy jedes Mal, wenn hinter ihnen die Tür zu fiel.
Marielle hatte ein wenig mehr Verständnis. »Es ist nun mal so, dass man viele Dinge erst wieder zu schätzen weiß, wenn man sie nicht mehr hat. Für diese Leute war der Laden einfach ein liebgewonnener Teil ihrer täglichen Kulisse, und keiner hat sich je darüber Gedanken gemacht, er könnte eines Tages verschwinden.«
»Das wäre er so oder so irgendwann«, brummte Bonnefoy missgelaunt. »Trotzdem hätte ich mir bis dahin etwas mehr Unterstützung dabei gewünscht, ihn am Leben zu erhalten.«
»Aber …« Marielle verstummte wieder, denn sie wollte sich nicht zu viel herausnehmen.
»Aber?«, fragte Bonnefoy und sah von einer Schatulle mit Knöpfen auf.
»Aber sie haben nie jemandem gesagt, dass die Boutique in Schwierigkeiten steckt«, antwortete sie vorsichtig.
Madame Bonnefoy zog empört die Augenbrauen zusammen, dann wich ihr finsterer Ausdruck einer nachdenklichen Miene. »Das stimmt wohl. Es hätte ohnehin keinen Unterschied gemacht. Die meisten Leute denken doch sowieso nur an sich, und auf eine Menge mitleidige Blicke kann ich verzichten. Ich bekomme jetzt schon genug davon.« Damit war für Bonnefoy die Unterhaltung beendet und sie fuhren damit fort, Kleidung in Plastikhüllen zu verpacken.
In den folgenden Tagen leerte sich die Boutique immer weiter und der früher so winzige Verkaufsraum kam Marielle mit einem Mal riesig vor. Den restlichen April verbrachte sie ebenfalls damit, auf die Antworten der Mode- und Designschulen zu warten, denen sie ihre Entwürfe und einen kurzen unspektakulären Lebenslauf zugeschickt hatte. Eigentlich hatte sie mit einer längeren Bearbeitungszeit gerechnet, aber die Rückmeldungen trudelten recht zügig ein. Eine nach der anderen, die allesamt mit dem Wort »Leider« begannen.
Die letzte fehlende Antwort erhielt sie auch an ihrem letzten Arbeitstag in der Boutique. Marielle hatte zu diesem Zeitpunkt bereits so oft ein zermürbendes Gefühlschaos aus Hoffnung und Enttäuschung erlebt, dass sie es nicht fertigbrachte, den Umschlag sofort zu öffnen. Sie zog ein dunkelgrünes Strickkleid und eine flauschige Weste an, stopfte den Umschlag in ihre Marienkäferhandtasche und verließ ihre Wohnung. Aber es trug nicht unbedingt zu ihrer Beruhigung bei, den Brief mit sich herumzutragen, der ihr verraten würde, wie ihr Leben in den nächsten Monaten aussehen würde. So blieb Marielle immer wieder abrupt stehen und griff in ihre Tasche, zog dann doch die Hand wieder heraus und lief weiter.
Kurz bevor sie die Boutique erreicht hatte, konnte sie schließlich nicht mehr anders. Sie zog den Umschlag heraus, riss ihn auf und begann zu lesen. Er begann mit einem höflichen Dank für die Zusendung ihrer Entwürfe, ging vielversprechend weiter mit einem Lob für ihre Kreativität und der offensichtlich großen Mühe und Sorgfalt, die sie in ihre Bewerbung investiert hatte – und endete mit der Ermutigung, sich eines Tages noch einmal zu bewerben, wenn sich ihr Stil und ihr Können noch weiter geschärft hatten. Was auch immer das bedeuten sollte. Und wie auch immer man sein »Können schärfen« sollte, wenn einem niemand dabei half.
Marielle faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in ihre Tasche. Nun gut. Sie hatte es versucht, auch wenn dieser Versuch nicht besonders erfolgreich ausgefallen war. Besser, sie konzentrierte sich jetzt auf ihren letzten Arbeitstag.
Sie fand Madame Bonnefoy in melancholischer Stimmung in der Boutique vor. Den offiziellen Verkauf hatten sie schon längst beendet, jetzt galt es nur noch, die letzten Kisten und Kartons zu packen, damit sie morgen abgeholt werden konnten. Für Marielle fühlte sich der fast leere Ladenraum immer noch unwirklich an. Er wirkte traurig und leer.
