Die Kraft der Gefühle - Marc Brackett - E-Book

Die Kraft der Gefühle E-Book

Marc Brackett

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Beschreibung

RULER–METHODE: an tausenden Schulen erfolgreich angewendet

Emotionale Kompetenz für eine mitfühlende Welt

Das mentale Wohlbefinden von Kindern und Erwachsenen ist aktuell besorgniserregend. Der amerikanische Emotionswissenschaftler DR. Marc Brackett sieht eine wesentliche Ursache darin, dass wir es uns nicht erlauben, Gefühle zu haben und zu zeigen. Bereits Kinder lernen, Botschaften aus ihrem tiefsten Inneren zu unterdrücken und zu überspielen. Das Ergebnis ist Stress, Mobbing, Angststörungen oder Depression. Brackett appelliert an Eltern und Lehrer, Kinder mit ihren Empfindungen nicht allein zu lassen.

Sei es Angst, Scham, Neid, Traurigkeit oder Wut, aber auch Freude, Zufriedenheit oder Stolz – unsere Gefühle sind wichtig für unser ganzes Leben, denn sie sind unser innerer Kompass. Der Autor setzt für eine gesunde Entwicklung auf die Kraft unserer Emotionen und integriert die emotionale Bildung bereits in den Lehrplan: Während seiner langjährigen Forschungsarbeit hat er einen Fünf-Schritte-Plan entwickelt, der zeigt, wie wir mit den eigenen als auch den Gefühlen der anderen umgehen können. Seine sogenannte RULER-METHODE umfasst das Erkennen, Verstehen, Benennen, Ausdrücken und schließlich das Regulieren von starken Empfindungen.

Dieser praktische Ansatz wird bereits an tausenden amerikanischen Schulen erfolgreich angewendet: Nachweislich nehmen dadurch Stress, Burnout und Mobbing ab, zu dem verändert sich die Kultur des Zusammenlebens radikal – was sich auch im Lernerfolg zeigt.

Marc Brackett ist Professor am Yale University's Child Study Center. Er berät Unternehmen wie Facebook, Microsoft und Google, wie sie die Prinzipien der emotionalen Intelligenz in ihr Mitarbeitertraining und Produktdesign integrieren können.

„Mehr als jedes andere Buch über menschliche Gefühle integriert Die Kraft der Gefühle psychologische Forschung, pädagogische Praxis und fesselnde Geschichten, einschließlich MARC BRACKETTS eigener Lebenserfahrungen, um emotionale Intelligenz lebendig werden zu lassen. Dies ist ein Buch, das für Führungskräfte, Pädagogen, Eltern, Schüler und Forscher gleichermaßen wertvoll ist ... und Spaß macht!“
− Peter Salovey, Präsident der Yale University

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Dr. Marc Brackett

Direktor des Yale Center for Emotional Intelligence, Professor im Child Study Center der Yale University

Die Kraft der Gefühle

Nutzen Sie die Energie der Emotionen für sich und Ihr Kind

Für Onkel Marvin und Mama und Papa

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erster Teil: Die Kraft der Gefühle

Kapitel 1 – Die Kraft der Gefühle

Kapitel 2 – Emotionen sind Information

Emotionen und Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Lernenz

Emotionen und Entscheidungsfindung

Emotionen und Beziehungen

Emotionen und Gesundheit

Emotionen und Kreativität

Kapitel 3 – Wie Sie Emotionswissenschaftler werden

Zweiter Teil: Die Ruler-Kompetenzen

Kapitel 4 – R: Recognize – Emotionen erkennen

Kapitel 5 – U: Understanding – Emotionen verstehen

Scham, Schuld und Verlegenheit

Eifersucht und Neid

Freude und Zufriedenheit

Stress und Druck

Kapitel 6 – L: Labeling – Emotionen benennen

Kapitel 7 – E: Expressing – Emotionen ausdrücken

Kapitel 8 – R: Regulating – Emotionen regulieren

Achtsames Atmen

Vorausschauende Strategien

Strategien zur Aufmerksamkeitsverlagerung

Strategien der kognitiven Umformung

Der Meta-Moment

Dritter Teil: Anwendung emotionaler Kompetenzen für optimales Wohlbefinden und Erfolg

Kapitel 9 – Emotionen zu Hause

Kapitel 10 – Emotionen in der Bildungsphase: von der Vorschule bis zur Universität

Die besten SEL-Ansätze sind systemisch, nicht Stückwerk

Die besten SEL-Ansätze sind proaktiv, nicht reaktiv

Die effektivsten Ansätze integrieren SEL in den Lehrplan und ermöglichen allen Klassenstufen das Entwickeln von Kompetenzen, um alle Kinder zu erreichen

Die besten SEL-Ansätze achten auf die Ergebnisse

Kapitel 11 – Emotionen bei der Arbeit

Eine Emotionsrevolution ins Leben rufen

Danksagung

Referenzen

Über den Autor

Impressum

Vorwort

Okay, bringen wir zuerst die einfachen Fragen hinter uns: Was soll dieser Titel? Seit wann braucht irgendjemand eine Erlaubnis zu fühlen?* Es ist wahr, dass wir alle mehr oder weniger ununterbrochen, in jedem wachen Moment – sogar in unseren Träumen – Gefühle haben, ohne zu fragen oder um die Zustimmung einer anderen Person zu bitten. Mit dem Fühlen aufzuhören wäre wie mit dem Denken aufzuhören. Oder mit dem Atmen aufzuhören. Das ist unmöglich. Unsere Emotionen sind ein großer Teil – vielleicht der größte Teil – dessen, was uns menschlich macht.

Und doch gehen wir durchs Leben und versuchen hartnäckig so zu tun, als ob das Gegenteil zutrifft. Unsere wahren Gefühle können chaotisch, unbequem, verwirrend sein und sogar süchtig machen. Sie lassen uns verwundbar und ungeschützt zurück, nackt vor der Welt. Sie bringen uns dazu, Dinge zu tun, von denen wir uns wünschen, wir hätten sie nicht getan. Es ist kein Wunder, dass unsere Emotionen uns manchmal Angst machen. Sie scheinen außerhalb unserer Kontrolle zu liegen. Zu oft tun wir unser Bestes, sie zu verleugnen oder zu verstecken – sogar vor uns selbst. Unsere Einstellung ihnen gegenüber wird an unsere Kinder weitergegeben, die uns beobachten und von uns, ihren Vorbildern, Eltern und Lehrern, lernen. Unsere Kinder nehmen die Botschaft laut und deutlich wahr, sodass auch sie bald gelernt haben, selbst die dringendsten Botschaften aus ihrem tiefsten Inneren zu unterdrücken. Genau wie wir gelernt haben, es zu tun.

Sie haben noch nicht einmal angefangen, dieses Buch zu lesen, aber ich wette, Sie wissen bereits, wovon ich spreche.

Wir verweigern uns – und einander – also die Erlaubnis zu fühlen. Wir verdrängen unsere Gefühle, unterdrücken sie, überspielen sie. Wir weichen dem schwierigen Gespräch mit unserer Kollegin aus, wir rasten gegenüber einem geliebten Menschen aus und wir essen hilflos eine ganze Tüte Kekse und haben keine Ahnung, warum. Wenn wir uns selbst die Erlaubnis verweigern, fühlen zu dürfen, entsteht eine lange Liste unerwünschter Folgen. Wir verlieren die Fähigkeit, auch nur zu erkennen, was wir fühlen – wir werden, ohne es zu merken, innerlich ein wenig gefühllos. Wenn das passiert, sind wir nicht mehr in der Lage zu verstehen, warum wir eine Emotion erleben oder was in unserem Leben geschieht, das diese verursacht.

Deshalb sind wir nicht in der Lage, diese zu benennen und können sie auch nicht in Worte fassen, die die Menschen um uns herum verstehen würden. Und wenn wir nicht erkennen, verstehen oder in Worte fassen können, was wir fühlen, ist es für uns unmöglich, etwas dagegen zu tun und unsere Gefühle zu beherrschen – sie nicht zu leugnen, sondern sie alle zu akzeptieren, ja sogar willkommen zu heißen – und zu lernen, unsere Gefühle für uns arbeiten zu lassen, nicht gegen uns.

Ich verbringe jede Minute meines beruflichen Lebens damit, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Durch meine akademische Forschung und viele Erfahrungen aus dem wirklichen Leben, insbesondere im Bildungsbereich, habe ich gesehen, welch schreckliche Kosten unsere Unfähigkeit, gesund mit unseren Emotionen umzugehen, verursacht.

Hier sind einige Zahlen aus den USA und Deutschland:

• Im Jahr 2017 haben in den USA etwa 8 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren und 25 Prozent der jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren zum Zeitpunkt der Umfrage illegale Drogen konsumiert. In Deutschland war dies laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bei über 10 Prozent der 12- bis 17-Jährigen und bei fast der Hälfte (47,2 Prozent) der 18- bis 25-Jährigen im Jahr 2019 der Fall.

• Die Zahl der Vorfälle von Mobbing und Belästigung im primären und sekundären Bildungsbereich in den USA, die der Anti-Defamation League gemeldet wurden, hat sich zwischen 2015 und 2017 jedes Jahr verdoppelt.

• Laut einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2014 berichteten 46 Prozent der Lehrkräfte über großen täglichen Stress während des Schuljahrs. Damit erreichen sie gleichauf mit Pflegepersonal den höchsten Wert aller Berufsgruppen.

• Eine Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2018 ergab, dass über 50 Prozent der Beschäftigten keine Bindung zu ihrer Arbeit empfinden, 13 Prozent von ihnen sind „unglücklich“. Laut der Studie „Arbeiten in Deutschland“ aus dem Jahr 2019 sind 11 Prozent der Angestellten „eher unzufrieden bis vollkommen unzufrieden“.

