Die Kreuzzüge - Jonathan Riley-Smith - E-Book

Die Kreuzzüge E-Book

Jonathan Riley-Smith

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was ist eigentlich ein Kreuzzug? Wie wurde er organisiert und von den Teilnehmern erlebt? Kreuzzüge sind nicht nur die Kriegszüge im Nahen Osten, die vom 11. bis 13. Jahrhundert die mittelalterliche Welt in Atem hielten. Kreuzzüge haben bis in die Neuzeit auf vielen Kriegsschauplätzen in Europa stattgefunden. Das ist die anfangs so umstrittene wie großartige These von Jonathan Riley-Smith, dem Doyen einer pluralistischen Kreuzzugsgeschichte. Von den Kreuzfahrerstaaten des Mittelalters über Die Kreuzzüge im Baltikum bis zum Verschwinden der Kreuzzugs-Idee im 18. und 19. Jahrhundert breitet Riley-Smith hier ein großes Panorama der Kreuzzüge in all ihren historischen Variationen aus. Erstmals liegt dieses wegweisende Standardwerk jetzt auf Deutsch vor. Die Übersetzung basiert auf der von Riley-Smith grundlegend überarbeiteten englischen Neuausgabe und wartet neben Bildern und Karten mit einem umfangreich kommentierten Literaturverzeichnis auf.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1069

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jonathan Riley-Smith

Die Kreuzzüge

Aus dem Englischenvon Tobias Gabel und Hannes Möhring

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

FürDominie, Hamish, Tristram, Sebastian und Torquilund zum Gedenken an Prosper

Impressum

Die englische Originalausgabe ist in dritter, vollständig überarbeiteter Ausgabe 2014 beiBloomsbury Academic unter dem Titel The Crusades: A History erschienen.

© Jonathan Riley-Smith, 1987, 2005, 2014

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung desVerlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen unddie Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Sonderausgabe 2020

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.© der deutschen Ausgabe 2015 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

 

Satz: Janß GmbH, PfungstadtEinbandabbildung: Der türkische Angriff auf Rhodos aus Guillaume Caoursins Chronik der Belagerungvon Rhodos (1483), Lat 6067, © Bridgeman Images / Bibliothèque nationale, ParisEinbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.Karten: Peter Palm, BerlinAbbildungen im Buch: 41: © wikimedia / user (Ergo); 74: © akg-images/De Agostini Picture Lib./G. DagliOrti; 124: © akg-images / A.F.Kersting; 173: © The British Library; 356: © akg-images / Bildarchiv Monheim/Schütze/Rodemann; 361: © David Broad; 419: © Archives Générales Missionnaires d’Afrique, Roma (A.G.M.Afr Roma)

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4105-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8062-4138-9eBook (epub): 978-3-8062-4139-6

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

Karten

Die Kreuzzüge und die Geschichtsschreibung

Traditionalismus

Materialismus

Ein „Goldenes Zeitalter“ – und dann eine Flaute

Frühe Anzeichen für ein Revival: Die Geschichte des lateinischen Ostens

Alternativen zum Traditionalismus

Der Materialismus auf dem Prüfstand

Unterschiedliche Sichtweisen: Die Experten und die interessierte Öffentlichkeit

  1. Kreuzzüge als Heilige Kriege und Bußwallfahrten

Kreuzzüge als Heilige Kriege

Kreuzzüge als Bußwallfahrten

  2. Die Geburt der Kreuzzugsbewegung: Der Aufruf zum Ersten Kreuzzug

Papst Urban II.

Ein Befreiungskrieg

Die Pilgerfahrt der büßenden Krieger

Jerusalem

Kreuzfahrer als Büßer

Die Reaktion

Pogrome und Judenfeindschaft

  3. Der Verlauf des Ersten Kreuzzuges

Die Situation in der islamischen Welt

Die erste Welle

Die zweite Welle: Der Marsch nach Konstantinopel

Die zweite Welle: Von Konstantinopel nach Antiochia

Die zweite Welle: Die Belagerung von Antiochia und ihre Folgen

Die zweite Welle: Die Befreiung Jerusalems

Die Ergebnisse der zweiten Welle

Die dritte Welle

Die Fortentwicklung der Kreuzzugsidee

  4. Die heiligen Stätten und die Patriarchate von Jerusalem und Antiochia

Die Ausgestaltung der heiligen Stätten

Die Gründung der lateinischen Kirche im Heiligen Land

Die lateinische Kirche nach 1111 und ihre Beziehungen zu den Einheimischen

Der kulturelle Beitrag der lateinischen Kirche in Syrien und Palästina

Die Ritterorden

  5. Besiedlung, Regierung und Verteidigung des lateinischen Ostens (1097–1187)

Land und Stadt

Die rechtliche Stellung der Einheimischen

Die Verwaltung

Das Königreich Jerusalem und die Kreuzfahrerherrschaften

Von Balduin I. zu Balduin V.

Die Verteidigung der Herrschaften

Die Schlacht von Hattin und der Verlust Jerusalems

  6. Die Kreuzzugsbewegung wächst heran (1102–1187)

Kreuzfahrer oder Pilger?

Die ersten Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts

Der Zweite Kreuzzug

Sinkende Kampfmoral

Traditionen entstehen

  7. Die Kreuzzugsbewegung wird erwachsen (1187–1229)

Der Dritte Kreuzzug

Der Kreuzzug von 1197

Papst Innozenz III.

Der Vierte Kreuzzug

Die Kreuzzüge in das Baltikum

Der Kreuzzug gegen Markward von Annweiler

Der Albigenserkreuzzug

Kreuzzüge auf der Iberischen Halbinsel

Der Kinderkreuzzug

Die Propagierung des Fünften Kreuzzuges

Der Verlauf des Fünften Kreuzzuges

Der Kreuzzug Friedrichs II.

  8. Die Kreuzzugsbewegung in voller Reife (1229 – ca. 1291)

Steuern und Abgaben

Der Kreuzzug der Barone (1239–1241)

Der erste Kreuzzug Ludwigs IX. des Heiligen von Frankreich

Kreuzzüge gegen Preußen und Litauen

Die ersten Kreuzzüge gegen die Mongolen

Erneute Kreuzzüge auf der Iberischen Halbinsel

Ketzerkreuzzüge

Politische Kreuzzüge

Reaktionen auf die verschiedenen Ausformungen des Kreuzzugsgedankens

Der zweite Kreuzzug Ludwigs IX. des Heiligen von Frankreich

Papst Gregor X.

Die gescheiterten Vorbereitungen für einen weiteren großen Kreuzzug nach 1272/76

  9. Der lateinische Osten (1192 – ca. 1291)

Das Königreich Kleinarmenien

Zypern

Griechenland

Die Italiener

Die Ayyubiden

Was die Siedler von der muslimischen Politik wussten

Antiochia-Tripolis

Verfassungskonflikte im Königreich Jerusalem

Die Mamluken

Die asiatischen Handelsrouten verschieben sich

Die Eroberungen des Sultans Baibars

Die Zerschlagung der lateinischen Herrschaften in Palästina und Syrien

10. Die Vielfalt der Kreuzzugsidee (ca. 1291–1523)

Kreuzzugstheorien im 14. Jahrhundert

Das Ende des Templerordens

Der Deutsche Orden in Preußen und Livland

Die Johanniter auf Rhodos

Charakteristika der Ordensstaaten

Zypern

Griechenland

Kreuzzüge auf der Iberischen Halbinsel (1302–1354)

Kreuzzüge in Italien (1302–1378)

Kreuzzüge in den Nahen Osten nach dem Fall von Akkon

Kreuzzüge in den Nahen Osten (1323–1360) und das Aufk ommen von Kreuzzugsligen

Peter I. von Zypern

Wachsende Besorgnis über die Osmanen

Kreuzzüge in der Folge des Großen Abendländischen Schismas von 1378

Die Kreuzzüge gegen Mahdia und Nikopolis

Kreuzzüge gegen die Osmanen (1397–1413)

Die Hussitenkreuzzüge

Der Kreuzzug gegen Varna

Reaktionen auf den Verlust Konstantinopels, die Modernisierung des Kreuzzugsgedankens und die Wiederkehr der Bauernheere

Die Eroberung von Granada und die Invasion Nordafrikas

Kreuzzugspläne (1484–1522)

11. Der langsame Tod der Kreuzzugsbewegung (1523–1892)

Die Reformation

Alte und neue Ritterorden

Kreuzzüge in Nordafrika

Kriegsschauplätze im Osten

Die Hospitaliter des heiligen Johannes und die Insel Malta

Para-Kreuzzüge und Pseudo-Kreuzzüge im Zeitalter des Imperialismus

Die letzten Kreuzfahrer

Der moderne islamische Gegenkreuzzug

Gedächtnisschwund

Anhang

Kommentierte Bibliografie zu Forschungsliteratur und Quellen

Nachschlagewerke

Überblickswerke

Einzelthemen der Forschung

Die Kreuzzüge in den Nahen Osten

Kreuzzüge an anderen Kriegsschauplätzen

Die lateinischen Herrschaften in der Levante

Die Ritterorden

Übersetzte Quellen zu den Kreuzzügen

Zeittafel

Abkürzungen im Register

Namen- und Ortsregister

 

 

Ecce quam bonum et quam iucundumhabitare fratres in unum!

Siehe, wie fein und lieblich ist’s,wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!

