Die Kronzeugin - Sayragul Sauytbay - E-Book

Die Kronzeugin E-Book

Sayragul Sauytbay

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Beschreibung

Infolge einer Reihe von Anschlägen in Xinjiang 2014 errichtete die chinesische Regierung in den letzten Jahren dort ein riesiges Netz von Straflagern für ethnische Minderheiten, vorwiegend muslimische Uiguren und Kasachen. 2017 gerät die Staatsbeamtin und Direktorin mehrerer Vorschulen Sayragul Sauytbay selbst in die Mühlen des chinesischen Unterdrückungsapparates, wird mehrmals verhört und schließlich in ein Umerziehungslager gesteckt, wo sie ihren Mitgefangenen von morgens bis abends die chinesische Sprache, Kultur und Politik beibringen muss. Die Bedingungen sind unmenschlich: Gehirnwäsche, Folter und Vergewaltigung, dazu erzwungene Einnahme von Medikamenten, die die Inhaftierten apathisch macht oder vergiftet. 2018 kommt Sayragul Sauytbay 2018 wieder frei und flieht nach Kasachstan. Seitdem sieht sie es als ihre Aufgabe an, der Welt Zeugnis abzulegen von den chinesischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und sie will die Welt warnen vor der Politik Pekings, das mit "Softpower" wie beim "Seidenstraßenprojekt" großzügige Kredite vergibt, andere Länder in Abhängigkeit bringt und langfristig die Unterwerfung der freien Welt anstrebt. Modell steht dabei Xinjiang – der größte Überwachungsstaat, den die Welt je gesehen hat, in dem Faschismus und Tyrannei regieren.

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SAYRAGUL SAUYTBAYALEXANDRA CAVELIUS

DIE

KRONZEUGIN

Eine Staatsbeamtin überihre Flucht aus der Hölle der Lagerund Chinas Griff nachder Weltherrschaft

Hinweis: Dieses Buch entstand 2019/2020 auf der Basis zahlreicher Interviews, die Alexandra Cavelius mit Sayragul Sauytbay geführt hat. Die Übersetzung der Gespräche, anhand derer Alexandra Cavelius die Lebensgeschichte von Sayragul Sauytbai verfasst hat, erfolgte laut Versicherung der Dolmetscher nach bestem Wissen und Gewissen.

Mit * gekennzeichnete Namen wurden von der Redaktion geändert.

Der Europa Verlag dankt Turarbek Kusainov, dem Autor des Buches »Gloom: Sunset on East Turkestan«, für die Überlassung von Fotos.

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2020

© 2020 Europa Verlag AG, Zürich

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Regina Recht

Bildnachweis: Gesellschaft für bedrohte Völker S. 203 o., 206 u.; Ruslan Pryanikov/Getty Images S. 203 m.; Turarbek Kusainov S. 203 u., 204 o.; Wikimedia Commons/U.S. Department of State S. 206 o.; Regina Recht S. 207; Wikitravel (Vorsatz), Merics (Nachsatz), alle übrigen: Privatarchiv Sayragul Sauytbay

Layout & Satz: Buchhaus Robert Gigler, München

Redaktion: Franz Leipold

Gesetzt aus der Bembo Book MT Std

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-331-9

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

DANKSAGUNG

Vielen herzlichen Dank an

die Menschenrechtsorganisationen der Vereinten Nationen,

die schwedische Regierung und ihre Bürgerinnen und Bürger,

die Menschen in Kasachstan,

die Regierung der Bundesrepublik Deutschland,

die kasachische Organisation »Atajurt«,

alle internationalen Printmedien, die meinen Fall mitverfolgt haben,

die Fernseh- und Radiosender verschiedener Länder,

alle Journalisten unterschiedlicher Medien,

den kasachischen Sender Free Asia Television.

Sayragul Sauytbay

INHALT

KAPITEL 1

Gespenster der Vergangenheit

KAPITEL 2

Trotz chinesischer Invasion und Zerstörung:Von einer goldenen Zukunftim Wirtschaftsboom träumen

KAPITEL 3

Klebeband vor dem Mund

KAPITEL 4

Schlimmer als im Irrenhaus:Der größte Überwachungsstaat weltweit

KAPITEL 5

Absolute Kontrolle: Verhöre und Vergewaltigung

KAPITEL 6

Das Lager: Überleben in der Hölle

KAPITEL 7

»Besser auf der Flucht sterben als im Lager«

KAPITEL 8

Kasachstan: Pekings langer Arm in die Nachbarländer

KAPITEL 9

Das (Gedanken)-Virus: Die Welt warnen!

KAPITEL 1

GESPENSTERDERVERGANGENHEIT

Flehende Frauen in der Nacht

Jede Nacht versammeln sich die weinenden Mädchen um mein Bett herum. Ihre dunklen Augen aufgerissen, ihre Köpfe kahlgeschoren. »Rette uns!«, flehen sie mich an, »bitte rette uns!« Uns Frauen trifft es an den Orten der Welt, wo die Willkür regiert, immer am härtesten. Es ist so leicht, uns mit den Dämonen der Ohnmacht, Scham und Schuldgefühlen zu ersticken. Doch es sind nicht wir Frauen, die sich für die Wunden schämen müssen, die uns die Männer gerissen haben. Nur muss ich mir das selbst erst noch verinnerlichen, Ich versuche, mich hochzurappeln, aber ich bleibe wie eine Tote liegen.

Seitdem ich im Straflager war, komme ich manchmal nicht vom Bett hoch. Das liegt daran, dass ich dort so lange auf kaltem Betonboden schlafen musste. Meine Glieder und Gelenke schmerzen vom Rheuma. Vorher war ich vollkommen gesund, heute bin ich mit 43 Jahren eine kranke Frau. Sobald ich voller Unruhe für wenige Sekunden einnicke, wecken mich meine Albträume wieder auf.

All diese Frauen, Kinder, Männer und Alte hinter den hohen Mauern aus Stacheldraht haben kein Verbrechen begangen, außer dass sie wie ich als Kasachen, Uiguren oder andere muslimische Nationalitäten in der Nordwestprovinz Chinas geboren worden sind. Dass sie muslimische Namen wie Fatima oder Hussein tragen.

Mein Name ist Sayragul Sauytbay. Ich bin verheiratet, habe vor meiner Inhaftierung als Direktorin fünf Kindergärten geleitet und liebe meine Familie über alles. Wir stammen aus der Nordwestprovinz Chinas, die flächenmäßig größer als Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen ist und knapp 3000 Kilometer Luftlinie entfernt von Peking liegt. Umschlossen von bis zu 7000 Meter hohen Gebirgsketten, hat unser Land die meisten gemeinsamen Grenzen mit ausländischen Staaten wie der Mongolei, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan sowie Afghanistan, Indien oder Pakistan. Von hier aus ist China dem fernen Europa am nächsten.

Seit dem Altertum befindet sich dort das Gebiet der mehrheitlich vertretenen Uiguren, aber auch zahlreicher anderer Ethnien wie der Mongolen, Kirgisen, Tartaren oder der zweitgrößten Gruppe, der Kasachen, zu denen ich gehöre. Unser Land hieß Ostturkestan, bis sich das benachbarte Riesenreich China dieses strategisch günstig liegende »Tor zum Westen« unter Mao Zedong 1949 mit Gewalt einverleibt und in die Autonome Region Xinjiang (»Neue Grenzen«) umbenannt hat. Für uns aber bleibt es Ostturkestan, die angestammte Heimat unserer Vorfahren. Offiziell garantiert Peking uns Einheimischen Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Willensfreiheit. Inoffiziell aber behandelt uns die Regierung wie eine Kolonie Sklaven.

Ab 2016 hat sich unsere Provinz in den größten Überwachungsstaat der Welt verwandelt. Ein Netz von mehr als 1200 oberirdischen Straflagern überzieht nach Schätzungen internationaler Experten mittlerweile unser Land, doch immer öfter dringen auch Nachrichten über unterirdische Lager ans Licht. Etwa drei Millionen Menschen sind nach unseren eigenen Schätzungen inhaftiert. Ohne Prozess. Ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Es handelt sich um die größte systematische Internierung eines ganzen Volkes seit Ende des Nationalsozialismus.

