Die Kraft der Musik - Elena Cheah - E-Book

Die Kraft der Musik E-Book

Elena Cheah

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Beschreibung

»Im Grunde undenkbar: ihre Länder führen erbittert Krieg, und sie musizieren miteinander. Die Geschichten dieser Musiker bewegen uns tief.« Elke Heidenreich

Das West-Eastern Divan Orchestra wurde 1999 von Daniel Barenboim und Edward Said in Weimar gegründet. Es vereinigt Musiker aus verschiedenen Ländern des Nahen Ostens. Was als unwägbares kulturelles Experiment begann, wurde bald zu einer einzigartigen Begegnungsstätte. Elena Cheah verwebt die Geschichte des Projekts mit den Porträts von etwa zwanzig Orchestermitgliedern: Ihre Geschichten erzählen von ihren Erfahrungen im West-Eastern Divan Orchestra, ihren Freundschaften und Schwierigkeiten miteinander, von dem alltäglichen Zusammenleben und der Musik, die sie vereint, auch wenn ihr Glaube, die politischen Fakten und reale Grenzen zwischen ihnen stehen. Diese bewegende Nahaufnahme zeigt deutlich, welche verbindende Kraft die musikalische Zusammenarbeit hat, auch wenn der Riss in dieser Krisenregion mitten durch die Herzen der Menschen geht.

Die Autorin ist Mitglied des Orchesters und unterrichtet an Barenboims Academia de Estudios Orquestales in Sevilla.

Mit einem Vorwort von Daniel Barenboim und einem Nachwort von Edward Saids Witwe Mariam.

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Seitenzahl: 442

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Zur Erinnerung an Edward Said und für die Zukunft des West-Eastern Divan Orchestras

Ich bedanke mich herzlich bei Familie Linkenbach für die wunderbare ligurische Ruhe.

Inhaltsverzeichnis

WidmungDaniel Barenboim: VorwortVorspiel und »Liebestod«Daniel CohenNabeel Abboud AshkarBlick hinter die KulissenDas »Trio infernale« – Matthias Glander, Tabaré Perlas und Axel WilczokDissonanzen erlaubtSharon CohenGeorges YammineNassib Al AhmadiehDer MaestroDie Fußballmannschaft des OrchestersYuval Shapiro und Bassam MussadGuy EshedTyme KhleifiMit dem Divan Orchestra im FlugzeugAlberto und Pablo MartosEine gewaltige kollektive EnergieMeirav KadichevskiEine west-östliche FamilieMohamed Saleh IbrahimAsaf MaozDie Diskussion geht weiterTalib Zaki»Ihr spielt nicht für euren Lebensunterhalt, ihr spielt für euer Leben«Guy BraunsteinEin Anschlag auf die klassische MusikKarim SaidStaatenlosYasminAlle Wege führen nach RomEdward Saids Dankesrede anlässlich der Verleihung des Prinz-von-Asturien-PreisesMariam C. Said: Mein Engagement bei der Barenboim-Said-Stiftung und beim West-Eastern Divan OrchestraZeittafelCopyright

Daniel Barenboim: Vorwort

Selbstverständlich kann das West-Eastern Divan Orchestra keinen Frieden in den Nahen Osten bringen. Wir sind Musiker, keine Politiker. Mein verstorbener Freund Edward Said und ich haben dieses Orchester 1999 als ein Experiment für Menschen gegründet, die glauben, dass die Politik der Menschheit dienen sollte und nicht umgekehrt. Wir wollten in Ermangelung einer politischen eine menschliche Lösung schaffen.

Heute, nach zehn Jahren des Experimentierens, freue ich mich darüber, dass einzelne Mitglieder vom West-Eastern Divan Orchestra in diesem Buch die Gelegenheit haben, ihre eigene persönliche Entwicklung zu erzählen. Die meisten kommen selbst zu Wort, andere Lebensgeschichten werden detailliert und einfühlsam von Elena Cheah wiedergegeben, die in den vergangenen drei Jahren das Orchester und seine Mitglieder erlebt und mit ihnen musiziert hat. Diese Einzelgeschichten entwickeln sich parallel zum Orchester und erzählen auch seine Geschichte aus subjektiven Blickwinkeln.

Ich wünsche mir aufrichtig, dass diese Schilderungen persönlicher Erlebnisse und Gefühle allen Menschen im Nahen Osten Herz und Verstand öffnen, und ich bin sicher, Edward Said hätte genauso gedacht. Diese Einblicke in ganz subjektive Empfindungen können gewiss nicht den Frieden herbeiführen, aber sie können das Interesse der Leser an der Geschichte des Nahen Ostens wecken. Wir Menschen aus dem Nahen Osten sind alle große Künstler, wenn es darum geht, historische Tatsachen zu missbrauchen, um unser Opfersein zu beweisen und uns in Selbstmitleid zu suhlen. Es wäre weitaus produktiver, wenn wir unsere Neugier und unser Wissen zur Entwicklung von Visionen und zur Schaffung der Bedingungen für eine bessere Zukunft einsetzten.

Leser im Nahen Osten werden vielleicht von einigen der untypischen Meinungen, die hier von geografischen Nachbarn vorgebracht werden, positiv überrascht sein. Edward Said und ich glaubten daran, gegensätzlichen Stimmen gleichzeitig Gehör geben zu müssen; wir waren nicht daran interessiert, einen Gedankengang vorzugeben, den sich alle zu eigen machen sollten. Wir stützten dieses Prinzip auf den Kontrapunkt in der Musik, bei dem eine subversive Begleitstimme eine Melodie eher hervorheben als schwächen kann. Bis heute versuchen wir nicht, unsere Differenzen im Orchester abzubauen oder auszugleichen: Wir betreiben das Gegenteil. Indem wir unsere Differenzen offen austragen, versuchen wir, die Logik hinter der gegensätzlichen Position zu verstehen.

Ich bin sehr stolz auf die Reife der hier porträtierten Musiker, und ich zolle ihrem Mut allen Respekt.

Vorspiel und »Liebestod«

Ein Orchester ist immer ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Dieses besondere Orchester ist der Mikrokosmos einer Gesellschaft, die es niemals gegeben hat und die es vielleicht niemals geben wird. Im West-Eastern Divan Orchestra, das 1999 in Weimar gegründet wurde, spielen Musiker aus Israel, Palästina, Jordanien, dem Libanon, Syrien, Ägypten, der Türkei, aus dem Iran und aus Spanien. Es trifft jeden Sommer für mehr als einen Monat zusammen, um Nahostthemen zu diskutieren, zu proben und Konzerte zu geben. Ein Monat scheint kein langer Zeitraum zu sein, aber dieser Monat besteht aus sehr anstrengenden Proben und Auftritten, vielen sozialen Kontakten und sehr wenig Schlaf. Jeder einzelne Moment ist mit einer außerordentlichen Energie aufgeladen. Die Zeit dehnt sich nicht nur, sondern sie nimmt eine andere Qualität an. Die Musiker arbeiten und leben einen Monat lang unter äußerst beengten Bedingungen mit Kollegen zusammen, die vielleicht aus Ländern kommen, die sie niemals werden betreten können.

Jedes Jahr finden für neue Mitglieder Vorspiele statt, aber viele Musiker werden immer wieder eingeladen. Damit wurde es dem Orchester möglich, sich über die Jahre hinweg sowohl musikalisch als auch sozial zu entwickeln und zu reifen. Die Musiker, die in diesem Buch über ihre Erfahrungen berichten, sind keineswegs wichtiger oder unwichtiger als andere Musiker des Orchesters aus seiner Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Jeder Musiker eröffnet mit seiner Geschichte einen Blick in die Seele des Orchesters, die für Außenstehende unvorstellbar ist: Die Seele des Orchesters ist eine Originalkomposition in ständigem Wandel, die gemeinsam von allen Mitgliedern geschrieben wird, die seine Einzigartigkeit besser wiedergeben können als jeder andere.

Ich schätze mich äußerst glücklich, so viel Zeit mit dem Divan Orchestra verbracht zu haben. Meine Mitwirkung ergab sich durch eine Reihe von Zufällen. Ich komme nicht aus einem der oben genannten Länder. Ich wurde in den USA geboren. 1999 lebte ich bereits in Deutschland, aber von dem Orchester erfuhr ich erst 2005, nachdem ich einen Ein-Jahres-Vertrag als Solocellistin an der Staatskapelle Berlin erhalten hatte, dem Orchester der Deutschen Staatsoper. Maestro Daniel Barenboim hatte viele meiner neuen Kollegen dafür gewonnen, die jungen Divan-Musiker zu unterrichten, und sie erzählten mir von dem Orchester. Das Projekt faszinierte mich, und ich hoffte, eines Tages den Workshop besuchen zu können, um das Orchester zu hören und seine Mitglieder kennenzulernen.