(Ps 133,1)

Vorwort zur dritten Auflage

Ich habe mich bemüht, eine so umfassende Geschichte der Kreuzzüge vorzulegen, wie das in einem einzigen Band eben möglich ist. Dabei habe ich mich auch an den schulischen und universitären Lehrgepflogenheiten orientiert, die meist die ersten beiden Jahrhunderte der Kreuzzugsbewegung samt deren Ausrichtung nach Osten in den Vordergrund stellen. In den neun Jahren, die seit der zweiten Auflage meines Buches ins Land gegangen sind, haben auf die Kreuzzüge spezialisierte Historiker von dem Erscheinen einer ganzen Reihe maßgeblicher Neuveröffentlichungen und Forschungsvorhaben profitieren können: von einer hervorragenden Einführung in die Geschichte der Kreuzzugsgeschichtsschreibung; von umfassenden und sorgfältig gearbeiteten Nachschlagewerken zur Geschichte der Kreuzzüge und der Ritterorden; von stimulierenden Studien zum ideengeschichtlichen Hintergrund der Kreuzzüge sowie zum Familiengedenken der Kreuzfahrer; von einer Infragestellung der modernen Tendenz, dem Ersten Kreuzzug so etwas wie Empathie entgegenzubringen; von detaillierten Darstellungen des Ersten und Zweiten Kreuzzuges sowie des Kreuzzuges der Barone; von einer brillanten Untersuchung zum Kinderkreuzzug von 1212; von ganz neuen Sichtweisen auf die baltischen Kreuzzüge; von revisionistischen Forschungen zum 15. Jahrhundert; von Fortschritten in unserem Verständnis des lateinischen Ostens und der Ritterorden; und, nicht zuletzt, von dem Vorschlag, dass der Kreuzzugsgedanke sich – in der einen oder anderen Form – bis in das 19. Jahrhundert gehalten habe.

Das ist nur eine kleine Blütenlese der neuesten Forschung, und man fragt sich wohl zu Recht, ob diese Publikationsflut jemals versiegen wird. Manch ein Experte ist der Ansicht, dass das Forschungsfeld „Geschichte der Kreuzzüge“ wohl bald wegen „Überdüngung“ durch ständig neues Material geschlossen werden müsste. Allein, in der Geschichtswissenschaft pflegen sich Perioden großen Forschungseifers und Jahrzehnte des scheinbaren Stillstands abzuwechseln; in den letzteren Phasen werden das Material und die Durchbrüche, die in den ersteren erzielt worden sind, gleichsam verdaut und aufgearbeitet. Dennoch gibt es Grund zu der Annahme, dass die Erforschung der Kreuzzüge von einer solchen Stabilisierung noch ein ganzes Stück entfernt ist. Das 16., 17. und 18. Jahrhundert harren, was das Phänomen der Kreuzzüge anbelangt, noch immer zum ganz überwiegenden Teil ihrer Erforschung. Auch über die Kreuzzüge im Baltikum und auf der Iberischen Halbinsel ist noch so vieles gänzlich unbekannt. Zudem hat bislang nicht ein einziger Historiker (ungeachtet aller Beteuerungen in dieser Richtung) eine im eigentlichen Sinne wirtschaftsgeschichtliche Studie der Kreuzzüge vorgelegt; bei der Berücksichtigung ihrer kunst- und literaturgeschichtlichen Kontexte sieht es ähnlich mager aus.

Wie alle anderen Menschen, so sind auch Historiker von gewissen Denkströmungen in ihrer Umwelt beeinflusst und geprägt. So scheinen es, neben anderen Faktoren, die Debatten rund um atomare Aufrüstung und die Gründung des Staates Israel gewesen zu sein, die in den 1950er- und 1960er-Jahren die „revisionistische Ära“ in der Kreuzzugsgeschichtsschreibung einläuteten. Zwei Sachverhalte, die uns heute vergleichbar auf den Nägeln brennen, mögen sich dereinst als ganz ähnlich einflussreich herausstellen. Der erste gewinnt in dem gleichen Maße an Bedeutung, in dem sich islamistische Dschihadisten einer Anti-Kreuzzugs-Rhetorik bedienen. Diese Extremisten gebrauchen die Begriffe „Kreuzzug“, „Kreuzfahrer“, ja „Kreuzfahrertum“, um Institutionen, Gemeinschaften und Vorstellungen zu bezeichnen, die diese Verwendung – aus Sicht der westlichen Geschichtswissenschaft – nicht auf den ersten Blick als angebracht erscheinen lassen. Dennoch: Der stetige Gebrauch dieser Wörter in ihrem neuen Kontext sowie die Bedrohung für die (westliche) Allgemeinheit, die sie heraufbeschwören, haben das Thema „Kreuzzüge“ für jene Allgemeinheit eine ganz neue Relevanz gewinnen lassen. Der zweite Sachverhalt betrifft das Aufkommen einer neuen Art ethischer Kriegführung im Namen der Menschenrechte. Zum ersten Mal in einer Geschichte von 2000 Jahren ist das Kriterium des rechtfertigenden Kriegsgrundes, demzufolge eine Kriegserklärung nur auf ein von der einen Kriegspartei erlittenes Unrecht hin erfolgen durfte, neu definiert worden. Diese Revolution in der früheren Bellum-Iustum-Theorie ist unter anderem von den Vereinten Nationen und dem Papsttum getragen worden, doch bleibt sie kontrovers und könnte auch in der Kreuzzugsforschung zu lebhaften Debatten führen.

Kreuzzüge sind auf vielen Kriegsschauplätzen geführt worden, und es ist kein Zufall, dass manche der betroffenen Gebiete im Laufe der Jahrhunderte unter mehrfach wechselnder Herrschaft gestanden haben. Aus demselben Grund haben viele Orte und Gegenden über die Jahrhunderte hinweg verschiedene Namen getragen. Ausgehend von der Vermutung, dass meine Leserinnen und Leser wohl einige dieser geschichtsträchtigen Orte gern einmal besuchen würden, habe ich deshalb – soweit es mir möglich war – die heute allgemein gebräuchlichen Namen dieser Orte verwendet, doch habe ich diese Praxis der besseren Lesbarkeit halber modifiziert, wo der heutige offizielle Name nicht der im Deutschen meistgebrauchte ist (also Danzig statt Gdańsk, Fes statt Fès, Marienburg statt Malbork). In jedem Fall habe ich jedoch alternative Namen bei der ersten Nennung in Klammern eingefügt; diese sind zudem auch im Register aufgeführt. Auch bei den arabischen Personennamen habe ich mich an der bestmöglichen Lesbarkeit und Verständlichkeit für ein interessiertes, aber nicht spezialisiertes Publikum orientiert; meine arabistischen Kollegen mögen es mir verzeihen.

Die langen Zitate im Text stammen aus den folgenden Werken: Die auf den Seiten 55, 70–72, 146–147, 190, 193, 199–200, 202, 210, 213–214, 216, 230, 248, 256–26 sind dem Buch von Louise und Jonathan Riley-Smith, The Crusades: Idea and Reality, 1095–1274 (1981) entnommen; das Langzitat auf S. 42 stammt aus Ronnie Ellenblums Buch Crusader Castles and Modern Histories (2007); das auf Seite 139 aus Usamah ibn Munqidh, An Arab-Syrian Gentleman and Warrior in the Period of the Crusades, übers. v. Philip K. Hitti (1929); das auf S. 139–140 von Rabbi Jacob ben R. Nathaniel ha Cohen, „Account“, übers. v. Elkan N. Adler, in Jewish Travellers (1930); das auf S. 272 aus Christoph Maiers Buch Crusade Propaganda and Ideology (2000); das auf S. 283 aus Joinville and Villehardouin. Chronicles of the Crusades, übers. v. Caroline Smith (2008); das auf S. 388 aus Pius II., „Commentaries“, in Memoirs of a Renaissance Pope, übers. v. Florence A. Gragg (gekürzte Ausgabe 1960); die Zitate auf den Seiten 414–415 entnehme ich dem Buch von Elizabeth Siberry, The New Crusaders: Images of the Crusades in the 19th and Early 20th Centuries (2000); das auf S. 422 stammt aus Emmanuel Sivan, „Modern Arab Historiography of the Crusades“, Asian and African Studies 8 (1972); das Zitat auf S. 424 schließlich verdanke ich Bruce Lawrence und James Howarth, Messages to the World: The Statements of Osama bin Laden (2005).

Mein Sohn Tobias hat wieder einmal etwas Platz auf seiner Festplatte bereitgestellt, um eine Sicherungskopie meines Manuskripts zu verwahren. Michael Brett, Denys Pringle und Edna Stern möchte ich für ihre Hilfe bei den Illustrationen und verschiedenen Detailfragen danken. Die Zusammenarbeit mit Rhodri Mogford von der Bloomsbury Press war mir eine wahre Freude; einen hilfsbereiteren und tatsächlich auch hilfreicheren Verleger habe ich in meiner mittlerweile doch sehr langen Karriere noch nicht gehabt. Auch für die Geduld und die stete Ermunterung, die mir Giles Herman (ebenfalls Bloomsbury) und Kim Storry von Fakenham Prepress Solutions haben zuteil werden lassen, bin ich von Herzen dankbar.

J. S. C. R.-S., im Februar 2013

 

Die Kreuzzüge und die Geschichtsschreibung

Noch für die Historiker der frühen 1950er-Jahre gab es eigentlich nur eine Art von „echten“ Kreuzzügen: solche nämlich, die von Westeuropa aus zur Eroberung oder Verteidigung Jerusalems unternommen wurden. Kriegszüge an anderen Schauplätzen – auf der Iberischen Halbinsel etwa oder im Baltikum – oder solche, die sich gegen innere Feinde der Kirche richteten (gegen Häretiker beispielsweise), wurden mitunter zwar schon damals als Kreuzzüge bezeichnet – etwas ungenau, wie man dachte –, aber da sie in eine andere Kategorie zu gehören schienen, dachte man über sie nicht weiter nach. Die Ära der Kreuzzüge endete, so die verbreitete Lehrmeinung, mit dem Verlust der letzten Brückenköpfe in Palästina und Syrien an muslimische Angreifer im Jahr 1291. Wenigstens etwas Interesse brachte man darüber hinaus noch den vermeintlichen „letzten Zuckungen“ der Kreuzzugsbewegung im Spätmittelalter entgegen. Der religiösen Motivation der Kreuzzüge schenkte man hingegen nur wenig Beachtung. Zwar gestanden manche Historiker durchaus ein, dass jene möglicherweise eine Rolle gespielt haben könnte – allein, sie fanden es geradezu moralisch verwerflich, diese Möglichkeit ernstzunehmen, und verfolgten lieber jenen Ansatz, demzufolge die Herrschaften und Ansiedlungen westlicher Kreuzfahrer in Palästina, Syrien und Zypern die erste Phase des europäischen Kolonialismus dargestellt habe. Schließlich hätten – so diese Sichtweise – selbst die Päpste womöglich politische Ziele verfolgt, als sie zum Kreuzzug aufriefen; die frisch rekrutierten Kämpfer hingegen hätten ganz gewiss das Streben nach materieller Bereicherung unter dem Deckmäntelchen eines frommen Strebens verborgen. Die Kreuzzüge seien ein Sicherheitsventil gewesen, durch welches überzählige Einwohner aus einem ernstlich übervölkerten Europa entweichen konnten, und dieser Sichtweise entsprechend waren die Ritterorden weniger religiöse Institutionen als vielmehr große Finanzhäuser, die in ganz Europa riesige Landgüter verwalteten, um aus den Gewinnen ihre militärischen Operationen im Osten zu finanzieren.