Die Parteikader haben mich gezwungen, über all das zu schweigen, was ich als leitende Staatsbeamtin in dieser Hölle von Ostturkestan erlebt habe, »sonst bist du tot«. Ich selbst musste meine Unterschrift unter mein eigenes Todesurteil setzen. Gegen alle Widerstände ist mir jedoch am Ende die Flucht aus dem größten Freiluftgefängnis der Welt bis nach Schweden gelungen.

Mein Fall ist außergewöhnlich, da ich als Ausbilderin in einem dieser Straflager arbeiten musste. Dadurch habe ich den innersten Kern dieses Systems kennengelernt, die bis ins Detail geplante und bürokratisch gelenkte Maschinerie, deren Anweisungen direkt aus Peking kommen. Es geht dabei nicht nur um systematische Folter, Demütigung und Gehirnwäsche. Es geht um das gezielte Auslöschen eines ganzen Volkes.

Während wir hier sitzen, betreiben auch große Firmen aus dem Westen lukrative Geschäfte im Nordwesten Chinas. Gleichzeitig werden nicht weit weg von ihren Firmengebäuden Kinder, Frauen, Männer, Junge und Alte auf engstem Raum wie Tiere zusammengepfercht und auf unaussprechliche Weise gequält.

Jeder zehnte muslimische Einwohner in meiner Heimat, so heißt es in Menschenrechtsberichten, ist mittlerweile interniert. Aus eigener Erfahrung kann ich diese Zahlen bestätigen. Ich selbst war in einem Lager mit 2500 Gefangenen. In diesem Bezirkszentrum namens Mongolkure, das auf Chinesisch Zhaosu heißt und etwa 180 000 Einwohner hat, gibt es noch zwei große Gefängnisse und drei weitere Lager, umgewandelt aus einer alten Parteischule und verlassenen Gebäuden. Geht man von etwa der gleichen Anzahl an Gefangenen aus, sind allein in so einem kleinen Gebiet wie meinem Heimatbezirk etwa 20 000 Menschen eingesperrt. Mittlerweile ist jede muslimische Familie von diesen Inhaftierungen betroffen. In Xinjiang lebt keiner mehr, der nicht mehrere Verwandte vermisst.

Da die Beweislage aufgrund von Satellitenbildern und dokumentierten Zeugenaussagen und zuletzt sogar dank eines chinesischen Whistleblowers mit der Offenlegung der »China Cables« erdrückend war, hat Peking nach langem Abstreiten die Existenz dieser Lager endlich eingeräumt. Weiterhin sprechen jedoch die hohen Politiker Chinas beschönigend von »Berufsbildungszentren« und zeigen in Propagandafilmen tanzende und lachende Studenten, die dort geschminkt und hübsch angezogen in hellen, schön eingerichteten Klassenräumen den Unterricht besuchen und »zu besseren Menschen umerzogen« werden. Die ausländischen Medien indessen würden »böswillig Lügen verbreiten«, alle »Schüler« seien freiwillig dort, und die meisten wären bereits ohnehin entlassen worden, lässt die Regierung verbreiten.

Wenn ich so etwas höre, frage ich mich, wo all meine Freunde, Nachbarn und Bekannten abgeblieben sind. Warum kann niemand sie anrufen, wenn sie doch wieder auf freien Fuß sein sollen? Und wenn es sich tatsächlich um »Berufsbildungszentren« handelt, wie die Regierung in Peking unverdrossen behauptet, wieso entreißt man kleine Kinder ihren Familien und ihren Schulklassen und schickt sie dorthin? Wieso sollen jene »Internate den Platz der Eltern einnehmen«, wie es die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) verlangt? Was hat in so einer »Umschulung« eine 84-jährige Greisin verloren? Wozu brauchen Schriftsteller, Professoren, erfolgreiche Geschäftsleute und Künstler, die alle bereits hochgebildet sind, solche »Fortbildungsmaßnahmen« hinter Stacheldraht?

Wer in Ostturkestan die Wahrheit über diese Straflager verbreitet, wird als ausländischer Spion, Lügner oder Terrorist gebrandmarkt. Alle Fakten im Netz eliminieren Chinas Zensoren sofort, und derjenige, der sie im eigenen Land weitergibt, verschwindet am nächsten Tag spurlos. Sobald eine westliche Delegation mit Journalisten einen Besuch in Ostturkestan ankündigt, wie im Herbst 2019 geschehen, verwandeln die Parteigenossen ein Umerziehungslager kurzerhand in eine normale Schule.

Der Stacheldraht verschwindet von den Mauern genauso wie die schwer bewaffneten Wachen vor den Toren. Die entlassenen Lehrer, die sich zuletzt als Straßenkehrer oder Fabrikarbeiter herumschlagen mussten, werden für die Dauer dieses Pressebesuchs wieder eingestellt. Schnell werden mit kasachischen und uigurischen Schülern neue Klassen gebildet und bunte Bilder fürs Fernsehen gedreht.

Ein Freund, der in dieser Zeit eine Besuchserlaubnis für meine Heimat bekommen hatte, um dort seine Mutter zu beerdigen, hat mir berichtet, wie alle Lehrer und Schüler Parteitexte für die Besucher aus dem Westen auswendig lernen mussten. Wer beim Wiederholen auch nur ein Wort oder ein Komma vergessen hat, der wurde ins Lager verbannt. Die Instruktionen der Parteikader lauteten: »Schüler, ihr dürft nicht sagen, was in den letzten Jahren wirklich passiert ist. Ihr erzählt, wie gut die Partei und wie schön euer Leben hier ist …« An solche Theateraufführungen und Täuschungen der KPCh sind wir von Kindheit an gewöhnt.

Denke ich an diese Vergangenheit zurück, würgt es mich, und ich muss mich erbrechen, als hätte ich Parasiten im Körper. Ich muss mir den Kopf mit einem Schal zusammenbinden, weil ich den Eindruck habe, dass er sonst zerplatzt. Vielleicht liegt es an den Erinnerungen, vielleicht auch an den Auswirkungen der Folter. Doch ganz gleich, wie sehr mich das Sprechen über meine Erfahrungen quält, ich halte es für meine Pflicht, die Welt zu warnen. Dabei betone ich ausdrücklich, dass ich nicht die chinesischen Bürger für diese grauenhaften Verbrechen anklage, sondern die Verantwortung dafür tragen allein die Regierung in Peking und die Kommunistische Partei Chinas.

Als Kronzeugin teile ich mein Wissen über das Innerste dieses faschistischen Systems mit. Das tue ich nicht nur für mich selbst, sondern ich spreche im Namen aller Insassen dieser Konzentrationslager und derer, die in dieser Diktatur um ihr Leben bangen. Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Wer sie nicht rechtzeitig schützt, hat schon verloren, denn in den letzten Zügen schwindet sie schneller, als wir Menschen mitdenken können. Das Reich der Mitte plant viele Jahrzehnte voraus. Es nutzt die Möglichkeiten der offenen Gesellschaft, um Stück für Stück die Demokratien zu untergraben. Was es aber bedeutet, in einem von Peking kontrollierten hypermodernen Überwachungsstaat zu leben, einen, wie ihn die Welt zuvor noch nie gesehen hat, habe ich am eigenen Leib erfahren.

Ein Leben ohne Freiheit bedeutet Rennen ums Leben in der Hölle.

Aufbruch aus Schweden nach Deutschland

Es war eine seltsame Situation, als ich von meiner Familie in Schweden Abschied genommen habe, um gemeinsam mit meinem 10-jährigen Sohn Wulanai* für die Interviews nach Deutschland zu reisen. Auf Grundlage unserer Gespräche sollte die Journalistin Alexandra Cavelius ein Buch über meine Erfahrungen schreiben.

Die Fähre legte erst um 22:55 Uhr ab, aber wir hatten bereits vier Stunden vorher das Haus verlassen, obwohl der Hafen nur knapp fünfzehn Minuten von uns entfernt liegt. Wali und meine 14 Jahre alte Tochter Wukilumu* haben uns begleitet. Nach einer Weile wurden beide auf einmal sehr still und hielten sich etwas abseits.

