Die Kultur der Niederlage - Wolfgang Schivelbusch - E-Book

Die Kultur der Niederlage E-Book

Wolfgang Schivelbusch

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Beschreibung

Zehn Jahre nach dem letzten großen Zusammenbruch, dem des sowjetischen Imperiums, scheint die Zeit reif für eine Reihe historischer Fragen. Destilliert aus der Geschichte der drei Niederlagenklassiker – des amerikanischen Südens nach 1865, Frankreichs nach 1871 und Deutschlands nach 1918 –, lassen sie sich etwa so formulieren: Wie wurden im Zeitalter der Erlöserideologie des Nationalsozialismus große Zusammenbrüche erlebt? Welche Mythen von Verrat oder Heroisierung bildeten sich dabei? Und welcher Zusammenhang besteht zwischen dem äußeren Unterliegen und jenen inneren Revolutionen, die der verlorene Krieg überall zur Folge hat? Wolfgang Schivelbusch ist diesen Fragen nachgegangen, und er zeichnet die aus tiefer Demütigung kommenden Energieschübe nach, die Niederlagen bringen. So legten sich die amerikanischen Südstaaten nach dem Bürgerkrieg erfolgreich ein legendenhaftes Images zu, das unter anderem «Vom Winde verweht» und seine Plantagenromantik schuf; so kam es in Frankreich nach 1871 zu umfassenden politischen und kulturellen Neuerungen; so brach das Deutsche Reich, nachdem der Erste Weltkrieg verloren war, auf etlichen Feldern in eine kraftvolle Moderne auf. Schivelbuschs Buch wird Staub aufwirbeln, auch weil es voller aktueller Bezugspunkte ist. Und es verweist auf die eigentümliche Stärke der Besiegten: daß sie früher und besser wissen, was die Stunde geschlagen hat.

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Seitenzahl: 695

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Wolfgang Schivelbusch

Die Kultur der Niederlage

Der amerikanische Süden 1865 Frankreich 1871 Deutschland 1918

Inhaltsverzeichnis

Widmung

I. Einleitung: Verlieren

»Traumland«

Erwachen

Die These vom unlauteren Sieg

Verlorene Macht, gewonnener Geist

Rache und Revanche

Protocol of Defeat: Von der Revanche zur bedingungslosen Kapitulation

Erneuerung

Vom Sieger lernen

II. Der amerikanische Süden

Auf dem Sonderweg

Die These von der Sklaverei als Sozialismus

Die ritterliche Nation

Modell Schottland

Walter-Scottland

Amerikas Sparta

Die »Lost Cause«

»Die besseren Männer«

Der Sündenbock und der Heilige: Longstreet und Lee

Die Religion der »Lost Cause«

Von der »Lost Cause« zur »New Cause«

Der kalte Krieg der »Reconstruction«

Die Idee des New South

Die Umarmung

Die Nationalisierung der »Lost Cause«

III. Frankreich

Die Entfaltung der Niederlage

Der Pariser Krieg

Bazaine

»Preußens Sieg, Frankreichs Ruhm«

Vae victoribus

La Revanche

Sacré-Cœur und Wundenkult

Jeanne d’Arc

Roland

Gambetta oder Die erste Revanche

Boulanger oder Die zweite Revanche

Barrès oder Die letzte Revanche

Von der Revanche zum »élan vital«

Die Erneuerung

Vercingetorix

Die Schulreform und die »Husaren der Republik«

Gymnastique

Le sport

Der Weg nach Afrika

IV. Deutschland

»Im Felde unbesiegt«

Dolchstoß

Der wilhelminische Siegfried

Die Entdeckung der Propaganda

Von der Propaganda zur geistig-moralischen Erneuerung

Der Weltkrieg als »Erziehungskrieg«

Nationaler Sozialismus

1933 oder Die Erneuerung des August 1914

Umerziehung

Wege der Modernisierung: Amerikanismus und Rationalisierung

Die Erhebung der Wirtschaft

Die Ersatzstreitmacht

Erster Schichtwechsel: Von Taylor zu Ford

Erster Exkurs: Der Tanzboden der Inflation und die Girlmaschine

Zweiter Exkurs: Die Weltstadt

Zweiter Schichtwechsel: Vom Fordismus zur Rationalisierung

Nationalsozialistischer Amerikanismus

Das Hollywood-Paradigma

Volkswagengemeinschaft

V. Epilog: Fallen

Nachwort zur Taschenbuch-Ausgabe

Anhang

Anmerkungen

Register

ancor’una volta per Emma

I.Einleitung: Verlieren

Der Besiegte erfährt etwas schneller,

was das Schicksal vorhat.

HEINRICH MANN1

Am Anfang aller abendländischen Niederlagen steht der Fall Trojas. Wie wenig er den griechischen Siegern einbrachte, erzählen die Mythen der Heimkehr. Auf dem Weg zurück finden die Helden den Tod, dem sie im Krieg entgingen (Aias), irren lange Jahre in der Welt herum (Menelaos, Odysseus) oder werden zu Hause ermordet (Agamemnon). Troja geht zwar unter, jedoch mit einer entscheidenden Ausnahme. Äneas und die Seinen läßt der Mythos entkommen, nach odysseischem Herumirren in Italien landen und zum Stammgeschlecht Roms werden. Lange bevor die Verbindung von Troja und Rom in Vergils ›Äneis‹ zum römischen Nationalepos wurde, war sie Bestandteil der römischen Mythologie. Nach dem Untergang Roms knüpften die frühmittelalterlichen westeuropäischen Gründermythen hier an. Frankreich soll nach einer Überlieferung aus dem 6.Jahrhundert auf Francio, einen Sohn des Priamos, zurückgehen, England nach Geoffrey von Monmouths ›Historia Regum Britanniae‹ auf Brutus, einen Enkel des Äneas, von dem wiederum König Artus abstammt.2

Troja als Untergangs- und Neugründungsmythos, das ist eine der vielen Gestaltungen von Kampf, Tod, Wiedergeburt und ihrer zyklischen Verbindung, wie sie sich in allen Weltkulturen finden. Die Todes- und Wiedergeburtsmythen kennen keine absolute Auslöschung. Das Dasein geht im Totenreich weiter wie zuvor in der Welt der Lebenden. Es wechselt »nur seinen Schauplatz«, wie Ernst Cassirer sagt.3

Wenden wir uns der neuzeitlich-abendländischen Version des Tod-Wiedergeburt-Schemas zu, so stoßen wir auf die Negation als das treibende Prinzip aller Entwicklung. Ohne den stets verneinenden mephistophelischen Geist, ohne die Hegelsche Antithese, ohne das Freudsche Realitätsprinzip kein faustisches Projekt, kein dialektisches Weltverständnis, keine Ich-Werdung des Es. Die Niederlage in ihrer abstraktesten Definition ist nichts anderes als die Negation eines Willens, der ungeachtet des Einsatzes aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel sich nicht durchzusetzen vermag. Hegels Satz von der Weltgeschichte als dem Weltgericht legitimiert den Sieg als das Resultat eines vorangegangenen Kampfes, aber natürlich nicht für ewig, sondern nur so lange, bis die Herausforderung durch einen neuen Gegner zu neuem Kampf führt, usf. Auch die andere Hegelsche Formel– Was ist, ist vernünftig – gilt nur so lange, wie die siegreiche Position die Kraft zur Selbstbehauptung hat. Im liberalen System haben sich die Sieger jederzeit ihren Herausforderern, die häufig die Verlierer von gestern sind, zu stellen: in der Produktivitäts- und Preiskonkurrenz nicht weniger als im Kampf der Meinungen und Moden und in den sportlichen Wett- und den politischen Wahlkämpfen.

Einem Denken, das die Illusion vom eigenen Dauertriumph verloren und gelernt hat, daß die Weltgeschichte aus lauter Auf- und Abstiegen besteht, kann es wie Till Eulenspiegel gehen, der sich auf den schweren Weg bergauf freut, weil ihm die Leichtigkeit des Bergab folgen wird. Das heute siegreiche Oben als vielleicht schon morgen besiegtes Unten zu sehen verkehrt nicht nur die traditionelle Identifizierung mit dem Mächtigen. Von der alten Vorstellung der vor dem Fall kommenden »Hybris« unterscheidet sich das Niederlagendenken dadurch, daß nicht der Absturz der übermütig-arroganten Macht interessiert, sondern die Lektion vom Verlieren selber ausgeht.