Dieses große Geschichtsbild war zwar in sich stimmig – und es erfreute sich großer Zustimmung in der interessierten Öffentlichkeit –, aber es ging von äußerst fragwürdigen Grundannahmen aus. Die erste dieser Grundannahmen – dass nämlich die einzig wahren Kreuzzüge jene gewesen seien, die zwischen 1097 und 1291 im Nahen Osten stattfanden – konnte schon damals auf eine lange Geschichte zurückblicken; sie ist als die Grundlage für eine traditionalistische Interpretation der Kreuzzüge anzusehen. Die zweite Grundannahme – dass es bei den Kreuzzügen im Grunde nur um Landnahme, Siedlungsexpansion und Profit gegangen sei – war erst vergleichsweise spät, in den 1920er- und 1930er-Jahren nämlich, allgemein akzeptiert worden; man bezeichnet darauf fußende Ansätze der Forschung heute als die materialistische Interpretation der Kreuzzüge. Das Bild, das in dem vorliegenden Buch von der Kreuzzugsbewegung gezeichnet wird, ist zugleich weniger verführerisch und von höherer Komplexität als jene älteren Deutungsansätze, und es entspricht auch nicht dem populären Bild der Kreuzzüge in der öffentlichen Wahrnehmung; dennoch glaube ich, dass es der Realität näherkommt.

Traditionalismus

Eine Definition der Kreuzzüge, die jene auf einen einzigen Schauplatz – den Nahen Osten – und einen klar umrissenen Zeitraum – von 1097 bis 1291 nämlich – beschränken wollte, hat schon der englische Historiker Thomas Fuller vorgeschlagen (in seiner Historie of the Holy Warre von 1639). Indem er das „echte Kreuzfahrertum“ in eine ferne Vergangenheit verlegte, handelte Fuller jedoch willkürlich und inkonsistent. Schwerlich konnte er den Krieg zwischen Christen und Türken ignorieren, der zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Buches auf dem Mittelmeer tobte. Er wusste genau, dass die Malteser mit ihrem Insel-Ordensstaat aktiv daran beteiligt waren; tatsächlich sollten sie kurz darauf – binnen sechs Jahren nach der Veröffentlichung seines Buches – einer Kreuzzugsliga beitreten, die zur Verteidigung der Insel Kreta begründet worden war. Fuller wollte nicht ganz ausschließen, dass es auch in Zukunft wieder zu Kreuzzügen kommen könnte, und er stellte sich sogar ganz konkret einen erneuten Kreuzzug zur Rückeroberung Jerusalems vor – ein aussichtsloses Unterfangen, wie er selbst sogleich einräumte. Es überrascht nicht, dass Fullers zurückhaltende Definition seinerzeit nur auf geringe Zustimmung stieß. So gelangte Louis Maimbourg zu der Einsicht (und zwar in seiner Histoire des Croisades von 1675), der Kriegsschauplatz habe sich nur gezwungenermaßen, faute de mieux, auf europäischen Boden verlagert, und selbst der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz schlug in seinem ambitionierten Projet d’expédition d’Égypte von 1672 vor, in einem Heiligen Krieg Ägypten zu erobern, obwohl die staatliche französische Armee daran beteiligt sein sollte.

Der eigentliche „Traditionalismus“ in der Kreuzzugsforschung geht jedoch auf die Köpfe der Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück, die denselben Ansatz verfolgten wie vor ihnen Fuller. Die Franzosen Denis Diderot (der in seiner 1751–1772 erschienenen Encyclopédie unter anderem auch auf die Feldzüge gegen Häretiker und im Baltikum zu sprechen kam) und Voltaire (in seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations von 1756); die Schotten David Hume (in seiner History of England von 1762) und William Robertson (der 1769 mit seiner Betonung der kulturellen Überlegenheit der Muslime in The Progress of Society in Europe einen zusätzlichen Gesichtspunkt zur Diskussion stellte) sowie der Engländer Edward Gibbon (in seinem monumentalen Werk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 1776–1789) wollten den Kreuzzugsbegriff allesamt nur auf den Nahen Osten und das hohe Mittelalter angewandt sehen. Und damit repräsentierten sie den allgemeinen Konsens ihrer Zeit: Wenn man solche Malteser-Propagandisten wie etwa René de Vertot (in seiner Histoire des chevaliers hospitaliers von 1726) einmal beiseite lässt, kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass in den gebildeten Kreisen des 18. Jahrhunderts die Kreuzzugsbewegung als tot galt, als ein Phänomen längst vergangener Zeiten. Und obwohl manche Autoren des 18. Jahrhunderts den Kreuzzügen zugestanden, dass sie Europa wohl doch auch einigen Nutzen gebracht hatten, blieb die Kreuzzugsbewegung als Ganze ein bevorzugtes Beispiel für Aberglauben und Torheiten der vormodernen Epoche.

Man kann es gar nicht genug betonen: All diese Historiker und Philosophen der Aufklärung wandten eine vollkommen willkürliche Definition des Begriffs „Kreuzzug“ an – eine Definition, die es ihnen erlaubte, einerseits die Kreuzzugsbewegung als Ausgeburt mittelalterlicher Dummheit zu brandmarken, über neuere und ganz ähnliche Entwicklungen jedoch den Mantel des Schweigens zu breiten. Diderot etwa konnte es letztlich nicht vermeiden, in seiner Encyclopédie die Insel Malta als einen „Knotenpunkt des Krieges gegen die Feinde des Christentums“ zu bezeichnen; aber in dem langen Artikel über die Geschichte des Malteserordens gibt es dennoch kaum einen Verweis auf irgendwelche Kampfhandlungen nach 1291 (obwohl selbst der Organisationsstruktur und Verfassung des Ordens einiger Platz eingeräumt wird). Dem Beispiel der Aufklärer folgte bald jedoch auch ein seriöser Historiker namens Friedrich Wilken, zu dessen Vorzügen seine Kenntnisse des Arabischen und des Persischen gehörten. Seine große Geschichte der Kreuzzüge erschien in sieben Bänden zwischen 1807 und 1832 und galt in Gelehrtenkreisen schnell als ein Musterbeispiel quellensatter und objektiver historischer Forschung. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde die Sicht der Aufklärung auf die Kreuzzüge von keinem Geringeren als Sir Walter Scott popularisiert, dessen Bücher späterhin einen weitaus größeren Einfluss gewinnen sollten, als sie es eigentlich verdient hatten. In gleich vier von Scotts Romanen geht es um Kreuzzüge und Kreuzfahrer. Count Robert of Paris (1831) spielt in Konstantinopel zur Zeit des Ersten Kreuzzuges. Die anderen drei Romane waren in der Zeit des Dritten Kreuzzuges angesiedelt. Während sich Ivanhoe (1819) und The Betrothed (1825) um die Geschehnisse an der Heimatfront drehten, ist in The Talisman (1825) Palästina der Schauplatz der Handlung, in deren Mittelpunkt die Freundschaft zwischen einem schottischen Ritter und dem Sultan Saladin steht, der in einer verblüffenden Anzahl von Maskeraden auftritt (darunter die eines kunstfertigen Arztes, der edlerweise den englischen König Richard Löwenherz von einem Leiden kuriert). Scotts Romane stellten die Kreuzfahrer als tapfere und glanzvolle Helden dar – aber auch als Prahlhansel, Geizkrägen, Kindsköpfe und Bauerntölpel. Nur wenige von Scotts Romanrittern werden tatsächlich von religiösen und ritterlichen Idealen angetrieben; die meisten hatten das Kreuz aus Stolz, Gier oder blindem Ehrgeiz genommen. Die schlimmsten unter ihnen sind die Brüder der Ritterorden, die zwar einerseits als mutig und diszipliniert dargestellt werden, andererseits aber arrogant, durch Privilegien korrumpiert, wollüstig und liederlich daherkommen.

Ein weiteres Motiv, die Überlegenheit der islamischen Kultur nämlich, auf die Scott in den anderen Romanen nur flüchtig eingeht, zieht sich wie ein roter Faden durch The Talisman. In seiner Einleitung zu den späteren Auflagen schreibt Scott:

Der kriegerische Charakter Richards I. [von England], wild und weitherzig, ein Musterbild an Ritterlichkeit mit all seinen extravaganten Tugenden wie mit seinen nicht weniger absurden Fehlern, war insofern dem Charakter Saladins entgegengesetzt, als der christliche und englische Monarch die ganze Heftigkeit und Grausamkeit eines orientalischen Sultans, Saladin hingegen die tiefsinnige Staatsklugheit und Umsicht eines europäischen Herrschers an den Tag legte.

Es fiel Scott, der von William Robertsons Betonung der Überlegenheit der islamischen Kultur beeinflusst war, nicht schwer, die Kreuzfahrer als rückständig und unaufgeklärt zu zeichnen, die mit plumper Hau-drauf-Taktik gegen die zivilisierten und gebildeten Muslime anstürmten. Aber seine Darstellung war anachronistisch, denn sie siedelte die Kreuzfahrer in dem einen Kontext an (nämlich dem des Hochmittelalters) und ihre Gegner in einem gänzlich anderen: dem des 19. Jahrhunderts. Wenn man ihm seine pseudoorientalischen Gewänder herunterriss, so war Scotts Saladin ganz offenkundig ein moderner, liberaler, europäischer Gentleman, neben dem die Europäer des Mittelalters schlicht nicht bestehen konnten.