Mein Sohn und ich warteten an der Haltestelle auf den Bus, der uns zum Schiff bringen sollte. »Wieso reden die beiden nicht mehr mit uns?«, wollte Wulanai wissen und zupfte mich an meiner Jacke. »Vielleicht sind sie sauer, weil wir ohne sie fahren?« Daraufhin rannte mein Sohn zu seinem Vater. »Wollt ihr beide, dass wir hierbleiben?« Wali schüttelte den Kopf und strich dem Kleinen übers dichte schwarze Haar. »Nein, nein, das ist doch eine großartige Gelegenheit! Überleg mal, du bist erst zehn Jahre alt und kennst bald schon vier unterschiedliche Länder. Von so etwas träumen doch alle Kinder. Du bist jetzt ein Mann und wirst gut auf deine Mutter aufpassen. Wenn sie einen Tee braucht, dann kochst du ihr einen. Wenn sie Medikamente benötigt, gibst du sie ihr.«

Meine Kinder wissen, dass ich seit dem Straflager krank bin. Keiner kehrt gesund von so einem Ort zurück. Krank werden aber oft auch die Angehörigen, die monate- oder jahrelang zu Hause voller Angst vergebens auf ein Lebenszeichen ihrer Liebsten warten. Meine Kinder sind zu schnell erwachsen geworden.

Als der Bus kam, drehte sich meine Tochter um und fing an, bitterlich zu weinen. Eigentlich war das keine Situation, in der man traurig sein sollte. Aber auf einmal drückten die düsteren Erinnerungen wie Blasen in uns allen wieder hoch. Die Kinder sahen wieder vor sich, wie sie mit ihrem Vater nach Kasachstan geflohen sind, ihre Mutter aber alleine hinter dem Grenzbaum zurückbleiben musste. Zweieinhalb Jahre lang. Ohne jede Verbindung.

Seither hat unsere Familie keinen Tag ohne Sorgen erlebt. Ständig waren wir auf der Flucht, von einem Ort zum nächsten. Bis zu diesem Abend am Hafen hatten wir noch keine Ruhe gefunden, um wie eine normale Familie in Freiheit zu leben. Und auf einmal schlossen sich mit einem Zischen die Bustüren zwischen meinem Sohn und mir sowie meiner Tochter und ihrem Vater. Der Bus war kaum fünf Meter gefahren, da klingelte schon mein Handy. »Wie geht es euch?«, fragte mein Mann, »ist alles in Ordnung? Passt auf euch auf!«

Deutschland

Bin ich heute in einem Bus oder einem Zug unterwegs und der Schaffner kommt, muss ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen: »Nein, dieser Uniformierte will dich nicht einsperren …« Stattdessen reise ich wie jede andere freie Bürgerin durch die Welt. Eines meiner ersten Ziele war das Außenministerium in Stockholm, dann das Europäische Parlament in Brüssel, um dort als Kronzeugin über meine Erfahrungen im Straflager Bericht abzulegen.

Vielleicht ist es gut, dass dieses Buch zuerst in deutscher Sprache erscheint. Deutschland hat traurige Erfahrung mit der eigenen faschistischen Geschichte gesammelt, sich im Gegensatz zu China seinen dunklen Erinnerungen mutig gestellt, Ursachenforschung betrieben und daraus gelernt. China dagegen schreibt seine Vergangenheit neu um, da sie Partei und Regierung sonst gefährlich werden könnte. Deutschland ist ein starkes Land und in der Lage, mithilfe der Politik vieles zu bewegen. Nur dank der Unterstützung zahlreicher internationaler Politiker sowie verschiedener Menschenrechtsorganisationen habe ich heute mit meiner Familie in einem freien Land eine neue Heimat gefunden.

Wir Menschen leben alle auf dem gleichen Erdball und im selben 21. Jahrhundert, aber da, wo ich herkomme, besteht ein großer Teil der Gesellschaft aus rechtlosen Untertanen, abgeriegelt vom Rest der Welt. Für jemand, der Demokratie und Menschenrechte als selbstverständlich erachtet, ist es schwer vorstellbar, was wir in Ostturkestan jeden Tag durchmachen.

In meiner Heimat gibt es die sehr populäre chinesische Fernsehserie »Reise nach Westen«, die unsere Lebenssituation hervorragend beschreibt. Die Kommunistische Partei benutzt die Hauptfiguren, um ihre eigene Übermacht zu demonstrieren, denn niemand ist klüger und stärker als die Partei. Im Auftrag des Monarchen bereist im Film ein Zauberer möglichst viele Länder im Westen, um die Lebensweise und die Gepflogenheiten der Einwohner zu erforschen. Der Westen erscheint in einem schlechten Licht: rückständig, zerstritten und schwach. In Chaos und Blutvergießen versunken.

Wenn jener Magier mit seinem Stab einen Kreis um die Menschen zieht, sind darin alle wie in Bann geschlagen. Keiner wagt sich mehr über den Rand des Kreises hinaus. Diese Gefangenen können sich nicht frei bewegen, nicht mehr denken und haben vergessen, dass sie Menschen mit normalen Menschenrechten sind. Sie nehmen alles hin wie Opferlämmer, egal, was ihnen angetan wird. Sie haben keine andere Wahl. Sie versuchen zu überleben. Genau wie unsere Einwohner in der Nordwestprovinz Chinas.

An das Gefühl, mich draußen oder im eigenen Haus unbeobachtet zu bewegen, muss ich mich erst gewöhnen. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe und fühle ich, wie ein Mensch in Würde leben darf. In Ostturkestan wird jede Information kontrolliert. Unzensierte Bücher oder Zeitschriften, Social Media wie Facebook oder WhatsApp sind verboten. Obwohl ich seit Monaten in Schweden lebe, spüre ich bis heute noch diesen Druck, unter dem wir täglich gestanden sind. Diese dauerhafte Angst um meine Verwandten, meinen Mann, meine Kinder und um mich selbst. Dann drehe ich mich misstrauisch auf der Straße um und denke: »Wer ist dieser asiatisch aussehende Mensch hinter mir? Gehört er zum chinesischen Geheimdienst? Überwacht er mich?« Die Kommunistische Partei besitzt einen sehr langen Arm, mit dem sie Andersdenkenden überall schaden kann, auch in Deutschland.

In Ostturkestan leben wir Einheimischen wie in einem Irrenhaus, in dem nichts mehr stimmt. Wer jedoch dauernd aus Furcht vor Strafe damit beschäftigt ist, keine Fehler zu machen, hat keine Zeit mehr, etwas infrage zu stellen. Es ist ein Geschenk Gottes, dass ich heute frei bin und diese wichtigen Fragen stellen darf: Wieso werden Hunderttausende Unschuldige ungestraft gefoltert und ermordet? Wie können Menschen anderen Menschen etwas so Grauenhaftes antun? Das gelingt nur, indem sie sich selbst als höherwertige und weit überlegene Rasse begreifen, wie es die KPCh und ihr Generalsekretär Xi Jinping mit leidenschaftlichem Nationalismus propagieren. Die Länder unserer Welt sind so eng miteinander verflochten, wieso lassen sie solche Menschenrechtsverletzungen zu? Nichts wünsche ich mir mehr, als dass eine andere und gerechtere Macht das in Zukunft verhindert.

Wenn Menschen anderer Nationen etwas über China hören, haben sie dabei meist eine hoch kultivierte, fortschrittliche und wirtschaftlich höchst erfolgreiche Nation im Sinn. Kein Wunder, denn eine der mächtigsten Propagandamaschinen investiert enorme Summen, um nach außen hin dieses Bild einer normal funktionierenden und schillernden High-Tech-Gesellschaft zu zeichnen. Über alle Übel und nicht genehmen Wahrheiten breiten die staatlich gelenkten Medien das Schweigen, doch darunter gären Gifte wie im Faulschlamm. Den Einwohnern Chinas ist bewusst, dass die eigene Regierung sie oft belügt, aber durchschauen das auch die Menschen im Westen? Oder lassen sie sich von solch einer Glitzerfassade blenden?