»Ich habe jetzt schon ein Dutzend Angebote für die Räume bekommen«, bemerkte Madame Bonnefoy, während Marielle ein paar Kartons aus dem Lagerraum trug. »Und vermutlich ist es auch klüger, die Räume zu vermieten, wenn ich keine Boutique mehr darin betreibe, aber, ach …« Sie seufzte und drehte sich langsam um ihre eigene Achse. »Ich weiß nicht, ob ich mir irgendetwas anderes hier vorstellen kann. Stell dir vor, sie würden ein hässliches Handy-Geschäft in meine schöne Boutique bauen oder ein Fast-Food-Restaurant.«
Marielle nickte teilnahmsvoll und fuhr dann mit ihrer Beschäftigung fort.
»Wie geht es dir eigentlich, Marielle?«, fragte Bonnefoy. »Du bist vorhin mit einem furchtbar bedrückten Gesicht hereingekommen. Ich weiß, heute ist dein letzter Arbeitstag, aber sieh mal, es ist auch mein letzter Tag und ich versuche, Haltung zu bewahren.«
»Es tut mir leid, Madame. Ich möchte natürlich nicht Ihre Stimmung drücken«, antwortete Marielle.
»Dann verrate mir, was los ist«, verlangte Bonnefoy.
Marielle verzog unglücklich den Mund. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, Madame von ihren gescheiterten Bewerbungen zu erzählen. Aber ihr war klar, dass die alte Dame nicht lockerlassen würde, bis sie etwas preisgab.
»Ich habe früher viel … ich habe auch selbst Mode entworfen. Tatsächlich habe ich nie etwas davon tatsächlich geschneidert, aber ich hatte viele Ideen und … und da ich mich nun nach etwas Neuem umsehen muss, dachte ich, ich bewerbe mich bei einigen Mode-Schulen … in Paris.«
Madame Bonnefoys Augen leuchteten auf und sie klatschte in ihre faltigen Hände. »Das ist ja großartig! Etwa auch bei der école couture parisienne? Hast du denn schon …« Sie verstummte, da ihr anscheinend klar wurde, dass Marielles bisherige Stimmung ihre Frage beantwortete.
»Niemand hat mich eingeladen«, antwortete Marielle trotzdem. »Aber einige meinten, dass meine Entwürfe … gar nicht so schlecht seien.«
»Ach weh, meine Liebe, sei nicht enttäuscht«, erwiderte Madame Bonnefoy. »Wenn es dir wirklich ernst ist mit deinem Vorhaben – und ich hoffe sehr, das ist der Fall – dann musst du es weiter probieren. Es ist völlig normal, dass man am Anfang abgelehnt wird. Das heißt nicht, dass du kein Talent hast. Bleib an der Sache dran, ja? Versprich es!«
Marielle hob etwas hilflos die Schultern. »Ja, ich … vielleicht probiere ich es irgendwann noch einmal.«
»Das ist zwar nicht unbedingt das, was man sich unter felsenfest versprechen vorstellt, aber ich will es mal durchgehen lassen. Und jetzt, wo du dir den Kummer von der Seele geredet hast, kannst du mir vielleicht mit einem etwas weniger betrübtem Gesicht helfen,n’est-ce pas?«
Marielle widmete sich also wieder ihren Aufgaben, während Madame Bonnefoy schwelgerisch von der Zeit erzählte, als sie schneidern gelernt hatte und wie sie sich selbst gern an eigenen Kreationen versucht hatte. Wenn ihr eigenes Scheitern wenigstens der ältlichen Boutique-Besitzerin ein paar schöne Erinnerungen zurückgab, hatte die Absage heute morgen vielleicht doch etwas Gutes gehabt.
Am frühen Abend war der ehemalige Laden für Vintage-Mode schließlich fertig ausgeräumt. Marielle strich zum Abschied noch einmal über die alten Stuckleisten an den Wänden und bediente ganz leise die Klingel am Eingang. Madame Bonnefoy überreichte ihr zum Abschied eine etwas angestaubt aussehende Schachtel Pralinen.