2006 ging mein Wunsch dank eines unglücklichen Ereignisses in Erfüllung. Eine Woche vor dem Termin, der für den Workshop angesetzt war, brach im Libanon der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah aus. Die libanesischen Musiker saßen plötzlich in ihrem eigenen Land fest, und einige andere arabische Musiker hielten es unter diesen Umständen für unmöglich, am Workshop teilzunehmen. Insgesamt fehlten fünfzehn Musiker, ein beachtlicher Prozentsatz für ein Orchester von achtzig oder neunzig Mitgliedern. Zunächst bestand noch die Hoffnung, dass bald ein Waffenstillstand ausgehandelt würde und die fehlenden Musiker anreisen könnten. Aber als Tage und dann Wochen verstrichen, schien dieser Fall immer unwahrscheinlicher. Die Probenzeiten waren fast vorüber, die Konzerttournee sollte beginnen, und das Orchester war immer noch nicht vollständig. Man entschied, die Tournee mithilfe von einigen wenigen fremden Berufsmusikern durchzuführen. Da ich Interesse an dem Projekt gezeigt hatte, gehörte ich zu den Musikern, zu denen Tabaré Perlas Kontakt aufnahm, Barenboims persönlicher Assistent und der Organisator des West-Eastern Divan Orchestras.

In diesem Sommer gab es immer noch arabische Musiker aus Palästina, Ägypten und Jordanien beim Divan Workshop, aber die Ausgewogenheit war gestört. Die wenigen Berufsmusiker, die im letzten Moment einsprangen, konnten das musikalische Gleichgewicht des Orchesters vielleicht wiederherstellen, nicht aber das soziale, wie mir bald klar wurde.

Am 6. August 2006 kam ich nachmittags im Gästehaus Lantana in Pilas an, dem Veranstaltungsort des Workshops. Das ehemalige Kloster in der Nähe von Sevilla wirkt wie ein Universitätscampus en miniature, mit Unterkünften, Probenräumen und einer Cafeteria in verschiedenen Gebäuden. Zitronenbäume spenden ausreichend Schatten, um auf dem im Hochsommer stacheligen Rasen zwischen den Gebäuden zu sitzen, und hinter dem Parkplatz befindet sich ein Swimmingpool mit olympischen Dimensionen.

Das spartanische, mit Linoleum ausgelegte Zimmer, das mir zugedacht war, lag zum Parkplatz hin, und ich konnte die Hitzeschwaden vom Asphalt aufsteigen sehen. Ich hatte nicht viel Zeit zum Auspacken, denn für diesen Abend war eine Probe in der Stierkampfarena von Sevilla angesetzt, wo das Orchester zwei Tage später auftreten sollte. Ich schaute mich auf dem Campus um, und mich überkam das Gefühl, als wäre ich zu spät in einem Sommerlager angekommen, in dem die anderen Jugendlichen längst wussten, wie alles läuft. Als ich beispielsweise den Flur entlangging, sah ich durch einige geöffnete Türen die Matratzen auf dem Boden liegen, die von den Zimmerbewohnern offensichtlich aus den Metallrahmen gehoben worden waren. Als ich später in meinem Zimmer auf einem der knarrenden, alten Doppelbetten saß, wusste ich, warum.

Ich kam früh bei der Plaza de Toros an. Ich wollte mich ein wenig umsehen, da ich noch nie zuvor in einer Stierkampfarena gewesen war. Es war nicht gerade die nächstliegende Wahl als Aufführungsort von Beethovens Neunter Symphonie, aber sie hatte den Vorteil, mehreren tausend Zuschauern Platz bieten zu können. Mitten in der Plaza de Toros, dort, wo normalerweise die Stierkämpfe stattfinden, hatte man eine Bühne aufgebaut. Bald trafen die Orchesterbusse ein, und die Musiker begannen auszupacken und ihre Instrumentenkästen ordentlich aufgereiht an die Stierboxen zu lehnen.

Vor meiner Ankunft gab es nur eine ungerade Anzahl von Cellisten im Orchester, deshalb saß eine Jugendliche aus Ramallah allein am letzten Pult. Ich setzte mich neben sie, und wir unterhielten uns. Sie spielte erst seit eineinhalb Jahren Cello, aber sie hatte es geschafft, die Beethoven-Symphonie so gut zu üben, dass sie mit dem Orchester auf Tournee gehen konnte. Sie war vierzehn Jahre alt und hatte Geige gespielt, bevor sie zum Cello wechselte, aber die Musik war nicht ihr Ein und Alles: Sie wollte Ärztin werden.

Während der ersten gemeinsamen Probentage hatte es wegen eines Schmuckanhängers in Form des aktuellen israelischen Staates, den sie an einer Halskette trug, beträchtlichen Ärger in der Cellogruppe gegeben. Quer über diesen Anhänger stand das Wort »Palästina«. Aufgrund des Kriegs gab es in diesem Jahr mehr Israelis als Spanier oder Araber in der Cellogruppe, und diese fühlten sich von der Halskette zutiefst beleidigt. Sie bestanden darauf, dass sie sie ablegte.

Als ich sie kennenlernte, gab es keinen Schmuckanhänger mehr, aber die Erinnerung an die Streitigkeiten war noch im Gedächtnis aller verhaftet. Anscheinend waren einige der anderen dankbar dafür, dass nun eine Außenstehende neben ihr saß.

Die Probe ging bald los, und ich beobachtete meine Pultnachbarin aus der Nähe. Es wäre interessanter gewesen, beim ersten Mal dem ganzen Orchester zuzuhören, aber wegen der fehlenden natürlichen Akustik war es schwierig, irgendetwas anderes außer den Instrumenten in der direkten Umgebung wahrzunehmen. Gleichzeitig war ich neugierig, wie eine relative Anfängerin mit Beethovens Neunter Symphonie zurechtkäme, eine Herausforderung, die ich mir kaum vorstellen konnte.

Sie meisterte diese Aufgabe außerordentlich gut. Offensichtlich lagen bestimmte Passagen jenseits ihrer Fähigkeiten mit dem Instrument, aber sie wusste genau, wann sie voll ausspielen und wann sie sich ein wenig zurücknehmen musste, um die Gruppe nicht mit falschen Tönen zu irritieren. Sie verlor nie den Anschluss.

Nachdem wir die Symphonie durchgespielt hatten, stellte Barenboim eine Anti-Kriegs-Erklärung vor, die er gemeinsam mit Edward Saids Witwe Mariam aufgesetzt hatte. Er meinte, das Orchester sei es sich und den nicht anwesenden Musikern schuldig, eine Erklärung in den Konzertprogrammen abzudrucken, solange der Krieg anhielt. Er las sie dem Orchester laut vor:

»In diesem Jahr steht unser Projekt in scharfem Kontrast zu der Grausamkeit und der Brutalität, die so viele unschuldige Zivilisten der Möglichkeit beraubt, in einer Weise weiterzuleben, wie es ihren Idealen und Träumen entspricht. Die Zerstörung von lebensnotwendiger Infrastruktur durch Israel im Libanon und im Gazastreifen, die eine Million Menschen entwurzelt und unzählige zivile Opfer gefordert hat, und die wahllose Bombardierung der Zivilbevölkerung im Norden Israels durch die Hisbollah stehen unseren Vorstellungen diametral entgegen. Ebenso widersprechen die Ablehnung eines sofortigen Waffenstillstands und die Weigerung, Verhandlungen aufzunehmen, um ein für alle Mal den Konflikt umfassend zu lösen, den grundlegenden Wesenszügen unseres Projekts zutiefst.«

Während Barenboim die Erklärung verlas, sah ich mich um und versuchte, die Reaktionen der Musiker einzuschätzen. Ich konnte keine einzige eindeutige Reaktion erkennen. Danach bat Barenboim das Orchester zu überlegen, ob sie gedruckt werden solle, und ihm mitzuteilen, ob möglicherweise Veränderungen vorgenommen werden sollen. Er nahm das nachfolgende Schweigen als ein Zeichen der Zustimmung und entließ das Orchester für diesen Abend. Es war schon recht spät geworden, und einige hatten es eilig, den Bus zu nehmen und zum Abendessen nach Pilas zurückzukehren. Als ich die Bühne verließ, sah ich jedoch eine Gruppe Musiker, die sich, in hitzige Diskussionen verstrickt, um Barenboim scharte. Erst später fand ich heraus, dass es sich um Israelis handelte.