Zwei Typen des Niederlagendenkens gibt es: die »betroffene« Selbstreflexion des Verlierers und die beobachtende Reflexion des unbeteiligten Dritten. Ein schönes Beispiel für den ersten Typus ist Carl Schmitt. Nach seinem Sturz vom Kronjuristen des Dritten Reichs zum Angeklagten eines Entnazifizierungstribunals schrieb er im Sommer 1946 einen Essay über Alexis de Tocqueville, den er einen mehrfach Besiegten nannte. »In ihm sammelten sich alle Arten von Niederlagen, und das nicht zufällig und unglücklicherweise, sondern schicksalhaft und existentiell. Als Aristokrat war er ein Besiegter des Bürgerkriegs […]. Als Liberaler hat er die nicht mehr liberale Revolution von 1848 vorausgesehen und wurde durch den Ausbruch ihres Schreckens tödlich getroffen. Als Franzose gehörte er zu der Nation, die nach einem zwanzigjährigen Koalitionskrieg […] besiegt worden war […]. Als Europäer geriet er ebenfalls in die Rolle des Unterlegenen, denn er sah die Entwicklung voraus, die zwei neue Mächte, Amerika und Rußland, über den Kopf Europas hinweg zu Trägern und Erben einer unwiderstehlichen Zentralisierung und Demokratisierung machte. Als Christ endlich […] erlag er dem wissenschaftlichen Agnostizismus des Zeitalters.« Tocqueville war für Schmitt im Jahre 1946 deshalb ein großer Historiker, weil er, stets auf der Verliererseite stehend, »sich nicht, wie der große Hegel und der weise Ranke, zum lieben Gott in die Königsloge des Welttheaters«4 setzte. (1934, als er, in Hitlers Loge sitzend, dessen Juni-Massaker juristisch legitimierte, hatte er es wohl anders gesehen.)

Wie ein Kommentar zu Schmitts Tocqueville-Kommentar liest sich, was vierzig Jahre später Reinhart Koselleck über das Geschichtsverständnis und die Geschichtsschreibung von Siegern und Besiegten schrieb. Ausgehend von der Annahme, »daß Geschichte kurzfristig von den Siegern gemacht, mittelfristig vielleicht durchgehalten, langfristig niemals beherrscht wird«, nennt Koselleck die Sieger-Geschichtsschreibung »kurzfristig angelegt, konzentriert auf die Ereignisfolgen, die ihnen [den Siegern; W.S.], kraft eigener Leistung, den Sieg eingebracht haben […]. Der Historiker auf seiten der Sieger ist leicht geneigt, kurzfristig erzielte Erfolge durch eine langfristige Ex-post-Teleologie auf Dauer auszulegen.« Als Beispiele solcher eindimensionalen Sieger-Teleologie nennt Koselleck für Deutschland Droysen und Treitschke, für Frankreich Guizot.

Ganz anders die Historiographie der Verlierer. »Deren Primärerfahrung ist zunächst, daß alles anders gekommen ist als geplant oder erhofft. Sie geraten […] in eine größere Beweisnot, um zu erklären, warum etwas anders und nicht so gekommen ist wie gedacht. Dadurch mag eine Suche nach mittel- oder langfristigen Gründen in Gang gesetzt werden, die den Zufall der einmaligen Überraschung erfaßt und vielleicht erklärt. Die Hypothese hat also manches für sich, daß gerade aus ihren einmaligen, ihnen aufgenötigten Erfahrungsgewinnen Einsichten entspringen, die von längerwirkender Dauer und damit größerer Erklärungskraft zeugen. Mag die Geschichte – kurzfristig – von Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen – langfristig – von den Besiegten […]. Die Erfahrung des Besiegtwerdens enthält Erkenntnischancen, die ihren Anlaß überdauern, gerade wenn der Besiegte genötigt ist, wegen seiner eigenen auch die übergreifende Geschichte umzuschreiben […]. Im Besiegtsein liegt offenbar ein unausschöpfbares Potential des Erkenntnisgewinns.«5

Klassische Verlierer dieser Art waren jene Frondisten gegen den französischen Absolutismus, die nach der Niederlage das Schwert mit der Feder vertauschten. Die Memoiren und Aphorismen der Saint-Simon und LaRochefoucauld wurden, wie man festgestellt hat, eine literarisch sublimierte Form der Revanche, zugleich aber auch eine Gesellschaftsanalyse, die in gerader Linie zur Aufklärung und zum Jahre 1789, also gewissermaßen zur Metarevanche der Fronde, führte.6 Für das 20.Jahrhundert hat Russell Jacoby ähnliches über den West-Marxismus gesagt. Von einer politischen Niederlage in die nächste torkelnd, bewahrte er sich ein kritisches Potential, eine Lebendigkeit, Offenheit und Humanität, die seinem Zwillingsbruder, dem Sowjet-Marxismus, bei dessen Vorwärtsstürmen abhanden kam.7

Neben dem Niederlagendenken der Verlierer begegnen wir dem der unbetroffenen Dritten. Zu dieser Gruppe zählt auch, ja vor allem, die Minderheit in der Siegernation, die die Gefahr der Hybris erkennt. Bekanntestes Beispiel: Nietzsches Mahnung 1871, ein großer Sieg bedeute eine große Gefahr und der Triumph des Deutschen Reiches sei die Niederlage des deutschen Geistes. Mit der Rolle schließlich, die Arnold Toynbee der Niederlage als einem die Energien der Nationen mobilisierenden Element zuerkennt, kommen wir zurück zu ihrer allgemeinsten Definition. In seinem Schema von »Herausforderung und Antwort« (challenge and response), welches geschichtliches Handeln in Bewegung setze, funktioniert die Niederlage als »Anreiz durch die Katastrophe« (stimulus of blows).8

Wie die Asche zum Feuer, gehört die Niederlage zum Krieg. Die Fundamentalerfahrung, die sie mit ihm teilt, oder vielmehr, die sie über das Kriegsende hinaus fortsetzt, ist die der Todesdrohung. In den prähistorischen Stammesfehden und noch bis in die Antike und ins Mittelalter hinein erstreckte sie sich auf alle Angehörigen der Verliererseite.9 Der gehegte Krieg des 18. und 19.Jahrhunderts grenzte sie ein auf die unmittelbar am militärischen Geschehen Beteiligten. In den Flächenbombardierungen des totalen Kriegs im 20.Jahrhundert erstreckte sie sich erneut auf alle. Nur zwei Jahrhunderte lang (wenn man das Ende des Zeitalters der Kabinettskriege mit 1792 datiert, sogar nur ein Jahrhundert) wurden Kriege und Niederlagen wie Aktenvorgänge geführt, von professionellen Militärapparaten, ohne Anteilnahme und ohne reale oder imaginierte Todesbedrohung der Bevölkerung. Das 19.Jahrhundert setzte diese junge Tradition zwar fort, doch beschränkte es sich auf die physische Zähmung der Destruktionskräfte, das heißt auf die Regelung des Geschehens auf dem Schlachtfeld. Psychologisch dagegen kehrte die sich nationalisierende Massengesellschaft auf die frühere Stufe der kollektiven Todesdrohung zurück. So kam es zu der Schere, daß die Kriegführung – und das Nachspiel für die Verlierer – real weiterhin so begrenzt-eingehegt blieb wie im 18.Jahrhundert, Krieg und Niederlage in der sozialdarwinistischen Weltsicht jedoch eine Dimension annahmen, in der die Existenz aller auf dem Spiel zu stehen schien. Der Krieg wurde imaginiert als Kampf auf Leben und Tod, Sein oder Nichtsein nicht nur der Armee, sondern der gesamten Nation, und deren Niederlage als ihre Agonie (Renan).10 Jacob Burckhardt, der diese neue Qualität als einer der ersten erkannte (»Ein Volk lernt wirklich seine volle Nationalkraft nur im Kriege, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker kennen, weil sie nur dann vorhanden ist«11), bemerkte anläßlich des Deutsch-Französischen Kriegs auch den nächsten Eskalationsschritt, mit dem Politik auf diese Psychologie reagierte: »Es ist ein neues Element in der Politik vorhanden, eine Vertiefung, von welcher frühere Sieger noch nichts gewußt haben, wenigstens keinen bewußten Gebrauch gemacht haben. Man sucht den Besiegten möglichst tief vor sich selbst [Hervorhebung im Original] zu erniedrigen, damit er sich künftig nicht einmal mehr etwas Rechtes zutraue.«12

Die Erregung, in die Kriegsausbrüche im Zeitalter der Massen die nationale Psyche versetzen, zeigt an, wie zutiefst beteiligt und betroffen diese sich empfindet. In der von der Propaganda gestärkten Überzeugung, daß es nun »ums Ganze« gehe, spielt die Niederlagen- und Todesdrohung die Rolle einer verborgenen Spannfeder. Die festliche, fast karnevalistische Stimmung, die die Kriegserklärungen 1861 in Charleston und Richmond, 1870 in Paris, 1914 in den Hauptstädten der Großmächte auslösten, war vorweggenommener Siegertaumel, weil sich die Nation ihre Niederlage ebensowenig vorzustellen vermag wie das Individuum seinen Tod. Die von Burckhardt beobachtete neue Qualität der Erniedrigung des Verlierers war also nur die Reaktion auf die gleichermaßen neuartige Selbsterhöhung bei Kriegsbeginn.13