• Von 2016 bis 2017 berichtete mehr als jeder dritte Studierende an 196 US-Universitäten, eine diagnostizierte psychische Erkrankung zu haben. Einige Universitäten berichteten von einem 30-prozentigen Anstieg der psychischen Gesundheitsprobleme pro Jahr.

• Laut dem Weltglücksreport 2019 haben negative Gefühle, darunter Sorge, Traurigkeit und Wut, weltweit zugenommen: um 27 Prozent im Zeitraum von 2010 bis 2018.

• Angsterkrankungen sind die häufigste psychische Erkrankung in den USA und betreffen dort 25 Prozent der Kinder zwischen 13 und 18 Jahren.

• Depressionen sind weltweit die Hauptursache für Berufsunfähigkeit.

• Weltweite psychische Gesundheitsprobleme könnten die Weltwirtschaft bis zum Jahr 2030 bis über 13 Billionen Euro kosten. Dazu gehören direkte Kosten für Gesundheitsversorgung und Medikamente oder andere Therapien sowie indirekte Kosten wie Produktivitätsverluste.

Wir scheinen es vorzuziehen, mehr Geld und Mühe für den Umgang mit den Folgen unserer emotionalen Probleme auszugeben als zu versuchen, diese zu verhindern.

Ich habe ein persönliches Interesse an den schlimmen Dingen, die passieren, wenn wir uns selbst nicht erlauben zu fühlen. Das bedeutet, dass es auch mir so ging, aber dank einer Person, die sich um mich gesorgt hat, habe ich den Zustand lebend überwunden. Auch davon werde ich berichten.

Nur einige wenige unter uns, die von Natur aus einfühlsam sind, können behaupten, die in diesem Buch besprochenen Kompetenzen zu besitzen, ohne sie sich bewusst angeeignet zu haben. Ich musste sie lernen. Und es sind Kompetenzen. Alle Persönlichkeitstypen – laut oder leise, fantasievoll oder praktisch veranlagt, neurotisch oder fröhlich – werden feststellen, dass diese Kompetenzen uns zugänglich sind und sogar lebensverändernd. Es sind klare, einfache und erprobte Kompetenzen, die jede Person in fast jedem Alter erwerben kann.

Kürzlich habe ich in einem der schwierigsten Schulbezirke der USA einen Kurs für Verwaltungsangestellte gegeben. Ich wurde gewarnt: „Sie werden dich bei lebendigem Leib auffressen.“ Beim Mittagessen am ersten Tag stand ich in der Kantine in der Schlange neben einem Schulleiter. Um Smalltalk zu machen, fragte ich ihn: „Was halten Sie von dem Kurs bisher?“ Er sah mir in die Augen, schaute dann auf das Essen und sagte: „Der Nachtisch sieht ziemlich gut aus.“ In diesem Moment wurde mir klar, womit ich es zu tun hatte. Ich bin Widerstand gewohnt, aber seine Haltung traf mich hart. In diesem Moment beschloss ich, dass er mein Projekt sein würde. Sein Vorgesetzter stand voll und ganz hinter der Sache, aber es war klar, dass wir in diesem Distrikt nur dann Erfolg haben würden, wenn auch Schulleiter wie dieser hier an die Sache glaubten.

Nach zwei Tagen des intensiven Workshops traf ich ihn wieder. „Als wir uns neulich trafen, waren Sie nicht so sicher, ob dieser Kurs Ihnen etwas bringen würde“, sagte ich. „Ich bin neugierig. Jetzt, wo Sie zwei Tage damit verbracht haben, etwas über Emotionen zu lernen und darüber, wie Sie emotionale Kompetenzen an Ihrer Schule integrieren können, was denken Sie?“

„Nun, ich werde es Ihnen sagen“, sagte er und hielt inne, um seine Gedanken zu sammeln. „Mir wird jetzt klar, dass ich nicht wusste, was ich nicht wusste. Die Sprache der Gefühle war mir fremd.“

Das war ermutigend, dachte ich. Dann fuhr er fort. „Also, danke, dass Sie mir die Erlaubnis gegeben haben zu fühlen.“ Fangen wir damit an.

* Diese beiden Fragen beziehen sich auf den englischen Titel „Permission to feel“, der wortwörtlich übersetzt „Erlaubnis zu fühlen“ bedeutet; Anm. d. Verlags.

Erster TeilDie Kraft der Gefühle

Kapitel 1Die Kraft der Gefühle

Wie fühlen Sie sich?

Angesichts des Themas dieses Buches ist das eine vernünftige Frage. Ich werde sie vielleicht mehr als einmal stellen, bevor wir durch sind. Da sie uns in der einen oder anderen Form so oft gestellt wird, dürfte sie theoretisch die einfachste Frage überhaupt sein – und nicht die schwierigste, je nachdem, wie ehrlich wir antworten.

Ich spreche jetzt nicht nur als Psychologe und Direktor eines Centers, das sich dem emotionalen Wohlbefinden widmet, sondern auch als Mitmensch. Um ganz ehrlich zu sein, wünschte ich mir, jemand hätte mir diese Frage als Kind gestellt – sie gestellt und wirklich wahrhaftig die Antwort wissen wollen und den Mut gehabt, etwas gegen das zu unternehmen, was ich enthüllt hätte.

Ich war kein glückliches Kind.

Ich fühlte mich verängstigt, wütend, hoffnungslos. Schikaniert. Isoliert. Und ich litt.

Und wie ich litt.

Als ich in der Mittelstufe war, brauchte man mich nur anzuschauen, um zu erkennen, dass etwas ernsthaft falsch lief. Ich war ein schlechter Schüler und kam gerade so durch. Meine Ernährung war so ungesund, dass ich von einem sehr dünnen Kind zu einem übergewichtigen Kind wurde. Ich hatte keine richtigen Freunde.

Meine Eltern liebten mich und sorgten sich um mich – das wusste ich. Aber sie hatten ihre eigenen Probleme. Meine Mutter war ängstlich und depressiv und hatte ein Alkoholproblem. Mein Vater war blindwütig, furchterregend und enttäuscht von einem Sohn, der nicht so hart war wie er. Aber sie hatten zumindest eines gemeinsam: Sie hatten keine Ahnung, wie sie mit Gefühlen umgehen sollten – weder mit ihren eigenen noch mit meinen.

Ich verbrachte Stunden allein in meinem Zimmer und weinte oder ärgerte mich über die Schikanen, die ich in der Schule stillschweigend ertrug. Aber meine Hauptreaktion auf das Leben war Wut. Ich stritt mit meiner Mutter, brüllte und schrie. „Was glaubst du, wer du bist, dass du so mit mir redest?“, schrie sie zurück. „Warte, bis dein Vater nach Hause kommt!“ Wenn er dann kam, erzählte ihm meine Mutter, wie ich sie behandelt hatte, und dann stürmte er in mein Zimmer und schrie: „Wenn ich dir noch einmal sagen muss, dass du aufhören sollst, so mit deiner Mutter zu reden, dann drehe ich durch!“ Manchmal ersparte er mir den Vortrag und fing einfach an, mich zu schlagen.

Dann sprang meine Mutter ein und die beiden stritten darüber, wie er die Situation handhabte. Schließlich gab er auf und meine Mutter kam in mein Zimmer und sagte: „Marc, diesmal habe ich dich gerettet …“

Ich fragte mich: Wovor glaubte sie, mich gerettet zu haben?

Ohne es zu wollen, haben mir meine Eltern eine wichtige Lektion erteilt. Behalte deine Gefühle für dich. Lass auf keinen Fall zu, dass deine Eltern sie sehen. Das würde eine schlimme Szene nur noch schlimmer machen.

Das war etwa zu der Zeit, als sie mein schrecklichstes Geheimnis erfuhren – dass ein Nachbar, ein Freund der Familie, mich sexuell missbraucht hatte. Als meine Eltern es schließlich herausfanden, schnappte sich mein Vater einen Baseballschläger aus dem Keller und brachte den Mann beinahe um. Meine Mutter erlitt fast einen Nervenzusammenbruch. Die Polizei kam und verhaftete den Nachbarn und bald wusste die ganze Nachbarschaft Bescheid. Es stellte sich heraus, dass mein Täter noch Dutzende anderer Kinder missbraucht hatte.

Man sollte meinen, dass sich alle freuten, dass ich gesprochen und dieses Grauen aufgedeckt hatte. Aber dem war nicht so. Ich wurde umgehend zum Ausgestoßenen. Alle Erwachsenen warnten ihre Kinder, sich ja von mir fernzuhalten. Das Mobbing wurde noch schlimmer.

Plötzlich war meinen Eltern die Quelle meiner ständigen emotionalen Zusammenbrüche klar. Meine schlechten Noten. Meine Bulimie. Meine soziale Isolation. Meine Verzweiflung. Meine Wut.

Meine Eltern taten, was viele Menschen unter ähnlichem Druck tun.

Sie flippten aus.

Das ist nicht ganz richtig – sie wussten genug, um mich zu einem Therapeuten zu schicken. Sie waren zu sehr mit ihren eigenen Problemen überfordert, dem Versuch, einfach nur zu überleben, um mit dem Gefühlsleben einer anderen Person umgehen zu können. Sie haben alle Signale, die ich aussandte, entweder übersehen oder ignoriert, was nicht wirklich überraschend ist. Vielleicht fühlten sie sich sicherer, wenn sie nicht zu viele Fragen über mein Leben in der Schule oder in unserer Nachbarschaft stellten. Vielleicht hatten sie Angst vor dem, was sie herausfinden würden – Angst davor, dass sie, sobald sie es wüssten, etwas dagegen unternehmen müssten.

Vielleicht wäre mein Leben damals anders verlaufen, wenn meine Großeltern meinen Eltern die richtigen Fragen gestellt hätten. Wenn sie ihnen beigebracht hätten, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen. Und was sie tun sollen, wenn Probleme auftauchen. Vielleicht wären meine Eltern in der Lage gewesen, meinen Schmerz zu sehen und hätten gewusst, wie sie mir helfen können.