Am nächsten Tag wurde beim Mittagessen die Erklärung immer noch leidenschaftlich diskutiert. Ein junger Israeli fühlte sich in die Ecke gedrängt: »Ich bin mit dieser Erklärung nicht einverstanden, aber ist meine einzige Alternative, das Orchester zu verlassen? Ich möchte mir nicht nur deswegen die gesamte Konzerttournee entgehen lassen!« Eine andere israelische Jugendliche sagte zu mir gewandt: »Ich bin nicht gegen den Krieg, ich unterstütze meine Regierung!«

Ich fragte mich im Stillen, wie es möglich war, einen Krieg gegen die eigenen Kollegen und den Krieg überhaupt zu unterstützen, während man selbst an einem Workshop teilnimmt, dessen einzige Aussage zum israelisch-palästinensischen Konflikt lautet, dass es keine militärische Lösung gibt. Es war nur der erste von vielen persönlichen Widersprüchen, die ich bei den Mitgliedern dieses absolut ungewöhnlichen Orchesters entdecken sollte.

Direkt nach dem Mittagessen, während wir immer noch die Erklärung diskutierten, begaben sich alle zum Probenraum, wo wir die Zugabe einstudieren wollten: das Vorspiel und den »Liebestod« aus der Wagner-Oper Tristan und Isolde. Waltraud Meier, die das Divan-Projekt sehr engagiert unterstützte, saß bereits, von einer kleinen Besuchergruppe umgeben, in dem Raum. Sie befand sich hier in Pilas, um mit dem Orchester die Beethoven-Symphonie zu proben und aufzuführen. Als wir mit dem Vorspiel begannen, zeigte ihr Gesichtsausdruck, dass man ihr nicht gesagt hatte, was wir proben würden. Ihr Blick wirkte zunächst schockiert, als wäre sie aus Versehen in das Wohnzimmer eines Fremden geraten, wich aber allmählich einer ungläubigen Akzeptanz. Offensichtlich kämpfte die Sopranistin mit den Tränen. Ich saß im Orchester neben einer jungen Israelin und musste selbst meine Tränen zurückhalten, während die Spannung immer größer wurde.

Ich hatte diese Oper oft gespielt, unter Christian Thielemann an der Deutschen Oper Berlin und unter Barenboim an der Berliner Staatsoper. Jede einzelne Aufführung ist mir in denkwürdiger Erinnerung geblieben, aber dieses Mal war es anders. »Warum?«, fragte ich mich selbst, während ich spielte und den immer üppigeren harmonischen Wogen lauschte. Projizierte ich gerade meine eigenen sentimentalen Vorstellungen von Frieden und Zusammenarbeit auf das Orchester und die Musik? Führte ich gerade einen nichtmusikalischen Aspekt in meine Wahrnehmung der Musik ein und wollte etwas hören, das gar nicht existierte? Als wir weiterspielten, verstand ich, dass die Antwort »Nein« hieß. Ich hörte in jeder einzelnen Phrase eine gewisse absichtsvolle Einheit, ein Verständnis für die angestaute und ungelöste Spannung, eine sinnliche Beziehung zu dem endlos anhaltenden Klang, und ein wahrnehmbares Einfühlungsvermögen in die Modulationen des Stücks. Das alles war keine Fantasie, es war wirklich. Es war auch ohne die Zuhilfenahme eines nichtmusikalischen Gefühls völlig überwältigend.

Dann begann Waltraud Meier zu singen. Sie blickte zum Orchester und öffnete ihre Arme in unsere Richtung, als würde sie uns alle mit ihrer Stimme umfangen. In der Oper birgt dieser Moment immer ein atemberaubendes Gefühl, ja sogar Erleichterung, wenn man zu Beginn des »Liebestods« die Tremolo-Akkorde und die Stimme der Sängerin aufsteigen hört. Aber im Opernhaus hatte ich das immer nur vom Orchestergraben aus gehört, und ganz gleich, wie großartig die Sängerin war, sie war weit entfernt und richtete sich über unsere Köpfe hinweg an das Publikum im Dunkeln. Nun hatte ich die vermutlich großartigste Isolde aller Zeiten vor Augen, die mit uns sang, zu uns und für uns. Uns: In genau diesem Moment begann ich mich unbewusst mit den israelischen, arabischen und spanischen Musikern zu identifizieren, die um mich herum spielten.

Man musste sich einfach mit einer Gruppe von Menschen identifizieren, die so vollendet musizierte. Ich spielte mit ihnen und fühlte mich instinktiv musikalisch mit ihnen vereint. Waltraud Meiers Stimme umfing tatsächlich unseren Klang, vermischte sich mit dem Orchester und stand darüber, sie erhob sie über jedem einzelnen Crescendo und nahm jedes einzelne Diminuendo vorweg. Diese Geschlossenheit hatte ich nie zuvor gehört. Als es vorbei war, war ich für die Anwesenheit der kleinen Besuchergruppe dankbar, die nach einer respektvollen Stille zu klatschen begann. Applaus war der einzige Klang, der den Bann der Musik schmerzlos brechen konnte.

Nach dieser Probe wusste ich, dass ich im Divan Orchestra angekommen war. Nun war ich ein Teil von ihm, ob ich wollte oder nicht.

Im Jahr 2007 war der Workshop Bestandteil der Salzburger Festspiele, und das Divan Orchestra stand im Mittelpunkt zahlreicher Festspielereignisse. Ich kehrte im Sommer wieder zu dem Orchester zurück, um eine Gruppe von palästinensischen Kindern aus Nazareth, Ramallah und anderen Gebieten des Westjordanlandes zu unterrichten. Die Arbeit mit diesen Kindern ergänzte den Workshop der »Big Kids«. Für die Kinder war es eine Gelegenheit, Intensivunterricht zu erhalten und das Orchester bei den Proben und Aufführungen zu beobachten.

Einmal gab es eine Podiumsdiskussion mit acht oder neun Mitgliedern vom West-Eastern Divan Orchestra, und jeder dieser Musiker sagte ein paar Worte über seinen kulturellen Hintergrund und seinen Beitrag zum Workshop. Als sie sich der Reihe nach vorstellten und die Fragen aus dem Publikum beantworteten, sah ich ein schönes Bild aufsteigen: ein Gewebe, das von vielen Einzelpersönlichkeiten aus verfeindeten Nationen geschaffen worden war, die gelernt hatten, irgendwie miteinander zusammenzuleben, und dabei immer die richtige Balance zwischen Aufrichtigkeit und Diplomatie, Konfrontation und Versöhnung, Gefühl und Logik suchten. Beim Anblick dieser Musiker auf der Bühne dachte ich all die anderen hinzu, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Bühne befanden, von denen jede und jeder Einzelne seine eigene Geschichte mit dem Divan Orchestra hatte. In diesem Moment entschied ich, dass diese Geschichten erzählt werden sollten.

Ich begann mich mit den Musikern zu unterhalten, von denen ich wusste, dass sie viel zu berichten hatten, und überlasse ihnen hier weitgehend persönlich das Wort. Einige der Musiker sind geborene Geschichtenerzähler, andere nicht. Manchmal erzähle ich ihre Geschichten auch in der dritten Person, das erlaubt mir, Ereignisse von innen und von außen zugleich zu beschreiben. Durch eine hin und wieder vorgenommene Veränderung des Fokus konnte ich letztlich alle einbeziehen, die etwas beizutragen hatten.

Natürlich fiel es vielen der hier porträtierten jungen Musiker nicht leicht, ihre Meinungen und Ansichten schwarz auf weiß gedruckt zu sehen, vor allem wenn sie inzwischen eine andere als die hier dargestellte Position vertreten. Der Leser möge insofern stillschweigend davon ausgehen, dass sich die persönliche Meinung bestimmter Musiker in der Zeit bis zur Drucklegung verändert haben könnte und dass in der Zwischenzeit viele neue Aspekte hinzugetreten sind. Dieses Buch ist ganz einfach die Momentaufnahme eines Projekts, das einen kontinuierlichen Wandel erlebt. Die Geschichte des West-Eastern Divan Orchestras wird weitergesponnen werden  – und das hoffentlich noch sehr lange.