Meine Hoffnung gründet darin, dass die Leute lernen, den wahren Wesenskern und die Absichten dieses Regimes besser einzuschätzen. Dass sie sich gegenseitig vor drohender Despotie schützen und ihre Demokratie stärken. Meine eigene Weltanschauung hat sich völlig umgekrempelt, seitdem ich im Straflager war. Vorher war ich vor allem damit befasst, mich anzupassen und nur ja keinen Regelverstoß zu begehen, um nicht bestraft zu werden.

Ziel des chinesischen Eroberungsfeldzugs ist die politische Kontrolle auf der ganzen Welt. Darum rate ich allen anderen Ländern: »Wendet euren Blick nicht ab von Ostturkestan! Dort seht ihr, wie eure Kinder und Enkel in Zukunft leben werden, wenn ihr eure eigene Freiheit nicht verteidigt!« Die aktuell größte Handelsnation der Welt verfolgt keine freundschaftlichen Beziehungen und keinen offenen Austausch. Nichts geschieht in dieser intransparenten Politik der KPCh ohne Hintergedanken.

Und dort, wo Pekings Einfluss wächst, wuchert als Erstes die Lüge wie Unkraut und erstickt die Wahrheit.

Drohungen und Hoffnungen

Anfangs fühlte sich meine Familie sehr einsam in der neuen Heimat Schweden, fern von all unseren Freunden und Verwandten. In den letzten Wochen aber blieb uns für solche Gefühle gar keine Zeit mehr. Bislang waren Pressevertreter aus bis zu 40 Ländern in unserer Wohnung zu Gast, um mit mir über meine Erfahrungen im Straflager zu sprechen. Nirgendwo aber habe ich meine Geschichte so ausführlich erzählt wie für dieses Buch.

Kaum sind die Journalisten fort, klingeln meist unsere Telefone, und ich erhalte Drohanrufe. »Hör endlich auf zu reden! Denk an deine Kinder!« Manche dieser Männer sprechen Schwedisch, andere Kasachisch und wieder andere Chinesisch. Jedes Mal danach beruhigen uns die schwedischen Polizeibeamten: »Habt keine Angst, hier ist nicht China!« Immer wieder reden sie uns gut zu: »Versucht einfach, ganz normal zu leben. Ihr habt dieselben Rechte wie alle Einheimischen hier. Wir schützen euch, selbst wenn ihr draußen keine Streifenwagen seht. Nur können wir euch nicht verraten, wie wir das tun.«

Nach einer Weile bin ich den Fremden am anderen Ende der Leitung gegenüber selbstbewusster aufgetreten. »Zwar könnt ihr uns mit euren Anrufen belästigen, aber ihr könnt uns nichts antun!« Trotzdem arbeiten sie weiter daran, uns mürbe zu machen. Kürzlich habe ich auch erfahren, welche Nachricht diese Geheimdienstmitarbeiter einer Uigurin auf Facebook hinterlassen haben: »Hör auf, sonst wird man dich zerstückelt in der schwarzen Mülltonne vor deinem Haus finden.« Diese Frau hatte die »China Cables« veröffentlicht, nachdem ein chinesischer Beamter ihr diese Unterlagen heimlich zugespielt hatte. Dank dem Mut dieser Uigurin gibt es erneut unwiderlegbare Beweise für die systematische Unterdrückung muslimischer Minderheiten in den Straflagern. Nicht einmal Peking hat die Echtheit dieser geheimen Dokumente abgestritten.

Oft kommen die Drohanrufe in unserer Wohnung aus China, eine Nummer auf unserem Display stammte von Sicherheitsbehörden in Peking. »Warum rufst du mich an?«, fragte ich. »Ich wollte nur wissen, wie es dir geht«, gab eine männliche Stimme zurück, »ich weiß genau, wo ihr wohnt. Habt ihr euch gut eingelebt? Und was machen deine Kinder?« Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Alles gut hier, wir sind zufrieden.« »Wenn alles so gut ist, warum hörst du dann nicht auf, mit Journalisten zu reden? Seid froh, dass ihr noch lebt, und hört auf, über das zu sprechen, was hinter euch liegt.« »Ich werde nicht aufhören«, gab ich zurück, »und da du in Peking arbeitest, geh doch mal zu deinem Parteichef und richte ihm aus, dass er endlich aufhören soll, die Menschen in meiner Heimat in Straflagern zu quälen.« Da ist die Stimme des Anrufers kalt und hart geworden. »Stell sofort deine Gespräche mit den Journalisten ein! Denk an deine Kinder!« Immer enden sie mit diesem Satz. Immer lebe ich in Angst um meine Kinder, die für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt sind.

Natürlich fühle ich mich angesichts solcher Drohungen oft winzig klein und denke: »Welche Chance haben wir gegen so einen übermächtigen Gegner?« Doch ich bin nicht nur den Gefangenen in den Lagern die Wahrheit schuldig, sondern auch meinen zahlreichen Unterstützern in Kasachstan. Dort leben so viele verzweifelte Menschen, deren Kinder, Eltern und Großeltern in den Lagern im Nachbarland spurlos verschwunden sind. Es ist egal, welche Übermacht uns da gegenübersteht. Wir dürfen nicht aufhören, diese unmenschliche Vorgehensweise anzuklagen! Vielleicht schaffen wir es dann, eine Bewegung in Gang zu setzen und die grausame chinesische Politik zu stoppen?

Wie lange liegt das zurück, seit ich mich das letzte Mal frei gefühlt habe? Als Kind bin ich noch allein unter Kasachen aufgewachsen. Wir haben unsere eigene Schule besucht, unsere eigenen Traditionen gepflegt und nur Kasachisch gesprochen, denn im Nordosten Ostturkestans befindet sich das Land meiner Ahnen, das die Chinesen »Kasachische Autonome Region Xinjiang« nennen.

Nie haben wir geglaubt, dass uns jemand einmal die eigene Heimat rauben könnte.

KAPITEL 2

TROTZ CHINESISCHER INVASION UND ZERSTÖRUNG: VON EINER GOLDENEN ZUKUNFT IM WIRTSCHAFTSBOOM TRÄUMEN

Glückskind

»So schnell ist das Baby schon da?« Verwundert schob mein Vater mit seinen 39 Jahren und seinem kurzen schwarzen Bart die Filzbahn an der Türöffnung unserer Jurte zur Seite, wo Mutter mich auf der Schafwollmatratze liegend im Arm hielt. Das lange schwarze Haar umrahmte ihr helles Gesicht. Sie war 27 Jahre jung, lachte fröhlich, und man merkte ihr kaum an, dass sie vor Kurzem ihr viertes Kind entbunden hatte. So einfach war es gewesen, mich auf die Welt zu bringen.

An meiner Wiege hingen am 16. September 1976 die Federn eines Uhus, denn sie sorgen für Schutz gegen bösen Zauber und bringen Glück. Als ich in meinem runden Gesicht meine Augen, schwarzbraun wie Kastanien, öffnete, stieg der Rauch des Feuers nach oben durch die Dachöffnung unseres Zeltes auf. Nachts leuchteten von dort die Sterne auf unsere mit Fellen bedeckten schlafenden Körper.

In Ostturkestan gibt es nicht nur schneebedeckte Gipfel, sondern auch die zweitgrößte Sandwüste der Welt. Ich aber bin in der Kornkammer der Ili-Provinz, im Kreis Mongolkure zur Welt gekommen, bekannt für sein lebhaftes Völkchen, das gerne tanzte, sang und Witze erzählte, ebenso wie für seine Wissenschaftler, Poeten und die Veteranen, die zu Zeiten der Revolution gegen die chinesischen Besatzer aufbegehrt hatten.