Aber das ist nie passiert.

Einiges davon mag Ihnen bekannt vorkommen. In meinem Beruf treffe ich viele Menschen, die ihre Kindheit so verbracht haben wie ich. Unsichtbar, nicht wahrgenommen, mit unangenehmen, tief im Inneren vergrabenen Gefühlen. Keine zwei Geschichten sind identisch. Die Menschen erzählen mir, wie sie körperlichen Missbrauch erlebten. Oder ignoriert und zum Schweigen gebracht wurden. Oder eine emotionale Misshandlung erfuhren. Oder von Eltern geradezu erstickt wurden, die kein eigenes Leben hatten, sondern nur durch ihre Kinder lebten. Oder Vernachlässigung spüren mussten von Eltern, die alkoholkrank oder drogensüchtig waren. Es sind unsere Antworten darauf, die gleich sind.

Manchmal sind die Geschichten nicht annähernd so dramatisch: Menschen, die in Familien aufgewachsen sind, in denen alltägliche emotionale Probleme ignoriert wurden, weil niemand jemals gelernt hatte, wie man über diese spricht oder Maßnahmen zu ihrer Bewältigung ergreift. Ihr Leben muss nicht unbedingt tragisch gewesen sein, damit Sie erleben mussten, dass Ihr Gefühlsleben niemandem außer Ihnen selbst etwas bedeutet.

So sah meine Antwort aus: Ich wurde taub für meine Gefühle. Ich war im emotionalen Lockdown. Im Überlebensmodus.

Und dann geschah ein Wunder.

Das Wunder hieß Marvin. Onkel Marvin, um genau zu sein.

Er war der Bruder meiner Mutter, tagsüber Lehrer und abends und an den Wochenenden Bandleader. Unsere Familie reiste von New Jersey bis zu den Ferienorten in den Catskill Mountains, um die Auftritte unserer Familienberühmtheit zu sehen. Onkel Marvin war wirklich ein Sonderfall – einzigartig unter all meinen Verwandten und allen anderen Erwachsenen, die ich kannte. Er war wie die Robin-Williams-Figur in dem Film Der Club der toten Dichter.

In seinem damaligen Beruf versuchte Onkel Marvin bereits in den 1970er-Jahren, einen Lehrplan aufzustellen, der die Schulkinder dazu ermutigen sollte, ihre Gefühle auszudrücken. Er glaubte, dies sei das fehlende Glied in der Schulbildung, da emotionale Kompetenzen ihr Lernen und ihr Leben verbessern würden. Ich half Onkel Marvin, indem ich seine Notizen abtippte, während er sie laut vorlas. Ich begegnete Begriffen wie „Verzweiflung“, „Entfremdung“, „Engagement“ und „Hochgefühl“ und erkannte mich in vielen von ihnen wieder.

Eines Sommernachmittags, als wir zusammen in unserem Hinterhof saßen, fragte er mich, ob er einen IQ-Test mit mir machen könne. Es stellte sich heraus, dass ich klüger war, als meine trostlosen Zeugnisse vermuten ließen. Ich glaube auch, dass er vermutete, dass tief in meinem Inneren eine Menge Aufruhr herrschte, der mit der Schule und dem Missbrauch zu tun hatte. Das veranlasste Onkel Marvin dazu, mir eine Frage zu stellen, die ich selten, wenn überhaupt, von einem Erwachsenen oder einer anderen Person gehört hatte:

„Marc“, sagte er, „wie fühlst du dich?“

Bei diesen Worten brach der Damm und alles floss aus mir heraus. Alle schrecklichen Dinge, die ich zu dieser Zeit erlebte, und jedes Gefühl, das ich als Reaktion darauf hatte, kamen auf einmal heraus.

Diese eine kleine Frage genügte, mein Leben zu verändern. Es ging nicht nur um das, was er sagte, sondern auch darum, wie er es sagte. Er wollte die Antwort wirklich hören. Er verurteilte mich nicht für das, was ich fühlte. Er hörte einfach offen und mit Empathie zu, als ich meine Gefühle zum Ausdruck brachte. Er versuchte nicht, meine Aussagen zu interpretieren oder zu erklären.

An diesem Tag habe ich wirklich losgelassen.

„Ich habe keine richtigen Freunde, ich bin schlecht im Sport, ich bin fett und die Kinder in der Schule hassen mich alle“, klagte ich schluchzend.

Onkel Marvin hörte nur zu. Hörte mir richtig zu. Mein Onkel war der erste Mensch, der sich jemals dafür entschieden hatte, sich nicht auf mein äußeres Verhalten zu konzentrieren – höhnisch, zurückgezogen, trotzig, definitiv unangenehm – und stattdessen spürte, dass etwas anderes vor sich ging, etwas Bedeutsames, das niemand, nicht einmal ich, anerkannt hatte.

Onkel Marvin erlaubte mir zu fühlen.

Angesichts all dessen ist es keine Überraschung, dass ich in den letzten 25 Jahren über Emotionen recherchiert und geschrieben habe. Ich habe die Welt bereist, um mit Menschen über ihre Gefühle zu sprechen. Es ist meine Leidenschaft und mein Lebenswerk geworden. Ich wurde Professor am Yale Child Study Center und Gründungsdirektor des Yale Center For Emotional Intelligence. Am Center leite ich ein Team von Wissenschaftlern und Praktikern, die über Emotionen und emotionale Kompetenzen forschen. Wir entwickeln Ansätze, um Menschen aller Altersgruppen – vom Vorschulkind bis zum CEO – die Kompetenzen zu vermitteln, die ihnen helfen können, erfolgreich zu sein. Das Ziel unseres Centers ist es, die Kraft der Emotionen zu nutzen, um eine gesündere und gerechtere, innovativere und mitfühlendere Gesellschaft zu schaffen.

Jedes Jahr halte ich auf der ganzen Welt Dutzende Vorträge vor pädagogischen Fachkräften, Schulkindern, Eltern, Führungskräften aus der Wirtschaft, Unternehmern, politischen Führungskräften, Wissenschaftlern, medizinischen Fachkräften und jeder anderen Art von Menschen, die man sich nur vorstellen kann. Meine Botschaft für alle ist dieselbe: Wenn wir lernen, unsere Gefühle – selbst die herausforderndsten – zu erkennen, auszudrücken und einen Zugang zu ihnen zu finden, können wir diese Emotionen nutzen, um ein positives, zufriedenstellendes Leben zu führen.

Jedes Mal, wenn ich zu einer Gruppe spreche, fordere ich das Publikum zunächst auf, ein paar Minuten darüber nachzudenken, wie sie sich im Moment fühlen. Dann fordere ich sie auf, sich uns anderen mitzuteilen. Ihre Antworten verraten viel – nicht unbedingt über ihre Emotionen, sondern über unsere Schwierigkeiten, über unser Gefühlsleben zu sprechen. Was ich feststelle ist, dass wir nicht einmal über das Vokabular verfügen, um unsere Gefühle in nützlichen Details zu beschreiben – 75 Prozent der Menschen fällt es schwer, ein „Gefühlswort“ zu finden. Wenn die Worte kommen, sagen sie uns normalerweise nicht sehr viel. Die Leute stammeln ein bisschen herum, zögern und verwenden dann die gängigsten Begriffe, auf die wir uns alle verlassen – ich fühle mich gut, in Ordnung, okay …

Das sollte uns zu denken geben: Weiß ich überhaupt, wie ich mich fühle? Habe ich mir selbst erlaubt, diese Frage zu stellen? Habe ich jemals wirklich meinen Partner, mein Kind, meine Kollegin gefragt? Heute, da fast jede Frage sofort von digitalen Assistenten beantwortet werden kann, verlieren wir die Gewohnheit, eine Pause zu machen und nach innen oder zueinander zu schauen, um Antworten zu erhalten. Aber selbst die digitalen Assistenten wissen nicht alles. Und eine Suchmaschine kann Ihnen nicht sagen, warum sich Ihr Sohn oder Ihre Tochter hoffnungslos oder aufgeregt fühlt, oder warum sich Ihr Lebensgefährte in letzter Zeit nicht mehr so wichtig fühlt, oder warum Sie diese chronischen, leichten Angstzustände, die Sie plagen, nicht loswerden können.

Es ist nur logisch, dass uns unwohl oder unbehaglich ist, wenn wir unser Gefühlsleben beschreiben. Das gilt selbst dann, wenn wir positive Gefühle erleben. Aber es ist besonders dann so, wenn es unangenehme Gefühle sind und wir uns traurig, verärgert, verängstigt oder zurückgewiesen fühlen. Sie alle verbinden uns mit unseren Schwächen, und wer will diese zeigen? Der Instinkt, uns zu schützen, indem wir unsere Verletzlichkeit verbergen, ist natürlich. Sogar Tiere in der Wildnis tun das. Es schlicht und einfach Selbsterhaltung.

Und doch stellen wir alle diese oder ähnliche Fragen unzählige Male am Tag, und ebenso oft sind wir aufgerufen, sie zu beantworten:

Wie geht’s? Wie läuft’s? Alles in Ordnung?

Wir fragen so reflexartig, dass wir uns selbst kaum hören. Und genauso antworten wir auch:

Großartig, danke, und selbst? Alles bestens! Viel zu tun!

Ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, um nachzudenken, bevor wir antworten.

Es ist eines der großen Paradoxe des menschlichen Daseins – wir stellen immer wieder Variationen der Frage „Wie geht‘s?“, was zu der Annahme verleiten würde, dass wir ihr eine gewisse Bedeutung beimessen. Und doch erwarten oder wollen – oder geben – wir niemals eine ehrliche Antwort.

Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Sie das nächste Mal, wenn eine Bekannte (oder ein Barista) „Hallo, wie geht es dir?“ fragt, anhalten und sich fünf Minuten Zeit nehmen würden, um eine detaillierte, ungekürzte Antwort zu geben. Wenn Sie wirklich Ihre Seele offenbaren würden. Ich garantiere Ihnen, es würde lange dauern, bis diese bestimmte Person diese Frage wieder stellt.

Darin steckt eine wichtige Erkenntnis – in dieser enormen Diskrepanz zwischen unserer Bereitschaft zu fragen, wie wir uns fühlen, und unserem Widerwillen, wirklich darauf zu antworten. Wir wissen heute, dass unser emotionaler Zustand, vielleicht abgesehen von der körperlichen Gesundheit, einer der wichtigsten Aspekte unseres Lebens ist. Er bestimmt alles andere. Sein Einfluss ist allgegenwärtig. Und dennoch steuern wir mit größter Vorsicht um ihn herum. Unser Innenleben ist selbst für uns Neuland, ein riskanter Ort, den es zu erforschen gilt.

Unser Leben ist gesättigt mit Emotionen – Traurigkeit, Enttäuschung, Angst, Irritation, Begeisterung und sogar Gelassenheit. Oft sind diese Gefühle unangenehm. Sie kommen unserem geschäftigen Leben in die Quere, oder zumindest sagen wir uns das selbst. Also tun wir unser Bestes, sie zu ignorieren. Wir finden sie überall, von der steifen Oberlippe der puritanischen Gründer der USA bis hin zum harten Ethos auf Schulhöfen und Spielplätzen. Wir alle glauben, dass unsere Gefühle wichtig sind und es verdienen, respektvoll und umfassend angesprochen zu werden. Aber wir denken auch, dass Emotionen störend und unproduktiv sind – am Arbeitsplatz, zu Hause und überall sonst. Bis in die 1980er-Jahre betrachteten die meisten Psychologen Emotionen als Fremdgeräusch, als nutzloses Rauschen. Unsere Gefühle bremsen uns aus und stehen der Erreichung unserer Ziele im Weg. Wir alle haben die Botschaft gehört: Finden Sie sich damit ab! Hören Sie auf, sich auf sich selbst zu konzentrieren (als ob so etwas möglich wäre!)! Seien Sie nicht so empfindlich! Zeit, weiterzumachen!

Die Ironie liegt jedoch darin, dass unsere Gefühle, wenn wir sie ignorieren oder unterdrücken, nur stärker werden. Die wirklich mächtigen Emotionen bauen sich in uns auf wie eine dunkle Kraft, die unweigerlich alles vergiftet, was wir tun, ob wir es wollen oder nicht. Verletzte Gefühle verschwinden nicht von selbst. Sie heilen nicht von selbst. Wenn wir unsere Emotionen nicht ausdrücken, häufen sie sich an wie eine Schuld, die irgendwann fällig wird.

Und ich spreche nicht nur von den Zeiten, in denen wir etwas Unangenehmes empfinden. Vielleicht verstehen wir auch nicht genau, wie wir uns fühlen, wenn die Dinge großartig laufen. Wir begnügen uns damit, die Emotionen zu genießen und nicht zu tief zu ergründen. Das ist natürlich ein Fehler. Wenn wir in Zukunft positive Entscheidungen treffen wollen, müssen wir wissen, was uns Glück bringt – und warum.

Der Beweis für unsere Unfähigkeit, mit unserem Gefühlsleben konstruktiv umzugehen, ist überall um uns herum zu finden. Im Jahr 2015 führten wir in Zusammenarbeit mit der Robert Wood Johnson Foundation und der Born This Way Foundation (gegründet von Lady Gaga und ihrer Mutter Cynthia Germanotta) eine groß angelegte Umfrage unter 22.000 Teenagern aus den ganzen Vereinigten Staaten durch und baten sie zu beschreiben, wie sie sich während ihrer Schulzeit fühlen. Drei Viertel der von ihnen verwendeten Wörter waren negativ, wobei „müde“, „gelangweilt“ und „gestresst“ die Liste anführten. Dies war nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass etwa 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Grundschule und der Mittelstufe heute mit Anpassungsproblemen zu kämpfen haben, die so schwerwiegend sind, dass sie regelmäßige psychosoziale Unterstützung brauchen. In wirtschaftlich benachteiligten Schulen sind es sogar 60 Prozent.

US-amerikanische Jugendliche rangieren laut einem Bericht von UNICEF in Bezug auf Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit mittlerweile im unteren Viertel der entwickelten Nationen. Untersuchungen zeigen, dass amerikanische Jugendliche ein Stressniveau haben, das das der Erwachsenen übersteigt. Sie sind heute weltweit führend, wenn es um Gewalt, Saufgelage, Marihuana-Konsum und Übergewicht geht. Mehr als die Hälfte der College-Schüler erlebt überwältigende Angstzustände und ein Drittel berichtet von schweren Depressionen. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Selbstmordrate in den USA um 28 Prozent gestiegen.

Wie klar denken Kinder, wenn sie sich müde, gelangweilt und gestresst fühlen? Wie gut nehmen sie neue Informationen auf, wenn sie ängstlich sind? Nehmen sie die Schule ernst? Neigen sie dazu, ihre Neugier auszudrücken und etwas zu lernen?

Hier ist eine Geschichte, die mir viel über die emotionale Atmosphäre in Schulen erzählt.

Die Schulbezirksleiterin eines umfangreichen Großstadtbezirks machte Schulbesuche. Als sie mit der Schulleiterin durch die Flure ging, sah sie ein kleines Mädchen, das auf dem Weg zu einem Klassenzimmer war, und grüßte es, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Das Mädchen ignorierte sie.

„Sie hat nicht einmal Hallo gesagt“, erzählte mir die Schulbezirksleiterin. Nach einem Moment gegenseitiger Verwirrung senkte das kleine Mädchen den Kopf und setzte seinen Weg fort. Anscheinend war den Schulkindern gesagt worden, dass sie nur auf der weißen Linie in der Mitte der Korridore laufen sollten. „Wenn sie zu mir gekommen wäre, um mit mir zu sprechen, hätte sie gegen die Regeln verstoßen“, sagte die Schulbezirksleiterin.

Wir werden nie erfahren, wie dieses Gespräch verlaufen wäre. Der natürliche Instinkt sowohl der Schülerin als auch der Pädagogin, sich aufeinander einzulassen, wurde wegen der Forderung der Schule nach Ordnung unterdrückt.

Was kann bei einem einzigen Austausch geschehen? Einem Moment Smalltalk auf dem Flur? Wahrscheinlich sehr wenig. Obwohl, wenn Sie wie ich sind, haben Sie einige Erinnerungen aus der frühen Kindheit, die aus dem Nebel der Jahre hervorstechen, die den Lauf der Zeit aus keinem anderen Grund überdauert haben, als dass ein Erwachsener in seinem Leben für einen Moment Raum für Sie geschaffen hat. Eine kleine Sache wie diese kann, wenn sie von Herzen kommt, nachhallen.

Es sind nicht nur die Kinder, die sich unterdrückt fühlen. Was ist mit den Lehrkräften? Im Jahr 2017 haben wir in Zusammenarbeit mit dem New Teacher Center mehr als 5.000 Lehrkräfte in den USA befragt und festgestellt, dass sie fast 70 Prozent ihres Arbeitstags damit verbringen, sich „frustriert“, „überwältigt“ und „gestresst“ zu fühlen. Dies stimmt mit den Gallup-Daten überein, aus denen hervorgeht, dass fast die Hälfte der US-Lehrkräfte täglich über hohen Stress berichten. Laut den vom Ärzteblatt veröffentlichten Befragungen, schätzen Lehrkräfte in Deutschland die Belastungen durch die Schule stets als hoch bis sehr hoch ein. Die psychosomatischen Beschwerden bei Lehrkräften zeigen sich vor allem als Erschöpfung, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Angespanntheit, Antriebslosigkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, innere Unruhe oder erhöhte Reizbarkeit. Eine erschreckende Momentaufnahme des Bildungssystems, finden Sie nicht auch?

Wie effektiv sind Lehrerinnen und Lehrer, wenn sie sich genauso frustriert, überwältigt und gestresst fühlen wie die Kinder? Geben sie im Unterricht 100 Prozent? Schnauzen sie die Kinder unbeabsichtigt an oder ignorieren sie ihre Bedürfnisse, weil sie emotional erschöpft sind? Verlassen sie die Arbeit mit dem Gefühl, ausgebrannt zu sein, und fürchten sich vor der morgigen Rückkehr ins Klassenzimmer?

Wenn wir Emotionen nicht verstehen und keine Strategien finden, mit ihnen umzugehen, kontrollieren sie unser Leben – wie bei mir als Kind. Furcht und Angst machten es mir unmöglich zu versuchen, mit meinen Problemen fertigzuwerden. Ich war wie gelähmt. Die Wissenschaft beweist nun, warum. Wenn es jemanden gegeben hätte, der mir diese Kompetenzen beigebracht hätte – wenn es überhaupt jemanden gegeben hätte, der mir gesagt hätte, dass es solche Kompetenzen gibt –, hätte ich vielleicht eher das Gefühl gehabt, die Kontrolle über meine Situation zu haben. Stattdessen konnte ich sie nur ertragen.

Während meiner Vorträge bemerke ich oft, dass sich viele Kinder heute in einer ernsten Krise befinden. Normalerweise veranlasst das jemanden dazu, eine Frage zu stellen, die eigentlich eher eine Meinung ist: „Finden Sie nicht, dass diesen Kindern die Härte und moralische Stärke fehlt, die die Menschen vor Generationen hatten?“

Meine Antwort darauf ist im Laufe der Jahre gereift. Früher hätte mich eine solche Aussage wirklich geärgert. Sie klingt nach einer Person, die nach einem Grund sucht, sich überlegen zu fühlen und den Opfern die Schuld zu geben. Heute halte ich diese Frage für unverantwortlich.