The Talisman war Scotts zweitbeliebtester Kreuzfahrerroman nach Ivanhoe. Er wurde immer wieder in Bühnenfassungen aufgeführt und in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. The Talisman inspirierte Maler in Großbritannien, Frankreich und Italien zu großformatigen Gemälden, und insbesondere das Bild Saladins in diesem Roman hatte großen Einfluss auf Generationen von Schriftstellern und Staatsmännern. Als der britische Premierminister William Ewart Gladstone im Jahr 1876 seiner Empörung über Gräueltaten in Bulgarien Ausdruck verleihen wollte, die man den Türken anlastete, so stellte er sie „jenen ritterlichen Saladins des alten Syrien“ gegenüber. Die Ruine von Saladins Grabmal in Damaskus befand sich bald auf den Besichtigungsplänen europäischer Bildungsreisender – 1862 besuchte sie etwa Albert Eduard, der Prince of Wales –, doch erst die übertriebene Ehrung beim Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Jahr 1898 rief Saladin der ganzen Levante wieder ins Bewusstsein.

Scotts kritisch-romantische Herangehensweise an die Kreuzzugsmaterie und die Beschränkung des Begriffs Kreuzzüge auf den Nahen Osten und das hohe Mittelalter bestimmen bis heute einen Großteil der populären Literatur über dieses Thema, in Europa wie in Amerika. Das allgemein bewunderte Standardwerk zum Thema in der angelsächsischen Welt, Sir Steven Runcimans A History of the Crusades (1951–1954), in dem die Kreuzfahrer als kühn und voller Schwung, aber eben oftmals auch als kindisch, rüpelhaft und wenig reflektiert dargestellt werden, entspricht wohl beinahe dem, was Scott – bei größerer Fachkenntnis – auch geschrieben hätte. Ein weiteres Beispiel für Scotts bleibenden Einfluss im Bereich der unterhaltenden Darstellungen des Phänomens Kreuzzüge war zuletzt wohl Königreich der Himmel (The Kingdom of Heaven), ein Film des Regisseurs Ridley Scott aus dem Jahr 2005, in dem ein brutaler, habsüchtiger und feiger christlicher Klerus den blanken Hass gegen die Muslime predigt. Beschränktheit und Fanatismus dieser Priester spiegeln sich denn auch in Ridley Scotts Behandlung der Kreuzfahrer, Tempelritter und der meisten Führungspersönlichkeiten aus den christlichen Ansiedlungen rund um Jerusalem wider, die als eine Art Gründerzeit-Amerika dargestellt werden, als eine „Neue Welt“ für unternehmungslustige Einwanderer aus einem verarmten und unterdrückten Europa. Inmitten von Bigotterie und Fanatismus hat sich dort eine eingeschworene Gemeinschaft von Freidenkern zusammengefunden, um dem friedlichen Zusammenleben der Religionen einen Raum in der Welt zu schaffen und zu bewahren. Dabei arbeiten sie mit Saladin zusammen, der ihr Ziel von Frieden und Toleranz teilt, aber religiöse Eiferer im Lager der Christen setzen alles daran, diesen Prozess einer Verständigung mit dem Islam zu sabotieren.

Materialismus

Die Vorstellung, dass die Kreuzfahrer aus ihrer Unternehmung etwa Profit hatten schlagen wollen, war den Denkern des 18. Jahrhunderts eigentlich fremd. Tatsächlich war es eines ihrer Lieblingsargumente, dass die Kreuzzugsbewegung wegen der hohen Kosten, die sie verursachte, das Abendland verarmt zurückgelassen und in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gehemmt habe. Für Diderot war es ganz klar, welche Konsequenzen „jene schrecklichen Kriege“ über Europa gebracht hatten: „die Entvölkerung seiner Länder, die Bereicherung seiner Klöster, die Verarmung seines Adels, den Verfall der kirchlichen Sitten, die Verachtung des Ackerbaus, Mangel an Geld und eine Unzahl weiterer Übel.“ Edward Gibbon gelangte zu dem Schluss, dass die Kreuzzüge

die Reife Europas eher gehindert als befördert haben. Die Lebenszeit und Arbeitskraft von Millionen, die im Osten begraben wurden, hätte wohl bei der Erschließung ihrer eigenen Heimatländer einen besseren Dienst geleistet: Der so angesammelte Überschuss an Gewerbefleiß und Wohlstand wäre in Seefahrt und Handel geflossen, und die Lateiner wären durch einen reinherzigen und freundschaftlichen Austausch mit den Völkern des Orients bereichert und belehrt worden.

Gewiss: Scotts Kreuzfahrer waren Jünger des Mammon gewesen, doch es war ein anderer Autor, der (wenn auch unbeabsichtigterweise) einen sogar noch größeren Einfluss auf die Entwicklung des modernen Bilds von den „materialistischen Kreuzzügen“ haben sollte; ein Autor, dessen eigene Ansichten diesem Bild gar nicht unähnlicher hätten sein können: Als Joseph François Michaud seine monumentale, in sechs Bänden zwischen 1812 und 1822 erschienene Histoire des croisades schrieb, war er von der Absicht getrieben, die glorreiche religiöse und monarchische Vergangenheit Frankreichs wieder zum Leben zu erwecken und so die Gräuel der Aufklärung und der Französischen Revolution vergessen zu machen. Wie die Vertreter der Aufklärung gebrauchte Michaud den Kreuzzugsbegriff ausschließlich für Kriegszüge in den Nahen Osten. Er scheint zwar die Existenz anderer Kreuzzugsschauplätze nicht geleugnet zu haben – so verwarf er den Albigenserkreuzzug einfach aus dem Grund, dass dieser mit seiner Erzählung nichts zu tun hatte –, aber andererseits wusste Michaud auch, dass die Kreuzzugsbewegung noch lange nach 1291 lebendig geblieben war (obwohl er die Ansicht vertrat, dass dies spätestens im 17. Jahrhundert vor allem in den Köpfen einiger Autoren der Fall war und nicht in der Realität).

Michaud war überzeugt davon, dass die Kreuzzüge sämtlichen beteiligten Ländern Europas Reichtümer eingebracht hatten und dass Frankreich von allen diesen Ländern am meisten profitiert hatte. In seinen Augen waren die Kreuzzüge Äußerungen einer überlegenen katholischen Zivilisation, deren Mission es war, den Islam zu bekämpfen. Das französische Original seiner Histoire erschien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in neunzehn Auflagen; daneben erschienen Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Italienische und Russische. Die patriotischen Elemente in Michauds Darstellung gefielen vor allem den europäischen Architekten großer Reiche. Auf Michauds Rhetorik werde ich später noch eingehen, vorweg sei nur gesagt, dass seine Ideen zur Begründung aller möglichen Arten von europäischen Kolonialunternehmungen missbraucht wurden.

In dem Maße jedoch, wie im Verlauf des 20. Jahrhunderts der Imperialismus selbst in Ungnade fiel, war der Weg frei für beißende Kritik wie die von Norman Daniels Islam and the West: The Making of an Image (1960). Daniel zufolge gründeten die zeitgenössischen Vorurteile, die der kolonialistische Westen mit Blick auf die angebliche Unterlegenheit der muslimischen Welt hegte, in verdrehten Vorstellungen, die zur Zeit der Kreuzzüge entstanden waren.

Der Imperialismus mochte Schnee von gestern sein; die proto-imperialistische Lesart der Kreuzzüge blieb aktuell. Ihres religiösen Kontextes enthoben, wurden sie spätestens in den 1920er- und 1930er-Jahren als Ereignisse der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte interpretiert – und zwar von marxistischen wie von liberalen Wirtschaftshistorikern, die der Ansicht waren, die Kreuzzugsbewegung stelle einen Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Wirtschaftslebens dar. Von ihren imperialistischen Vorläufern hatten sie die Überzeugung geerbt, die Kreuzzüge seien eine frühe Erscheinungsform des Kolonialismus gewesen; sie selbst konnten sich nicht vorstellen, dass für ein historisches Geschehen von dieser Größenordnung andere Kräfte als die des Marktes hätten verantwortlich sein können.

Die neo-imperialistische Sicht der Kreuzzüge als eines proto-kolonialistischen Phänomens wurde mit der Zeit die Meinung der breiten Mehrheit und das, obwohl die wirklichen Kreuzzugsexperten unter den Historikern an ihrer Formulierung nicht den geringsten Anteil gehabt hatten. Es gibt bis heute keine umfassende Studie zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Kreuzzüge, und auch die Wirtschaftsgeschichte der Kreuzzugsbewegung selbst muss erst noch geschrieben werden. Norman Housley hat darauf hingewiesen, dass bislang noch nicht einmal eine überzeugende Analyse zur Rolle der italienischen Handelsstädte innerhalb der Kreuzzugsbewegung vorgelegt worden ist. Selbstverständlich lässt sich die Geschichte der Kreuzzüge und der in ihrem Zusammenhang gegründeten Herrschaften (vor allem auf der Iberischen Halbinsel und im Baltikum) nicht völlig von der Diskussion über die Ursprünge des Kolonialismus trennen. Zweifellos gab es einen engen Zusammenhang zwischen Kreuzzugsideen und der Begründung der spanischen und portugiesischen Weltreiche. Die Tatsache bleibt jedoch bestehen, dass bis dato noch kein überzeugender (und das heißt: auf handfeste Beweise gestützter) Nachweis für die Behauptung vorgelegt worden ist, die Teilnehmer an den Kreuzzügen in den Orient hätten vorrangig aus Profitstreben gehandelt. Es scheint, dass diese Ansicht sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter Kreuzzugshistorikern verbreitet hat, wobei israelische Historiker wie vor allem Joshua Prawer die Vorhut bildeten. Für sie stand die Darstellung der Kreuzfahrer als Proto-Kolonialisten im Einklang mit der zionistischen Interpretation der Geschichte des Gelobten Landes seit dem Beginn der jüdischen Diaspora.