Die klassische Form der Siegesgewißheit ist die Aufstellung der Streitkräfte zur Schlacht: Wären beide Seiten nicht von ihrer Überlegenheit überzeugt, käme es schließlich gar nicht erst zur Konfrontation, sondern zur sofortigen Flucht des sich unterlegen Fühlenden. Entsprechend entscheidet sich die Schlacht in dem Moment, in dem die Siegesgewißheit der einen Seite umkippt, ihr Kampfwille (die »Moral«) abfällt, die militärische Formation sich auflöst und die gesamte Streitmacht ihr Heil in der Flucht, bestenfalls im geordneten Rückzug sucht. Diesen Punkt im Raum (auf dem Schlachtfeld) und in der Zeit (dem Verlauf der Schlacht) nannten die Griechen »trope«14. Die Sieger markierten ihn mit den Waffen der Besiegten, später mit einem Denkmal, und nannten ihn tropaion, wovon sich »Trophäe« ableitet. Clausewitz, der die Schlacht (er sagt: das Gefecht) als die »blutige und zerstörende Abgleichung der Kräfte, der physischen und moralischen«, definiert, beschreibt den Punkt der trope für den Unterliegenden so: »Der Mut des Ganzen ist gebrochen, die ursprüngliche Spannung über Verlust und Gewinn, in welcher die Gefahr vergessen wurde, ist aufgelöst, und den meisten erscheint die Gefahr nun nicht mehr wie eine Herausforderung des Mutes, sondern wie das Erleiden einer harten Züchtigung.«15

Zwischen der Entscheidung des Einzelgefechts, bis hinunter zum Handgemenge, und der Schlacht besteht eine wellenförmig sich fortpflanzende Kommunikation. Summieren sich die Gefechtsniederlagen zu einer dynamisch-kritischen Masse, so teilt sich dies dem Ganzen mit und führt zur Entscheidung. Dasselbe gilt für den Kommunikationsablauf von der Schlacht- zur Kriegsentscheidung: Eine kritische Masse verlorener Schlachten ergibt einen verlorenen Krieg. Im Abnutzungs- oder Erschöpfungskrieg akkumuliert sich die kritische Masse nicht in Form von »Entscheidungsschlachten«, sondern in der Erschöpfung des gesamten nationalen Kräftepotentials. Das Ergebnis ist, abgesehen von der unterschiedlichen Dynamik des Unterliegens, dasselbe.

Wellenförmig wie vom Gefecht zur Schlacht und von der Schlacht- zur Kriegsentscheidung setzt sich die Niederlage über den Kriegsschauplatz hinaus in Richtung Heimat fort. Hierzu noch einmal Clausewitz (der 1806 den Widerhall von Jena und Auerstedt in Berlin miterlebte): »Und nun die Wirkung außer dem Heer bei Volk und Regierung; es ist das plötzliche Zusammenbrechen der gespanntesten Hoffnungen, das Niederwerfen des ganzen Selbstgefühls. An die Stelle dieser vernichteten Kräfte strömt in das entstandene Vakuum die Furcht mit ihrer verderblichen Expansivkraft und vollendet die Lähmung. Es ist ein wahrer Nervenschlag, den einer der beiden Athleten durch den elektrischen Funken der Hauptschlacht bekommt.«16

Auf dem Weg der Übermittlung in die Heimat nimmt die Niederlage eine Dimension des Ungeheuerlichen, des Überwältigenden an, die dem vorangehenden Kommunikationsvorgang innerhalb der Schlacht und der Streitmacht fehlte. Erleben die am Geschehen beteiligten Militärs die verlorene Schlacht, ja sogar den verlorenen Krieg als zwar schmerzlichen, aber aufgrund der unmittelbaren Anschauung und persönlichen Erschöpfung nachvollziehbaren Ausgang, so versetzt die Nachricht von der Niederlage die Heimat, die, im Bild eines Kommentators der Pariser Szene nach Sedan, noch »en plein roman« fortdauernder Siegesgewißheit lebt, in »panischen Schrecken« (Clausewitz).17 Die Steigerung der Erregung proportional zur Entfernung vom Ort der Niederlage ist eine Folge der unterschiedlichen Kriegsteilnahme und -psychologie von Front und Heimat. Diese Diskrepanz in Erfahrung und Wahrnehmung führt einerseits zu den vielfach überlieferten emotionalen Zusammenbrüchen sonst hartgesottener Politiker, andererseits aber auch dazu, daß die Heimat sich in dem Moment zur Fortführung des Kampfes aufrafft, in dem die kriegsmüde Armee ihn aufgibt. Dieser Vorgang heißt seit 1792 »levée en masse« oder »Volkskrieg« und läßt sich definieren als der Einsatz der gesamten Nation als »letzter Reserve«. Völker- und kriegsrechtlich beendet die »levée en masse« die Ära des Kabinettskriegs mit seiner strikten Scheidung von Streitmacht und Bevölkerung und öffnet das Tor zum totalen Krieg. Psychologisch ist sie eine Art Druckausgleich zwischen der vom Kriegsgeschehen noch unberührten Heimat und der zusammengebrochenen Front, indem sie die erschöpfte Kampfmoral der Armee gegen die noch frische National- oder Symbolmoral (die »Ehre«) der Nation austauscht.

Die psychologische Dynamik, die damit in Gang kommt, ist dieselbe, die Clausewitz für die Truppe, die eine Teilniederlage erlitten hat, als »Gefühl der Rache und Vergeltung« beschreibt: »Vom obersten Feldherrn bis zum geringsten Tambour fehlt dieses Gefühl nicht, und daher ist nie eine Truppe von einer besseren Stimmung beseelt, als wenn es darauf ankommt, eine Scharte auszuwetzen […]. Es ist also eine sehr natürliche Tendenz, jene moralische Kraft zu benutzen, um auf der Stelle das Verlorene wieder einzubringen.«18 Daß »levée en masse« und Revolution meist Hand in Hand gehen, ist in unserem Zusammenhang nur insofern von Bedeutung, als das aus äußerer Niederlage und innerem Umsturz hervorgegangene neue Regime diesen Geburtsfehler gutzumachen, das heißt die Entstehung einer Dolchstoßlegende zu verhindern bestrebt sein muß. Hier ist der Vergleich zwischen Frankreich im September 1870 und Deutschland im November 1918 lehrreich.

Die Fortsetzung des Krieges nach der Schlacht von Sedan als »levée en masse« durch die republikanische Provisorische Regierung haben Zeitgenossen immer wieder als Voraussetzung des politischen Überlebens der Dritten Republik bezeichnet und spätere Historiker dem Scheitern der Weimarer Republik gegenübergestellt. Colmar von der Goltz, selber Teilnehmer des Krieges und später Verfasser der einflußreichen Schrift ›Das Volk in Waffen‹, war in Deutschland der erste, der erkannte, daß die »levée en masse« weniger militärische als politische und psychologische Bedeutung hatte. »Das Imposante des Schauspiels sollte vor allem wirken«, schrieb er über die von Léon Gambetta organisierte »Défense nationale«, und »durch ihr Erstaunen über die ungeheure Leistungsfähigkeit des freien Frankreich sollten die deutschen Barbaren besiegt werden, nicht eigentlich durch den Kampf.« Der letzte Satz in Goltz’ Studie ›Gambetta und seine Armeen‹ (1877) lautet: »Sollte – was Gott verhüten möge – unser deutsches Vaterland dereinst eine Niederlage erleben wie Frankreich bei Sedan, so wünschte ich wohl, daß ihm ein Mann erstünde, der es wüßte, den Widerstand, wie ihn Gambetta wollte, bis aufs Äußerste zu entzünden.«19

Walther Rathenaus Aufruf zur deutschen »levée en masse« im Oktober 1918 war ein spätes Echo darauf, ebenso wie die Reverenz Adolf Hitlers vor der Dritten Republik, die er der verachteten »Novemberrepublik« als leuchtend-heroisches Beispiel gegenüberstellte: »Als Frankreich in Sedan zusammenbrach, da machte man Revolution, um die sinkende Trikolore zu retten! Mit neuer Energie wurde der Krieg geführt. Unzählige Schlachten noch haben die Revolutionäre tapfer geschlagen. Der Wille, den Staat zu verteidigen, hat 1870 die französische Republik geschaffen. Sie war nicht ein Symbol der Ehrlosigkeit, sondern ein Symbol zum mindesten des redlichen Willens, den Staat zu erhalten. Die französische Nationalehre wurde wiederhergestellt durch die Republik. Welch ein Unterschied mit unserer Republik!« (Hervorhebung im Original)20 Diese Sätze finden sich in einer Rede vom 12.September 1923, zwei Monate vor dem Münchner Putschversuch und in einer Zeit, in der die Republik auseinanderzufallen drohte. Das alles bestimmende Ereignis war dabei der deutsch-französische Konflikt im Ruhrgebiet. Während Hitler den von der Regierung ausgerufenen passiven Widerstand als ungenügend und schmachvoll ablehnte (»Ein Indien wollen sie aus Deutschland machen, ein träumendes Volk […], damit sie es mit Haut und Haar ins Sklavenjoch spannen können«21), war der Ruhr-Krieg – so die damals übliche Bezeichnung – in den Augen der gemäßigten Nationalisten der mit einer Verzögerung von fünf Jahren nachgeholte Volkskrieg, zu dem es im November 1918 nicht gekommen, den zu führen die Nation nun aber zu ihrer Ehrenrettung verpflichtet war.22

Nur Kriege, die die Nation aufs höchste mobilisieren, dann aber so abrupt enden, daß die Verlierer dieses Ende emotional nicht mitvollziehen können, gehen in die »levée en masse« über. Den jahrelangen Abnutzungskriegen, die im amerikanischen Süden und in Deutschland die Heimat ebenso erschöpften wie die Front, folgte deshalb keine »levée en masse«, sondern einfach der Zusammenbruch. Auch hier allerdings wurde die »flat conclusion of the war«23 (Edward Pollard) als so nicht akzeptabel empfunden, und bestimmte Visionen, wenn schon nicht eines wunderbaren Endsiegs, so doch zumindest eines heroisch-dramatischen Untergangs mit wehenden Fahnen, waren dem amerikanischen Süden 1865 und Deutschland 1918 ebenso gemeinsam wie die nachträgliche Karikatur einer »levée en masse« in Form terroristischer, von ehemaligen Armeeangehörigen gebildete Gruppen– Ku-Klux-Klan und Freikorps–, die sich als Rächer der Nation verstanden.