Nehmen wir an, dass Kindern heute die emotionale Kraft fehlt, die wir oder eine andere Generation im Überfluss hatten. Nehmen wir an, dass Kinder in der Vergangenheit genauso herausgefordert waren – vielleicht sogar mehr –, sie aber damit fertig wurden.

Und jetzt?

Bedeutet es, dass wir uns der Verantwortung entziehen, unser Bestes zu tun, um den Kindern von heute zu helfen? Wenn sie ein wenig Hilfe brauchen, ist es dann nicht unsere Aufgabe, sie ihnen zu geben, ohne sie zu verurteilen? Und wenn sie so viel Unterstützung brauchen, wie sind sie dann so geworden? Hat es etwas damit zu tun, wie wir sie erzogen haben?

Vor nicht allzu langer Zeit gab es Kinder mit einem ernsthaften Bedürfnis, das nicht befriedigt wurde. Unsere nationale Antwort war aufschlussreich. Im Jahr 1945, als der Zweite Weltkrieg noch tobte, sagte ein General (und ehemaliger Lehrer) namens Lewis B. Hershey vor dem Kongress aus, dass fast die Hälfte aller Wehrpflichtigen der Armee aufgrund eines mangelhaften Ernährungszustands abgewiesen würden. Er war in einer guten Position, dies zu wissen: Hershey war für das System des selektiven Dienstes zuständig. Er sah die mangel- und unterernährten jungen amerikanischen Männer und erkannte ihre Untauglichkeit für den Krieg.

Der Kongress hat keine Proklamation herausgegeben, in der die Schwäche der jungen Generation verurteilt wurde. Er verabschiedete einen überparteilichen Gesetzesentwurf: den National School Lunch Act.

Mit anderen Worten, wir haben unsere Kinder genährt.

Es ist an der Zeit, unsere Kinder wieder zu nähren.

Am Yale Center For Emotional Intelligence denken wir über nichts anderes nach: Wie wir Menschen helfen können, ihre Emotionen zu erkennen, den Einfluss ihrer Gefühle auf alle Aspekte ihres Lebens zu verstehen und die Kompetenzen zu entwickeln, um sicherzustellen, dass sie ihre Emotionen auf gesunde, produktive Weise nutzen.

Einmal kam der Leiter der Kinderpsychiatrie nach einem Vortrag für psychiatrische Fachkräfte in einem großen Krankenhaus auf mich zu. Er sagte: „Marc, tolle Arbeit. Aber unseren Daten zufolge brauchen wir weitere 8.000 Kinderpsychiater, um die Probleme, die diese Kinder haben werden, in den Griff zu bekommen.“

Ich war fassungslos.

„Sie haben mich missverstanden. Ich will Sie alle aus dem Geschäft drängen“, sagte ich halb im Scherz.

Er dachte, dass all diese gestörten Kinder professionelle Interventionen benötigen würden, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ich sagte, dass wir die Bildung so umgestalten müssen, dass sie auch emotionale Kompetenzen einschließt, sodass professionelle Interventionen weniger notwendig werden.

Es ist fast 30 Jahre her, dass die Idee der emotionalen Intelligenz von meinen Mentoren, Peter Salovey, Professor für Psychologie und derzeitiger Präsident der Yale University, und Jack Mayer, Professor für Psychologie an der University of New Hampshire, eingeführt wurde. Es ist ein Vierteljahrhundert her, dass Daniel Goleman sein Bestseller-Buch Emotionale Intelligenz veröffentlichte, welches das Konzept populär machte. Und doch beschäftigen wir uns immer noch mit den grundlegendsten Fragen, wie zum Beispiel: „Wie fühlen Sie sich?“

Gefühle sind eine Form der Information. Sie sind wie Nachrichtenmeldungen aus dem Inneren unserer Psyche, die Botschaften darüber senden, was in der einzigartigen Person, die jeder von uns ist, als Reaktion auf innere oder äußere Ereignisse, die wir erleben, vor sich geht. Wir müssen auf diese Informationen zugreifen und dann herausfinden, was sie uns sagen. Auf diese Weise können wir die fundiertesten Entscheidungen treffen.

Das ist eine große Herausforderung. Es ist ja nicht so, dass jede Emotion mit einem Etikett versehen ist, auf dem genau steht, was sie ausgelöst hat und warum, und was man tun kann, um das Problem zu lösen. Unser Denken und Verhalten ändert sich absolut als Reaktion auf das, was wir fühlen. Aber wir wissen nicht immer, warum oder wie wir unsere Emotionen am besten angehen sollen. Für Eltern könnte dies ein vertrautes Szenario sein: Wir sehen ein Kind, das eindeutig leidet, und der Grund dafür ist nicht ersichtlich. Wenn Sie einfach „Was ist los?“ fragen, wird die Antwort fast nie die Ursache des Leidens offenbaren. Vielleicht weiß das Kind nicht einmal, was ihm fehlt.

Hier ist ein Beispiel: Wut kann manchmal grundlos oder unerklärlich erscheinen, aber in fast allen Fällen ist sie eine Reaktion auf das, was wir als unfaire Behandlung empfinden. Wir haben irgendeine Art von Ungerechtigkeit erlitten, ob groß oder klein, und das macht uns wütend. Jemand hat sich vor Ihnen in der Schlange vorgedrängelt und Sie sind verärgert. Sie wollten bei der Arbeit befördert werden, aber die Beförderung ging an die Nichte des Chefs und Sie sind empört. Aber beiden Beispielen liegt die gleiche entscheidende Dynamik zugrunde.

Die meisten von uns haben keine Freude daran, mit Ärger umzugehen, ob es nun der eigene oder der einer anderen Person ist. Wenn ein Elternteil oder eine Lehrkraft mit einem scheinbar wütenden Kind konfrontiert wird, ist der erste Impuls oft, mit Strafen zu drohen: Wenn du nicht aufhörst zu schreien, unhöflich zu sprechen oder mit den Füßen zu stampfen, musst du in der Ecke sitzen, oder ich schicke dich auf dein Zimmer, oder du verlierst deine Privilegien!

Wenn es eine erwachsene Person ist, die wütend ist, ist unsere Reaktion nicht viel anders. Wir ziehen uns sofort zurück. Wir hören auf, mitfühlend zuzuhören. Wir fühlen uns angegriffen, was es uns fast unmöglich macht, mit den Informationen umzugehen, die diese Person übermittelt. Aber diese Wut war eine wichtige Botschaft. Wenn wir versuchen können, die Ungerechtigkeit, die sie ausgelöst hat, zu lindern, wird die Wut verschwinden, weil sie ihren Nutzen verloren hat. Wenn nicht, wird sie weitergären, auch wenn sie nachzulassen scheint.

Glücklicherweise gibt es eine Wissenschaft, um Emotionen zu verstehen. Es ist nicht nur eine Frage der Intuition, der Meinung oder des Bauchgefühls. Wir sind nicht mit einem angeborenen Talent geboren, zu erkennen, was wir oder andere fühlen und warum. Wir alle müssen es lernen. Ich musste es lernen.

Wie bei jeder Wissenschaft gibt es einen Prozess der Entdeckung, eine Untersuchungsmethode. Nach drei Jahrzehnten Forschung und praktischer Erfahrung haben wir am Yale Center die Talente identifiziert, die nötig sind, um das zu werden, was wir als „Emotionswissenschaftler“ bezeichnen.

Hier sind die fünf Kompetenzen, die wir identifiziert haben. Wir müssen

• unsere eigenen Emotionen und die anderer erkennen, und zwar nicht nur in den Dingen, die wir denken, fühlen und sagen, sondern auch in Mimik, Körpersprache, Stimmlage und anderen nonverbalen Signalen;

• diese Gefühle verstehen und ihre Ursache bestimmen – welche Erfahrungen tatsächlich die Ursache sind – und dann sehen, wie sie unser Verhalten beeinflusst haben;

• Emotionen mit einem nuancierten Vokabular etikettieren;

• unsere Gefühle im Einklang mit kulturellen Normen und sozialen Kontexten in einer Weise ausdrücken, die versucht zu informieren und den Zuhörenden zu Empathie auffordert;

• Emotionen regulieren, anstatt uns von ihnen regulieren zu lassen, indem wir praktische Strategien für den Umgang mit dem finden, was wir und andere empfinden.

Der Rest dieses Buches ist der Vermittlung dieser Kompetenzen und ihrer Anwendung gewidmet.

In den späten 1990er-Jahren machten Onkel Marvin und ich uns gemeinsam daran, diese Kompetenzen in die Schulen zu bringen. Wir scheiterten. Wir waren bereit, den Unterricht in den Klassen nur für Kinder durchzuführen. Aber einige Lehrkräfte waren dagegen. „Kinder über Ängste zu unterrichten, macht mich nervös“, sagte einer. „Ich öffne diese Büchse der Pandora nicht, um darüber zu sprechen, wie sich diese Kinder fühlen“, sagte eine andere. Wenn die Lehrkräfte nicht an die Bedeutung dieser emotionalen Kompetenzen glaubten, würden sie die Kinder nie effektiv unterrichten können. Also überarbeiteten Marvin und ich, zusammen mit neuen Kollegen in Yale, unsere Vorgehensweise. Wir sahen, dass wir niemals Kinder erreichen würden, wenn wir nicht zuerst Lehrkräfte auf unsere Seite brachten, die die Bedeutung emotionaler Kompetenzen verstehen. Und bald darauf wurde uns klar, dass ganze Schulsysteme nur dann verändert werden können, wenn es ein Engagement ganz oben gibt, auf der Ebene des Schulamts, der Ministerien und der Schulleitung.