Daniel Cohen

Daniel Cohen war der erste Musiker, mit dem ich über seine Erfahrungen im Divan Orchestra sprach, und er erleichterte mir die Sache sehr. Erstens war er nach dem Abschluss seines Dirigierstudiums von London nach Berlin gezogen und wohnte praktischerweise nur fünf Minuten Fußweg von mir entfernt. Zweitens begann er, sobald wir in seiner kleinen, aufgeräumten Küche saßen und am Pfefferminztee nippten, mich mit leidenschaftlichen und humorvollen Geschichten zu unterhalten, die von seiner frühen Kindheit bis zu seinem letzten Sommer mit dem Divan Orchestra reichten. Daniels Mutter stammt aus einer europäischen jüdischen Familie, sein Vater kam in einer irakischen jüdischen Familie in Bagdad zur Welt, er hat also europäische und arabische Wurzeln.

Ich hatte für ihn eine Liste mit Fragen vorbereitet. Sie lag unberührt auf dem Küchentisch, während er mir von Dingen erzählte, die ich niemals gefragt hätte. Die Erzählungen Daniels waren für mich die bestmögliche Vorbereitung auf die späteren Gespräche mit den übrigen Musikern, denn er berichtete ausführlich über alle wichtigen Ereignisse der Workshops von 2003 bis jetzt, und er berührte viele der unvermeidlichen Widersprüche, die entstehen, wenn man ein patriotischer Israeli ist und wie ein Außenstehender auf den Nahen Osten blickt. Mich beeindruckten seine Offenheit und Bereitwilligkeit, über heikle und manchmal schmerzhafte Themen mit mir zu sprechen, einem Menschen, den er nur von zwei Sommer-Workshops kannte. Als ich Daniel zum ersten Mal besuchte, las er gerade The Iron Wall von Avi Shlaim, ein Buch, das Israels Geschichte aus einer recht anderen Perspektive darstellt als der, die in israelischen Lehrbüchern und Klassenzimmern bevorzugt wird. Avi Shlaim hatte das Divan Orchestra besucht, und dies war das erste Buch des Historikers, das Daniel gelesen hatte. So wie Daniel über das Buch sprach, war offensichtlich, dass es ihn zugleich faszinierte und verstörte. Er schien sich im Zustand eines kontrollierten Aufruhrs zu befinden, bei dem er den Zusammenbruch seiner alten Glaubensgrundsätze erlebte, ohne jedoch schon eine stabile Struktur zur Stützung der neuen Glaubensgrundsätze aufgebaut zu haben. Dabei machte er sich mit dem ihm eigenen Humor über seine Qualen lustig. In der Vergangenheit hätte ich das als jüdischen Humor bezeichnet, aber nach zwei Sommern, die ich gemeinsam mit Juden und Arabern verbracht habe, kann ich das nur noch den Divan-Humor nennen.

Das Divan Orchestra ist so sehr mit meinem Leben verflochten, dass ich gar nicht weiß, wie ich mich dem Thema nähern soll, wie ich anfangen soll. Als ich im Sommer 2003 als Neunzehnjähriger zum ersten Mal zum Divan Orchestra kam, war die Situation anders als heute. Jetzt gibt es einen harten Kern von Musikern, die sich kennen und jedes Jahr wiederkommen, und ein gewisses Grundvertrauen macht eine vernünftige Diskussion möglich. In meinem ersten Jahr war das noch anders. Wir haben allmählich eine Art Sensibilität für das entwickelt, was »die andere Seite« als beleidigend empfindet. Am Anfang waren wir darauf nicht so eingestimmt.

Zu Beginn taten die Auseinandersetzungen weh, sehr weh sogar. Ich erinnere mich, aus einer Diskussion zitternd herausgestürmt zu sein. Ich war so wutgeladen, dass ich mich gar nicht beruhigen konnte. Der Anlass war kein Vortrag, sondern ein Film, und ich glaube, alle oder zumindest die meisten der Israelis gingen während der Vorstellung hinaus. Es war ein Dokumentarfilm mit dem Titel Route 181, bei dem der Israeli Eyal Sivan und der Palästinenser Michel Khleifi gemeinsam Regie geführt hatten. In diesem Film gingen sie die Waffenstillstandslinie, die »Green Line« von 1949, entlang, die die israelischen von den palästinensischen Gebieten trennen sollte, und sprachen mit den Menschen, die sie unterwegs trafen. Dabei ist die Grenze zwischen intellektuell provozierendem Kino und Propaganda sehr schmal und absolut spürbar. Ich glaube, die meisten von uns Israelis saßen vor der Leinwand und dachten, wenn wir Propaganda hätten hören wollen, wären wir nicht zum Divan Orchestra gekommen. Wir waren alle gewaltig aufgebracht.

Bestimmt hatten viele von uns keinen größeren Einwand gegen den Grundgedanken des Films, dass die Menschenrechte der Palästinenser, die unter der Besatzung leben, verletzt werden. Man kann gewiss davon ausgehen, dass vermutlich die meisten Musiker vom Divan Orchestra ohnehin so denken. Das ist meine Überzeugung, denn wie könnte man sonst überhaupt an dem Workshop teilnehmen? Es gibt natürlich Ausnahmen. Nicht, dass man bestimmte politische Ansichten vertreten müsste, um ein Teil vom Divan Orchestra zu sein, man kann durchaus auch nur wegen der Musik kommen. Aber wenn man nicht denkt, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, würde man sich vermutlich kaum bei diesem Workshop wiederfinden. Allerdings waren in diesem Film die einzigen Israelis, die interviewt wurden, rechte Siedler, und wenn man diesen Leuten bestimmte Fangfragen stellt, kennt man die Antworten schon im Voraus. Der Film war keine faire Darstellung der israelischen Meinung.

Außerdem ärgerten wir uns sehr über die Verwendung von einigen Bildern in dem Film. Es gibt da eine Aufnahme von einem Stacheldrahtzaun, der zwischen Wachtürmen an Bahngleisen entlang verläuft. Dieses Bild sieht man in Israel immer wieder als Verweis auf den Holocaust, es ist einem fest ins Gedächtnis gebrannt: Diese Bilder sind schon fast zu Symbolen geworden. Obwohl es in meiner Familie keine lebendige Erinnerung daran gibt, habe ich diese Bilder Jahr für Jahr gesehen, seit ich mich erinnern kann. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Wachtürme oder Checkpoints im Westjordanland gibt – natürlich gibt es die –, aber allein die Verwendung genau dieses Bildes sagt schon etwas aus. Auch wenn ich selbst nicht mit der Besatzung leben könnte, und so sehr ich sie auch anprangere und ablehne, ich halte einen Vergleich zwischen der Besatzung und dem Holocaust zumindest für unklug, wenn nicht sogar für manipulativ und absolut ungerecht. Es ist diese Art von Provokation, die einen dazu bringt, sich auf die Hinterbeine zu stellen, weil sie mit den Instinkten spielt, die seit der Kindheit beeinflusst wurden: Vorsicht, Holocaust – anfassen verboten!

Dennoch unterstelle ich bei der Planung der Diskussionsrunden und Gastvorträge für das Orchester immer eine gute Absicht. Nicht jeder der Beiträge war großartig, und einige von ihnen, wie dieser Film, waren schlecht gewählt. Bei anderen hingegen war die Provokation konstruktiv. Ich erinnere mich an den Besuch von Mustafa Barghouti vor drei oder vier Jahren in Pilas: Er war ziemlich leidenschaftlich. Dieser palästinensische Arzt, frühere Politiker und Begründer der Organisation Medical Relief, war zu Gast, als gerade die Mauer im Westjordanland errichtet wurde. Er zeigte uns ein paar Landkarten, und ich erinnere mich, dass ich sie recht beunruhigend fand und dachte, sie könnten eigentlich nicht wahr sein. Er zeigte uns sowohl die Grenzen von 1967 als auch die Stellen, an denen nun die Mauer errichtet werden sollte.