»Pass auf dich auf«, sagte sie. »Und lass dich von niemandem unterkriegen. Viele Menschen denken, dass man die Schüchternen leicht übers Ohr hauen kann. Wenn du wirklich in die Modewelt willst, brauchst du ein dickes Fell und starke Ellenbogen.«
»Danke für den Rat«, erwiderte Marielle und nahm die Pralinen an sich. »Ich werde daran denken, wenn ich mich nach einer neuen Arbeit umsehe.«
Auf dieses Stichwort hin ließ sich Madame Bonnefoy noch einmal zu einem kurzen Vortrag hinreißen, welche höheren Mächte sie dazu gezwungen hatten, die Boutique zu schließen. Marielle hörte geduldig zu und nickte an den richtigen Stellen, bis sie sich schließlich verabschiedete und den Weg zurück zu ihrer Wohnung nahm. Sie wusste selbst nicht so genau, warum, aber sie fühlte sich erleichtert.
Zu Hause angekommen, wollte sie so schnell wie möglich damit beginnen, das Abendessen zuzubereiten. Denn nach einem Tag wie diesem hatte man ein gutes Essen – besonders das Dessert – dringend nötig. Gerade als sie jedoch Wasser in einen Topf füllte, klingelte ihr Handy. Marielle nahm gedankenverloren ab.
»Hallo?«
»Hallo, Marielle. Hier ist Maman.«
»Oh …« Sie stellte die Herdplatte aus und lehnte sich an die Küchentheke.
»Ich wollte nur fragen, ob das Paket bei dir angekommen ist.«
»Ja, es ist angekommen.«
»Es hat mich wirklich sehr gerührt, als ich die Zeichnungen gesehen habe. Du hast mir nie davon erzählt.«
»Ein paarmal habe ich es versucht«, erwiderte Marielle.
Eine kurze Pause entstand, dann fuhr ihre Mutter entschlossen fort. »Jedenfalls dachte ich, ich frage einfach mal, ob du am nächsten Wochenende vorbeikommen willst, um die restlichen Sachen von deiner Oma zu holen? Oder ich könnte auch vorbeikommen …?«
Marielle schüttelte den Kopf, bis ihr einfiel, dass es sich um ein Telefonat handelte. »Ich bin gerade sehr beschäftigt.«
»Oh …« Ihre Mutter klang fast erleichtert, als hätte sie selbst etwas Respekt vor ihrer Frage bekommen. »Das heißt, es läuft gut? Du bist immer noch zufrieden in diesem Laden.«
»Boutique«, verbesserte Marielle unwillkürlich.
»Wie auch immer. Es freut mich, dass du dort Fuß gefasst hast.«
»Ja, das … das ist wirklich schön – vielleicht werde ich mich aber noch einmal umorientieren.«
»Und du rufst mich an, wenn du die Sachen abholen möchtest? Oder ich dich besuchen kann?«
»Das mache ich.«
»Na dann ist ja gut. Mach dir noch einen schönen Abend.«
Mit diesen Worten legte ihre Mutter wieder auf und Marielle atmete erleichtert aus. Ihre Mutter würde mit Sicherheit vergessen, dass sie überhaupt angeboten hatte vorbeizukommen, und sie selbst würde morgen damit beginnen, sich nach einer neuen Arbeitsstelle umzusehen. Irgendetwas würde sich schon ergeben und ihr Alltag sich wieder –
In diesem Augenblick klingelte es. Aber nicht ihr Telefon. Jemand klingelte unten an ihrer Wohnungstür. Verwirrt lief Marielle in den Flur, um herauszufinden, wer sie um diese Uhrzeit noch unangekündigt besuchte.
»Hier ist Madame Bonnefoy! Machst du bitte die Tür auf?«
»Madame?« Ohne weiter nachzudenken, drückte Marielle den Knopf, der die Eingangstür freigab. Damit, dass ihre ehemalige Chefin ihr einen Überraschungsbesuch abstattete, hätte sie nicht in tausend Jahren gerechnet. Madame Bonnefoy hatte sie außerhalb der Arbeitszeiten nicht einmal angerufen. Was war also passiert, das sie dazu bewog, jetzt persönlich bei ihr zu erscheinen? Marielle öffnete ihre Wohnungstür und hörte kurze Zeit später ein Schnaufen.
»Kein Aufzug?«, war das Erste, das Madame Bonnefoy sagte, als sie am oberen Ende der Treppe erschien.