Dann wurde deutlich, dass die Kompetenzen noch breiter gefächert werden müssen. Wir Erwachsene müssen alle verstehen, wie unsere Emotionen uns und alle um uns herum beeinflussen, nicht nur Schulkinder. Wir müssen diese Kompetenzen entwickeln und positive Vorbilder sein. Pädagogische Fachkräfte und Eltern müssen zeigen, dass sie in der Lage sind, ihre eigenen Emotionen zu erkennen, über sie zu sprechen und sie zu regulieren, bevor sie anderen diese Kompetenzen vermitteln können. Unsere Forschung in den Klassen zeigt, dass dort, wo eine emotional kompetente Lehrkraft anwesend ist, die Schülerinnen und Schüler weniger gestört werden, sich mehr konzentrieren und bessere schulische Leistungen erbringen. Unsere Studien zeigen, dass die Lehrkräfte an Schulen mit einer emotional kompetenten Schulleitung weniger gestresst und zufriedener sind. Und die Kinder in Familien mit einem emotional kompetenten Elternteil besser in der Lage sind, ihre Gefühle zu erkennen und zu regulieren.

Sobald unsere Kinder zu emotional kompetenten Erwachsenen heranwachsen, wird sich die gesamte Kultur zum Besseren verändern. Aber das Erlernen der Kompetenzen und die Verbesserung der Art und Weise, wie wir auf unsere Gefühle reagieren, bedeutet nicht, dass wir plötzlich die ganze Zeit glücklich sind. Ewiges Glück kann nicht unser Ziel sein – so funktioniert das Leben einfach nicht. Wir brauchen die Fähigkeit, alle Emotionen zu erleben und auszudrücken, sowohl angenehme als auch unangenehme Emotionen herunter- oder hochzuregulieren, um ein größeres Wohlbefinden zu erreichen, fundierte Entscheidungen zu treffen, sinnvolle Beziehungen aufzubauen und zu pflegen und unser Potenzial auszuschöpfen.

Aber das fängt bei uns allen an. Wenn Sie ein Elternteil sind, fragen Sie sich Folgendes: Welche Eigenschaften wünschen Sie sich am meisten von Ihren Kindern, wenn sie erwachsen sind? Sind es mathematische Fähigkeiten, wissenschaftliche Kenntnisse, sportliche Kompetenzen? Oder ist es Selbstvertrauen, Freundlichkeit, Zielstrebigkeit, die Weisheit, gesunde, dauerhafte Beziehungen aufzubauen? Wenn wir uns mit Unternehmen beraten, sagen sie uns, dass sie Angestellte suchen, die an einer Aufgabe festhalten, die persönliche Verantwortung für ihre Arbeit übernehmen, die mit anderen auskommen und als Mitglied eines Teams funktionieren können. Es sind nicht die technischen Fähigkeiten oder Spezialwissen! Gefragt sind erst einmal emotionale Stärken. Ein Kollege von der RAND Corporation erzählte mir, dass die Technologie heutzutage so schnell voranschreitet, dass Unternehmen keine Mitarbeiter für ihre aktuellen Kompetenzen einstellen – Firmen suchen nach Menschen, die flexibel sind, neue Ideen präsentieren, die Zusammenarbeit in Gruppen anregen, Teams führen und anleiten können und so weiter.

Einige dieser Kompetenzen können wir uns durch Osmose aneignen, indem wir andere, die sie besitzen, beobachten und ihnen nacheifern. Aber in den meisten Fällen müssen sie uns beigebracht werden. Und am besten lernt man sie in Gemeinschaften. Emotionale Kompetenzen sind für uns persönlich da, aber auch für die Interaktion mit anderen. Sie können für uns selbst genutzt werden, aber bestenfalls lassen sie sich in einer Gemeinschaft anwenden, sodass ein Netzwerk entsteht, das seinen eigenen Einfluss verstärkt. Ich habe das schon erlebt – diese Kompetenzen werden in Tausenden von Schulen auf der ganzen Welt eingesetzt, mit beeindruckenden Ergebnissen. Die Kinder profitieren natürlich davon: es gibt weniger Mobbing und emotionalen Stress, weniger Fernbleiben vom Unterricht, weniger Suspendierungen und bessere schulische Leistungen. Aber wir haben auch gesehen, dass in Schulen, an denen diese Kompetenzen unterrichtet werden, Lehrkräfte weniger unter Stress und Burn-out leiden, seltener den Beruf aufgeben möchten, zufriedener mit ihrer Arbeit sind und angenehmere Klassen haben.

Wir alle wollen, dass unser Leben und das Leben der Menschen, die wir lieben, frei von Härten und beunruhigenden Ereignissen ist.

Das können wir niemals erreichen.

Wir alle wollen, dass unser Leben mit gesunden Beziehungen, Mitgefühl und Zielstrebigkeit erfüllt ist.

Das können wir erreichen.

Onkel Marvin hat mir gezeigt, wie. Es beginnt mit der Erlaubnis zu fühlen, dem ersten Schritt des Prozesses.

Kapitel 2Emotionen sind Information

Also, wie fühlen Sie sich?

Es handelt sich nicht um eine Fangfrage. Aber sie ist komplizierter, als sie klingt. Wir fühlen immer etwas, meistens mehr als eine Sache auf einmal. Unsere Emotionen sind ein kontinuierlicher Fluss, kein gelegentlich auftretendes Ereignis. In jedem von uns gibt es einen Fluss, der manchmal ruhig dahinfließt, aber zu anderen Zeiten wild ist und über die Ufer tritt. Es gibt viel zu navigieren.

Stellen Sie sich selbst in dem Moment vor, in dem Sie erwachen. Selbst dann, wenn Sie langsam wieder zu Bewusstsein kommen, fühlen Sie etwas. Vielleicht sehnen Sie sich verzweifelt danach, noch eine Stunde liegen zu bleiben. Oder Sie fühlen sich voll aufgeladen und bereit, aus dem Bett zu springen. An einem schlechten Tag schaudern Sie vielleicht bei dem Gedanken an Ihren Arbeitsweg oder davor, was Sie in ein paar Stunden bei der Arbeit erwartet. Es könnte regnen, was Ihre Stimmung noch mehr trüben könnte. Oder Sie könnten sich rundum fröhlich und voller Energie fühlen, dank dem, was Sie später tun werden. Vielleicht spüren Sie große Erleichterung, weil Ihnen einfällt, dass heute Samstag ist. Oder Sie freuen sich auf einen Tag, der von Kreativität und Aufregung erfüllt sein wird. In zehn Minuten könnte Ihr emotionaler Zustand völlig anders sein, je nachdem, was Sie in den Morgennachrichten gesehen haben, was Ihre Lebensgefährtin Ihnen über ihre Pläne für heute Abend erzählt hat oder was Ihnen gerade an den Dachziegeln aufgefallen ist. Unser Gefühlsleben ist eine Achterbahn, die in einem Moment hoch hinauffährt und im nächsten Moment wieder steil nach unten führt.

Stellen Sie sich vor, wie es für Kinder sein muss. Derselbe konstante Fluss von Gefühlen, von erdrückend negativen bis zu euphorisch positiven Gefühlen – von dem Moment an, in dem sie morgens aufwachen, den ganzen Schultag über bis zu dem Moment, in dem sie einschlafen. Nur haben die Kinder noch nicht gelernt, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen – wie sie das, was ihnen im Moment unangenehm ist, unterdrücken und beiseiteschieben, wie sie positive Gefühle zum größtmöglichen Nutzen kanalisieren können. Sie erleben alles so intensiv – Langeweile, Frustration, Angst, Sorge, Aufregung, Hochgefühl. Und sie sitzen stundenlang in einem Klassenzimmer, wobei erwartet wird, dass sie auf jedes Wort achten, das eine Lehrkraft spricht, die wahrscheinlich unter einem ähnlichen emotionalen Druck steht. Die Gehirne von Kindern sind weniger entwickelt als unsere, ihre Abwehrkräfte sind weniger robust, und doch sind die Flüsse der Emotionen, die durch die Kinder fließen, oft stärker als die, die wir erleben. Es ist ein Wunder, dass Kinder überhaupt etwas lernen.

Es gibt so viel zu bewältigen, in jeder Sekunde. Wir können uns nicht jede Minute auf unsere Emotionen konzentrieren. Wir hätten weder die Zeit noch die Konzentration, um noch etwas anderes zu tun. Wir können jedoch nicht durchs Leben gehen und ignorieren, was wir fühlen, oder die Bedeutung davon herunterspielen. Alle Emotionen sind eine wichtige Informationsquelle über das, was in uns vorgeht. Unsere vielfältigen Sinne bringen uns Nachrichten aus unserem Körper, unserem Verstand und der Außenwelt, und dann verarbeitet und analysiert unser Gehirn diese und formt daraus unsere Erfahrung. Wir nennen das ein Gefühl.

Wir Menschen missachten jedoch unsere Gefühle schon seit Langem. Seit Jahrtausenden, noch bevor die stoischen Philosophen des antiken Griechenlands argumentierten, dass Emotionen unberechenbare, eigenwillige Informationsquellen seien. Vernunft und Erkenntnis wurden als höhere Mächte in uns angesehen, die Idee der „emotionalen Intelligenz“ wäre früher unvorstellbar gewesen, ein Widerspruch in sich selbst. Seitdem hat uns ein großer Teil der westlichen Literatur, Philosophie und Religion gelehrt, dass Emotionen eine Art innere Einmischung sind und einem gesunden Urteilsvermögen und rationalem Denken im Wege stehen. Es ist kein Zufall, dass wir immer noch gern denken, dass Intelligenz und Emotionen aus zwei völlig getrennten Teilen unseres Körpers kommen – die eine aus dem Kopf, die anderen aus dem Herzen. Was wurde uns darüber beigebracht, welchem der beiden Teile wir mehr vertrauen sollten?