»Traumland«

Daß ein erfolgreicher Kriegsausgang im Zeitalter des Nationalismus die Sieger in Freudentaumel versetzt, ist ebenso evident wie die tiefe Niedergeschlagenheit auf der Verliererseite. Überraschend dagegen ist die oft beobachtete kurze Dauer der Verliererdepression und ihr Umschwung in eine eigentümliche Euphorie. Die Ursache hierfür ist in der Regel der dem militärischen Zusammenbruch folgende innere Umsturz. Die Absetzung des alten Regimes und seine Umwandlung in den Sündenbock für die Niederlage werden dann als Sieg sui generis erlebt, und zwar um so überzeugender, je volkstümlicher der Aufstand ist und je charismatischer die Führer des neuen Regimes sind. In diesem Moment ist der äußere Feind nicht mehr der Gegner, sondern fast der Verbündete, mit dessen Hilfe der alte Machthaber und nunmehrige gestürzte Tyrann verjagt werden konnte.24 Von einer Aufwallung der Menschheitsverbrüderung ergriffen, sieht die Masse dem weiteren Geschehen zuversichtlich entgegen. »Strahlende Gesichter und freudige Ausgelassenheit überall. Arbeiter und Nationalgardisten kommen mit Leitern und schlagen die steinernen Adler und Kaiserkronen von den Fassaden. Die Cafés sind überfüllt. Alles ruft: Es lebe die Republik! Und am Ende dieses schönen Herbsttags beginnt mit der Dämmerung das Nachtleben. Geschäfte und Theater überquellend von Leben, und immer diese Freude und Heiterkeit.«25

Ähnlich wie am 4.September 1870 die Ausrufung der Republik die Pariser Massen begeisterte und die nur zwei Tage alte Nachricht von der verlorenen Schlacht bei Sedan vergessen ließ, stand die am 7.November 1918 von Kurt Eisner auf der Theresienwiese einberufene Massenkundgebung nicht im Zeichen des unmittelbar bevorstehenden militärischen Zusammenbruchs, sondern des Regimesturzes. In beiden Fällen glich die Stimmung dem karnevalistischen Hochgefühl, das Roger Caillois als für Kriegsausbrüche charakteristisch beschrieben hat. Aber auch wenn, wie am 9.November 1918 in Berlin, der Machtwechsel nüchterner und unter geringerer Anteilnahme der Bevölkerung verläuft26, regt sich nach der ersten Niederlagendepression in den Massen ein Grundaffekt der Erleichterung, der Befreiung, der Erlösung, der mit dem Hochgefühl bei Ausbruch des Krieges korrespondiert. Wie dieses durch die Überzeugung entstand, aus der Ordnung und Disziplin des Normalzustands herauszutreten und in der national-sakralen Gemeinschaft des kämpfenden Volkes aufzugehen, wird das Kriegsende nun als Befreiung vom Zwang und der Not des Kriegsalltags begrüßt. Das Ende der Todesdrohung, die während des Krieges als über der gesamten Nation schwebend empfunden wurde, und der Triumph des Überlebens spielen dabei eine ähnliche Rolle wie der Sturz beziehungsweise die Demütigung der früheren Herren, die nun allein an der Niederlage schuld sind. Die Rhetorik der Verdammung, die sich nach 1870 gegen NapoleonIII. und das Second Empire richtete, gleicht denn auch bis zur Austauschbarkeit dem Tenor der nach 1918 gegen WilhelmII. und das Kaiserreich vorgebrachten Beschuldigungen. Man wirft dem alten Regime Materialismus, Eklektizismus, hohles Pathos und falschen Glanz, »atonie complète«, »vingt ans de torpeur« vor und gibt ihm die Schuld daran, »daß wir, an nichts anderes mehr glaubend als ans Geld und ans Vergnügen, uns nicht mehr für das Höhere begeistern konnten«. Die Niederlage ist die Befreiung. Das französische »Bénies soient nos défaites […]. Vaincus, nous sommes délivrés de Napoléon« (Gelobt seien unsere Niederlagen […], haben sie uns doch von Napoleon befreit) erscholl 1918 auf deutsch und, angewandt auf WilhelmII., aus zahlreichen Kehlen, die, wie nicht allein Walther Rathenau bemerkte, vorher nicht selten die lautesten Hosiannas geschrien hatten.27 Im amerikanischen Süden überraschte auswärtige Beobachter die Schnelligkeit und Einmütigkeit, mit der unmittelbar nach dem Zusammenbruch selbst Sklavenhalter das alte System als amoralisch verwarfen und die Niederlage als Befreiung willkommen hießen.

Auf der Ebene des Massenverhaltens manifestiert sich das Gefühl der Erlösung in einem Symptom, das in zeitgenössischen Berichten als »Tanzwut«, »Tanzsucht«, »Tanzfieber«, »Tanzmanie«, »Tanzepidemie« bezeichnet wird. In erster Linie ist dieses Phänomen Teil der allgemeinen Eruption von Sinnlichkeit und Hedonismus als Reaktion auf die Tanz- und Vergnügungsverbote der Kriegszeit, daher auch nicht etwa eine Besonderheit der Verlierer, sondern ebenso in den Siegerländern verbreitet. Die FeststellungV.F.Calvertons aus dem Jahre 1928, »dieses Tanzen war die unvermeidliche Reaktion auf den Wahnsinn des Krieges […] Männer und Frauen tanzten, um den Emotionsstau abzulassen«28, bezieht sich auf diese universale Funktion der Abreaktion. Daß das Tanzen der Verlierer darüber hinaus allerdings noch etwas anderes enthält, deutet der Satz in Edmond de Goncourts Tagebuch von 1870/​71 an: »Frankreich tanzt […], um sich zu rächen. Es tanzt, um zu vergessen.«29 Bereits zeitgenössische kulturhistorische und medizinische Kommentatoren stellten zwischen dem, was sie 1918/​19 in Deutschland beobachteten, und den Veitstänzen und Springprozessionen in Krisenzeiten des Spätmittelalters einen Zusammenhang her. Die Tanzsucht, so die These, war beides in einem, Symptom einer hysterisch-motorischen Störung (daher der medizinische Name »chorea hysterica rhythmica«) aufgrund kollektiver Traumatisierung und die unbewußt zu ihrer Bewältigung angewandte Bewegungstherapie.30

In dieser Ambivalenz erschöpfte sich das Tanzen der Verlierer jedoch nicht. Betrachtet man es nicht als motorische Verarbeitung des Niederlagentraumas, sondern als Manifestation des Triumphs über die gestürzten und gedemütigten Väter-Tyrannen, so verliert es alles Pathologische und ordnet sich in die Tradition der Befreiungstanzmanien ein. Wie der Walzer zur Revolution von 1789 und der Cancan (nicht zu verwechseln mit dem Varieté-Cancan des »Fin de siècle«) zur Julirevolution 1830, so gehörten die sogenannten Jazztänze im Berlin der Jahreswende 1918/​19 zum Novemberumsturz.31

Das Hochgefühl, das der Niederlagendepression des ersten Augenblicks folgt, ist also eine Art Übertönen des Zusammenbruchs durch den Sturz der Väter. Ernst Troeltsch hat 1918/​19 dafür den Begriff »Traumland« geprägt.32 Gemeint ist der Zustand nach der Niederlage, in dem die Verlierernation sich als kathartisch gereinigt, frei von aller Verantwortung und Schuld betrachtet, die den verjagten Tyrannen aufgeladen wird. Damit, so setzt sich der Wunschgedankengang fort, steht der Rückkehr in den Status quo ante nichts mehr im Wege. Im amerikanischen Süden war man nach der Kapitulation überzeugt, nun den alten Platz in der Union als gleichberechtigte Partnerstaaten des Nordens wieder einzunehmen; im Frankreich nach Sedan glaubte man, jetzt mit Bismarck Frieden schließen zu können, ohne »un pouce du territoire« abgeben zu müssen; und im Deutschland nach dem 11.November 1918 herrschte die Zuversicht, zu den Verhältnissen und den Grenzen vom 1.August 1914 zurückkehren zu können. In allen diesen Vorstellungen figuriert die Nation als die Mutter, die, vom Vater-Tyrannen getäuscht und in die Irre geführt, im schlimmsten Falle geschändet, mit Hilfe ihrer Söhne Freiheit, Unschuld und Souveränität wiedererlangt: ein Akt der Selbstreinigung, dessen Honorierung vom siegreichen Gegner erwartet wird, da er – so das abschließende Argument – durch Bestrafung der dergestalt betrogenen Nation sich selbst ins Unrecht und auf eine Stufe mit dem gestürzten Regime stellen würde.33