Ein „Goldenes Zeitalter“ – und dann eine Flaute

Das romantische Interesse am Phänomen der Kreuzzüge und seine Verquickung mit den imperialistischen Regungen des 19. Jahrhunderts führte schließlich in Frankreich, aber auch in Deutschland und der Schweiz, zum Auftreten einer ganzen Generation von brillanten und produktiven Historikern auf dem Gebiet der Kreuzzüge in den Nahen Osten, deren Vertreter vor allem durch ihren Ehrgeiz und ihre Leistungen im Aufspüren und in der Edition von Quellen berühmt geworden sind. Niemand könnte heute auf die Werke von Louis und René de Mas Latrie, Emmanuel Rey, Paul Riant, Melchior de Vogüé, Henri Delaborde, Charles Kohler, Joseph Delaville le Roulx, Reinhold Röhricht, Hans Prutz oder Heinrich Hagenmeyer verzichten; dasselbe gilt für die von der Société de l’Orient Latin herausgegebenen Schriften. Die große Ära der Gelehrsamkeit, während der diese Männer Herausragendes geleistet haben, dauerte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, obwohl auch noch die baugeschichtlichen und archäologischen Arbeiten von Camille Enlart und Paul Deschamps aus den 1920er- und 1930er-Jahren dazuzuzählen sind (beide profitierten von dem Umstand, dass Frankreich mittlerweile das Protektorat über Syrien und den Libanon übernommen hatte).

Es folgte eine Zeit des Stillstands, die nur ab und an von revisionistischen Werken wie etwa den Studien von Carl Erdmann über Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (1935) oder von Claude Cahen über das lateinische Fürstentum Antiochia (La Syrie du nord à l’époque des croisades et la principauté franque d’Antioche, 1940) unterbrochen wurde. Eine solche Jahrzehnte währende Ruhephase bot natürlich genau das richtige Umfeld für das Erscheinen von mehrbändigen Überblicksdarstellungen wie René Groussets Histoire des croisades et du royaume franc de Jérusalem (1934–1936) und das bereits erwähnte Werk Steven Runcimans sowie die Planungsphase der von der University of Wisconsin unter der Leitung von Kenneth Setton herausgegebenen History of the Crusades (1958–1989). Diese war größtenteils von amerikanischen Historikern verfasst, denen der „michaudistische“ Ton von Groussets Darstellung missfiel und die sich stattdessen an der deutschen Forschungstradition orientieren wollten. Es dauerte allerdings so viele Jahre – Jahrzehnte! –, die „Wisconsin History“ fertigzustellen, dass viele der ursprünglichen Beiträger über der Abfassung ihrer Kapitel verstarben und am Ende doch mindestens ein Grousset-Schüler in die Reihen der Autoren aufgenommen werden musste.

Frühe Anzeichen für ein Revival: Die Geschichte des lateinischen Ostens

Die Zeit der Stagnation endete in den 1950er-Jahren. Die europäischen Weltreiche befanden sich in Auflösung. Als Reaktion auf die Protokolle der Nürnberger Prozesse sowie die Debatten über die atomare Aufrüstung gab es ein wiedererwachendes Interesse an der Theorie des „gerechten Krieges“. Unter der Fülle von Forschungsbeiträgen, die nun in einer kurzen Zeit entstanden, befanden sich viele, die sich erneut mit Struktur und Gesellschaft der lateinischen Herrschaften im Orient befassten. Noch wichtiger allerdings war es – denn dies betraf alle anderen Zweige der Kreuzzugsforschung –, dass der vorherrschende Konsens über die Kreuzzüge infrage gestellt wurde.

Das erste Anzeichen dafür, dass ein Umschwung in der Luft lag, hatte es schon gegeben, als im Jahr 1940 der französische Historiker und Arabist Claude Cahen die erste detaillierte Studie über das Fürstentum Antiochia veröffentlichte. Einige Jahre später machten sich Jean Richard in Frankreich und Joshua Prawer in Israel daran, die Geschichte des Lateinischen Königreichs Jerusalem neu zu schreiben, indem sie ein ko härentes Modell seiner Verfassungsentwicklung entwarfen. Dieser Ansatz ist mittlerweile zwar in Teilen überholt und durch komplexere, etwas weniger bruchlose Sichtweisen ersetzt worden – durch die Grundlagenstudien von Hans Eberhard Mayer und Steven Tibble etwa –, aber man macht sich heutigentags dennoch kaum ein Bild davon, wie aufregend die Forschungen von Richard und Prawer zur Gesetzgebung, Verfassung, Wirtschaft und Gesellschaft der Kreuzfahrerherrschaften damals waren. Zugleich spiegelten einige Unterschiede zwischen Richard und Prawer, was ihre Interpretation der gesellschaftlichen Grundlagen des lateinischen Ostens anging, im Grunde nur die Geschichte des Imperialismus in den vorangegangenen anderthalb Jahrhunderten wider. In der letzten Zeit ist Joshua Prawer gern als ein Vorkämpfer des Antikolonialismus dargestellt worden; dabei lässt sich vieles von dem, was zur Stützung dieser These herangezogen wird, auch ganz anders interpretieren. Als noch recht junger Mann hatte Prawer sich im britischen Mandatsgebiet Palästina niedergelassen, wo er die Vorstellungswelt des britischen Imperialismus im gleichen Atemzug aufsog, in dem er gegen sie die Stimme erhob. Jean Richard andererseits war Schüler von René Grousset gewesen und stand am Ende der Reihe französischer Historiker, die von Michaud herstammten.

Prawer und Richard waren unterschiedlicher Ansicht, was das Verhältnis zwischen Eroberern und Einheimischen, zwischen Herrschenden und Beherrschten in den Kreuzfahrerherrschaften der Levante betraf. Prawer ging, im Anschluss an den englischen Historiker R. C. (Otto) Smail, davon aus, dass die Siedler ihr Leben getrennt von den einheimischen Anwohnern geführt hätten. Prawer und Smail gingen heftig mit der Meinung ins Gericht, in der Levante hätte sich so etwas wie eine „fränkisch-syrische Gesellschaft“ entwickelt, in der europäische Besatzer und Einheimische sich vermischt und somit eine ganz neue, einzigartige Kultur hervorgebracht hätten. Diese Meinung war hundert Jahre zuvor von Emmanuel Rey vertreten worden, und Richard vertrat sie noch immer. In Smails Augen bildeten die europäischen Siedler eine Herrschaftselite, die von ihren Untertanen nicht zuletzt durch ihre Sprache und Religion getrennt blieb; dabei habe die Ausübung von Macht die „letztgültige Legitimierung der fränkischen Herrschaft“ dargestellt. Prawer ging sogar noch weiter und benutzte das Wort „Apartheid“, um die Trennung der Siedler, die zumeist in Städten lebten, von der einheimischen Landbevölkerung zu beschreiben.

Französischer Imperialismus in den Diensten des Denkmalschutzes: Der Krak des Chevaliers kurz nach seiner Wiederherstellung. Diese schönste und am besten erhaltene aller Kreuzfahrerburgen wurde in den 1930er-Jahren von der französischen Protektoratsregierung in Syrien restauriert. Im Zuge der Arbeiten wurden die Dorfbewohner, die sich in den Mauern der Burg niedergelassen hatten, umgesiedelt. Die Burg war von den Johannitern nach einem Erdbeben im Jahr 1170 vollkommen neu errichtet worden und wurde von ihnen im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts umgebaut und stark erweitert. Im Jahr 1271 war sie an den Mamlukensultan Baibars gefallen und seitdem – baulich nahezu unverändert – in muslimischer Hand geblieben.

Richards Herangehensweise spiegelte, darauf hat Smail hingewiesen, die Zielvorgabe einer kulturellen Integration wider, wie sie (nach französischen „Spielregeln“) beim Streben Frankreichs nach einem Weltreich eine gewichtige Rolle gespielt hatte. Die von Prawer und Smail selbst vertretene These einer Trennung von Siedlern und Einheimischen wiederum wirkte wie ein Echo auf die größere Distanz, die britische Kolonialbeamte in der Regel zu den von ihnen verwalteten indigenen Bevölkerungen einhielten. Die neuere Forschung tendiert dazu, Richard recht zu geben. Neue archäologische Funde und Neubewertungen der Quellenbefunde deuten auf das Bestehen einer „fränkisch-syrischen“ Mischgesellschaft hin. Aber man sollte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Kernfrage nach der Existenz eines Proto-Kolonialismus – die Prawer und anderen Historikern ja so wichtig gewesen war – heutzutage kaum je gestellt wird. Sie ist mittlerweile in Israel zu einer Akzeptanz der im Gefolge der Kreuzzüge stattgefundenen Siedlungsbewegung geworden, die in jener ein positives Element der eigenen (israelischen) Vergangenheit erblickt. Ronnie Ellenblum hat diese Entwicklung folgendermaßen nachgezeichnet:

… von einer „jüdischen“ Lesart der Geschichte (der Kreuzzüge), welche die Massaker an den jüdischen Gemeinden des Rheinlands im Jahr 1096 in den Mittelpunkt stellte, hin zu einer zionistischen Interpretation der Kreuzzüge als – freilich unter umgekehrten Vorzeichen stattfindende – Vorläufer der späteren zionistischen Bewegung, und schließlich hin zu einer Betrachtungsweise, die in den Kreuzzügen einen Teil der Geschichte meines eigenen Landes und darum, zu einem gewissen Anteil, auch einen Teil meiner eigenen Geschichte sieht.