Diese Mauer zersplitterte das Westjordanland in kleine Inseln, die völlig isoliert voneinander lagen und die den Palästinensern keine Chance gaben, eine gemeinsame nationale Identität auszubilden oder irgendeine Art von Eigenstaatlichkeit anzustreben. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: »Diese Propaganda kann ich mir nicht anhören. Das ist schrecklich, das muss falsch sein, denn das, was ich in Büchern gelesen und in den Nachrichten gesehen und gehört habe, muss wahr sein.« Das Merkwürdige daran war, dass tatsächlich niemand log. Jede Seite legte einfach nur den Teil der Wahrheit dar, den sie präsentieren wollte. Aber ich denke, den größten Schock bereitete mir Mustafa Barghouti mit der Aussage »Ihr Israelis«. Ich kann mich daran erinnern, dass er seine Ausführungen mit dieser Phrase begann: »Ihr Israelis redet mit uns, als ob wir etwas von euch haben wollten, und ihr gebt es uns, als hätten wir kein Recht darauf, ihr gebt es uns wie ein Almosen.« Ich glaube, damit antwortete er jemandem, der gesagt hatte: »Aber im Oslo-Abkommen wollten wir euch doch dies geben und wir wollten euch doch jenes geben …« Man merkte, dass er wirklich aufgeregt war. Er ist ein wirklich angenehmer Mensch und ein charismatischer Redner, aber er kann durchaus wütend werden. Er sagte: »Ihr wollt uns immer etwas geben, als gehörte euch, was ihr gebt.«

Plötzlich war mir klar, dass man mir tatsächlich beigebracht hatte, die Palästinenser wollten uns etwas wegnehmen. Man hatte mir nicht gesagt, dass sie dachten, ein Recht darauf zu haben. Ob sie nun dieses Recht haben oder nicht, darum geht es nicht, auch wenn ich denke, dass sie es haben. Aber die Art, wie die Wahrheit vom israelischen Standpunkt aus gezeigt wird, führt zu einem Denken, das den Konflikt mit den Palästinensern nicht lösen kann. Und was Mustafa Barghouti angeht: Selbst wenn ich ihm achtzig Prozent des Gebiets geben wollte, wäre es nicht akzeptabel. Nur sein Recht anzuerkennen, dieses Gebiet zu regieren, wäre akzeptabel. Diese Erkenntnis hatte eine gewaltige Auswirkung auf mich und mein Denken. Damals mochte ich ihn wirklich nicht besonders, und als ich zu ihm ging, um mit ihm allein zu reden, ärgerte ich mich noch sehr über ihn, und ihm ging es genauso, aber später saß er neben uns am Tisch, und wir aßen gemeinsam.

Tatsächlich ist er ein liebenswürdiger Mann und ein begnadeter Politiker. Er weiß, wie man einen Konflikt provoziert, aber auch, wie man ihn löst. Er weiß, wie weit er Dinge treiben kann, eine Fähigkeit, die nicht viele Politiker in unserer Region besitzen. Als Israeli musste ich mit der Idee klarkommen, dass Palästinenser tatsächlich eine Nation darstellen und dass ihre Forderungen auf dem Völkerrecht im Allgemeinen beruhen. Damit bin ich nicht aufgewachsen. Wenn man sich heutzutage unter Menschen unserer Generation umhört, werden fast alle sagen, dass sie links stehen, denn es ist ziemlich in, links zu sein. Wir Linke sind doch alle so gute Menschen …! Wenn man jedoch in Israel aufwächst, passiert es einem sehr leicht, dass man manche Dinge nicht registriert oder sie einfach nicht mitbekommen will.

Leider hörte ich nur einen von Edward Saids Vorträgen, seinen letzten beim Divan Orchestra vor seinem Tod. Es war ein eindrucksvolles Erlebnis, das vier Stunden dauerte. Er sprach nicht direkt über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Er sprach darüber, indem er Themen wie die menschliche Natur und die Menschenrechte behandelte. Zumindest in diesem Vortrag, den ich hörte, war der Konflikt für ihn nur ein Ausgangspunkt. Er war ein Virtuose. Man konnte spüren, dass der Mann ein Denker war, kein Politiker. Die Diskussion darüber, wie viel Prozent des Landes wem zugeschlagen werden, interessierte ihn überhaupt nicht. Er wollte zu grundlegenderen Themen kommen, zu den Menschenrechten, den individuellen Rechten unter der Besatzung und den Aufgaben der Nationen.

Ich bekam durch das Divan Orchestra zu vielen Intellektuellen und Politikern Kontakt, ohne wirklich zu wissen, wer sie waren oder was für Standpunkte sie vertraten. Nicht, dass ich zu jung war, es interessierte mich nur nicht genug, und ich beschäftigte mich wenig damit. Das bereue ich mittlerweile wirklich sehr. Diese Menschen haben mich zwar zum Denken angeregt, aber es reichte nicht aus, um aus ihren Besuchen wirklich Nutzen zu ziehen. Wenn beispielsweise jemand wie der palästinensische Menschenrechtsaktivist, Schriftsteller und Anwalt Raja Shehadeh vor uns stand, fehlten mir die Mittel, ihm auf den Zahn zu fühlen. Ich konnte nur dasitzen und zuhören und mehr oder weniger beeindruckt sein, das war alles. Daran trug selbstverständlich außer mir niemand die Schuld, aber ich bedaure es zutiefst, denn diese Diskussionen könnten einem das Leben verändern.

Ich wuchs in Israel auf und studierte an der Tel Aviv Academy. In meinem ersten Streichquartett spielte ich mit Nabeel Abboud Ashkar aus Nazareth, der später im Divan Orchestra mein Pultnachbar wurde. Ich begann mein Studium an dieser Akademie mit fünfzehn, noch bevor ich die Schule beendet hatte, denn die Musik machte mir mehr Spaß als der Unterricht.

Ich habe bei einer Russin der alten Schule mit dem Geigenunterricht begonnen. Sie war für ihre guten Schüler wie eine Mutter. Am Anfang ging ich nach der Schule zu ihr nach Hause und verbrachte dort vier oder fünf Stunden. Sie bot mir dann Tee und Plätzchen an, und ich übte in einem anderen Raum, während sie unterrichtete. Zu Hause hätte ich niemals geübt. Mit der Zeit wurde aus der Freizeitaktivität ein Schulersatz.

Ich sagte meiner Mutter, dass ich in der Schule überhaupt nichts lerne. Ich hatte Angst, weil die anderen Kinder größer waren als ich. Sie prügelten nur herum, und ich hatte keine Lust hinzugehen. Meine Mutter sagte: »Wenn du nicht magst und lieber zu deiner Geigenlehrerin zum Üben gehst, dann gehe zu ihr und übe.« Sie hatte überhaupt kein Problem damit, dass ich die Schule abbrach. Wenn ich ohnehin nichts lernte, wo war dann das Problem?

Meine Mutter sagte: »Schau, du wirst also ein paar Dinge nicht lernen. Wenn sie dich interessieren und du den Willen hast, etwas darüber zu erfahren, wirst du immer in einem Buch nachschlagen und es dir aneignen können.« Und sie hatte recht.

Ich begann also an der Tel Aviv Academy, wo ich mit einer Sonderregelung des Direktors an den Kursen teilnehmen und bewertet werden konnte, nachdem ich den High-School-Equivalency-Test bestanden hatte. Ich musste für meinen Abschluss in Musik eine bestimmte Anzahl externer Kurse in anderen Fächern belegen, und einer meiner Lieblingskurse war Dr. Ungers Kurs »Epochen der westlichen Kulturgeschichte«. Die Begegnung mit Dr. Unger war ein Glücksfall. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich ihn schätzte und liebte. In seinem Kurs ging es nicht nur um Philosophie, sondern um viel mehr: Er behandelte Themen wie die industrielle Revolution oder Shakespeare, Dante und Galileo oder maßgebliche Strömungen der westlichen Kultur. Seine Stärke lag gar nicht so sehr in der Vermittlung des Stoffs, aber nach seinem Kurs hatte man immer das Gefühl, das Dringlichste wäre nicht das Essen oder Trinken, sondern seinen Wissensdurst zu stillen.

Eigentlich hätte mich meine Ausbildung zu Schlussfolgerungen bringen müssen, zu denen ich nicht gelangt bin. Bevor ich Israel verließ und einige Zeit außerhalb des Landes verbrachte, konnte ich nicht erkennen, wie sehr ich selbst indoktriniert war, obwohl ich nicht einmal die üblichen Erfahrungen eines Jugendlichen in Israel gemacht hatte. Nicht, dass ich eine besonders umfassende Ausbildung gehabt hätte, aber die Art meiner Ausbildung hätte mich misstrauisch machen müssen, dass das, was ich hörte, nur eine Seite der Wahrheit war. Die Indoktrination war jedoch so gewaltig, dass ich sie von innen nicht wahrnahm.