Marielle lächelte hilflos. »Es ist ein altes Haus und denkmalgeschützt.«
»Ich bin auch alt und meine Gelenke müssen ebenso geschützt werden – wie auch immer.« Ohne weiter nachzufragen, ging sie an Marielle vorbei und betrat deren Wohnung. »Ich bin nur kurz hier.«
»Ja und – wenn Sie die Bemerkung gestatten – ein wenig überraschend.«
»Das liegt daran, dass ich diesen Entschluss ganz spontan gefasst habe«, erklärte Madame Bonnefoy wie selbstverständlich. »Der Auslöser war unser Gespräch heute Nachmittag. Deine neue Karriere als Designerin …«
Marielle hob abwehrend die Hände. »Ich habe keine neue Karriere als Designerin. Nur ein paar Absagen von Modeschulen, für die ich nicht gut genug war.«
»Aber du hast Talent, das ist unbestreitbar«, beharrte Bonnefoy und nahm am Küchentisch Platz. »Also bin ich zu dem Schluss gekommen, meine letzte Handlung als Boutique-Besitzerin sollte sein, dir zu einem Start in der echten Welt der Mode zu verhelfen. Nicht der Welt, in der wir Jahrzehnte alte Kleider horten und verkaufen, sondern der Welt, in der noch Mode entworfen und geschneidert wird.«
»Wirklich?«, fragte Marielle skeptisch. Ihr war gar nicht klar gewesen, dass Madame Bonnefoy derart gute Verbindungen besaß.
»Mir ist also jemand eingefallen, der dir helfen kann, ma chère«,fuhr Bonnefoy unbekümmert fort. »Es handelt sich um eine ehemalige Schülerin von mir. Aus der Zeit, als ich noch an der Opéra Garnier als Schneiderin und Kostümbildnerin gearbeitet habe. Sie war die letzte Schülerin, die ich ausgebildet habe. Ihr Name ist Florence Rivière.«
»Florence Rivière«, wiederholte Marielle. Sie mochte diesen Namen. Das rollende R erinnerte sie wirklich an einen reißenden Fluss.
»Sie war eine sehr talentierte junge Frau, als ich sie kennengelernt habe. Hat immer davon geträumt, ein eigenes Atelier für Mode zu besitzen, und diesen Traum hat sie letztendlich wahr gemacht.«
»Sie besitzt ein Studio in Paris?«
Bonnefoy schüttelte den Kopf. »Sie hat eine Schneiderei in einem kleinen Château eröffnet. In einem winzigen Kaff in der Pays de la Loire. Ganz aufgeregt hat sie mir davon erzählt, als die Schlossbesitzer ihr Einverständnis gegeben haben. Ich habe sie gefragt, ob sie das wirklich für eine gute Idee hält. Schließlich ist die Hauptstadt der Mode nun mal Paris und …« Madame Bonnefoy verlor sich in einer ausschweifenden Rede darüber, warum sie persönlich kein Schneider-Atelier am Ende der Welt eröffnet hätte.
Aber Marielle war gedanklich abgeschweift. Sie versuchte sich auszumalen, wie wohl eine Schneiderei in einem ländlichen Schloss aussah. Herrliche Bilder von Natursteinbauten, Menschen in eleganten langen Kleidern und pompösen Bällen ploppten vollkommen ungeordnet in ihrem Kopf auf.
»… und Ja gesagt.«
»Bitte was?« Ihre Chefin erwischte sie beim Träumen, auch wenn sie gar nicht mehr im Dienst war. Bonnefoy sah sie tadelnd an.
