Die Kuckucke von Velika Hoča - Peter Handke - E-Book

Die Kuckucke von Velika Hoča E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Am 6. Mai 2008 macht sich Peter Handke auf den Weg nach Velika Hoca, eine serbische Enklave im südlichen Kosovo. »Es drängte mich, den und jenen einzelnen im serbischen Kosovo ausführlich, sozusagen systematisch, in der Rolle eines Reporters oder meinetwegen Journalisten, zu befragen und die Antworten dementsprechend mitzuschreiben.«

Dort angekommen, erweist sich das klassische Frage-Antwort-Muster als ungeeignet: Nur im freien Reden erzählen sie ihre Erfahrungen, geben eigene Urteile preis und berichten von ihrem Leben, an diesem Ort und außerhalb. Und so verzichtet Peter Handke auf das Mitschreiben, besucht die Menschen zu Hause oder im Kneipen-Container »Rambouillet«.

Nach der Rückkehr verfaßt Peter Handke eine Nachschrift seines einwöchigen Aufenthalts in der Enklave. Zum ersten Mal liegt damit ein journalistisch-literarisches Porträt der Menschen und der Lebensbedingungen in einer serbischen Enklave im unabhängigen Kosovo vor, ein eindringliches, lebhaftes, zwischen Resignation und Hoffnung sich aufspannendes Panorama von Velika Hoca. Und wie es um die Kuckucke dort und in ganz Mitteleuropa bestellt ist – auch das erklärt diese Nachschrift.

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Seitenzahl: 73

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Peter Handke

Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift

Suhrkamp Verlag

Es kommt vor, daß das katholische und das orthodoxe Osterfest zusammenfallen. In diesem Jahr 2008 war eine monatlange Spanne zwischen den beiden hohen christlichen Festen. »Westrom« feierte die Auferstehung Christi schon vor Ende März, fast noch im Winter, »Ostrom« dagegen fünf Wochen später, fast schon im Mai.

Seit langem das Vorhaben, wieder in den (oder das) Kosovo, kyrillisch КОСОВО, oder wie nach der albanischen Unabhängigkeitserklärung vom Februar 2008 die neu eingeführte Rechtschreibung lautet, rein lateinisch: »nach Kosova« aufzubrechen. Aufschub um Aufschub, wohl auch um der Aktualität auszuweichen — den Unruhen vor allem im nördlichen Kosovo, dessen serbische Mehrheit sich nicht mit dem Existierenmüssen in einem fremden Staat abfinden wollte. Und so erst anfangs der zweiten Nachosterwoche, am Džordžev Dan, am St. Georgstag, dem 6. Mai, dem anders hohen Fest der serbischen Orthodoxie, im Flugzeug nach Belgrad. Aus nun schon jahrzehntelanger Erfahrung die Gewißheit, die byzantinisch-balkanische Auferstehung von den Toten wäre nicht mit einem einzigen Tag, ja, nicht einmal nach einer ganzen Woche abgefeiert, und zumindest auch noch in der zweiten Woche darauf wäre sie allerorts, in den Kirchen und ebenso drinnen in den Küchen und draußen in den Lüften, zu erwittern oder zu erschnüffeln, und beileibe nicht so wie das bei einer der vorigen Osterreisen an der Landstraße, Magistrala, Belgrad-Kosovo von einem herzlich strahlenden Einheimischen überreichte selbstbemalte Ei, das schon tags darauf faul stank.

Das Vorhaben, anders als all die Male zuvor, bestand bei diesem Besuch freilich nicht nur aus dem bloßen Dabeisein, Mitfeiern, Anschauen und Zuhören. Es drängte mich, den und jenen einzelnen im serbischen Kosovo ausführlich, sozusagen systematisch, in der Rolle eines Reporters oder meinetwegen Journalisten, zu befragen, und die Antworten dem entsprechend mitzuschreiben. Und das hatte ich vor an einem Ort, wo ich, nicht bloß einmal, schon gewesen war, in der serbischen Enklave von Velika Hoča, ВЕЛИКА ХОЧА, einem Dorf im südlichen Kosovo.