Dabei spreche ich über keine konkrete Erinnerung an etwas, das irgendjemand zu mir gesagt hätte. Es geht ein wenig tiefer. Es ist etwas, das man in seiner Umgebung beobachtet und in sich aufnimmt, etwas, das man in Schlagworten hört oder als Zeichen registriert. Es ist wie bei Orwell: Du hast es eine Million Mal erlebt, aber du kannst dich an keine einzige Situation erinnern, in der dir jemand tatsächlich etwas Derartiges gesagt hätte. Es ist etwas, womit man einfach aufwächst, es ist eine Wahrheit, die man nicht in Frage stellt.

Ich kann mich immer noch daran erinnern, wie ich das erste Mal hörte, dass Nabeel sich als Palästinenser bezeichnete. Bei einem Interview im Divan Workshop saß ich neben ihm, als ihn jemand fragte: »Sie sind also Israeli?« Und er antwortete: »Ich bin ein Palästinenser, der in Israel lebt.« Das traf mich wie ein Schlag. Das widersprach meinem Wissen über die Leute, mit denen ich aufgewachsen bin. Es war ein Schock, dass Nabeel sich selbst als Teil des palästinensischen Volkes betrachtete, das nicht im Palästinensergebiet, sondern im israelischen Gebiet lebte. Im Nachhinein ist mir das völlig klar, aber damals war es für mich etwas Neues, denn ich hatte Nabeel unter ganz anderen Bedingungen kennengelernt. Ich wusste, dass er Araber war, ein sogenannter israelischer Araber. Ich hätte nie gedacht, dass er sich selbst als Palästinenser sieht, der in Israel lebt. Ich dachte, die bei uns lebenden Araber betrachteten sich als Israelis arabischer Herkunft. Das hatte man mir immer gesagt.

Als ich noch jünger war, habe ich mich nicht für politische Themen interessiert. Tatsächlich hatte ich sogar bis zum letzten Jahr kein Interesse daran, obwohl ich seit 2003 regelmäßig an den Workshops und Konzertreisen des Divan Orchestras teilnahm. Das klingt wirklich schrecklich, aber irgendwie befand ich mich auf der richtigen Seite des Konflikts. Ich konnte es mir leisten, mich davon nicht stören zu lassen.

Einige der Erfahrungen mit dem Divan Orchestra haben mein aktuelles Interesse an der Politik und der Geschichte von meinem Teil der Welt geweckt. Das unvergessliche Konzert, das wir 2005 mit dem Orchester in Ramallah gaben, ist eine davon. Das ist etwas in meinem Leben, worauf ich ganz besonders stolz bin. Allerdings war die Reise nach Ramallah oder, genauer gesagt, meine Entscheidung, mich dem Orchester auf diesem Weg anzuschließen, weder mutig noch einfach.

Nach vielen Spekulationen über die Sicherheit und einigen Diskussionen erklärte Daniel Barenboim schließlich, dass wir tatsächlich nach Ramallah reisen würden. Ich muss zugeben, dass seine Ankündigung mich nicht gerade mit Freude erfüllte, obwohl ich ihn sehr dafür bewunderte, dass er dort auftrat, und die Idee, dort zu spielen, voll und ganz unterstützte. Aber ich bin ein überdurchschnittlich furchtsamer Mensch, und die Aussicht, nur unter dem Schutz der palästinensischen Polizei und mithilfe eines spanischen Diplomatenpasses »feindliche Linien« zu passieren und in das Palästinensergebiet zu gelangen, reizte mich keineswegs. Bilder von dem bestialischen Lynchmord in Ramallah, die ich 2000 im Fernsehen gesehen hatte, quälten mich. Ich war ziemlich verängstigt. Daniel Barenboim hatte versprochen, dass jeder, ganz gleich, aus welchem Grund, sich frei entscheiden könne, nicht mitzureisen. Dies im Hinterkopf, entschied ich mich dagegen.

Aber der Maestro bestand darauf, mit jedem einzelnen Orchestermitglied, das Zweifel hegte, persönlich zu sprechen. Er verbrachte viele Stunden damit, mit den Israelis zu diskutieren, die besorgt waren, wider besseres Wissen und trotz des Verbots ihrer eigenen Regierung, in das Palästinensergebiet zu reisen. Er traf sich mit den Syrern, die befürchteten, auf ihrer Reise nach Ramallah israelisches Gebiet zu betreten – was syrischen und libanesischen Staatsangehörigen verboten ist – und entweder dort oder bei ihrer Rückkehr in Syrien Probleme zu bekommen. Er sprach sogar mit den Spaniern, die aus vielen anderen Gründen verunsichert waren, und so weiter und so fort. Für jede Person nahm er sich mit dem ihm eigenen Eifer und Temperament Zeit für Antworten und Erklärungen und beruhigende Gesten. Ich habe niemals jemanden erlebt, der mehr an etwas geglaubt hat, als Daniel Barenboim an die Wichtigkeit dieses Orchesterauftritts in Ramallah. Dann war ich an der Reihe.

Als ich ihm sagte, dass ich nicht mitfahren wolle, weil ich Angst hatte, fragte er mich ganz ruhig und mit müder Stimme, ob ich glaubte, er würde seinen eigenen Sohn (den damaligen und jetzigen Konzertmeister unseres Orchesters) zum Auftritt mitnehmen, wenn er irgendwelche Sicherheitsbedenken hätte. Als ich an meiner Meinung festhielt, verlor er jedoch schnell die Geduld. Er sagte, von jedem anderen hätte er diese Antwort akzeptiert, aber nicht von mir. Dann schrie er so etwas wie, ich hätte mehr zwischen meinen Ohren als zwischen meinen Beinen, und stürmte aus dem Raum.

Seither habe ich oft Witze darüber gerissen, dass ich schließlich in Ramallah gelandet bin, weil ich am Ende mehr Angst vor Daniel Barenboim als vor der Hamas hatte. Die Wahrheit ist etwas komplizierter und hat sehr viel mit einem Telefonat zu tun, das ich mit meiner Mutter direkt nach diesem fürchterlichen Streit führte. Ich stand in einer Telefonzelle vor dem Hotel in Wiesbaden, wo sich das Orchester zu diesem Zeitpunkt der Tournee gerade aufhielt.

Meine Mutter ist wirklich eine wunderbare Frau. Wie viele jüdische Mütter umsorgt sie ihr jüngstes Kind mit übertriebenem Eifer. Sie steckt voller Ängste und Zweifel, aber auch voller Widersprüche. Sie hörte sich alles an, was ich zu sagen hatte, und dann stellte sie mir eine einfache Frage: »Findest du, dass es richtig ist, in Ramallah aufzutreten?« Als ich mit »Ja« antwortete, sagte sie: »Dann musst du es machen.«

Ich kann nicht erklären, was es für meine Mutter bedeutete, dies zu sagen. Aber ihre Stärke und ihre Unterstützung gaben mir den Mut, der mir fehlte. Ich spazierte ins Hotel zurück und sah, wie Daniel Barenboim auf mich zukam. Ich sagte: »Ich habe gerade mit meiner Mutter gesprochen, und ich fahre mit Ihnen nach Ramallah.« Er sagte kein einziges Wort, aber er schüttelte meine Hand mit einem Gesichtsausdruck, den ich nur als aufrichtig erfreut beschreiben kann, und ging weiter.

Ironischerweise hatte ich einen wunderschönen Tag auf dieser Fahrt, auch wenn dies wohl nicht der Sinn der Sache war. Es verlief nicht alles rosig, aber als wir dann endlich aufbrachen, war meine Anspannung wie weggeblasen. Es gab nur einen einzigen Moment der Unsicherheit für mich, als wir auf der israelischen Seite in die deutschen kugelsicheren Autos stiegen. Wir hatten eine eigene Leibwache und einen gepanzerten Wagen mit Sirenen, und wir durften den Kulturpalast in Ramallah nicht verlassen. Nachdem ich mich erst einmal für die Reise entschieden hatte, war es ganz einfach. Manchmal hält man etwas für sehr schwierig und verschwendet viel Energie darauf, sich darüber Gedanken zu machen. Aber wenn man es schließlich tut, ist es gar keine große Sache.