Die Traumlandperiode dauert gewöhnlich einige Wochen oder Monate. Wenn es in dieser Zeit zu blutigem Bürgerkrieg (Pariser Kommune, Spartakus-Kämpfe in Berlin, Räterepublik und ihre Niederwerfung in München) kommt, so ist das nur eine von vielen Ausdrucksformen der herrschenden Eschatologie. Der Erwartungshorizont gegenüber dem äußeren Sieger bleibt davon unbeeinträchtigt. Daß der Traumlandzustand im amerikanischen Süden fast zwei Jahre währte und damit das übliche Maß entschieden überschritt, erklärt sich mit der Sondersituation des Bürgerkriegs, also daraus, daß der äußere Gegner hier zugleich der wiedergefundene »Bruder« war.

Erwachen

»Der Sieger hat uns vom Despotismus befreit, wofür wir ihm dankbar sind, aber jetzt kann er gehen.« So etwa läßt sich die herrschende Auffassung im Traumlandzustand umschreiben. Wird offenbar, daß der Sieger sich mit dieser Rolle nicht zufriedengibt, daß er die Nation nicht als schuldloses Opfer einer Verführung, sondern als verantwortliches und haftpflichtiges Subjekt betrachtet, schlägt die Stimmung um. Die vorübergehend in Versöhnlichkeit verwandelte Gegnerschaft wird wieder, was sie zu Kriegsbeginn war, ja noch gesteigert durch das Gefühl, erneut betrogen worden zu sein. Denn im Traumlandzustand verblaßt die Erinnerung an die realen Umstände des Zusammenbruchs, und autosuggestiv bildet sich die Überzeugung heraus, im Rahmen eines »Gentlemen’s Agreement« und im Vertrauen auf die Ritterlichkeit des Gegners die Waffen freiwillig niedergelegt zu haben. Der deutsche Wilson-Mythos von 1918 ist hierfür nur das frappanteste Beispiel. In der Niederlagenpsyche des amerikanischen Südens und Frankreichs gibt es Parallelen.34

Dem Stimmungsumschwung und Vorwurf des Betrugs, ja des Verrats gegen den äußeren Gegner entspricht, mit anderer Zielrichtung und Bedeutung, der Umschwung in den inneren Verhältnissen. Mit dem Ende der Traumlandperiode verliert der Umsturz die Aura von Befreiung und Erlösung, und die, die ihn herbeiführten, finden sich – gewissermaßen im Zeitrafferverfahren – in einer ähnlichen Lage wie zuvor das von ihnen gestürzte alte Regime, dessen aktivste Vertreter nicht zögern, den Spieß nun umzukehren. Ihre Hauptwaffe wird der Vorwurf, der Nation im kritischsten Augenblick durch Rebellion in den Rücken gefallen zu sein, ihr die Hände gebunden und sie an den erbarmungslosen Gegner ausgeliefert zu haben. Nach 1918 wurde so in Deutschland die Vorstellung des Dolchstoßes der extremste und einflußreichste gegenrevolutionäre Verratsmythos. Im amerikanischen Süden, der keinen inneren Umsturz erlebte, und in der Dritten Republik, die sich ihre Legitimation in der Défense nationale schuf, kam es nicht zu einer vergleichbaren Mythenbildung, wohl aber wurde einzelnen Personen vorgeworfen, die Nation (das Volk) verraten zu haben. Erfolglose Militärs, wie etwa den General Longstreet im Süden und Marschall Bazaine in Frankreich, des Verrats zu bezichtigen war im Unterschied zum die Nation polarisierenden Dolchstoß-Vorwurf ein einfacher Sündenbock-Mechanismus, der der Entlastung des kollektiven Gewissens diente und außer für die unmittelbar Betroffenen ohne weitere Folgen blieb.

Solche Beschuldigungen gedeihen oder verkümmern, wie zuletzt die amerikanische Version der Dolchstoßlegende nach dem Vietnamkrieg, gemäß der Beschaffenheit des politischen und historischen Bodens, auf den sie fallen.35 Dazu gehört, welche Rolle der Verrat in der jeweiligen Nationalmythologie spielt. Die Nationalmythologien des 19.Jahrhunderts aber basierten weitgehend auf den »nationalisierten« mittelalterlichen (beziehungsweise pseudomittelalterlichen) Epen und Legenden: dem Chanson de Roland und dem Jeanne d’Arc-Mythos in Frankreich, dem Nibelungenlied in Deutschland, den Romanen Walter Scotts im amerikanischen Süden. Wie Mark Twain den Süden vor 1861 »Walter-Scott-Land« nannte, so könnte man Frankreich im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts als »Roland-Land« und »Jeanne-d’Arc-Land«, Deutschland als »Nibelungen-Land« und »Richard-Wagner-Land« charakterisieren.

Wenn aber die Nationen im späten 19.und frühen 20.Jahrhundert ihre Kriege, ihre Niederlagen, ihre Helden, Versager und Dissidenten nach dem Modell ihrer großen Epen erlebten, beurteilten und gestalteten, so erfordert dies eine gründliche Betrachtung dieser Korrespondenzen.

Die These vom unlauteren Sieg

Soldatischem Ethos zufolge ist ein Sieg die Niederwerfung des Gegners durch Tapferkeit und kriegerisches Können nach dem Muster des Zweikampfs zwischen Hektor und Achill. Wie das Trojanische Pferd des Odysseus und der Achilles tötende Pfeilschuß des Paris zeigen, folgt die Kriegswirklichkeit allerdings anderen beziehungsweise gemeinhin gar keinen Spielregeln. Dennoch bleibt die Unterscheidung zwischen sittlich-korrekter und unsittlich-barbarischer Kriegführung lebendig, und zwar vor allem dadurch, daß der jeweilige Verlierer lautstark die Regelverletzung anklagt und dem auf diese Weise errungenen Sieg die Anerkennung verweigert. So wird die Vernichtung des französischen Ritterheers bei Crécy durch englische Bogenschützen im Jahre 1346 in Frankreich bis heute weniger als militärische Niederlage denn als eine Art ritterlichen Martyriums betrachtet, aus dem die Verlierer als die moralischen Sieger, die Sieger als moralische Verlierer hervorgingen. »In ihrem heroischen Einzelkämpfertum unterliegen die Franzosen der plebejischen Kollektivdisziplin der Engländer […]. Unsere Gegner erscheinen als anonyme, mechanische, geist- und seelenlose Masse von Fließbandarbeitern, die nur durch ihre Überzahl siegen.«36 Was Claude Billard und Pierre Guibbert über die französische Schulbuchdarstellung des Geschehens von Crécy sagen, findet man in der Rhetorik jeder Verlierernation wieder: Nicht soldatische Tugend und militärisches Können verhalfen dem Gegner zum Sieg, sondern der Einsatz von Material- und Menschenmengen, die die eigenen Kriegerhelden durch schiere Masse erdrückten. »Wäre es ein fairer Kampf gewesen, hätten wir euch nach allen Regeln der Kunst geschlagen«, läßt ein Berichterstatter aus dem Norden nach der Kapitulation einen Soldaten der Konföderation sagen. Das deutsche Pendant nach 1918 lautete: »Zu zehnen besiegt und zu siebenundzwanzig betrogen.«37 Neben der Masse ist es der Einsatz »unsoldatischer« Techniken und Organisationsformen, der angeprangert wird: von Tanks, Unterseebooten, Bombern und Gasgranaten bis zur Hungerblockade, Propaganda und psychologischen Kriegführung. Das Resultat ist vorgezeichnet: Da jeder größere Krieg durch eine technische oder organisatorische Innovation entschieden wird, über die der Verlierer noch nicht verfügte – oder die er, ihre Effizienz verkennend, verschmähte–, erklärt er sie im nachhinein als Regelverletzung, den Sieg als unreell und den Sieger zum unlauteren Wettbewerber.38