Alternativen zum Traditionalismus

Eine Alternative zur traditionalistischen Interpretation der Kreuzzüge – derzufolge, wie gesagt, allein die Feldzüge zur Rückeroberung oder Verteidigung Jerusalems als „echte“ Kreuzzüge gelten sollten – ist schon in den 1930er-Jahren von Carl Erdmann vorgeschlagen worden. Erdmann war der Ansicht, der Begriff Kreuzzug sei auf jede Art von Kriegführung anzuwenden, die im Namen Gottes zu Zwecken der Buße unternommen worden war. Seine Ideen trafen jedoch erst auf eine gewisse Resonanz, als sein Buch Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens von 1935 auch ins Englische übersetzt worden war (The Origin of the Idea of the Crusade, 1977). Erdmann gilt heute als der erste Vertreter einer generalistischen Interpretation der Kreuzzüge. Ein weiterer Ansatz, der heute als der popularistische bezeichnet wird, wurde von Paul Alphandéry und Alphonse Dupront in ihrem Buch La Chrétienté et l’idée de croisade (1954–1959) entwickelt. Darin legen die beiden französischen Mediävisten nahe, dass die Essenz der Kreuzzugsbewegung gerade in prophetischen, endzeitlich motivierten Bewegungen unter der Bauernschaft und den städtischen Unterschichten gelegen habe. Die freimütigste Herausforderung des traditionellen Standpunkts jedoch hatte zwar in den frühen 1950er-Jahren bereits in der Luft gelegen, offen ausgesprochen wurde sie jedoch erst in der 1977 erschienenen Studie What Were the Crusades? von Jonathan Riley-Smith. Die Anhänger der damals formulierten Idee nennt man heute Pluralisten. Sie vertreten die Ansicht, dass „echte“ Kreuzzüge nicht nur im östlichen Mittelmeerraum, sondern an vielen anderen Fronten stattgefunden haben. Es interessiert sie dabei weniger, welche Ziele ein bestimmter Kriegszug verfolgte; vielmehr fragen sie danach – in den Worten Giles Constables – „wie ein Kreuzzug angestoßen und organisiert wurde“. Zu diesem Zweck haben die pluralistischen Kreuzzugshistoriker ein Modell entwickelt, mit dessen Hilfe sich ein „echter Kreuzzug“ einwandfrei identifizieren lässt. Die dabei berücksichtigten Kriterien sind rechtlicher Natur, betreffen also den juristischen Status eines Feldzuges. Insbesondere zählt dazu eine Proklamation, durch die der Papst im Namen Christi zum Kreuzzug aufruft, einschließlich eines expliziten Verweises auf die Befreiung Jerusalems oder des Heiligen Landes, selbst wenn der betreffende Kreuzzug ganz woanders stattfand, und außerdem ein besonderes Gelübde, welches die Teilnehmer des Feldzuges ablegten, um in den Genuss bestimmter weltlicher und geistlicher Privilegien zu gelangen, namentlich des Ablasses.

Die pluralistische Sicht der Kreuzzüge entstand in den letzten Jahren einer Ära, die Interpretationsmodelle besonders liebte. Aber wie alle Modelle, so zerbricht auch dieses, sobald man sich vom Allgemeinen dem Besonderen zuwendet. Einige führende Historiker haben in der Zwischenzeit die anderen Definitionsansätze einer Neubewertung unterzogen, und der wissenschaftliche Nachwuchs hat sowieso eher geringes Interesse an einer Debatte, die ihren Höhepunkt vor etwa zwanzig Jahren erreicht und mittlerweile deutlich an Schwung verloren hat. Dennoch haben die Pluralisten eine nachhaltige Horizonterweiterung in der Kreuzzugsforschung bewirkt, sowohl im Raum als auch in der Zeit. Die Verfasser der meisten Überblicksdarstellungen hatten zuvor den Kreuzzügen nach 1291 nur geringen Raum eingeräumt, jenen nach 1464 gar keinen. Heutzutage ist es eigentlich schon fast die Norm, die See- und Landkampagnen gegen die Osmanen im 16., 17. und 18. Jahrhundert als eine Art von Kreuzzügen zu bewerten und außerdem den Beitrag der Kreuzzugsbewegung zur Errichtung überseeischer Großreiche (insbesondere im Falle Portugals) ganz neu zu bewerten. Aus Sicht der pluralistischen Interpretation steht der Kriegsschauplatz im Nahen Osten nun neben der Iberischen Halbinsel, dem inneren Westeuropa, dem Ostseeraum, dem Balkan und Nordafrika. Einzelstudien zu historischen Entwicklungen in jenen Gebieten ist damit ein entscheidender Impuls gegeben worden, zu dem auch Kreuzzugshistoriker beitragen konnten. Auch können nun sinnvolle vergleichende Studien beispielsweise zwischen der Iberischen Halbinsel und der Levante oder zwischen den Ordensstaaten Preußen und Rhodos angestellt werden. Ein weiteres Resultat des beschriebenen Perspektivenwechsels ist es, dass die Muslime im Gesamtbild nun etwas weniger prominent hervor- und hinter anderen damaligen Feindbildern zurücktreten – und das just zu einem Zeitpunkt, an dem die breite Öffentlichkeit, unter dem Eindruck dschihadistischer Propaganda, ihre Vorstellung von der Kreuzzugsbewegung als etwas wesentlich Anti-Islamischem bekräftigt gesehen hatte.

Der Materialismus auf dem Prüfstand

Während die Debatte um die Definition des Kreuzzugsbegriffs sich abkühlte, trat eine andere Fragestellung in den Vordergrund. Ein Schwachpunkt der materialistischen Ansicht, die Teilnehmer der Kreuzzüge in das Heilige Land seien ganz allgemein vom Profitstreben getrieben worden, war der folgende: Es gab für diese These nur sehr wenige Belege. Es war also ganz natürlich, dass einige Historiker ihr Augenmerk auf die anderen Motive richteten, von denen die Kreuzfahrer womöglich zu ihrem Aufbruch ins Ungewisse veranlasst wurden. In den Worten Norman Housleys ging es dabei um „die ganze Bandbreite an Zielen, Hoffnungen, Überzeugungen und Ängsten, durch welche Menschen überhaupt erst dazu bewegt wurden, das Kreuz zu nehmen, und die sie dann später, wenn sie auf einem Kreuzzug waren, bei der Stange hielten“. Die Herangehensweise der Historiker, die sich den Kreuzzügen auf diese Weise näherten, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Denkform der Kulturanthropologie, dem sogenannten Kulturrelativismus. Dieser besagt, dass ein Forscher seine eigenen ethnozentrischen oder vielleicht auch politischen Vorurteile erst einmal beiseitelegen und stattdessen den Gegenstand seiner Studien unter Berücksichtigung von dessen eigenem kulturellen Umfeld untersuchen sollte. Daraus folgt, dass man all das, was etwa die Menschen der Vergangenheit über sich selbst und andere geschrieben haben, mit Blick auf die damalige Lebenswelt durchaus ernst nehmen sollte; nur dann kann man die auslösenden Momente identifizieren, die sie schließlich zum Handeln bewegten – selbst jene schwer greifbaren Faktoren, aus denen sich „der mentale Raum zusammensetzt, in dem … jene Menschen nun einmal lebten“, wie Marcus Bull es formuliert hat. Das schließt zum Beispiel das kollektive Gedächtnis und die Gedenkkultur ein, dazu „all jene Überzeugungen und Instinkte, die sich bis dato vielleicht noch nicht explizit geäußert hatten, die aber in einer veränderten Situation eine entscheidende Bedeutung annehmen konnten“, so Bull. Wenn wir uns Männern und Frauen gegenüber sehen, die vor Hunderten von Jahren lebten und sich – dem Anschein nach oftmals völlig spontan – ganz und gar auf ein waghalsiges und selbstzweckhaftes Unternehmen eingelassen hatten, dann führt einer der Hauptzugangswege zur Vorstellungswelt dieser Leute über das kollektive Bewusstsein eng verbundener sozialer Gruppen (zumindest, solange diese nicht allzu straff organisiert waren oder unter einer allzu starken Kontrolle standen). Aus diesem Grund haben sich Kreuzzugshistoriker der Erforschung von Familien zugewandt.

Dieser Versuch, die Motivation der Kreuzfahrer zu erhellen (dem ich die zugegebenermaßen etwas holprige Bezeichnung sensible Einfühlung geben möchte), ist ein Echo auf Entwicklungen in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft. Hier wie dort wird dem religiösen Glauben mittlerweile größere Bedeutung beigemessen als früher. Ähnliches gilt für andere Disziplinen wie etwa die Literaturwissenschaften, die Ethnosoziologie und die Psychologie. Einen Vorgeschmack dieser Entwicklung hatte bereits die Fokussierung auf mentalités gegeben, wie sie in der jüngeren Geschichtsschreibung des Mittelalters hervorgetreten ist. Gegen diese Entwicklung könnte man nun einwenden, die Historiker begäben sich da auf gefährliches Terrain – weitaus gefährlicher, als das von den Antrhopologen bearbeitete. Schließlich befassen diese sich mit zwar fremden, aber doch immerhin noch lebendigen Kulturen. Eine weitere potenzielle Schwäche stellt die Gefahr dar, bei der Anwendung psychologischer Erklärungsansätze oder solcher aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich, unbesehen auch die von den Autoren dieser Disziplinen zugrundegelegten Modelle zu übernehmen. Auch kann das skrupulöse Festhalten an einem geradezu grenzenlosen Quellenkorpus am Ende dazu führen, dass man – wenn man nicht sorgsam geplant hat – Forschungsvorhaben verfolgt, die überambitioniert und unkritisch sind. Andererseits hat es natürlich auch echte Fortschritte in der Forschung gegeben. Obwohl es nicht ganz fair ist, den folgenden Vergleich anzustellen (denn die Kreuzfahrer kommen in Georges Dubys berühmter Studie über das Mâconnais, La Société aux XIe et XIIe siècles dans la région mâconnaise von 1971 nur am Rande vor): Es lässt sich ein aufschlussreicher, kontrastiver Vergleich anstellen zwischen Dubys materialistischem Blick auf die Kreuzfahrer, bei dem handfeste Beweise der Theorie und (wenn auch begründete) Vermutungen geopfert werden, einerseits; und Marcus Bulls Studie über die Hintergründe der Reaktionen auf die Predigten zum Ersten Kreuzzug in Westfrankreich andererseits. In dieser letztgenannten Studie, Knightly Piety and the Lay Response to the First Crusade (1993), gelingt Bull nämlich eine wesentlich stärker am historischen Beweismaterial orientierte und nuancierte Darstellung der Verhältnisse zwischen Landbesitz, Familieninteressen, althergebrachten Loyalitäten und religiösen Überzeugungen.