Die Konzerttournee im Jahr 2005 war schwierig und lang. Vor der Fahrt nach Ramallah waren wir in Südamerika gewesen, und wir hatten bereits mehr als einen Monat zusammen verbracht. Die Erfahrungen mit dem Divan Orchestra sind immer sehr intensiv. Und wir waren ständig zusammen gewesen, sodass jeder Augenblick, den man danach getrennt verbringt, unendlich lang erscheint. Die Araber mussten nach Amman fliegen und von der jordanischen Seite her in das Westjordanland einreisen, während die spanischen Musiker und wir Israelis nach Tel Aviv fliegen und in Israel bleiben sollten. Unsere Tournee führte uns nicht direkt nach Ramallah. Wir Israelis kamen nach Hause und schliefen in unseren eigenen Betten, und es war fast so, als würde man wieder in den Zustand zurückversetzt, Israeli zu sein. Dann mussten wir von dort nach Ramallah fahren, wo wir wieder mit den anderen zusammentrafen. So dramatisch war es nun auch wieder nicht, aber wenn man darüber nachdenkt, was es bedeutet, nicht als eine Gruppe mit verschiedenen Nationalitäten zu reisen, sondern die Gruppe in zwei Teile zu teilen – es ist einfach eine andere Geschichte. Wir machten während dieser Zeit der Trennung so viele Veränderungen durch. Beim Divan Orchestra gibt es eine gewisse gemeinsame Identität. Es macht einen Unterschied, wenn ich mein normales Leben in Israel führe, zwar nicht unbedingt im Hinblick darauf, wie ich über die Situation denke, aber meine Empfindungen ändern sich. Insofern war es ein drastisches Wechselbad der Gefühle innerhalb kurzer Zeit. Als ich später mit meiner Mutter den Dokumentarfilm Knowledge is the Beginning über das Divan Orchestra anschaute, sah sie, wie wir im Konzertsaal in Ramallah aufeinander zuliefen und uns mit wirklich großer Freude umarmten. Sie fragte mich: »Wie lange habt ihr euch denn da nicht gesehen?« Ich antwortete: »Zwei Tage.«

Das Konzert in Ramallah war das letzte einer sechswöchigen Tournee, und als wir uns danach verabschiedeten, trennten wir uns von manchen Leuten für zwei Jahre, obwohl wir es damals noch nicht wussten. 2006 war ein sehr schwieriges Jahr, wegen des Libanonkriegs. Auch musikalisch war es sehr schwierig, denn fünfzehn Musiker fehlten, und fünfzehn Musiker sind in dem Orchester eine ganze Menge. Die Leute kamen aus den verschiedensten Gründen nicht, aber es war auffällig, dass es so viele waren. Ich erinnere mich, wie mich das verletzt hat. Ich habe es den damals fehlenden Musikern gegenüber nie erwähnt. Im Lauf der Zeit habe ich es ein bisschen anders zu sehen gelernt, denn mittlerweile habe ich mehr darüber erfahren, was 2006 im Libanon tatsächlich passierte. Ich erinnere mich jedoch, gedacht zu haben: »Es ist nicht richtig, dass wir hier sind und sie nicht.« Ich habe das wirklich nicht auf die leichte Schulter genommen, und ich weiß auch nicht, ob ich an ihrer Stelle gekommen wäre. Aber ich fühlte mich ein wenig betrogen, als ich in Pilas ankam und herausfand, dass sie fehlten und dass sie es offenbar für richtig hielten, in diesem entscheidenden Moment nicht zu kommen. In dem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass sie uns nicht ertragen konnten, während wir, trotz all unserer Verbitterung wegen des Kriegs und der Gewalt, da waren, um sie zu treffen.

Ich hütete mich vor dem Gedanken, dass sie uns Musiker mit den Handlungen unserer Regierung gleichsetzen würden, und ich weigerte mich zu denken, dass meine Freunde mich für einen Aggressor hielten. Ich habe sie gewiss nicht für Aggressoren gehalten. Ich dachte nur, dass unsere Arbeit wichtiger sei als der Krieg. Dass es wichtiger sei, während des Kriegs zusammenzutreffen, als dass einige von uns eine Erklärung gegen den Krieg abgäben. Ich dachte, wenn sie in ihren Ländern blieben, wäre das ein schwächeres Statement, als wenn sie gekommen wären und die Zeit mit uns verbracht hätten. Aber da ich selbst nicht dort war und das durchgemacht habe, was sie durchgemacht haben, kann ich mir kein Urteil erlauben.

Der Workshop 2006 war wirklich äußerst schwierig. Die Freude über die gemeinsame Anstrengung wurde durch die Tatsache, dass eben diese Gemeinsamkeit fehlte, sehr getrübt. Der Krieg beherrschte einen Großteil unseres Denkens und unserer Energie. Das Jahr 2006 ist in meiner Erinnerung vor allem mit dem Computerraum verbunden. Dort in Pilas gab es zwei Computer, und alle Leute aus dem gesamten Nahen Osten drängten sich in diesen Raum, um die Nachrichten im Internet zu verfolgen. Wenn man etwas über die Ereignisse – Raketengeschosse auf Haifa oder eine Bombe in Beirut – im eigenen Zimmer oder mit Menschen aus dem eigenen Land hört, ist es etwas anderes, als wenn man sie in einer gemischten Gruppe hört. Das hat bei mir einen starken Eindruck hinterlassen, auch wenn ich nicht richtig erklären kann, warum das so war. Ich denke, Scham und Verärgerung waren ein Teil davon, aber das war nicht alles. Ich erinnere mich an das Gefühl, kein Teil davon sein zu wollen. Ich wollte nicht, dass meine Freunde mich durch diese Ereignisse verzerrt sahen. Vielleicht war ich deshalb so verletzt, dass viele nicht zum Divan Workshop kamen, weil ich dachte, dass sie mich durch den Filter dieser Ereignisse sahen. Dabei hatten wir durch alles, was wir miteinander unternommen hatten, nach meinem Empfinden eine andere Art der Beziehung geschaffen.

Ich weiß nicht, ob es moralisch ist, so tragische und so witzige Ereignisse in Zusammenhang zu bringen, aber ich weiß noch, dass ich am 24. Juli 2006 in Pilas ankam und an diesen wunderbaren Sketch in der Serie Fawlty Towers mit den Deutschen dachte, in dem sie immer wieder sagen: »Don’t mention the war.« Ich dachte damals, es sei falsch, so sarkastisch mit diesen Dingen umzugehen. Aber wir mussten gar nicht aufpassen, den Krieg nicht zu erwähnen. Es fiel einfach so schwer, über den Krieg zu sprechen, dass es niemand tat. Es dauerte etwa eine Woche, bis die Leute begannen, die Wunden aufzubrechen. Es brauchte seine Zeit, bis man über das Unaussprechliche reden konnte. Es war nicht alles traurig und schlimm, und ich bezog eine Menge Trost aus der Tatsache, dass wenigstens einige der Freunde aus der arabischen Welt gekommen sind, aber im Großen und Ganzen war der Sommer 2006 keine erfreuliche Erfahrung.

Eines der schwierigsten Diskussionsthemen in diesem Jahr war die Anti-Kriegs-Erklärung, die im Namen des Orchesters verfasst wurde und in den Programmen aller Konzerte, die wir spielten, abgedruckt war, während der Krieg weiterging. Daniel Barenboim und Mariam Said hatten diese Erklärung geschrieben und dem Orchester vorgeschlagen.

Die Einwände, die die Leute gegen die Erklärung vorbrachten, konnten in drei verschiedene Kategorien eingeteilt werden: eher kosmetische Einwände wegen der Formulierung und wegen der Betonung der beteiligten Institutionen, ideologische Einwände gegen den Inhalt, weil man die Erklärung in Kriegszeiten als Verrat am eigenen Land verstand, und grundsätzliche Einwände gegen eine politische Erklärung einer Vereinigung, die sich als nichtpolitisch definiert.

Ich gehörte zu der dritten Gruppe. Wenn irgendeine politische Partei in meinem Land diese Erklärung abgegeben hätte, hätte ich sie für akzeptabel oder sogar für bewundernswert gehalten. Aber wenn man wie ich aus einer Gruppe kommt, die sich immer wieder als nichtpolitisch bezeichnet, dann wurden für mich mit dieser Erklärung die Grenzen, die wir uns selbst gesteckt hatten, überschritten. Am Ende einer langen, hitzigen Diskussion verlor Daniel Barenboim angesichts der zahlreichen Veränderungsvorschläge ein wenig die Geduld. Er sagte, er habe eine Menge Zeit damit zugebracht, die Worte sorgfältig zu wählen, und er werde die Erklärung gern zur Abstimmung vorlegen. Er fragte dann, ob jemand gegen »den Inhalt der Erklärung, nicht ihre Formulierung« Einwände habe, um unserer Zustimmung für den Abdruck solch einer Erklärung an prominenter Stelle auszuweichen.