Werner Sombarts Wort von den (deutschen) Helden und (englischen) Händlern, die sich im Ersten Weltkrieg gegenüberstanden, enthält neben seiner propagandistisch-diskriminierenden Absicht noch etwas von der Einsicht des Soziologen in den unterschiedlichen Charakter militaristisch-autoritärer und bürgerlich-liberaler Gesellschaften. Der Händler-Topos kam bereits in der französischen Propaganda gegen England im Siebenjährigen Krieg und in der napoleonischen Periode vor; er war eine Variante des jahrhundertealten »perfiden Albion«. Auch für den halbfeudalen amerikanischen Süden war der Bürgerkrieg der Kampf zwischen Helden-Cavaliers und Händler-Yankees. Und noch in der französischen Formulierung vom preußischen Schulmeister, der bei Sedan gesiegt habe, klingt das Ressentiment der Militärkultur gegen die Regelverletzung – in diesem Fall sogar die Regelverletzung durch eine ebenfalls militaristische, aber modernisierte militaristische Kultur – mit. Angesichts der Tatsache, daß Kriege zwischen »militaristischen« und »bürgerlichen« Nationen oft mit glanzvollen militärischen Erfolgen der ersteren beginnen, um nach langwierigem Material- und Erschöpfungskrieg durch die erdrückende Wirtschaftsmacht der letzteren entschieden zu werden, erscheint das Gefühl der Verlierer, um den Sieg betrogen worden zu sein, nicht vollkommen abwegig.39

Von der Überzeugung, der mit unmilitärischen Mitteln errungene Sieg sei nicht wahr, sondern falsch (unlauter, betrügerisch, erschlichen, gestohlen) und daher nicht anzuerkennen, ist es nur ein Schritt zum Verständnis der Niederlage als dem reinen, erhabenen Gegenbild. Christliche Vorstellungen des Opfers und des Martyriums verbinden sich hier mit solchen der klassischen Ästhetik. Wo »siegen« zunehmend die Bedeutung von »gewinnen« annimmt, wird es – immer in der Sicht der militärisch geprägten Verliererkultur – zunehmend Sache der »Händler«. Wenn aber der materielle Gewinn an die Stelle des Lorbeers tritt, bleibt dem Helden nur noch die von allem materiellen Interesse freie »beau geste«, einen zwar aussichts-, aber auch tadellosen Kampf geliefert zu haben. Er wird ein Leonidas, ein Makkabäus, ein Brutus, der mit seinen Gefolgsleuten, dem sicheren Tod entgegensehend, die Tragödie zu Ende spielt. So erwirbt der Verlierer in seinem Selbstverständnis eine Würde, die im Zeitalter der falschen Gewinnsiege dem Sieger so unzugänglich ist wie im Neuen Testament dem Reichen das Himmelreich. Die deutsche Formel nach 1918, »Im Felde unbesiegt«, war beides in einem, Selbsttröstung und Selbsterhöhung. Im Mythos der »Lost Cause« zelebrierte der amerikanische Süden nach 1865 die Niederlage als zugleich heroisches und sakrales Ereignis. »Der Krieg hat uns gereinigt und erhöht, Selbstrespekt gelehrt und die Bewunderung anderer Nationen eingetragen.«40 Und in Frankreich schlug wenige Tage nach Sedan Victor Hugo in einer Ansprache an die heimkehrenden Soldaten denselben Ton an, den 48Jahre später in ähnlicher Situation Friedrich Ebert erneut anklingen lassen sollte: »Ihr werdet immer die besten Soldaten der Welt sein. […] Der Ruhm gehört Frankreich.«41 Das 1874 in Paris auf dem Square Montholon errichtete Kriegermahnmal von Antonin Mercié trug die Inschrift »Gloria victis«.42

Vom Ruhm zum Recht. Wie der Sieg als unreelles Gewinnen keinen Anspruch auf Ruhm und Ehre hat, so ist sein Resultat für den Verlierer nicht anzuerkennendes Recht, sondern abzuwehrendes Unrecht. Nach der notgedrungenen Kapitulation beginnt daher sein Kampf ums Recht, eine Art moralischer und juristischer »levée en masse«, in der der Verlierer, indem er sich als vergewaltigte Unschuld darstellt, den Sieger ins Unrecht zu setzen und moralisch zu besiegen sucht. Unerheblich ist dabei, ob der Sieger die Strafmaßnahmen seinerseits moralisch und juristisch begründet, wie der amerikanische Norden nach 1865 und die Entente nach 1918, oder ob er, wie Bismarck 1871, auf solche Begleitmusik verzichtet. Stets zieht die Propaganda der Unrechtsbehauptung und Unschuldsbeteuerung sämtliche moralischen und juristischen Register.43 Wird einmal eine Schuld eingestanden, dann ist es lediglich die des edlen Wilden und Rousseauschen Naiven, der, weil er den »Cant« der Zivilisation nicht mitmache, Strafe verdiene. Arthur Moeller van den Bruck über die deutsche Kriegsschuld von 1914: »Angeborene und anerzogene Bravheit« habe Deutschland den Krieg erklären lassen, womit es »die Völker, die ihn vorbereitet hatten, entlastete, uns aber belastete. […Wir] sind ein harmloses Volk, dessen Schuld in seiner Unschuld liegt.«44

Verlorene Macht, gewonnener Geist

So alt wie die Geschichte der städtischen Hochkulturen ist deren Furcht, von Barbarenhorden überfallen und ausgelöscht zu werden. Das Bild der Versteppung, des von Nomaden verwüsteten Gartens und der verfallenen Paläste, in denen Fellachen ihre Ziegen hüten, hat die Dekadenzliteratur von der Antike über Edward Gibbon bis Oswald Spengler und Gottfried Benn fasziniert. Tatsächlich jedoch gehen in der Regel nicht die eroberten Hochkulturen unter, sondern die Eroberer in ihnen auf. Die Dorer im mykenischen und die Makedonier im klassischen Hellas; die Germanen im Römischen Reich; die Mongolen in China; die Araber in Persien. Zu schwach, dem Ansturm der Barbaren militärisch Widerstand zu leisten, beweisen die Hochkulturen genügend zivilisatorische Verführungs- und Integrationskraft, die Eroberer zu absorbieren. Sie werden Trophäe in des Wortes doppelter Bedeutung: der der magisch-symbolischen Übertragung der Kräfte und Fähigkeiten des getöteten Gegners auf den Sieger und der der Beute.45 Ein Schicksal, das im übrigen alle Verlierereliten von Gesellschaften im Umbruch erleiden, wenn sie von Homines novi verdrängt werden, die ihre Schlösser und Opernlogen kaufen und ihre Töchter heiraten.

Der große und einzige Trost aller Verlierer ist ihre Überzeugung, den Neumächtigen kulturell und moralisch überlegen zu sein. Auf der untersten Stufe manifestiert sich das in der Gegenüberstellung von eigener Kultur und fremder Barbarei. Der Yankee im amerikanischen Süden, der Preußen-Deutsche 1870/​71 in Frankreich und 1914 in Belgien, der französische »Senegalneger« nach 1918 im besetzten Rheinland, sie alle gehören zum Typus des »wilden Mannes«. Von ungeschlachter Größe, tierähnlicher Physiognomie, mit stechendem Blick, pechschwarzem Vollbart und der blanken Waffe in der Hand, bedroht er wehrlose Frauen und Kinder, die ihn jedoch meist – vor allem in der französischen Erbauungspropaganda nach 1871 – mit Überlegenheit, Mut und Witz an der Nase herumführen.46

Sehen wir uns auf der Ebene der Sinngebung weiter um, so stoßen wir bald auf die Grundelemente dessen, was wir als Niederlagendenken kennenlernten und nun Verliererphilosophie nennen wollen. Diese basiert auf der Überzeugung, dem Sieger an Einsicht und Wissen mindestens einen Schritt oder vielmehr eine Halbdrehung des Rads der Fortuna voraus zu sein. Der Verlierer weiß, wovon jener noch nicht einmal eine Ahnung hat: daß der Triumph nicht von Dauer ist und die Positionen von Oben und Unten einander stetig abwechseln. Er tritt als Mahner auf. Seine Hauptlegitimation ist, als der gefallene Sieger von gestern zu sprechen. Ernest Renan und andere französische Intellektuelle, die im Herbst 1870 die Mahnung »Vae victoribus!« an Preußen-Deutschland richteten, begründeten dies mit der Erinnerung an die eigene nationale Hybris unter LudwigXIV. und Napoleon, mit der Frankreichs Weg ins Verderben begann. Heinrich Mann sprach im November 1918 vom »Fluch des Sieges« von 1870/​71, der Deutschland in den Abgrund geführt habe, und warnte die Siegermächte, denselben Weg einzuschlagen (»Sie werden die Folgen ihres Sieges noch schwerer überwinden, als wir die Wirkungen unserer Niederlage«47).

Der Topos vom Fluch des Sieges und der sittlichen Läuterung durch die Niederlage ist eine Verbindung von antikem Hybris- und christlichem Demutsgedanken, Katharsis und Apokalypse. Daß er seinen größten Wirkungsgrad in den Kreisen der Intelligenz hat, erklärt sich zum einen mit deren klassischem Bildungshintergrund, mehr aber wohl noch mit ihrem ambivalenten Verhältnis zur Macht. Die eigenen Machthaber – oder Väter – von Mächtigeren überwältigt zu sehen erfüllt die intellektuellen Söhne mit einer tiefen Befriedigung. Und ist der darauffolgende Zustand des Traumlands, in dem sie die Mutternation zu befreien glauben, nicht die Bestätigung der Väterniederlage als ihr Sieg?