Systematisch? Nein, da war kein vorbereitetes Frage-System, keine vorbedachte Zielrichtung. Oder doch? Etwa einfach, indem ich im voraus dem Otac Milenko, dem »Vater Milenko«, dem Popen des Dorfes, als der Autoritätsperson der Enklave Velika Hoča, für den Lauf der Besuchswoche die Auswahl der zu Besuchenden und zu Befragenden überlassen hatte? Indem ich die eine oder andere Frage zur Aktualität »systematisch« zu vermeiden gedachte? Indem ich zudem in der Niederschrift dann vermeiden wollte, daß allein schon die Syntax eine Meinung oder ein Vorurteil, weder ein negatives noch auch ein positives, verriete?, so wie zum Beispiel der Spezialentsandte der Süddeutschen Zeitung von den Bewohnern einer anderen »armseligen« Enklave, der von Gračanica bei Prishtina, vormals Priština, in den Februartagen vor der albanischen Unabhängigkeitserklärung berichtete: »Sie haben angeblich große Angst«, oder noch deutlicher so, wie der Balkankorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Jahre zuvor in einer (fast) die Unsterblichkeit verdienenden Wendung die Aussage eines Buspassagiers von einer Fahrt zwischen zwei serbischen Enklaven wörtlich folgendermaßen wiedergab: »(XY) sagte, der Bus sei angeblich mit Steinen beworfen worden.«

Autofahrt von Belgrad durch die hügelige mittelserbische Šumadija (von šuma, der Wald) und weiter nach Süden durch das Ibar-Tal, legendär durch den von einer französischen Königstochter da eingeführten, inzwischen allerorts wild auf den Felsen wachsenden jergovan (= Flieder). Ein schwüler, zwischendurch auch gewittriger Tag. Im Auto noch dabei, neben Zlatko B., dem berühmten Lebenskünstler (= Nichtstuer, und gelegentlich Weinbauer, und noch gelegentlicher Maler), Ranko, junger serbischer Dichter aus Djakovica/Gjakovë, der Stadt im Südkosovo, mit über hunderttausend Einwohnern, wo inzwischen »angeblich« kein einziger Serbe mehr lebt. Ranko hatte schon bei unserer ersten und zweiten Fahrt in die Enklavenlandschaft, vor zwei Jahren zu einem Lokalaugenschein auf einem »natürlich verschwundenen serbischen Friedhof« (Die Zeit), im Vorjahr zu den Osterfeiern in Velika Hoča und in Orahovac, als Lotse gedient, damals freilich jeweils in einem großen Bus mit Belgrader Kennzeichen, kyrillischer Flankenschrift und einem nicht zu kleinen, deutlich flatternden serbischen Wappenwimpel, in welchem vielleicht nicht nur der österreichische Gesandte oder Geschäftsführer im Kosovo, als das riesenhafte Gefährt, auffällig schon von weitem, hinten auf den ausschließlich mit PKWs bestückten Parkplatz des Flugplatzes von Priština einschwenkte, eine Provokation zu sehen meinte. »Die wollen provozieren«, war es dem Mann da fast erschrocken entfahren, und für den Augenblick teilte auch ich, der doch gerade auf das Gefährt für die Weiterreise ins noch ferne Velika Hoča wartete, (fast) seine Meinung.