Unterschiedliche Sichtweisen: Die Experten und die interessierte Öffentlichkeit

Die intensive Forschungsaktivität, die sich im Verlauf der letzten fünfzig Jahre auf nahezu jedem Spezialgebiet der Kreuzzugsgeschichte entfaltet hat, ist nicht zuletzt das Ergebnis eines überaus starken Wachstums der Zahl der daran beteiligten Forscher. So gab es, um nur ein Thema beispielhaft herauszugreifen, im Jahr 1960 wahrscheinlich kaum mehr als zwanzig Experten auf dem Gebiet der Ritterorden. Zu einem unlängst veröffentlichten Dictionnaire européen des ordres militaires au Moyen Âge hingegen haben sage und schreibe 238 Autoren beigetragen! (Eine beachtliche Zahl, selbst wenn nicht alle tatsächlich Experten für die Geschichte der Ritterorden waren.) Zugleich hat sich aber auch eine Kluft aufgetan zwischen den forschenden Spezialisten und einer interessierten Öffentlichkeit, deren traditionelle Sicht der Kreuzzüge in der letzten Zeit vom Aufstieg des Dschihadismus sunnitischer Prägung bestärkt worden sein dürfte. Wenn nun also die Historiker die hergebrachte Meinung verwerfen, das Phänomen der Kreuzzüge sei allein unter Berücksichtigung der Ereignisse in der Levante während des Hochmittelalters zu beschreiben, und sich stattdessen der Vorstellungswelt und den Absichten der Kreuzfahrer zu stellen beginnen, so machen sie bald die Erfahrung, dass ihre eigenen Vorstellungen von der Wirklichkeit der Kreuzzüge mit denen fast aller anderen ihrer Mitmenschen im Widerstreit stehen. Das entwertet jene neuen Ansätze jedoch keineswegs, und so ist es eine Absicht des vorliegenden Buches, seine Leserinnen und Leser mit ihnen bekannt zu machen.

  1. Kreuzzüge als Heilige Kriege und Bußwallfahrten

Die Kreuzzüge waren bewaffnete Pilgerfahrten zu Zwecken der Buße. Sie wurden nicht ausschließlich in der Levante geführt, sondern mit gleichem Eifer entlang der baltischen Ostseeküste, in Nordafrika, auf der Iberischen Halbinsel, in Polen, Ungarn, auf dem Balkan und sogar in Westeuropa. Sie wurden nicht allein gegen Muslime ausgerufen, sondern auch gegen die heidnischen Wenden, Balten und Litauer, gegen schamanistische Mongolen, orthodoxe Russen und Griechen, häretische Katharer und Hussiten – und gegen jene Katholiken, welche die Kirche als ihre Feinde betrachtete. Die Kreuzzugsbewegung schuf „heilige Ligen“ – militärische Allianzen gegen den Islam, denen die Kreuzzugsprivilegien der Kreuzfahrerschaft Auftrieb verliehen – und Ritterorden, deren Mitglieder in zwei Fällen sogar aus eigenen Ordensstaaten heraus ihre Kriegszüge unternahmen.

Buße und Ablass

Wenn Menschen sündigen, dann laden sie Schuld auf sich – sie verschulden sich bei Gott. Diese Schulden müssen irgendwie zurückgezahlt werden, entweder durch Leiden in dieser Welt oder durch Bestrafung in der nächsten. Schon vor der Zeit der Kreuzzüge hatte es im Christentum die Auffassung gegeben, diese Schuldenlast könne dadurch reduziert werden, dass ein Sünder oder eine Sünderin mit der rechten Geisteshaltung einen aufrichtigen Akt der Buße unternahm. Das war eine Form der selbst auferlegten Bestrafung, die etwa in dem Beschluss, zu fasten, zu pilgern oder sich selbst Schmerzen zuzufügen, bestehen konnte. Diese Buße konnte man freiwillig auf sich nehmen; sie konnte der Sünderin oder dem Sünder aber auch von dem Priester, dem sie die Verfehlungen gebeichtet hatten, auferlegt werden. In der Zeit der Kreuzzüge begannen die meisten Christen zu glauben, dass kein Akt der Buße Gott jemals Genugtuung bereiten konnte, weil selbst die reuigsten Sünder niemals „angemessene“ Rückzahlungen an ihren Schöpfer leisten konnten. Der Ablass, der in seiner endgültigen Form um 1200 entstanden ist, stellte einen seelsorgerlichen Versuch zur Lösung dieses Dilemmas dar. Indem sie sich auf die „Macht zu binden und zu lösen“ berief, die Jesus seinen Aposteln verliehen hatte (vgl. Mt 16,19; 18,18), erklärte die Kirche Folgendes: Wenn eine sündige Person ihre Sünden gebeichtet hatte, dann würde die Verrichtung von bestimmten, klar definierten Akten der Buße vor Gott als ausreichende Sühne Gnade finden. Der Wert der jeweiligen Bußtat bemaß sich durch einen anteiligen Erlass der nach Eintreten ihres Todes für die sündige Person vorgesehenen Strafzeit im Fegefeuer (jenem Ort im Jenseits, an dem sie von ihren verbliebenen Sünden gereinigt würde). Diese Reduktion war der Ablass. Als vollen Ablass bezeichnete man das Versprechen einer gänzlichen Tilgung und Vergebung sämtlicher bis zum Zeitpunkt seiner Zuerkennung begangenen Sünden.

Die Kreuzzugsbewegung passte sich mit der Zeit an die Umstände und sich wandelnden Sitten an, aber bestimmte Eigenschaften bewahrte sie durch alle Umbrüche hindurch: „Das Kreuz zu nehmen“ – sich an einem Kreuzzug zu beteiligen –, das hieß eine heilige Handlung auszuführen (denn schließlich wurden diese Kriege im Namen Gottes geführt); aber zugleich handelte es sich auch um einen Akt der Buße, denn die Teilnehmer betrachteten sich selbst als Büßer. Der Krieg war vom Papst autorisiert, dem Stellvertreter Christi auf Erden. Die meisten Kreuzfahrer waren Männer (oder Frauen), die dem Laienstand angehörten und sich durch ein besonderes Gelübde zum Kreuzzug verpflichteten. Als Lohn erhielten sie Ablässe – verbriefte Garantien dafür, dass die von ihnen unternommenen Bußanstrengungen in Gottes Augen als völlig zufriedenstellend angesehen würden und sie somit die Vergebung aller Sünden erreichten, die sie bislang auf sich geladen hatten. Wenn ihre Gelübde erfüllt waren oder der Kriegszug als beendet galt, kehrten sie in ihr früheres Leben zurück. Es gab allerdings auch noch eine andere Art von Kreuzfahrern; das waren die Brüder (und, seltener, Schwestern) der Ritterorden wie etwa der Templer, Johanniter oder des Deutschen Ordens. Diese Ritter hatten in ihrem Orden die Profess abgelegt und sich somit auf Dauer zur Verteidigung der Christenheit und des Christentums verpflichtet. Alle diese Gelübde – ob spezifisch und befristet oder permanent – wurden nach außen hin durch Kreuze symbolisiert, die auf der Alltagskleidung oder der Ordenstracht aufgenäht waren.

Kreuzzüge als Heilige Kriege

Im frühen 13. Jahrhundert hielt der berühmte Prediger Jakob von Vitry eine Predigt vor Rittern des Templerordens. Wahrscheinlich tat er dies in der Hafenstadt Akkon an der Küste Palästinas, denn dort war er Bischof, und dort hatten die Templer ihr Hauptquartier in einer mächtigen Klosterfestung direkt am Meer. Zu Beginn seiner Predigt wies Jakob darauf hin, dass die Templer und ihre christlichen Waffenbrüder, wenn sie auch nicht mit jenen ersten „Soldaten Gottes“ – d.h. den Aposteln und Märtyrern der ersten christlichen Jahrhunderte – zu vergleichen seien oder mit jenen Seelen, die während der letzten Prüfung vor dem Jüngsten Gericht standhaft bleiben würden, sie aber immerhin die bedeutende Pflicht hätten, das Christentum gegen eine große Bedrohung durch den Satan und seine Schergen zu verteidigen: gegen Götzendiener, Heiden, Ketzer und jene Pazifisten, die versuchten, die Mission der Kreuzfahrer zu untergraben. Jakob rechtfertigte die Gewaltausübung im Namen des Christentums mit theologischen Argumenten, die er fast ausschließlich dem Decretum Gratiani entnahm, dem damaligen Standardwerk des Kirchenrechts. Das alles war seinen Zuhörern wohl zu hoch, schließlich waren die meisten Templer ungebildete Gesellen. Wenn sie überhaupt mitbekommen haben, dass der Bischof ein intellektuell anspruchsvolles Plädoyer für die Anwendung von Gewalt entwickelte, dann vermutlich nur in Ansätzen. Sie dürften erleichtert gewesen sein, als Jakob, einer alten Angewohnheit folgend, endlich zu ein paar saftigen Anekdoten überging. Eine dieser Geschichten handelte von einem Templer, „damals, als die Tempelritter arm und überaus eifrig im Glauben waren“ – ein typischer Seitenhieb in Richtung seiner Zuhörer. Die Predigt schließt mit der Ermahnung an die Ritter, dem Streben nach eigenem Ruhm zu entsagen und auf niemanden zu vertrauen als auf Gott allein.