»Sie ist ein Glückskind«, waren Mutter und Vater überzeugt, »nicht nur für uns, sondern für das ganze Dorf.« Über Monate hinweg hatte eine schreckliche Dürre geherrscht und der Hunger wie ein Ungeheuer in den Bäuchen vieler Menschen gewühlt. Nur eine Woche vor meiner Geburt war der Mitbegründer der KPCh und »große Vorsitzende« Mao Zedong verstorben, der mit seiner Grausamkeit und Menschenverachtung das Reich der Mitte an den Rand des Abgrunds geführt hatte. Am Tag, an dem ich meinen ersten Atemzug tat, fing es an zu regnen, und überall im Land grünte es wieder.

Alle Verwandten schüttelten verwundert den Kopf über mich: »Was ist das nur für ein eigenartiges Kind? Das Mädchen stört nie, schreit nie.« Wenn Mutter mich als Baby in meiner Wiege mit Schnüren festzurrte, schlummerte ich tief und fest bis zu neun Stunden lang vor mich hin. Ab und zu haben meine Eltern mich wachgerüttelt, weil ich keinen Mucks von mir gegeben habe und sie in Sorge waren, ob ich überhaupt noch lebte. Mit fünf Monaten hatte ich bereits gelernt, selbstständig zu sitzen und mich zufrieden allein am Rand des Pferchs zu beschäftigen, während Mutter Ziegen, Schafe und Rinder versorgt hat.

Später hat mir mein Vater immer wieder gesagt: »Du bist wie eine Katze mit neun Leben.« Und wenn ich zurückschaue, hat er damit mehr als recht gehabt. So oft bin ich dem Tod von der Schippe gesprungen in diesem wunderschönen und flachen Grasland, wo in den Wäldern die Wölfe heulten. Mit bunten Kräuterwiesen und weiten grünen Tälern, auf denen sich, von den schneebedeckten Gipfeln aus betrachtet, winzige Farbtupfer bewegten. Das waren kasachische Hirten, die auf ihren kleinen und lauffreudigen Pferdchen zwischen weidenden Schafen, Kühen und Yaks den Staub aufwirbelten. Über allem spannte sich der azurblaue Himmel, in dem die Adler mit weiten Schwingen kreisten.

Mein Heimatdorf lag zu Füßen des Gebirges Tian Shan, dessen teils mehr als 7000 Meter hohe und gewaltige Bergkämme uns Kasachen lange Zeit von China abgeschirmt haben und dessen fruchtbares Ili-Tal sich nach Westen öffnet. Die Entfernung zur grenznahen kasachischen Stadt Almaty betrug ungefähr 450 Kilometer, zur Landeshauptstadt Urumqi ca. 750 Kilometer.

Im Alter von sechs Monaten stand der Tod zum ersten Mal an meiner Seite.

Dem Tod von der Schippe springen

Zu jener Zeit zogen meine Eltern als Halbnomaden mit den anderen Familien, begleitet von blökenden, meckernden und muhenden Herden, im Wechsel der Jahreszeiten von einer Weide zur nächsten. Im Sommer folgten wir dem Wasser und dem Futter nach oben ins Gebirge, und vor Einbruch des eisigen Winters ging es wieder hinab zu unseren festen Weideplätzen. Mein Vater war Lehrer und unterrichtete die Kinder dort, wo wir gerade unsere Zelte aufschlugen, aber gleichzeitig war er Viehhalter, Schriftsteller; Sänger und Musikant; er liebte es, auf der zweisaitigen Dombra neue Stücke zu komponieren.

Neben ihm wirkte Mutter fast klein, blass und schmächtig, obwohl sie rundlich und voller Lebensenergie war. Doch ihr Mann, groß, kräftig und dunkelhäutig, überragte mit seinen 1,90 Meter fast alle anderen. Meine Mutter ist meinem Vater schon versprochen worden, als sie noch in der Wiege lag. Eine Bekannte war von ihrem Anblick so entzückt gewesen, dass sie begeistert ausrief: »Dieses Mädchen wird einmal meine Schwiegertochter sein!« Da war Vater zwölf Jahre alt. Tatsächlich hatten beide Familien auf diese Weise eine glückliche Verbindung gestiftet, denn meine Eltern liebten sich sehr, obwohl sie nie eine andere Wahl gehabt hatten.

Es war windig und kalt in einer Wüste aus Geröll am Tag unseres Umzugs. Vor uns lag eine anstrengende Reise ins Tal, mit all unseren Tieren und unserem gesamten Hab und Gut. Während wir Kasachen, wie vor dreitausend Jahren, durch die Weiten des Landes streiften, hatten sich die muslimischen Uiguren in den anderen Bezirken dauerhaft in Städten oder Dörfern niedergelassen, auch entlang der weitverzweigten Karawanenwege der Seidenstraße. Obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, können wir uns verständigen, da unsere Turksprachen miteinander verwandt sind.

Turmhoch zurrten meine Eltern ihren Besitz mit Zeltgestänge und Ballen auf unseren Kamelen fest. Zwischen den Höckern schnallten sie auch die Kleinkinder und Babys wie mich mit Schnüren in Körben fest, sodass die Gewichte auf beiden Seiten möglichst gleich verteilt waren. Dann zog die Karawane los. Es ging steinige und schmale Pfade hinauf, neben denen oft ein tiefer Abgrund gähnte.

Tiere und Menschen schwitzten, atmeten schwer und setzten bedächtig Schritt für Schritt, als mein Kamel plötzlich auf dem Geröll abrutschte, in die Knie ging und seitlich unter lautem Röhren aufschlug. Im selben Augenblick lösten sich die aufgepackten Waren und stürzten hinab in die Schlucht. Von oben blickte die Gruppe atemlos zu, wie mein Körbchen, in dem ich fest angebunden war, mit dem Gepäck hinabkullerte, sich mehrmals überschlug und weiterkullerte, bis es endlich liegen blieb. Für einen Moment hielten alle die Luft an und lauschten angestrengt, aber da war kein Babygeschrei. Nur Grabesstille. Dann drang es aus allen Mündern: »Nein!« Am lautesten von allen hat meine Mutter geschrien.

»Sie ist tot«, stellte Vater erschüttert fest. Das Leben war hart, die Familien hatten meist viele Kinder. Wenn eines starb, hieß es oft nüchtern: »Es war Gottes Wille!« Was sollte man auch machen? Die Übrigen mussten versorgt werden. Das Leben ging weiter. Es war unmöglich, an so einem unwirtlichen Platz wie diesem lange zu weinen, zu trauern und zu verweilen.

Gemeinsam sind alle hinabgestiegen, um unsere Besitztümer zu bergen und meine Leiche irgendwo zwischen den Steinen zu begraben. Vorsichtig näherte Vater sich meinem Korb an, blickte hinein und sah mein rundes Gesicht mit den geschlossenen Äuglein. »Das gibt es nicht!«, schrie er los, und seine Stimme überschlug sich dabei: »Sie lebt noch!« Mutter fiel schluchzend vor mir auf die Knie: »Was bist du für ein Kind? Beinahe bist du gestorben, aber du schlummerst in aller Seelenruhe!« Zum Glück hatte sich auch unser Kamel nur leicht an den Beinen verletzt.

Die Karawane zog weiter.

Die Schlangengrube

Als ich dem Tod das zweite Mal von der Schippe gesprungen bin, war ich bereits zwei Jahre alt. Nachdem Mutter die letzten Kühe am Abend gemolken hatte, setzte sich Vater auf sein Pferd und trieb die Tiere hinaus auf die Weiden, die höher auf dem Berg lagen. Normalerweise hob er mich vorne auf den Sattel. Diesmal aber wollte er noch schnell andere Sachen erledigen und wies mich an: »Du bleibst heute hier!«

Daraufhin trabte er davon, umrundet von der Herde, und bemerkte nicht, wie ich ihm eine lange Strecke hinterherstolperte. Natürlich war das Pferd schneller als ich, sodass ich ihn bald aus den Augen verloren hatte. Als er jedoch spät abends nach Hause kam, blickte er sich suchend unter seinen fünf Kindern um: »Wo ist mein kleiner Schatz? Ist sie nicht zu Hause?« Mutter war überzeugt gewesen, dass er mich, wie immer, mitgenommen hatte; sie ging sofort nach draußen und rief mit meinen älteren Geschwistern nach mir: »Sayragul, wo bist du?«

Nach mir befragt, zuckten alle Verwandten, Freunde und Bekannten nur mit den Achseln und schlossen sich der Suche nach mir an. Bald hatten sie jeden Stein umgedreht, in jede Spalte geschaut, nur blieb ich wie vom Erdboden verschluckt. Und plötzlich plagte alle eine schreckliche Ahnung: »Die Schlangen haben sie getötet!«

Zwar waren wir daran gewohnt, mit diesen Tieren umzugehen, aber lieber gingen wir ihnen aus dem Weg. Gelegentlich hingen in unserer Jurte welche an der Decke, die Mutter dann wieder hinauslockte, indem sie vor ihnen aus einer Tasse ein wenig Milch ausschüttete und auf dem Boden eine Linie bis ins Freie zog. Tatsächlich tranken die Schlangen die Milch und folgten dieser Spur.