An dieser Stelle springt der Funke auf die Gegenseite über. Wie es im Krieg eine die Fronten überschreitende Gemeinschaft der Pazifisten und gelegentlich Fraternisierungen der gegnerischen Fronten gibt, so entstehen nach großen Kriegen grenzüberschreitende intellektuelle Allianzen des »Vae victoribus«. Das beste Beispiel dafür ist die Geschichte dieses Wortes selbst, auch wenn sein Weg, wie wir sehen werden, kurioserweise in umgekehrter Richtung verlief. Ende August 1870 von einem deutschen Liberalen geprägt, fand es innerhalb weniger Tage Eingang in die Niederlagen-Sinngebungs-Rhetorik der französischen Intelligenz.

Die Schöpferin der ersten dieser Allianzen war Germaine de Staël. Ihr Deutschland der Dichter und Denker, das für die französischen Intellektuellen des späten Empires zum idealisierten Gegenbild des napoleonischen Frankreich wurde und es lange über Napoleon hinaus, bis Sedan, blieb, zeigte erstmals die Anfälligkeit auch der Siegerseite für die Idee der vom Triumph bedrohten Kultur und der Vergeistigung durch die Niederlage. Demselben Schema folgte nach 1871 auch die kritische Minderheit der deutschen Intelligenz. Nietzsche mit seiner Ansicht, das geschlagene Frankreich nehme an Geist und Kultur zu, während die alte Kultur- und neue Großmacht Deutschland zusehends verrohe, war kein Einzelfall.48 Ein ähnliches Bild bot die kritische Intelligenz im siegreichen amerikanischen Norden. Abgestoßen von der Vulgarität des »Gilded Age« – des amerikanischen Pendants zur deutschen Gründerzeit–, machten Autoren wie Henry James, Henry Adams und Herman Melville in ihren Romanen die Gestalt des Südstaatler-Gentleman zum moralischen Helden in einer zutiefst unmoralischen Gesellschaft.49 Mit leichter Verschiebung wiederholte sich das Schema nach dem Ersten Weltkrieg. Zuflucht vor der herrschenden politischen Intoleranz, intellektuellen Verödung und kommerziellen Verflachung suchte die Lost generation Amerikas zwar nicht in der Hauptstadt der Verlierer, Berlin, sondern in Paris, das formell Siegermetropole war. Da in ihren Augen aber der eigentliche Verlierer des Weltkriegs nicht Deutschland, sondern Europa hieß, entbehrte ihre Wahl nicht des richtigen Instinkts.50

Nicht zu verwechseln mit der Verlierer-Empathie einiger Intellektueller im Siegerlager ist die Aneignung von Kultursymbolen des Verlierers durch die Siegerkultur. Die Plantagenromantik des alten Südens, die, wenn es sie je wirklich gab, der Sieg des Nordens auslöschte, wurde in den 1880er Jahren von New Yorker Verlegern und Theaterproduzenten zur Unterhaltung des Yankee-Publikums neu inszeniert. Ähnlich im wilhelminischen Deutschland die Umwandlung des Frankreichbildes von der bedrohlichen Militärmacht ins Feminine, zur Lieferantin von Luxusgütern wie Mode, Parfümerie, Haute cuisine. Und schließlich das Deutschlandbild des zweimaligen Weltkriegsiegers USA. Es besteht aus zwei Bedeutungsschichten. Die erste ist die Miniaturisierung des einst bedrohlichen Gegners zum friedlichen Juniorpartner und Lieferanten von Qualitätsbier; die zweite, tiefer liegend, besagt das Gegenteil: Die kriegspropagandistische Erklärung zum Weltfeind bleibt nicht nur erhalten, sondern wird weiter ausgebaut. Was natürlich nicht bedeutet, daß das gegenwärtige Deutschland für Amerika das Weltböse ist. Wohl aber, daß dieses in der amerikanischen Mythologie seit 1945 unverkennbar deutsche – genauer nazideutsche – Züge trägt. Die Funktion einer solchen »Trophäe« ist die des symbolischen Sündenbocks und moralischen Blitzableiters. Sie bewahrt die amerikanische Reinheit und Unschuld davor, ernstlich in Frage gestellt zu werden.

Rache und Revanche

Einige Tage nach dem Abwurf der Atombombe verbreitete sich in einem der Hospitäler in Hiroshima das Gerücht, Japan habe seinerseits eine solche Bombe über einer amerikanischen Stadt gezündet. Ein Arzt notierte: »Von einem Moment auf den anderen wurde die Stimmung fröhlich und ausgelassen. Die am schwersten Verletzten freuten sich am meisten. Alle scherzten, und einige stimmten die Siegerhymne an.«51

Im gleichen Sommer plante in Polen eine Gruppe ehemaliger jüdischer Untergrundkämpfer unter der Führung eines gewissen Abba Kovner, die Trinkwasserversorgung mehrerer deutscher Großstädte so lange zu vergiften, bis sechs Millionen Deutsche – das Äquivalent der sechs Millionen ermordeten Juden – tot sein würden. Über den Sinn und Zweck einer ähnlichen, diesmal literarisch-fiktiven Vergeltungsmaßnahme schrieb zwanzig Jahre später der israelische Autor Hanoch Bartov: »Wir werden uns einer Stadt bemächtigen und sie niederbrennen, systematisch, eine Straße nach der anderen, Haus für Haus, und alle Deutschen umbringen. Weshalb sollen wir die einzigen sein, die sich an Auschwitz erinnern? Möge die Stadt, die wir zerstören, ihr Auschwitz werden.«52

Der Impuls der Rache, ähnlich elementar wie der des Hungerstillens und der Befriedigung des Sexualtriebs, läßt sich vielleicht am besten begreifen als Teil jenes größeren Verhaltenskomplexes des Tausches, den Marcel Mauss als »fait social total« definiert und in seinen Ambivalenzen beschrieben hat.53 Demnach sind die Gegenstände und Handlungen, die archaische Gesellschaften rituell miteinander austauschen, an sich »gut« gemeint. Da dem Ritual gemäß aber jede Gabe mit einer etwas größeren Gegengabe wettgemacht werden muß, ist die Folge eine nie endende Tauschspirale, ein Tauschwettbewerb, ein Kräftemessen im Medium des Tauschens, ein Tauschkampf. Wer am Ende mehr empfängt als gibt, stört wie derjenige, der einen Gruß nicht erwidert, das Gleichgewicht und wird entweder Feind oder, wenn er sich als der Schwächere bekennt, Verlierer und Sklave.54 Das Verb »sich revanchieren« im Sinne von »eine gute Tat erwidern«, etwa eine Einladung zum Abendessen, enthält noch heute, wie »vergelten«, diesen bedrohlichen doppelten Boden. Nietzsches Definition der Dankbarkeit als Form der Rache ist die bündigste Formulierung der Einsicht, daß auch die gute Tat oder das Geschenk einen Eingriff in die persönliche Autonomie des Adressaten darstellt, den dieser nicht unerwidert lassen kann.

Sind schon das Geschenk und die Wohltat dem Gesetz der erbarmungslosen Erwiderung unterworfen, so gilt dies um so offenkundiger für angetanes Unrecht, Leid, Gewalt. Die ›Ilias‹ mit ihrer Begleitmythologie ist eine einzige Kette von Racheakten. Hera und Athene sinnen auf Vergeltung für das Urteil des Paris; Menelaos ruft zum Rachefeldzug für den Raub Helenas auf; wegen der Mißachtung seines Priesters schlägt Apollon das griechische Heer mit der Pest; nach dem ihm von Agamemnon angetanen Unrecht stürzt Achill durch seine Kampfverweigerung das Heer in die Krise; und Hektor tötend rächt er Patroklos. Nicht viel anders die mittelalterliche Epik. Ganelon, dessen Verrat die Handlung des Rolandslieds in Gang setzt, will sich für eine vorangegangene geringfügige Herabsetzung an Roland rächen. Im Nibelungenlied, dem Epos weiblicher Vergeltung, rächt Brunhild sich für den Betrug Siegfrieds, und Krimhild an dessen Mörder Hagen. Shakespeare läßt Richard Gloucester gleich im ersten Auftritt erklären, daß er seinen blutigen Weg beschreitet, um Vergeltung für seine Mißgestalt zu erlangen, und Hamlet schließlich führt die Dekadenz der Rache vor, ihre Auflösung in der Reflexion und im – auch noch an die falsche Adresse gerichteten – Duell. Deutlicher als in der Figur des Mörders und Königs Claudius, der, anstatt Opfer der Rache zu werden, als unbeteiligter Zuschauer ihrem Duell-Ersatz beiwohnt, läßt sich der Weg der Rache unter den Bedingungen des modernen staatlichen Rechts- und Gewaltmonopols kaum darstellen. Und ist Hamlets Melancholie nicht die Neurose des Rächers, der seinem Trieb nicht mehr folgen darf?