Wissenschaftler mochten Emotionen nicht, weil sie im Gegensatz zur Intelligenz nicht mit standardisierten Tests gemessen werden können. Der IQ beruht in erster Linie auf „kalten“ kognitiven Prozessen wie dem Erinnern einer Zahlenreihe oder historischer Fakten. Die emotionale Intelligenz hingegen beruht auf „heißen“, sozial-emotional-kognitiven Prozessen, die oft aufgeladen, beziehungsorientiert und darauf ausgerichtet sind, Gefühle und Verhaltensweisen zu bewerten, vorherzusagen und damit umzugehen – unsere eigenen und die anderer Menschen.

Aus diesem Grund setzte das um 1900 formalisierte Studium der Intelligenz die Tradition der Missachtung von Emotionen fort. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts debattierten Psychologen und Philosophen noch immer darüber, ob Emotionen in irgendeiner Weise mit logischem Denken und intelligentem Verhalten zusammenhängen. Es ist kein Wunder, dass die Identifizierung einer emotionalen Intelligenz im Vergleich zu anderen Arten erst spät erfolgte.

Dann, im Jahr 1990, führten die Psychologen Peter Salovey und John Mayer die erste formale Theorie der emotionalen Intelligenz in die wissenschaftliche Literatur ein. Sie definierten sie als „die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Emotionen und die anderer zu beobachten, zwischen ihnen zu unterscheiden und diese Informationen zu nutzen, um das eigene Denken und Handeln zu lenken“.

In Yale interviewte ich Salovey, der sagte: „Ende der 1970er-Jahre begann ich in einem Labor am College menschliche Emotionen zu studieren. Zu dieser Zeit gab es in der Psychologie kein großes Interesse an Emotionen. Die kognitive Revolution war in vollem Gange und die Menschen betrachteten Emotionen als ‚Lärm‘. Die Vorstellung war, dass wir Emotionen haben, aber diese nichts Wichtiges besagen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass das stimmte, und war daher hoch motiviert, Emotionen zu untersuchen, um zu zeigen, dass sie auf positive Weise wichtig sind. Ich wollte zeigen, dass wir aus einem bestimmten Grund ein emotionales System haben. Dass wir ein emotionales System haben, das uns hilft, durchs Leben zu kommen.“

Emotionale Intelligenz war eine Synthese aus drei aufkeimenden Bereichen der wissenschaftlichen Forschung, die zeigte, dass Emotionen, wenn sie vielfältig genutzt werden, logisches Denken und komplexe Problemlösungen unterstützen.

Am Anfang stand die Wiederentdeckung von Charles Darwins funktionaler Sichtweise der Emotionen. Im 19. Jahrhundert leistete er Pionierarbeit bei der Idee, dass Emotionen wertvolle Informationen signalisieren und ein adaptives Verhalten anregen, das für das Überleben von zentraler Bedeutung ist. Die Angst bekam schließlich das ihr gebührende Recht, da sie in der Tat sehr nützlich ist, insbesondere in den Anfängen unserer Art in einer Umgebung mit vielen Gefahren. Es geht nichts über die hilfreiche Furcht, die einen dazu bringt, aufzustehen und vor einer hungrigen Säbelzahnkatze zu fliehen.

Als Nächstes folgten Hinweise darauf, wie Emotionen und Stimmungen eine wesentliche Rolle bei Denkprozessen, Urteilen und Verhalten spielen. Sozialwissenschaftler, die clevere Experimente durchführten, und Hirnforscher, die verschiedene Hirnregionen untersuchten, begannen zu entdecken, wie Emotionen mit Kognition und Verhalten interagieren. Die Forschung zeigte, dass Emotionen unserem Denken Sinn, Priorität und Fokus verleihen. Sie sagen uns, was wir mit dem Wissen tun sollen, das unsere Sinne liefern. Sie motivieren uns zum Handeln.

Psychologen schlugen die Idee einer „kognitiven Schleife“ vor, die unsere Stimmung mit unserem Urteil verbindet. Wenn eine Person beispielsweise gut gelaunt ist, hat sie mit größerer Wahrscheinlichkeit positive Gedanken und Erinnerungen, die wiederum die Person dazu veranlassen, über positive Dinge nachzudenken (die Schleife). In einer klassischen Studie setzte der Psychologe Gordon Bower von der Stanford University Hypnose ein, um Probanden glücklich oder traurig zu machen. Dann mussten sie drei Aufgaben erfüllen: Wortlisten abrufen, Einträge in ein Tagebuch schreiben und sich an Erlebnisse aus der Kindheit erinnern. Versuchspersonen, die sich traurig fühlten, erinnerten sich an mehr negative Erinnerungen und negative Worte und erinnerten sich an mehr unangenehme Ereignisse für ihre Tagebücher. Ebenso erinnerten sich die Probanden, die sich glücklich fühlten, an fröhlichere Erinnerungen, Worte und positivere Ereignisse. In einer anderen Studie der verstorbenen Alice Isen, Professorin an der Cornell University, und ihrer Kollegen wurde einigen Personen eine Komödie und anderen überhaupt kein Film gezeigt. Im Anschluss folgte ein Test auf kreatives Denken. Die Ergebnisse zeigten eine deutliche Zunahme der Kreativität bei denjenigen, die den Film gesehen hatten – denjenigen, die sich in einem „Positiver-Effekt-Zustand“ befanden – im Vergleich zu den Probanden der anderen Gruppe. Es ist eine natürliche Voreingenommenheit – wir alle nehmen „stimmungskongruente“ Informationen am leichtesten wahr und rufen sie ab. Es ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie unsere Emotionen unser Denken beeinflussen.

Der dritte Bereich wissenschaftlicher Untersuchungen war die Suche nach „alternativen“ Intelligenzen, die ein breites Spektrum geistiger Fähigkeiten umfassen sollten statt einer einzelnen geistigen Fähigkeit: den IQ. Unter den Forschern herrschte zunehmende Frustration über die Unfähigkeit von IQ-Tests, wichtige Ergebnisse im Leben von Personen zu erklären. Howard Gardner, Professor an der Harvard University, schlug eine Theorie der multiplen Intelligenzen vor, die Pädagogen und Wissenschaftlern riet, einen größeren Schwerpunkt auf Fähigkeiten zu legen, die über verbale und mathematische Befähigungen hinausgehen, wie intrapersonale (das Bewusstsein der eigenen Stärken und Schwächen) und interpersonale (die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren und sich in andere hineinzuversetzen) Kompetenzen. Andere Forscher, darunter Robert Sternberg, ein Psychologe, der heute an der Cornell University lehrt, schlugen eine Theorie der „erfolgreichen Intelligenz“ vor und forderten Wissenschaftler und Pädagogen auf, kreative und praktische Fähigkeiten in Betracht zu ziehen. Nancy Cantor und John Kihlstrom, Psychologen an der Stanford University, bauten auf Forschungen von Edward Thorndike in den 1920er-Jahren auf und drängten auf einen stärkeren Fokus auf „soziale Intelligenz“ – die Fähigkeit, Wissen über die soziale Welt zu sammeln, Menschen zu verstehen und in sozialen Beziehungen klug zu handeln.

In den späten 1990er-Jahren hatte die emotionale Intelligenz endlich Gleichstand mit den anderen Formen der Intelligenz erreicht. Neurowissenschaftler, Psychologen und Intelligenzforscher waren sich einig, dass Emotion und Kognition Hand in Hand arbeiten, um eine anspruchsvolle Informationsverarbeitung durchzuführen. Es begann sich eine Forschung abzuzeichnen, die zeigte, dass es individuelle Unterschiede in der Fähigkeit der Menschen gibt, mit und über Emotionen zu denken. So zeigte die Forschung zum Beispiel ein breites Spektrum an Fähigkeiten, Emotionen im Gesichtsausdruck genau wahrzunehmen und Emotionen zu regulieren.

Alles in diesem Buch basiert auf den letzten fünf Jahrzehnten der Forschung über die Rollen, die Emotionen in unserem Leben spielen. Auf ihrer höchsten Ebene, aus evolutionärer Sicht, haben Emotionen einen äußerst praktischen Zweck: Sie sichern unser Überleben. Sie machen uns intelligenter. Wenn wir sie nicht bräuchten, gäbe es sie nicht.

Ich habe fünf Bereiche herausgearbeitet, in denen unsere Gefühle am wichtigsten sind – die Aspekte unseres Alltagslebens, die am stärksten von unseren Emotionen beeinflusst werden. Erstens bestimmt unser emotionaler Zustand, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken, woran wir uns erinnern und was wir lernen. Als Zweites folgt die Entscheidungsfindung: Wenn wir von starken Emotionen wie Ärger oder Traurigkeit, aber auch Hochgefühl oder Freude gepackt werden, nehmen wir die Welt anders wahr, und die Entscheidungen, die wir in diesem Moment treffen, werden beeinflusst, im Guten wie im Schlechten. Als Drittes folgen unsere sozialen Beziehungen. Was wir fühlen – und wie wir die Gefühle anderer Menschen interpretieren – sendet Signale aus, uns anzunähern oder aus dem Weg zu gehen, uns anderen anzuschließen oder Abstand zu halten, zu belohnen oder zu bestrafen. Der vierte Bereich ist der Einfluss von Emotionen auf unsere Gesundheit. Positive und negative Emotionen verursachen unterschiedliche physiologische Reaktionen in unserem Körper und Gehirn; sie setzen starke Chemikalien frei, die wiederum unser körperliches und geistiges Wohlbefinden beeinträchtigen. Und der fünfte Bereich hat mit Kreativität, Effektivität und Leistung zu tun. Um große Ziele zu erreichen, gute Noten zu bekommen und als Team bei der Arbeit erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Emotionen so einsetzen, als wären sie Werkzeuge. Was sie natürlich auch sind – oder sein können.

Emotionen und Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Lernen

Jedes Lernen hat eine emotionale Grundlage.