Vor dieser Grube im anderen Ort hatten die Alten uns Kindern Todesangst eingejagt: »Geht nicht dorthin! Dort leben Giftschlangen!« Da mich keiner in dieser schwarzen Sternennacht gefunden hatte, waren alle sicher, dass ich dort hinein gestürzt war. Vater gab trotzdem nicht auf, ritt weiter auf eine großen Weide und kundschaftete bei einem Hirten aus: »Hast du ein kleines Kind gesehen, mit Uhufedern am Hut?« Der Hirte lüpfte den gebogenen Rand an seinem hohen, hellen Filzhut, zog seinen langärmeligen Ledermantel vor der Brust zusammen und grübelte: »Da hinten habe ich vorhin einen dunklen Schatten bemerkt. Vielleicht ist das deine Tochter?«

Sofort hat Vater seinem Pferd die Fersen in die Seiten gestemmt, mit der Zunge geschnalzt und ist zu diesem Platz galoppiert. Am Boden sah er mich im milchigen Licht des Mondes liegen, den Kopf hatte ich auf meinen Hut gebettet und meinen schwarzen Zopf wie einen Schal um mich gelegt. Um mich herum aber wimmelte es von Schlangen. Es war unmöglich, an mich heranzukommen.

Vater wagte es nicht, vom Pferd abzusteigen, deshalb holte er die anderen Leute herbei, die mit langen Stöcken die Schlangen nach und nach behutsam entfernten. Da ich während dieser ganzen Prozedur reglos dalag, waren inzwischen alle einer Meinung: »Das Kind ist tot, die Schlangen haben es gebissen.«

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich auch die Alten auf ihren Pferden vor Ort eingefunden. »Zur Seite!«, verlangte mein Großvater väterlicherseits, als die Schlangen weg waren. Er war ein großer Mann wie sein Sohn mit einem langen weißen Bart; seinem athletischen Körperbau sah man an, dass er einst ein bekannter Ringer gewesen war. Mit gerunzelter Stirn senkte er sein Haupt zu mir hinab und bemerkte: »Das Mädchen atmet.«

Zu Hause hat Großvater nach einem Schamanen verlangt: »Wir sollten beten und das Kind von ihm untersuchen lassen.« In unserem Glauben vermischten sich Naturreligion und heidnische Bräuche mit Elementen des Islams. Wenig später duckte sich ein grauhaariger Mann mit runder Fuchspelzmütze in einem langen, mit Tiermotiven bestickten Samtmantel unter der Jurtentür hindurch, an der Tierknochen aufgehängt waren, um die bösen Geister abzuwehren. Er blickte mir in meine funkelnden Äuglein, fühlte meine blasse Haut an der Wange und beruhigte erst einmal alle Umstehenden. »Die Schlangen haben ihr nichts angetan.« Um dennoch bevorstehende Gefahr abzuwenden, sollten meine Eltern und Geschwister den Raum mit dem Rauch der glühenden Steppenraute reinigen. Vater sagte dann: »Das war das zweite Mal, dass wir sie als Tote gesehen haben, aber sie schläft jedes Mal nur.«

Und noch fester denn je waren meine Eltern überzeugt, dass ich ein Glückkind sei. Mit jedem Jahr, das nach meiner Geburt verstrich, verbesserten sich die Lebensbedingungen in diesem bitterarmen Bauernstaat. Maos Ausrottungsfeldzug gegen die »vier Alten« schien beendet, womit das »alte Denken«, die »alte Kultur«, die »alten Gewohnheiten« und die »alten Sitten« gemeint waren. Zwangskollektivierung, Misswirtschaft und Enteignung lagen hinter uns. Die Menschen durften wieder selbstständig arbeiten und ihr Land bestellen. Die Gehälter besserten sich, die Freiheiten wuchsen, Veränderung lag in der Luft.

Ich war drei Jahre alt, als die Kommunistische Partei unter Deng Xiaoping die Liberalisierung der Wirtschaft und »das Programm der Öffnung und Reform« einleitete, dabei ihren autokratischen Kern jedoch fest bewahrt hatte. »Man muss die Fenster öffnen, selbst wenn dabei einige Fliegen hereinkommen«, hielt der Nachfolger Maos seinen Kritikern entgegen.

Aus Nomaden werden Dorfbewohner

1981 ließen wir uns mit etwa 150 anderen Familien am Fuße des Tian-Shan-Gebirges nieder und errichteten unser Dorf Aheyazi, das zum Kreis Mongolkure gehörte (chin. Zhaosu). Eingerahmt war dieser wunderschöne Flecken von zwei smaragdgrünen Flüssen; im Dorfkern plätscherte eine glasklare Quelle, deren Wasser in den Bergen entsprang. Hier entnahmen wir unser Trinkwasser und schleppten die Eimer zu unseren Häusern. Hinter der Brücke am Fluss wuschen die Frauen die Wäsche, da weidete unser Vieh frei auf großen Flächen und lagerte unser Getreide sowie Tierfutter in Scheunen.

Kaum hatte Vater auf unserem Holzhaus die letzte Dachmatte angebracht, schwarz und glänzend wie der Straßenbelag, rief er alle Dorfbewohner zusammen, um eine Schule zu errichten. Die Leute schätzten ihn sehr, weil er ein zutiefst aufrichtiger, zurückhaltender und geduldiger Mensch war, der versuchte, nicht nur seiner Familie, sondern allen im Ort unter die Arme zu greifen. Als angesehener Mann und stellvertretender Schuldirektor war er später ein gern gesehener Gast auf Bildungsveranstaltungen in den umliegenden Orten und Städten. War Vater unterwegs, musste sich Mutter alleine um Haushalt, Stall, Tiere und alle weiteren anfallenden Arbeiten kümmern. Als großes Organisationstalent meisterte sie alles, selbst wenn wir kleineren Kinder dabei um ihre Füße wuselten.

Im Verhältnis zur ständig wachsenden Kinderschar war unser Häuschen mit drei Zimmern sehr klein. Vater und Mutter haben in einem eigenen Raum geschlafen, ebenso wie mein verwitweter Großvater und wir Kinder. In der ersten Reihe oben lagen die drei Jungen, und danach folgten zwei Reihen mit uns sechs Mädchen. Nach dem Aufstehen rollten wir alle unsere Wollmatratzen zusammen und stellten sie neben Truhen und Kisten in eine Ecke. Ganz selbstverständlich haben die Kleinen die Kleider der Älteren aufgetragen, sodass meine Mutter ständig damit beschäftigt war, unsere Hosen oder Kleider zu kürzen oder zu weiten.

Bis in die Nacht hinein hörte man aus allen Fenstern und Türen im Dorf ein fröhliches Summen, Gesang und Gelächter. Bei uns Kasachen war immer viel los. In jedes Haus gingen Tanten, Onkel, andere Verwandte und Bekannte hinein und kamen mit einer großzügigen Wegzehrung bepackt wieder heraus. Immer gab es gutes Essen, viele Gründe, um zu feiern, und einen engen Zusammenhalt, der Peking zunehmend ein Dorn im Auge war.

An einem dieser Tage erwarteten wir Geschwister in unserer Jurte aufgeregt Gäste aus der Stadt. Mein ein Jahr jüngerer Bruder Sawulet und ich hüpften vor Freude, weil sie meist kleine Geschenke für uns Kinder mitbrachten. Verzückt nahmen wir süße Getränke in Glasflaschen entgegen.