»Wie ich gerade erklärt habe, habe ich Florence angerufen und ihr von dir berichtet. Und weil wir uns schon so lange so gut kennen, wollte sie nicht erst Entwürfe von dir sehen. Sie meinte nur, wenn du meinen Respekt errungen hättest, möchte sie dich auch kennenlernen.«
»Das heißt also, Sie haben eingefädelt, dass ich in einer winzigen Schneiderei mitten auf dem Land arbeiten kann? Umgeben von einem Schlosspark und einem mindestens genauso alten Gemäuer?«
Madame Bonnefoy nickte lebhaft. »Ich weiß doch ganz genau, dass du wieder drauf und dran warst, nach der Boutique die nächste langweilige Arbeit anzunehmen, die nicht zu dir passt.«
Marielle konnte nicht anders. Ein kleines Lächeln hatte sich in ihre Mundwinkel gestohlen. »Ich bin zu leicht zu durchschauen.«
»Das stimmt«, pflichtete Bonnefoy ihr bei. »Aber bei mir muss dir das niemals Sorgen machen. Hier.« Sie griff in ihre Jackentasche und holte einen Zettel hervor. »Das ist die Anschrift von Florence.«
»Wie? Ich soll jetzt einfach meine Sachen packen und nach …« Marielle schielte auf den Notizzettel, »Courléon fahren, um dort Ihre ehemalige Schülerin kennenzulernen?«
»Und mit deiner Arbeit zu beginnen«, bestätigte Bonnefoy. »Ihr beide zusammen, das wäre wirklich mein Meisterwerk. Also vertue diese Chance nicht, ja? Denn mehr kann ich leider nicht tun, als dir eine zu eröffnen.«
»Sie haben ohnehin schon viel zu viel für mich getan«, antwortete Marielle und stand auf, um Bonnefoy zur Tür zu begleiten.
Marielle blickte ihr im Treppenhaus noch ein wenig hinterher. Es war wirklich kaum zu glauben. Jahrelang war alles beim Alten geblieben und es hatte sich nichts Unerwartetes in ihrem Leben ereignet, bis plötzlich die Vintage-Boutique schließen musste und ihre Chefin (nichts ahnend im Zusammenspiel mit ihrer Großmutter) nun darauf bestand, eine Schneiderin und vielleicht sogar Designerin aus ihr zu machen. Also, dann würde sie morgen wohl tatsächlich nach Courléon aufbrechen – auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, welchen Ausgang des Besuchs sie sich erhoffte.
Marielle war in ihrem Leben schon viel herumgekommen. Ihre Mutter war ständig umgezogen. Konstanten hatte es eigentlich nur dann gegeben, wenn sie für eine Weile bei ihrer Großmutter abgesetzt worden war. Allerdings hatte sie eher in kleineren Städten gewohnt und nicht in einem winzig kleinen Dorf. Denn dass Courléon ein winzig kleines Dorf war, das konnte man kaum bestreiten. Marielle hatte auf der Karte im Internet erst eine ganze Weile ins Bild zoomen müssen, um festzustellen, dass dort tatsächlich ein paar Häuser standen. Schon seit mindestens einer Viertelstunde hatte sie draußen nichts anderes mehr gesehen als Felder, Kuhweiden und freie Landschaft.
»Wir sind fast in Courléon. Thomas, steck dein Handy ein, du musst gleich raus«, kam es in diesem Moment vom Busfahrer.
Da sie kein eigenes Auto besaß, hatte Marielle den Versuch unternommen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Courléon zu reisen. Und das einzige öffentliche Verkehrsmittel, das es dorthin gab, war der Schulbus. Dieser verteilte eine Schar Kinder von Grundschul- bis Teenager-Alter auf die umliegenden Dörfer. Ein etwa zwölf Jahre alter Junge stopfte nun sein Handy in die Hosentasche und sprang von seinem Sitz auf. Ebenso wie einige andere Kinder. Höchstens eine Handvoll. Der Busfahrer trat noch einmal ordentlich aufs Gas und hielt dann gegenüber von einem alten Bauernhof.
»Aussteigen!«, kommentierte er, als die Bustür aufging. Marielle warf einen letzten unsicheren Blick auf die ausgeschaltete Anzeigetafel und folgte dann den anderen. Die Kinder aus dem Bus bedachten sie mit neugierigen Blicken, machten sich aber dann auf den Weg nach Hause. Marielle lief langsam die unregelmäßig gepflasterte Straße entlang und betrachtete die Natursteinbauten, manche hatten einen ordentlich angelegten Vorgarten mit Hortensienbüschen. Um andere befand sich ein chaotisches Ensemble aus Wildblumen in den verschiedensten Farben. Diese gefielen Marielle besonders gut. Während sie an den Gebäuden vorbeiging, hatte sie allerdings das Gefühl, dass man schon jetzt bemerkt hatte, dass jemand das Dorf durchquerte, der normalerweise nicht aus dem nachmittäglichen Schulbus ausstieg. Eine ältere Frau, die gerade in ihrem Garten Beeren pflückte, hob neugierig den Kopf. Marielle zuckte zusammen, als im nächsten Moment lautes Hundegebell ertönte.