— Plato

Beginnen wir damit, dass wir untersuchen, wie unsere Emotionen unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis beeinflussen, die zusammen unsere Lernfähigkeit bestimmen.

Denken Sie darüber nach: Emotionen bestimmen, was Ihnen im Moment wichtig ist. Wenn wir uns zu Tode langweilen oder vom kommenden Wochenende träumen, nehmen wir das, was wir gerade auf dieser Seite lesen, wahrscheinlich nicht auf. Wenn wir Angst haben, dann beschäftigt die Quelle dieser Angst all unsere Gedanken. Wenn das Haus brennt, haben wir nur ein Ziel: Raus hier! Wenn wir plötzlich in körperliche Gefahr geraten – sei es, dass wir beim Wandern einem knurrenden Bären gegenüberstehen oder nachts in der Stadt spazieren gehen und von einem bewaffneten Fremden gestoppt werden – hören wir praktisch auf, an etwas anderes zu denken. Die Natur hat unsere Gehirne so verkabelt, und das ist gut so: Jede Ablenkung in diesem Moment könnte sich als tödlich erweisen.

Die Furcht vor nicht greifbaren Gefahren – Verlegenheit, Scham, albern oder nicht zum Anlass passend gekleidet zu sein – funktioniert auf ähnliche Weise. Wir können sie als Angst oder Sorge statt als Terror erleben. Die Emotion kann sogar uns selbst eitel und irrational erscheinen. Das spielt keine Rolle. Wie wir gesehen haben, sind Gefühle höchst unempfindlich gegenüber kalter Logik. Wenn wir unter allen Umständen ein ungünstiges Ergebnis erwarten, sind wir gehemmt und können kaum an etwas anderes denken. Vielleicht sollte unsere Aufmerksamkeit woanders sein, aber wir können unsere Gedanken in diesem Moment nicht umlenken.

Starke negative Emotionen (Furcht, Wut, Angst, Hoffnungslosigkeit) verengen unseren Fokus – es ist, als ob unsere periphere Sicht abgeschnitten wäre, weil wir uns so sehr auf die Gefahr konzentrieren, die im Vordergrund steht. Dieses Phänomen hat auch eine physiologische Seite. Wenn diese negativen Gefühle vorhanden sind, reagiert unser Gehirn mit der Ausschüttung von Cortisol, dem Stresshormon. Dadurch wird der präfrontale Kortex daran gehindert, Informationen effektiv zu verarbeiten, sodass selbst auf neurokognitiver Ebene unsere Fähigkeit zum Fokussieren und Lernen beeinträchtigt ist. Sicherlich kann ein moderates Maß an Stress – das Gefühl, herausgefordert zu werden – unsere Konzentrationsfähigkeit verbessern. Es ist chronischer Stress, der toxisch ist und das Lernen biologisch herausfordernd macht. Deshalb war ich in der Mittelstufe ein schlechter Schüler. Ich war zu sehr von familiären Problemen und Mobbing überwältigt, um im Unterricht geistig präsent zu sein. Als ich 40 Jahre alt war, fuhr ich in meine Heimatstadt, um meine alte Schule zu besuchen. Zwei unvergessliche Dinge geschahen. Erstens hatte ich in dem Moment, als ich die Schule betrat, eine viszerale Reaktion: Ich fühlte erneut die Angst und die Scham. Ich verwandelte mich umgehend wieder in den verletzlichen 13-jährigen Jungen. Zweitens konnte ich mich nur an Dinge erinnern, die mit meinen Mobbing-Erfahrungen zusammenhingen. Ich konnte mich weder an die Namen der meisten Lehrkräfte noch an irgendeinen Unterrichtsstoff erinnern, den ich gelernt hatte.

Es sind nicht nur negative Gefühle, die unsere geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können. Nehmen wir an, ein High-School-Schüler befindet sich in der Gewalt des typischen hormonellen Hurrikans, der die meisten Teenager heimsucht. Geschichtsunterricht kann einfach nicht mit romantischen Fantasien mithalten, die viel mehr Spaß bringen. Es ist ein Wunder, dass es Jugendlichen gelingt, etwas zu lernen, wenn man sich all die berauschenden Tagträume vor Augen führt, mit denen unser Kopf in diesem Alter voll war. Jüngere Kinder sind nicht weniger besessen, aber sie stellen sich vor, was sie Tolles tun werden, wenn der Schultag vorbei ist oder sie in den Ferien nach Disney World fahren. Freude und Ausgelassenheit sind so stark wie jede andere Emotion, wenn es um unsere Fähigkeit geht, unsere Gedanken dorthin zu lenken, wo wir sie haben wollen. Anstatt die Produktion von Cortisol zu stimulieren, werden positive Emotionen im Allgemeinen mit der Freisetzung von Serotonin, Dopamin und anderen „Wohlfühl“-Neurochemikalien in Verbindung gebracht, die ihren Einfluss auf unser Denken und Verhalten ausüben.

Die Forschung zeigt heute, dass unterschiedliche Emotionen unterschiedlichen Zwecken des Lernens dienen. Wenn wir unsere kritischen Fähigkeiten einsetzen müssen – wenn wir zum Beispiel einen Brief, den wir geschrieben haben, redigieren müssen und nach Fehlern suchen und diese korrigieren wollen – kann uns eine negative Geisteshaltung besser dienen als ihr Gegenteil. Pessimismus kann es uns leichter machen, Dinge vorauszusehen, die schiefgehen könnten, und dann die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um diese zu verhindern. Schuldgefühle wirken wie ein moralischer Kompass. Angst treibt uns dazu an, Dinge zu verbessern, die wir in einer großzügigeren Stimmung zu akzeptieren bereit wären. Sogar Wut ist eine große Motivation – im Gegensatz zur Resignation bringt sie uns dazu, zu handeln und vielleicht sogar das zu korrigieren, was uns überhaupt wütend gemacht hat. Wenn wir wütend sind, weil wir sehen, wie jemand misshandelt wird, stehen wir wahrscheinlich auf und schreiten ein.

Stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich fröhlich und aufgedreht, schwindlig vor Aufregung, während Sie ein Bewerbungsschreiben fertigstellen. Das ist möglich, aber es ist gesunde Angst, nicht Freude, die uns dazu bringen kann, unsere Interpunktion und Satzstruktur dreifach zu überprüfen. Negative Emotionen haben eine konstruktive Funktion: Sie helfen uns, unsere Aufmerksamkeit einzuengen und zu fokussieren. Es ist Traurigkeit, nicht Freude, die uns helfen kann, ein schwieriges Problem zu bewältigen. Es ist Begeisterung, die viele Ideen hervorbringt. Aber zu viel Enthusiasmus bringt einer Gruppe nicht den nötigen Konsens – er zerstreut die Energie, die für den Entscheidungsfindungsprozess bei dem vorliegenden Problem notwendig ist, sei es mathematisch oder zwischenmenschlich.

Wir erleben derzeit eine scheinbare Krise im Bildungswesen. Unsere Kinder sind müde, gelangweilt und gestresst. Die Lehrkräfte sind frustriert, stehen unter Druck und sind überfordert. Viele sind innerlich ausgestiegen und die Fehlzeiten sind auf Rekordhöhe. Wie haben wir darauf reagiert? Indem wir versucht haben, das Verhalten der Schülerinnen und Schüler noch stärker zu kontrollieren, als wir es bereits tun. Oder indem wir neue Mathematik- und Alphabetisierungsprogramme einführen oder strengere Lernstandards festlegen. Keine dieser Lösungen befasst sich mit der Tatsache, dass das Gefühl der Schulkinder dem, was sie lernen, Bedeutung verleiht. Die Forschungsergebnisse sind klar: Emotionen bestimmen, ob Bildungsinhalte wirklich verarbeitet werden und in Erinnerung bleiben. Die Verknüpfung von Emotionen mit dem Lernen stellt sicher, dass die Kinder den Unterricht im Klassenzimmer als relevant empfinden. Das ist es, was sie dabei unterstützt, ihre Absicht und Leidenschaft zu entdecken, das ist es, was sie beharrlich bleiben lässt. Wann immer wir merken, dass wir plötzlich Schwierigkeiten mit unserer Aufmerksamkeit, Konzentration oder dem Erinnern haben, sollten wir uns fragen: Welche emotionalen Informationen befinden sich direkt unter der Oberfläche unserer Gedanken? Und was können wir tun, um unsere Gedanken wieder in den Griff zu bekommen?

Emotionen und Entscheidungsfindung

Der Affekt ist nicht nur notwendig, um Weisheit zu erlangen; er ist auch unwiderruflich in das Gewebe jeder Entscheidung eingewoben.

— Antonio Damasio, Neurowissenschaftler, University of Southern California

Haben Sie jemals eine schlechte Entscheidung getroffen? Sie haben auf Ihr Bauchgefühl gehört, und als es sich als falsch herausgestellt hat, haben Sie sich vor die Stirn geschlagen und gesagt: „Das war wirklich dumm von mir! Was habe ich mir dabei gedacht?“ Es war ein mentaler Aussetzer, oder vielleicht hatten Sie nur nicht richtig darüber nachgedacht. Im Nachhinein ist klar zu erkennen, was Sie nicht berücksichtigt haben. Hoffen wir, dass Sie eine Lektion gelernt haben.

Es ist vernünftig, sich das zu wünschen – aber was war die Lektion?

Wir glauben, dass unsere Fähigkeit, rational zu denken und zu argumentieren, unsere höchste mentale Kraft ist, die unserer unbändigen emotionalen Seite überlegen ist. Dies ist nur ein Streich, den uns unser Gehirn spielt – tatsächlich üben unsere Emotionen einen großen, wenn auch meist unbewussten Einfluss darauf aus, wie unser Verstand funktioniert. Diese Tatsache wird besonders deutlich, wenn es um den Entscheidungsprozess geht.