Als sie leer waren, liefen Sawulet und ich, mit unseren fünf und vier Jahren, in Baumwollhosen und Hemd über den Hügel hinter unserer Jurte zum Fluss Ahesu, um dort zu spielen und die Flaschen mit Wasser zu füllen. Plötzlich rutschte mir meine Flasche aus der Hand. Schnell versuchte ich, sie wieder herauszufischen, lief ein paar Schritte ins Wasser, stolperte dabei und wurde von der starken Strömung weggerissen.

Strampelnd versuchte ich, wieder ans Ufer zu kommen, aber die Strömung wurde immer stärker, denn nicht weit weg stürzte ein Wasserfall in die Tiefe. »Wenn ich dort hinabfalle, werde ich ertrinken!« In meiner Panik schnappte ich nach den Wasserpflanzen am Ufer, doch sie rissen jedes Mal ab, sodass ich nach der nächsten griff. Mein kleiner Bruder rannte schreiend am Ufer neben mir her, beide Hände vor dem Mund: »Komm bitte wieder raus, sari may (Anm.: Butter)!«

In meiner Familie nannten sie mich liebevoll mit Kosenamen »Butter«, weil meine Haut die blasse Farbe von Butter hatte. Je weiter mich der Fluss in Richtung Abgrund riss, desto verzweifelter waren die Angebote meines Bruders: »Sari may, komm wieder raus! Ich werde dich nie wieder ärgern!« Aber ich schaffte es nicht, meine vollgesogenen Kleider zogen mich nach unten. Ich schluckte Wasser und hustete. »Sari may, komm raus, ich werde alles mit dir teilen!«

Im Gegensatz zu meinen fünf Schwestern war mein kleiner Bruder ein Frechdachs und Streit mit mir eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. »Sari may! Du darfst mit meinem Spielzeug spielen!« Nach einer Weile merkte er, dass seine Angebote mir nicht weiterhalfen, und rannte so schnell er konnte mit seinen kurzen Beinen über den Hügel zurück zur Jurte, um Hilfe zu holen. Inzwischen war es mir gelungen, mich an einer großen Minzepflanze am Rande des Flusses festzukrallen. Diesmal waren die Wurzeln der Pflanze stark genug, mein Gewicht zu halten. Schwer atmend schaffte ich es, auf dem Bauch zurück auf das Kiesufer zu robben.

In dem Moment erblickte ich auch schon meine Familie und die Besucher, wie sie mir wild gestikulierend entgegenstürzten. Vorne weg mein Vater und meine Mutter, das Haar so schwarz und glänzend wie das ihrer Töchter, aber unter einem lockeren Kopftuch gebändigt. »Sayragul!« Schreiend nahmen sie mich in die Mitte, so tropfnass wie ich war.

In der Jurte gab mir Mutter trockene Kleider und setzte mich vor den Holzofen. Meine Geschwister schauten mich mit ihren dunklen vorwurfsvollen Augen an, während Vater mich schimpfte: »Wie oft habe ich euch davor gewarnt, an den Fluss zu gehen?! Ihr sollt dort nicht spielen! Wieso hast du versucht, die Flasche wieder herauszuholen?! Das ist verrückt!«

Doch selbst wenn er einmal zornig war, hat er nie die Fassung verloren oder laut herumgebrüllt. Sobald er sich wieder beruhigt hatte, legte er mir seine große warme Hand auf die Schulter. »Pass besser auf dich auf, meine Tochter! Du bist erst fünf Jahre alt und heute zum dritten Mal dem Tod sehr nah gewesen.« Mutter faltete die Hände, blickte kurz nach oben und sagte: »Danken wir Gott dafür!«

Unsere Eltern waren streng, aber liebevoll. Niemals haben sie Hand an uns gelegt. Das war auch nicht nötig, denn Vater und Mutter genossen die höchste Achtung in unserer Gesellschaft. Wenn die Eltern redeten, schwiegen wir Kinder und hörten zu. Mutter musste nur ein kleines Zeichen mit der Hand geben, schon sind wir gesprungen …

Nie habe ich meine Eltern laut miteinander streiten gehört. Ermahnte Mutter meine Brüder, weil sie sich gegenseitig verdroschen haben: »Seid brav, sonst sage ich das dem Vater«, wurde es im Nu sehr still im Raum. Mutter hat uns auch stets dazu angehalten, Rücksicht auf Vater zu nehmen und leise zu sein, wenn er sich nach einem anstrengenden Tag erholen wollte.

Die höchste Autorität in einer kasachischen Familie aber genoss der »Aksakal«, der Weißbart. Bei wichtigen Entscheidungen haben meine Eltern Großvater um Rat gefragt, er erhielt den Ehrenplatz bei Familienfeiern und bekam immer das beste Stück vom Fleisch.

Du sollst nicht lügen!

Jedes Mal, wenn Großvater auf seinem Pferd von einem Besuch aus dem Nachbarort zurückkehrte, hatte er ein Tuch bei sich in der Tasche, in das er kleine Stückchen Zucker eingewickelt hatte. Sahen wir Kinder ihn als Punkt auf den weiten Wiesen nahen, stürmten wir ihm schon entgegen …

Mein Großvater, ein gläubiger Mann, hat meinen Schwestern, Brüdern und mir die Regeln des Islams beigebracht. Im Grunde nichts anderes als die zehn Gebote in der Bibel: »Du darfst nicht stehlen, nicht töten, und behandle deinen Nächsten wie dich selbst …« Während meine älteste Schwester ihm Tee nachschenkte und ich ihm Fladenbrot dazu reichte, lächelte der alte Herr mit seinem vom Wetter gegerbten Gesicht, und tausend Fältchen umkränzten seine Augen wie Sonnenstrahlen. »Kinder, benehmt euch immer anständig! Ein frommer Moslem fügt einem anderen Menschen keinen Schaden zu.«

Unter Kasachen sitzen Frauen und Männer nicht getrennt in unterschiedlichen Räumen. Wir feiern und essen zusammen, nicht anders als die Leute im Westen. Wir leben einen sehr gemäßigten Islam. Die älteren Frauen tragen seit Jahrhunderten ein traditionelles weißes Kopftuch, das sie in mühsamer Handarbeit mit kunstvollen Ornamenten besticken. Bei uns sieht man keine langen schwarzen Schleier oder gar Burkas, wie man es bei Muslimen aus Arabien und manchen Ländern Vorderasiens kennt. Im Jahr 2020 ist, unter dem »warmherzigen Patriarchen« Xi Jinping, wie die Partei ihren Generalsekretär lobpreist, selbst dieses bestickte Kopftuch für uns verboten.

Obwohl Großvater fünf Mal täglich gebetet und die Moschee besucht hat, verlangte er das nicht von seinen Enkelkindern. Auch bei meinen Eltern habe ich nie beobachtet, dass sie auf solche Weise gebetet hätten. Nach dem Essen legten wir alle die Hände aneinander und wünschten für unsere Familie, unsere Gäste oder alle anderen Menschen Segen und Glück. Manchmal sagten wir auch schlicht: »Danke Gott.«

Von klein auf war ich mit Feuereifer bemüht, alle Wünsche und noch mehr zu erfüllen, was mir meine Eltern und mein Großvater zuvor aufgetragen hatten. Ich versuchte, aufrichtig anderen Menschen gegenüber zu sein und jeden respektvoll zu behandeln. Mein Vater freute sich oft über mich und lachte dabei voller Stolz: »Sie ist meine Tochter, sie ist genau wie ich!«

Fast immer bin ich, wie ein Junge, in Hosen und Lederstiefeln herumgelaufen. Mein Zopf baumelte über die Schultern bis zu den Kniekehlen hinab. Ein langes Kleid hätte mich nur beim Laufen und Reiten behindert. Ich war ständig beschäftigt, meinem Vater zur Hand zu gehen, Holz einzusammeln oder Schafe zusammentreiben. Als ich größer war, durfte ich sogar den neu angeschafften Traktor lenken.