»Pompidou, aus!«, schalt die Dame daraufhin eine französische Bulldogge, die selbst auf Hinterbeinen kaum über den Zaun spähen konnte. »Entschuldigen Sie, Madame. Vor Fremden spielt er sich erst mal auf.«
Marielle winkte mit einem freundlichen Lächeln ab, ging dann aber schnell weiter, bevor sie nach dem Grund für ihre Anwesenheit gefragt werden konnte. Sie hatte das kleine Dorf nun beinahe vollständig durchquert und vor ihr ragten bereits die ersten Laubbäume auf.
»Sie müssen erst durch ein kleines Wäldchen«, hatte ihr die Besitzerin der Schneiderei am Telefon erklärt. »Dahinter befindet sich das Château.«
Das Château. Marielle musste zugeben, dass sie am allermeisten auf das kleine Schloss gespannt war, das sich hinter den Eichen und Kastanien versteckte. Alte Gemäuer hatten sie schon immer fasziniert. Die Farbe der verwitterten Steine und die andersartigen Formen der Fenster und Türen, gaben ihr das Gefühl, dass Zeitreisen möglich waren. Während Marielle durch den Wald lief, atmete sie den Geruch nach Rinde und Erde ein. Man hörte nichts anderes mehr als das Zwitschern einiger Vögel, und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Hier könnte es ihr gefallen.
Marielles Herz tat einen kleinen Hüpfer, als sich die Bäume langsam lichteten und sie zum ersten Mal das Château erblickte. Der Anblick des alten Gemäuers mit seinen spitzen Türmen und Erkern gab ihr wirklich das Gefühl, sie wäre nicht durch den Wald, sondern auch zweihundert Jahre in die Vergangenheit spaziert. Sie durchschritt wie im Traum das weit offenstehende Tor und ging über einen gekiesten Weg auf das Eingangsportal zu. Ein steinerner Löwe wachte dort und um die rundliche Holztür rankte sich Efeu. Marielle versuchte sich zu erinnern, was die Schneiderin ihr am Telefon für Anweisungen gegeben hatte.
Das Château hat eine Klingel, damit kannst du es als Erstes versuchen. Sollte sie damit lieber noch warten? Sie war etwas zu früh dran. In diesem Augenblick entdeckte Marielle eine lange Kette mit einem tropfenförmigen Griff am Ende. Doch gerade, als sie danach greifen wollte, hörte sie ein Knarren. Sofort fuhr ihre Hand zurück, als sich die Tür vor ihr langsam öffnete. Verwirrt blinzelte sie, denn der Türspalt vor ihr blieb leer.
Ein Geräusch ließ sie jedoch den Blick senken. Am unteren Ende des Eingangs stand ein kleiner Junge, vielleicht vier Jahre alt. Er hatte dichtes dunkles Haar und dunkelbraune Augen, aus denen er Marielle neugierig musterte. In der Hand hielt er ein kurzes Holzschwert.
»Das Schloss hat heute nicht offen«, verkündete er schließlich. »Und ich geh jetzt spielen.«
Marielle trat verwundert einen Schritt beiseite, um den sehr jungen Schlossbewohner rauszulassen. Dann hörte sie eine dunkle Stimme. »Maurice! Wir haben doch ausgemacht, du wartest auf mich.«
Die Tür wurde ein ganz Stück weiter geöffnet, als ein junger Mann im Eingang erschien. Er war hochgewachsen und hatte braunes lockiges Haar wie der kleine Junge. Entschuldigend lächelnd nahm er Maurice an der Hand.
»Salut, Madame. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen? Soweit ich weiß, ist für heute keine Veranstaltung im Ballsaal angesetzt, und Führungen sind erst wieder –«
»Das Schloss ist heute zu und ich kann im Park spielen. Hat Maman gesagt«, schaltete sich Maurice wieder ein. »Darf ich jetzt raus?«
Der junge Mann seufzte. »Ja, das hat Maman gesagt. Sie hat aber auch gesagt, dass du dort nicht alleine herumspringen sollst, mein Schatz. Und ich muss jetzt noch kurz mit unserem Besucher reden.«
»Also darf ich jetzt –«
»Sei lieb und warte kurz bei mir.«
Der kleine Junge umklammerte sein Holzschwert und verzog schmollend den Mund. Sein Vater blickte wieder zu Marielle.