Aus heutiger Sicht ist Jakobs Predigt alles andere als gut geschrieben. Der plötzliche Bruch zwischen den biblischen Anspielungen und Kirchenväterzitaten in den ersten drei Vierteln des Textes und den abschließenden Anekdoten veranschaulicht den tiefen Graben, der sich zu allen Zeiten zwischen den hochgeistigen Abstraktionen der Theologen und den Motiven einfacher Männer und Frauen aufgetan hat. Weder Predigern noch Päpsten ist es jemals geglückt, die von ihnen entworfene Theologie der Gewalt den einfachen Gläubigen in einer Sprache darzustellen, die diese auch verstehen konnten; nie ist es ihnen in befriedigendem Maße gelungen, Brücken über diese Kluft zu schlagen. Das ist ein Grund dafür, dass der Klerus, wie er noch feststellen sollte, die durch flammende Predigten angefachten Leidenschaften danach nur schwer im Zaum halten konnte. Man sollte jedoch von vornherein betonen, dass die Kreuzzugsbewegung wuchs und gedieh vor dem Hintergrund von Ideen über Gewalt, die den meisten Gebildeten völlig plausibel erschienen.

Innerhalb des Korpus der heiligen Schriften des Christentums – göttlich inspirierter Offenbarung nach Ansicht der Gläubigen – finden sich widersprüchliche Aussagen zur Frage der körperlichen Gewaltausübung, von angedrohter, unabsichtlicher oder willentlicher Tötung oder Körperverletzung. Auf dem Berg Sinai empfängt Moses das Gebot Gottes: „Du sollst nicht töten!“, aber was bei den Theologen des 4. Jahrhunderts fast noch größeren Eindruck hinterließ, war die Tatsache, dass dieses Gebot unmittelbar im Anschluss, im Verlauf der weiteren Ereignisse auf und um den Sinai, schon wieder abgewandelt und eingeschränkt wurde. In dem auf die Wiedergabe der Zehn Gebote folgenden und diese gewissermaßen kommentierenden Bundesbuch fordert Jahwe für eine ganze Reihe von Vergehen die Todesstrafe und verspricht außerdem, diejenigen Völker zu „vertilgen“ (Ex 23,23), die den Israeliten den Zugang zum Land der Verheißung versperren würden. Als Moses mit den Gesetzestafeln vom Sinai hinunterstieg und seine Getreuen mit der Anbetung eines goldenen Kalbs beschäftigt fand, genehmigte er, wie berichtet wird, die Tötung der Schuldigen.

Gleichermaßen wäre es ein Fehler, dem Neuen Testament einen umfassenden und unzweideutigen Gewaltverzicht zu unterstellen. Es stimmt schon: Jesus verlangte von seinen Jüngern, ihre Feinde zu lieben wie ihre Freunde (Mt 5,44); er predigte Sanftmut, Güte und Gewaltverzicht (Mt 26,52). Andererseits scheint er, ganz wie sein Vorläufer Johannes der Täufer, der Ansicht gewesen zu sein, dass es ganz ohne Soldaten auch nicht geht – so etwa, wenn er den Glauben eines römischen Zenturios, des „Hauptmanns von Kafarnaum“ nämlich, lobt, ohne dabei dessen Berufswahl infrage zu stellen (Mt 8,10), oder wenn er beim Letzten Abendmahl, Lukas zufolge, den Aposteln sagt:

Wer aber nichts hat, verkaufe sein Kleid und kaufe ein Schwert. Denn ich sage euch: Es muss noch das auch vollendet werden an mir, was geschrieben steht: „Er ist unter die Übeltäter gerechnet.“ […] Sie sprachen aber: „Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter.“ Er aber sprach zu ihnen: „Es ist genug.“ (Lk 22,36–38)

Auch später am Abend führten die Jünger Schwerter mit sich; vermutlich waren es die zuvor erwähnten. Mit einem dieser Schwerter muss es dann wohl passiert sein: „Einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab“ (Lk 22,50). Zwar wird dieser hitzige Jünger – der Parallelstelle bei Matthäus zufolge handelte es sich um Petrus – umgehend von Jesus gerügt. Aber, so fragten die gelehrten Theologen und Kriegstheoretiker späterer Jahrhunderte, wenn Christus prinzipiell gegen jegliche Form von Gewaltanwendung gewesen wäre, wie konnte es dann sein, dass der herausragende Jünger Petrus an der Seite des Messias ein Schwert bei sich führte, selbst wenn dies im Interesse der Schrifterfüllung geschah? Andere Schriften des Neuen Testaments, insbesondere jene, die vom Werdegang des Apostels Paulus berichten, sanktionieren in deutlichen Worten die Ausübung von Gewalt durch den Staat:

Denn sie [die „Obrigkeit“, wie Luther formuliert] ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: Sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut.“ (Röm 13,4)

Die Moraltheologie der Gewaltanwendung entstand aus dem Versuch heraus, die offenkundigen Widersprüche der Heiligen Schrift miteinander zu versöhnen. Der Pazifismus hatte in der frühen Kirche eine gewisse, vielleicht sogar eine bedeutende Rolle gespielt, obwohl das Ausmaß mittlerweile infrage gestellt worden ist. In den folgenden Jahrhunderten überlebte er als Meinung einer Minderheit innerhalb des Christentums, aber immerhin sollten sich die Kreuzzugsprediger später genötigt sehen, auf seine radikalen Einwände zu reagieren. Doch für die Theologen des 4. Jahrhunderts stellten sich ganz andere Probleme: Sie mussten ihre Position zur Frage der Gewaltausübung dringend klären, schließlich wurden ihre Glaubensgenossen immer zahlreicher, gelangten in höhere militärische Ränge des römischen Heeres, auf Justizposten, auf denen man nicht selten über schwere Strafen zu entscheiden hatte, und letztlich sogar auf den Kaiserthron selbst. Es half diesen Theoretikern wenig, den Alten Bund vom Neuen zu unterscheiden – nicht nur, weil die Aussagen des Neuen Testaments in dieser Frage selbst reichlich widersprüchlich waren, sondern auch, weil es, wenn Gott in einem Zeitalter die Gewaltausübung erlaubt und in einem anderen verboten hatte, keinerlei Gewähr dafür gab, dass er sie nicht, wenn die Umstände hienieden es erforderten, zu gegebener Zeit auch wieder genehmigen würde.

In einem christlichen Kontext wurde die in der Gesetzgebung der Römischen Republik wurzelnde Überzeugung, jegliche Gewaltausübung – ob als Krieg, bewaffneter Aufstand oder innerstaatliche Sanktion – müsse gewisse Kriterien erfüllen, um legitim zu sein, zuerst von Augustinus (354–430) entwickelt, dem größten unter den frühen christlichen Theoretikern. Gewalt dürfe, so Augustinus, nicht leichtfertig angewandt werden, nicht zur Selbsterhöhung, sondern nur aus juristisch einwandfreien Gründen, die ihm zufolge immer nur in der Reaktion auf eine Aggression bestehen durften. Jegliche Gewaltausübung musste zudem durch eine entsprechend legitimierte Autorität offiziell genehmigt werden. Und sie musste gerecht sein. Augustinus definierte dasjenige Vergehen, durch welches eine gewaltsame Reaktion ihren gerechten Grund erhielt, als unerträgliches Unrecht, das üblicherweise die Form von Angriff oder Unterdrückung habe. Er unterschied zwei Formen legitimer Autorität und folgte Paulus, wenn er sämtliche Herrscher (selbst die heidnischen) als Stellvertreter Gottes auf Erden bezeichnete – wobei er allerdings den christlichen römischen Kaisern eine herausragende Stellung einräumte, schließlich hatten diese sich selbst und die weltliche Macht des von ihnen beherrschten Reiches ganz und gar in den Dienst der Kirche gestellt und sich deren Verteidigung zur Aufgabe gemacht. Aber Augustinus glaubte auch, dass Gott höchstpersönlich den Befehl zur Gewaltausübung geben könne; diese sei dann „zweifellos gerecht“. Auf Gottes Wort hin hatte Abraham sich bereitgemacht, seinen Sohn Isaak zu opfern, und Moses hatte Kriegszüge befehligt. Wenn Gott die Anwendung von Gewalt befahl, so tat er dies nicht aus Grausamkeit, sondern als gerechte Strafe. Augustinus war darauf gefasst, dass auch im Zeitalter des Neuen Bundes direkte Befehle Gottes an seine Geschöpfe ergehen konnten; in zwei seiner späteren Schriften spricht er von der Möglichkeit, dass dies noch zu seinen eigenen Lebzeiten geschehen könne.

Am positivsten äußert sich Augustinus, wenn er über die „rechte Absicht“ schreibt, die er von all jenen verlangt, die Gewalt entweder anordnen oder selbst ausüben wollen. Ihre Motivation müsse in Liebe gründen, dann werde sich die Gewaltanwendung auf das notewendige Maß beschränken. Daraus folgte, dass die Verantwortlichen, die über die Anwendung von Gewalt zu entscheiden hatten, diese derart einzuschränken hatten, dass Unschuldige so wenig wie möglich betroffen sein würden und dass keinesfalls stärkere Gewalt ausgeübt wurde, als zum Erreichen der angestrebten Ziele vernünftigerweise nötig war. Augustinus’ Erörterung der „rechten Absicht“ legte das Fundament für die spätere Lehre von der Verhältnismäßigkeit des gerechten Krieges.

Augustinus’ Ansichten zu diesem Thema sind über ein umfangreiches Lebenswerk verteilt, das über mehrere Jahrzehnte hinweg und zuweilen widersprüchlich ist. Erst im 11. Jahrhundert, als die Päpste sich an Gelehrte wandten, um Gewaltausübung im Namen der Kirche zu rechtfertigen, wurden die entsprechenden Passagen aus den augustinischen Schriften zu einem zweckdienlichen Kompendium kompiliert – wobei die Widersprüche geglättet wurden. Zwei Prämissen, die für Augustinus’ Verhältnis zur Gewaltfrage grundlegend waren, standen im Vordergrund. Das war zunächst sein Insistieren auf Gott oder Christus als oberste Autorität in dieser Welt. Die zweite Prämisse bildete seine Überzeugung, dass Gewalt an sich sittlich neutral sei. Es war die Absicht der Gewalttäter, die ihr erst ihre moralische Dimension verlieh: in vielen Fällen eine verwerfliche, aber in etlichen auch eine segensreiche, und das führte Augustinus dazu, eine Theorie der gerechtfertigten Verfolgung zu entwickeln, die das Christentum bis ins 19. Jahrhundert heimgesucht hat.