Meine Eltern haben mich vor meinen ebenfalls sehr fleißigen Schwestern gelobt: »Seht, wie selbstständig Sayragul ist!« Und jedes Lob hat mich motiviert, noch vorbildlicher zu sein. Natürlich ist das nicht immer gelungen. Als Siebenjährige war ich Klassensprecherin in der zweiten Klasse, als mich der Lehrer darum bat, einen Tag lang die Leitung zu übernehmen, weil er mit der Hochzeit seines Sohnes beschäftigt war. »Pass auf, dass deine Mitschüler keinen Unsinn machen und Ruhe geben.«

Stillsitzen aber empfanden meine kleinen Schulkameraden als eine Strafe, darum fingen sie bald an, sehr laut zu diskutieren. »Wir können hier doch nicht den ganzen Tag herumhocken, das geht nicht«, protestierte ein kleiner schwarzhaariger Wuschelkopf. »Was machen wir dann?,« wollte ich wissen. Sie einigten sich darauf, einen kleinen Ball aus Stoff zu formen, mit Getreide zu füllen und damit in der Klasse zu spielen. Da mir der Vorschlag in Ordnung zu sein schien und ich sowieso keine andere Wahl hatte, stimmte ich dem zu.

Sofort flog der Ball von Hand zu Hand und landete schließlich bei mir vorne am Pult. Ich holte weit aus, um einem Mädchen hinten mit einem kräftigen Zug den Ball zuzuwerfen, verfehlte sie allerdings und traf stattdessen das Fenster hinter ihr, das sofort in viele kleine Scherben zersprang. Wie zur Salzsäule erstarrt, bin ich stehen geblieben. Es war Winter, minus 15 Grad, und die Kälte kroch uns sofort in alle Glieder.

Als die anderen Kinder mich da vorne wie ein Häuflein Elend langsam in sich zusammensinken sahen, versuchten sie, mich zu trösten: »Eigentlich sind wir ja schuld daran, weil das unsere Idee war.« Um mich vor Strafe zu schützen, beschlossen sie, denjenigen in der Klasse als Schuldigen auszuwählen, der sowieso immer Unsinn machte. Sofort danach dichteten wir das Loch notdürftig mit Teilen unserer Kleider ab.

Normalerweise wendeten sich die Kinder an die Mutter, wenn sie Wünsche, Beschwerden oder ein Problem hatten. Ich war die Einzige in unserer Familie, die in so einem Fall zuerst zum Vater lief. »Ich habe heute etwas Schlimmes getan«, beichtete ich ihm und verbarg mein nasses Gesicht hinter beiden Händen. Bedächtig strich er sich über seinen Krausebart und brummte, dass mir nur die Wahrheit aus dieser Klemme heraushelfe.

Die ganze Nacht lang habe ich mich unruhig hin und her gewälzt. Am nächsten Morgen knöpfte sich der Lehrer einen nach dem anderen vor: »Wer war das?« Jedes Kind schüttelte den Kopf. »Ich war es nicht, aber der war es …« und zeigte auf den »Klassenclown«, der ergeben alle Schuld auf sich nahm. Als Nächstes war ich an der Reihe. »Daran bin ich allein schuld!«, presste ich unter Tränen hervor.

Da ich unübersehbar zerknirscht war, sprach der Lehrer sein Urteil: »Nur weil du so ehrlich warst, werde ich dich verschonen. Aber alle anderen haben gelogen und deshalb eine Strafe verdient.« Jeder Mitschüler musste am nächsten Tag einen kleinen Geldbetrag mitbringen, damit die Scheibe ersetzt werden konnte.

Nach dem Unterricht umstellten mich draußen die anderen Kinder. Sie waren empört über mein Verhalten, fühlten sich von mir verraten, da sie nun selbst als Lügner dastanden. »Wieso hast du das gemacht? Wir wollten dir helfen? Du Verräterin!« Was aber hätte ich tun sollen? Immer hatten meine Eltern mir eingeschärft, dass Lügen eine schlimme Sünde sei. Und Gott bemerkte sowieso alles.

Die Situation war sehr unangenehm für mich. Zu Hause aber nickte Vater mir wohlwollend zu. »Das hast du gut gemacht. Du wirst sehen, später einmal werden deine Freunde das verstehen, deshalb mache dir keine Sorgen mehr.« Ich habe trotzdem noch so lange und so ausgiebig geweint, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

Unter harten Bedingungen bestehen

Überleben unter harten Bedingungen war nur in einer solidarischen Gemeinschaft möglich. Daher hausten Alt und Jung auf engem Raum zusammen, halfen und brauchten einander. Die Großeltern brachten ihre jahrzehntelangen Erfahrungen über Klima, Tierhaltung und Pflanzenwuchs mit. Anders aber als in den meisten anderen kasachischen Familien wurden unter unserem Dach die Jungen gegenüber uns Mädchen nicht bevorzugt behandelt. Wir fühlten uns gleichwertig und hochgeschätzt.

Mit meinen Schwestern habe ich mich gut verstanden, besonders die Älteste war mein großes Vorbild. Sie war besonnen wie mein Vater. Zudem war sie eine gute Schülerin, sehr klug und hat nie geklagt wie meine Mutter. Alle Geschwister eiferten ihr nach, wenn sie in ihrer sauberen Handschrift die arabischen Buchstaben aufs Papier malte.

So ordentlich und so schön wie sie wollte ich auch einmal sein. Deshalb habe ich die meiste Zeit in ihrer Nähe verbracht und die anstehenden Hausarbeiten mit ihr gemeinsam erledigt. Es gab so viel zu tun. Kochen, Löcher in den Kleidern stopfen, putzen, Tiere versorgen, Kleider am Fluss waschen …

Oft hörten wir denselben Spruch, wenn Gäste beim Essen und Trinken um unsere Feuerstelle herumhockten. »Lasst die Jungen die Schule besuchen und die Mädchen zu Hause arbeiten. Wozu sollen sie etwas lernen? Sie werden sowieso heiraten und den Haushalt führen.« Vater und Mutter haben sich der Höflichkeit halber auf die Zunge gebissen.

Erst wenn die Besucher gegangen waren, haben sie uns sechs Schwestern beruhigt: »Lasst sie reden, was sie wollen, aber wir halten das trotzdem anders.« Vater guckte uns ernst in unsere runden Gesichter und unsere schmalen Augen. »Ihr braucht eine ebenso gute Bildung wie eure Brüder.«

Tatsächlich haben am Ende alle meine Geschwister an der Universität ihren Abschluss gemacht.

Festzeit

Seit ich ein Kind war, habe ich gerne getanzt, geschrieben und gesungen. Daher freute ich mich immer besonders darauf, wenn sich die Wiesen lila und rosa färbten, die Krokusse blühten und das Neujahrs- und Frühlingsfest (Naurus) vom 21. bis 22. März groß gefeiert wurde. Lange davor begannen alle Dorfbewohner mit den Vorbereitungen.

Im Wald und auf den Wiesen suchten wir Kinder prächtige Federn und Tierzähne, um unsere Hüte damit zu schmücken. Wer keine gefunden hatte, bekam von jemand anderem welche geschenkt oder kaufte sie von einem Händler.

Die Frauen schmückten die Häuser mit Blumen und Kränzen. Sie putzten, bis alles glänzte, bereiteten eine spezielle Suppe mit sieben verschiedenen Zutaten vor und beglückwünschten ihre Gäste zum Frühlingsanfang. Tags darauf feierten alle gemeinsam, alt und jung, reich und arm, auf der großen Wiese am Dorfrand. Mit Musik, Tanz und Feuer.

Männer und Frauen bewiesen ihre Kunstfertigkeit im Bogenschießen und bei Reiterspielen. Meine drei Brüder zeigten mit den anderen Jungen, wie gut sie die Kunst des Ringens beherrschten. Und wir Mädchen hatten vorher in der Schule Tänze einstudiert, bildeten Gruppen und sangen dazu. Unsere knielangen schwarzen Zöpfe haben wir auf unseren Köpfen zusammengerollt und festgesteckt.