Jemand schlug vor, die Erklärung nur mit den Unterschriften von Barenboim und Mariam Said zu veröffentlichen, worauf Barenboim antwortete, dass die Erklärung keinen Wert habe, wenn sie nicht von jedem und jeder Einzelnen von uns komme. Ich stand nun vor der Alternative, entweder gegen eine Erklärung zu stimmen, mit deren Inhalt ich einverstanden war, oder eine Erklärung anzunehmen, die ich in diesem spezifischen Kontext gar nicht machen wollte. Ich entschied, für sie zu stimmen. Schließlich wurde die Erklärung gegen die Einwände einer kleinen Minderheit angenommen. Obwohl ich die Ansichten teilte, die in der Erklärung ausgesprochen wurden, denke ich immer noch, dass sie nicht dem Geist des Orchesters entsprach.

Ich war überglücklich, im folgenden Jahr alle meine Freunde aus Syrien und dem Libanon wiederzusehen. Der Sommer 2007 war eine große musikalische Herausforderung, die sich aber lohnte. Wir spielten zum ersten Mal ein Werk der Zweiten Wiener Schule, Schönbergs Variationen für Orchester op. 31, und ich dachte, die Musiker würden sich mehr darüber beschweren, als sie es dann taten. Ich hatte gehört, dass sich viele vor dem Sommer beschwert hatten. Aber als sie dann ihre Noten bekamen und schließlich die Proben unter Daniel Barenboim begannen, gefiel es ihnen sogar richtig. Daniel Barenboim verfügt über eine unglaubliche musikalische Präsenz, die dieses Orchester zusammenhält. In ihm vereinigt sich eine Art leidenschaftliche Energie mit einem sehr didaktischen Ansatz und einer Menge Wissen. Und genau diese Kombination ist für dieses Orchester unerlässlich. Inspiration allein würde nicht ausreichen. Es bedarf erstaunlich viel Kraft, Charisma und persönlicher Stärke, um mit diesem Orchester aufgrund der Unterschiede seiner Mitglieder etwas auf die Beine zu stellen. Es kann wirklich ein großartiges Orchester sein, aber jeder Sommer bedeutet am Anfang einen neuen musikalischen Kampf. Unser jeweiliger musikalischer Hintergrund ist äußerst unterschiedlich, ebenso wie unser jeweiliges Niveau auf dem Instrument. Wir haben Musiker wie Nabil Shehata und Mor Biron, die bei den Berliner Philharmonikern sind, und dann gibt es Leute, die überhaupt zum ersten Mal in einem Orchester spielen. Was mich angeht, so hatte ich zwar ein ganz ordentliches musikalisches Niveau erreicht, aber ich hatte keinerlei brauchbare Orchestererfahrung. Als ich zum Divan Orchestra kam, hatte ich keine Ahnung, wie man in einem Orchester spielt.

Barenboim besitzt die einzigartige Fähigkeit, sein Wissen und seine Geduld einzusetzen, um auf jedes unserer Probleme einzugehen, von der Intonation bis zur Phrasierung. Er grenzt es ein, nimmt es auseinander und steht einem mit Rat und Anleitung während des gesamten Lernprozesses zur Verfügung. Schon die erste Probe des Schönberg-Werks war etwas Besonderes. Man würde erwarten, dass der Dirigent sagt: »Also, jetzt spielen wir zuerst das Thema.« Aber er gab zuerst eine Einführung in das Stück und sagte dann, wir sollten das Thema ohne die Celli spielen – die das Thema haben. Dann ging er dazu über, jeden einzelnen Akkord zu spielen und ihn zu intonieren. Danach hatten wir die Harmoniefolge verinnerlicht und konnten sie durchdenken. So unglaublich mühselig es auch war, so hatten wir doch eine Wahrnehmung und ein Gefühl dafür entwickelt, wohin uns die Harmonie zog. Als er dann die Melodie zu den Harmonien spielen ließ, war keine Erklärung mehr notwendig.

Ich kann mir kein anderes Orchester vorstellen, das dreieinhalb Stunden am Stück nur am Thema arbeiten kann. Wir lernten es auf eine Weise kennen, die ich aus ersichtlichen Gründen für jedes professionelle Orchester für unmöglich halte. Schönberg ist keine leichte Musik, und dieses Stück ist kein leichtes Werk von Schönberg. Es geht ans Eingemachte. Es waren ein paar harte Tage, aber als es saß, machte es unglaublich viel Spaß, es war leicht und angenehm zu spielen. Dabei hatte ich zuvor gedacht, es würde in einen Kampf ausarten. Ich hatte mich wirklich vor diesem Stück gefürchtet, aber schließlich spürte ich, dass Brahms’ Symphonie Nr. 1, die wir im Vorjahr gespielt hatten, für mich viel schwieriger zu erarbeiten gewesen war, musikalisch und technisch. Mit dieser Symphonie habe ich mich immer schwergetan. Der Lernprozess des Orchesters wurde bei Schönberg deutlich sichtbar, denn es war ein Stück, bei dem nur wenige von uns von sich aus wussten, wie sie es angehen sollten. Barenboim weiß, dass es einer Menge Geduld bedarf, aber es funktioniert, weil er uns in den Konzerten diese unerklärliche Kraft und Inspiration gibt.

Seine Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt ist auf positive Weise auch leicht ansteckend, denn dahinter verbirgt sich eine gewaltige Energie, nicht nur die Kraft seines Charismas, seiner Person und seiner Position, sondern auch die Kraft, den Israelis dabei zu helfen zu verstehen, wo sie leben, und den Arabern zu helfen, unsere Existenz in Israel als unser Recht zu akzeptieren und zudem als etwas, das nicht nur schlecht ist. Barenboim betrachtet den Konflikt von dem Standpunkt eines Menschen aus, der unglaublich viel weiß und der die Fakten von Grund auf versteht. Er hat den Konflikt wirklich auf allerhöchstem intellektuellem Niveau durchdacht. Ich glaube nicht, dass viele Israelis mit seiner politischen Einstellung einverstanden sind, aber ich glaube, kaum jemand weiß genau, wie sie aussieht. Er hat uns seine politischen Ansichten nicht allzu oft mitgeteilt. Er spricht mit uns über seine Ansichten, wenn es um Grundlegendes oder um die Ignoranz und den Mangel an Interesse in Bezug auf Kontakte mit Palästinensern geht. Ich denke, damit sind viele von uns einverstanden.

Der Sommer 2007 war für mich noch wichtiger als andere Sommer, denn etwas in mir hat sich da gefestigt. Plötzlich fügten sich etliche Puzzleteile zusammen. Es war nichts Besonderes mehr, im Divan Orchestra zu spielen, sich mit drei Syrern, zwei Libanesen und einem Palästinenser in einem Raum aufzuhalten. Es war normal. Ich hielt mich ganz einfach mit meinen Freunden im selben Raum auf. Aber das ist so weit weg von der Wirklichkeit. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber seitdem habe ich eine merkwürdige Zeit durchgemacht. Ich habe alles gelesen, was ich über den Konflikt in die Finger bekam, und ich war sehr überrascht über die Verfügbarkeit oder, besser: Nichtverfügbarkeit von Büchern über das Thema im Allgemeinen und auf Hebräisch im Besonderen. Es gibt eine Menge Schwachsinn darüber. Aber wenn man sich nach ernst zu nehmenden Büchern oder Artikeln umsieht, die keine offensichtliche Propaganda oder blödsinnige Verschwörungstheorien anbieten, wenn man sich über die Geschichte informieren will, darüber, was tatsächlich geschieht, wer welche Position einnimmt, oder über den Standpunkt einzelner Persönlichkeiten, dann entdeckt man recht wenig. Ich bin sicher, dass es dazu mehr Bücher gibt, als man in seinem ganzen Leben lesen kann, aber was man derzeit in den Bücherregalen in Tel Aviv vorfindet, ist sehr beunruhigend. Man kann von diesem oder jenem Politiker die Memoiren im Boulevardstil lesen, aber in den Geschäften liegen keine Bücher aus, die die Geschichte dieser Region, den aktuellen Konflikt oder die Abkommen behandeln und ernsthaft recherchiert sind.

Noch schwieriger ist es, wenn es um Literatur aus Palästina