»Élodie hat gar nicht erwähnt, dass wir heute noch Besuch bekommen.«
»Ich bin für Madame Rivière hier«, erklärte Marielle rasch, denn sie hatte das Gefühl, wenn sie das Gespräch zu sehr in die Länge zog, würde der kleine Junge ihr das übelnehmen.
»Ach, für unsere Schloss-Schneiderin, richtig! Sie hat mir deswegen geschrieben. Entschuldigen Sie, an manchen Tagen weiß ich wirklich nicht, wo mir der Kopf steht«, sagte ihr Gesprächspartner, während sein Sohn an seinem Arm zog.
»Kommen Sie einfach rein. Zum Schneider-Atelier gehen Sie direkt durch die Eingangshalle zur Tür auf der rechten Seite, dann noch einmal nach rechts und geradeaus den Gang entlang, bis es nicht mehr weitergeht. Ich würde sie ja begleiten, aber der junge Mann hier …« Er warf Maurice einen halb strengen, halb liebevollen Blick zu. »… muss sofort in die alte Orangerie, um ein Räubernest auszuheben.«
»Jaaa!« Maurice hob begeistert sein Schwert und es gelang ihm endlich, seinen Vater vom Eingang wegzuziehen.
»Ich bin übrigens Nicolas«, rief er noch über die Schulter. »Nicolas de Montenait.«
Marielle sah ihnen lächelnd, aber auch ein wenig erstaunt hinterher. Damit hatte sie also schon den Besitzer des Schlosses kennengelernt. Madame Rivière hatte gar nicht erzählt, dass er einen Sohn hatte. Zögerlich trat sie über die Schwelle des Portals und fand sich mit einem Mal in einer hohen Eingangshalle wieder. Die gesamte Decke zierte eine riesige Malerei eines Himmels und Götterfiguren. Rechts und links führten breite Treppen auf eine Galerie, aber Monsieur – wie hieß er noch gleich? Montenait? – hatte ihr geraten weiter geradeaus durch die Tür auf der rechten Seite zu gehen.
Marielle fühlte sich, als wäre sie heimlich allein in einem Museum, während sie die Eingangshalle durchschritt. So schnell sie konnte, öffnete sie die Tür mit der altmodischen Klinke und schlüpfte hindurch. In der riesigen Halle mit der Galerie hatte sie sich wie auf dem Präsentierteller gefühlt. Gleichzeitig hatte dieser Ort schon jetzt etwas Aufregendes für sie, etwas Wagemutiges. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ein Schloss wie dieses die herrlichsten Abenteuer für ein Kind bereitstellte. Sie selbst hatte früher mit ihrer Fantasie selbst die Zweiraumwohnung ihrer Großmutter in eine geheimnisvolle Ausgrabungsstätte oder ein Segelschiff verwandelt. Marielle wandte sich nach rechts und ging dann geradeaus den Gang hinunter. Nachdem sie einige Meter gelaufen war, stellte sie erleichtert fest, dass sie die Wegbeschreibung korrekt befolgt hatte. Am Ende des Flurs befand sich eine Tür mit einem Schild – das wiederum hatte ihr die Schneiderin schon selbst beschrieben.
»Atelier Rivière« stand in verschlungenen Buchstaben darauf. Marielle beschleunigte ihren Schritt, und die Holzdielen unter ihren Füßen knarrten geräuschvoll. Anschleichen konnte man sich hier nicht. Als sie schließlich direkt vor dem Eingang stand, hob sie die Hand, um zu klopfen, senkte sie jedoch wieder. Sie war von ihrem Selbstbewusstsein überrascht. Wollte sie sich nicht lieber ein paar Sätze zurechtlegen?
Marielle fasste nach ihrer Umhängetasche und zog zum wohl hundertsten Mal an ihrem Tag ihre Mappe mit den Entwürfen heraus. Vorsichtig strich sie über die Zeichnungen und ging im Kopf noch einmal durch, was sie zu diesem Kleid oder jenem Rock sagen wollte. Sie schloss die Augen, um die Farben und Stoffe zu visualisieren, die sie für jeden einzelnen Entwurf verwenden würde, dann steckte sie das Notizbuch wieder ein.
Sie hob die Hand, ballte kurz die Faust, dann klopfte sie.