Für mich war Ranko in erster Linie der Dichter, und erst in zweiter der Organisator. Als ein solcher war er kaum aufgetreten, und auch als Dichter, stark im Gegensatz zu dem und jenem unter den Busreisenden, der gleich zu Beginn der Fahrt seine gesammelten Gedichtbroschüren an die übrigen Insassen verteilte, hatte er sich zurückgehalten: nur einmal, während eines Aufenthalts im Kloster Dečani, sprach er, von einem befreundeten Mönch aufgefordert, aus dem Stand eins seiner Gedichte, so unauffällig in Haltung wie in der Stimme, daß es den Eindruck von einer bloßen Fortführung des Tischgesprächs gab, allerdings statt unter dem Klosterdach nun unterm freien Himmel. Daß man in jemand wie ihm auch den »Angehörigen« eines »Ministeriums« sehen konnte, wurde mir erst klar bei der Lektüre des Berichts von der Hand eines deutschen Bundestagsabgeordneten über die Februar-Unruhen (die bei ihm durchweg »Ausschreitungen« heißen und »eine neue ›Qualität‹ der Gewalt« zeigen) im serbischen Teil von Kosovska Mitrovica: »Wir sehen ein internes Video der Ausschreitungen. Etliche Gewalttäter werden identifiziert. Es sind Angehörige des serbischen Innenministeriums!!!« (Im Bericht stehen in der Tat diese 3 Rufzeichen.)

Auch mir begegnete Ranko auf unseren drei Reisen nach Velika Hoča (das für die Serben eigentlich nicht Kosovo, sondern »Metohija«, Klosterland, ist) jedesmal in einer neuen Qualität, wenn auch keinmal als Ministeriumsmann. Unscheinbarer Dichter und Wegbereiter beim ersten Mal; beim zweiten Mal, vielleicht auch in Erwartung des schon unausweichlich erscheinenden Verlusts seines Klosterlands, als ein fast sprachlos gewordenes Gespenst, halb gelähmt, nicht nur an der Zungenwurzel, von Antidepressiva, die Stimme ohne Stimme, die Augen ohne Blicke, eine bloße Attrappe des vorjährigen, so vollkommen geistesgegenwärtig den Umkreis still dirigierenden Ranko. Attrappe? Eher eine Gestalt des Jammers, eines untröstlichen, welcher man in einem fort den Arm um die eingefallenen Schultern und die Hand auf die leblose Hand legen wollte. Und jetzt auf der Maireise, im Auto, nicht mehr im Bus, wieder ein anderer Ranko: frech und wie übermütig, oder mit einer Art Galgenhumor seine Lieder vor sich hin und zum offenen Fenster hinausschmetternd, für Momente — im albanischen Gebiet dann — der, siehe oben, verkörperte »Provokateur«, zwar ganz und gar nicht auf Gewalt aus, vielmehr auf eine Art Kampf, oder Konfrontation, die vor allem der Selbstbehauptung zu dienen schien. Als Kind in, damals auch noch seinem, Djakovica, so erzählte er, war er, der Angehörige keines Ministeriums, sondern der Minderheit, jeweils mit einem Hammer, cekic, in der Tasche auf die Straße gegangen. Er sagte nicht, ob er ihn je bei einem Kampf eingesetzt hatte. Vorstellbar war es nicht. (Aber wer weiß?)

Noch ging die Autofahrt jetzt freilich nicht durch albanisches Gebiet. Die erste Nacht wurde in eben dem nördlichen Teil von Kosovska Mitrovica, diesseits des Flusses Ibar, zugebracht, wo es Mitte Februar 2008, zweieinhalb Monate zuvor, zu den serbischen »Ausschreitungen« gekommen war. Das kleine Hotel an der Einfahrtstraße gab es nicht mehr. So wurde in einer verwinkelten Nebenstraße übernachtet, in einem ebenso verwinkelten Neubau, in Zimmern oberhalb einer Gaststätte, die einsteils eines der auf dem Balkan üblich gewordenen »Ethnorestaurants«, andernteils eine Pizzeria war (so auch der Name: »Pizzeria Number One«). Außer uns als Gäste fast nur lederbekleidete Junge, vor allem Paare, Teilnehmer einer in den serbischen Medien groß angekündigten Motorradrallye, Treffpunkt vorgesehen für den folgenden Morgen an der Völkerscheidenbrücke über den Ibar, wo, je nachdem, eine neue Ausschreitung erwartet, oder befürchtet, oder erhofft wurde.