Hand in Hand mit dem individuellen Racheverbot des neuzeitlichen Staates erfolgte seit dem 16.Jahrhundert eine einschneidende Formalisierung und Ritualisierung der Vergeltung. Einmal auf der Ebene der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Staaten. Hier wurden die Motive, die bis dahin ungeschrieben die Rache legitimiert hatten – Wiedergutmachung eines Unrechts, Bestrafung eines Gewaltakts–, festgeschrieben zur Begründung des »gerechten« Krieges.55 Zugleich wurde der Krieg rationalisiert, gehegt, geregelt und, im Sinn Johan Huizingas, »gespielt«. Der Kabinettskrieg des 18.Jahrhunderts war eine regelmäßig durchgeführte saisonale militärische Partie, fließend in seinen Übergängen zum Manöver und zum Turnier, ohne große Rücksicht auf Bauernopfer, aber von größtmöglicher Kultiviertheit auf der Offiziersebene. Hauptmechanismus dieser Kriegskultur war die Revanche, die etwas anderes ist als die Rache. Wie zwei Spieler, die aufeinander angewiesen sind, weil sie sonst nichts zu tun haben, gingen die kriegführenden Heere und Staaten miteinander um. Die unsichtbare Hand des von allen anerkannten Gleichgewichts der Kräfte sorgte dafür, daß niemand endgültig aus dem Feld geschlagen wurde und beim nächsten Waffengang alle wieder mit von der Partie sein würden.

Die Grundlage dieser Kriegskultur war merkwürdigerweise genau das, was der Staat als konkurrierende Privatgewalt verboten hatte: das Duell. Der Widerspruch löst sich, wenn man sieht, wie der persönliche Zweikampf, während er als archaisches Relikt fortdauerte, sich zugleich so formalisierte und ritualisierte, daß er zur Institution nicht der Perpetuierung des Rachemechanismus, sondern seiner Beendigung wurde. Das Ideal des modernen Duells war nunmehr statt der Vernichtung des Gegners die von Emotionen freie »sportliche« Auseinandersetzung. »Im Duell stehen sich Männer gegenüber, die frei von Haß und der Leidenschaft der Rache sind. […] Die Duellanten achten und respektieren einander, denn die Ehre des Gegners ist für sie die Voraussetzung der eigenen Ehre«56 (François Billacois).

Etwas von dieser kathartischen Wirkung war Zweikämpfen schon immer eigen, wie die unentschieden ausgehenden Begegnungen zwischen Hektor und Ajas, Diomedes und Glaukos in der ›Ilias‹ mit ihrem Austausch von Geschenken, Rüstungen und Freundschaftsbekundungen zeigen. Für die Kriegerkaste galt noch im 19.Jahrhundert der Satz des französischen Generals Gallifet: »Um uns zu versöhnen, müssen wir uns noch einmal schlagen, oder besser noch vereint gegen einen Dritten kämpfen.«57 Daß Episoden wie die von Victor Hugo geschilderte Begegnung der zwei Soldaten, die, nachdem sie einander verwundeten, miteinander fraternisierten (»Erst wollten sie einander umbringen, jetzt würde der eine sich für den anderen totschlagen lassen«58), auch noch in den totalen Kriegen des 20.Jahrhunderts vorkamen, deutet auf eine anthropologische Konstante hin.

Voraussetzung für das Gelingen eines derartigen »Ausgleichs« ist, daß er unmittelbar, Schlag auf Schlag, ohne hamletsche Verzögerung und Reflexion erfolgt, also etwa wie Clausewitz die Psychodynamik des Schartenauswetzens im Gefecht beschreibt: auf der Stelle das Verlorene wiedereinzubringen. Kommt es nicht zum sofortigen Gegenschlag, so erfolgt anstelle der Katharsis eine psychodynamische Stauung. Freud, der die gelungene (das heißt spontane) Rache als die kathartische Abreaktion einer traumatischen Einwirkung definiert, bezeichnet ihre gehemmte Form als hysterische Neurose.59 Max Scheler nennt die Reaktion, die, anstatt sofort zurückzuschlagen, auf eine spätere und günstigere Gelegenheit zur Erwiderung wartet, Ressentiment, und Karen Horneys Konzept der »vindictiveness« liegt auf derselben Linie.60 Alle diese Reaktionsweisen dienen der Schaffung einer imaginären – klinisch gesprochen: einer neurotisch-halluzinatorischen – Ersatzwelt, in die sich das traumatisierte, zum realen Gegenschlag nicht fähige (und zu der den Verlust akzeptierenden Trauerarbeit nicht willige) Ich zurückziehen und in der es sich austoben kann.

Was auf der individualpsychologischen Ebene die Neurose, das ist auf der kollektiven die Mythenbildung. Unsere drei Verlierermythen, »La Revanche«, »The Lost Cause« und »Im Felde unbesiegt«, leugnen alle, daß die Nation wirklich besiegt wurde, und verlegen – am explizitesten »La Revanche«, am sublimiertesten die »Lost Cause« – den Ausgleich in eine messianische Zukunft.61 Verstehen wir die aus der versagten Erfüllung des Rachewunsches entstehenden Mythen mit Freud als Phantasien, so führt uns dies einen Schritt weiter im Verständnis der psychischen Mechanismen der Niederlagenverarbeitung. Denn dann erscheinen die Mythen nicht nur als neurotische Gebilde, sondern zugleich als heilsame Schutzschilde und -räume, als »citadelles sentimentales« gegen eine ungeschützt nicht zu ertragende Realität. Ihre Funktion ließe sich mit der zur Heilung notwendigen Schorf- und Krustenbildung der Wunde, der alltagsentrückten Heilwelt des Sanatoriums, den – mit Freuds Analogie– Schonungen und Naturschutzparks in der durchrationalisierten Landschaft vergleichen.62

Nicht jeder verlorene Krieg löst den Revanche-Impuls aus. Voraussetzung dafür ist, im Duellkrieg einem Gegner unterlegen zu sein. Bei der Niederlage gegen eine Koalition von Mächten dagegen fehlt der für die Revanche notwendige Adressat; die Kompensation erfolgt in diesem Fall durch die Vorstellung »Viel Feind, viel Ehr«. »Die neue Ehre […] ist, daß wir zum Besiegten der ganzen Welt geworden sind und daher keinem Volk mehr Gewalt über uns zuerkennen können.«63 Dieser Satz Eugen Rosenstocks über die deutsche Psychologie nach 1918 könnte ebenso über Frankreich nach 1815 gesagt werden. Daß die Verlierer in beiden Fällen nicht die Revanche, sondern die Revision (der Kriegsresultate) zur Zentralforderung ihrer Politik und Propaganda erhoben, bestätigt den Unterschied zwischen der Niederlage im Duell- und der im Koalitionskrieg.64

Entfällt für den Verlierer eines Koalitionskriegs die Revanche als Ausgleich, so eröffnet sich ihm eine andere Möglichkeit der Kompensation. Sie besteht darin, daß er sich als der eigentliche Widerpart der stärksten Macht der Koalition definiert. Damit erreicht er zweierlei: die Verkleinerung der übrigen Siegermächte zu Rockschoßgewinnern und Mitessern am Tisch des Hauptsiegers sowie die eigene Aufwertung, in der Rangfolge der Mächte sofort nach dem Hauptsieger und jedenfalls vor allen anderen zu kommen. Frankreich betrachtete sich nach 1815 als größte Macht nach den Hauptsiegern Großbritannien und Rußland und sah seine kontinentale Hegemonie durch die »Nebensieger« Preußen und Österreich nicht ernstlich in Frage gestellt. Nach 1918 ging Deutschland in seinem Selbstverständnis noch einen Schritt weiter: Hatte es seine europäischen Gegner nicht bereits niedergerungen, bevor die außereuropäische Macht Amerika ihnen in letzter Minute zu Hilfe eilte?

Dasselbe gilt, umgekehrt, für die schwächeren Mitglieder der Siegerkoalition. Wird ihnen, wie Italien 1919 in Versailles, bei der Verteilung der Kriegsbeute nur ein Bruchteil des Erwarteten bewilligt, empfinden sie sich schnell als die Verlierer unter den Siegern. Ähnlich wurde 1815 in Wien Preußen seine »private« Revanche für Jena/​Auerstedt und Tilsit von England verwehrt, und Frankreich durfte sich 1918/​19 nicht seinen alten Revanchewunsch einer Invasion in Deutschland mit Friedensschluß in Berlin und Rheingrenze erfüllen.65

Protocol of Defeat: Von der Revanche zur bedingungslosen Kapitulation

Fassen wir zusammen. Die Revanche als die von beiden Kriegsparteien anerkannte, dem Verlierer zugestandene, ja eigentlich sogar geschuldete Chance zum Ausgleich ist eine Errungenschaft des gehegten und gepflegten Krieges der Neuzeit. Sie setzt, wie das Duell, die wechselseitige Anerkennung (»Satisfaktionsfähigkeit«) der Kriegführenden als gleichberechtigte Spieler und ein Verständnis des Krieges als der militärischen Austragung eines »Gentlemen’s Disagreement« voraus.

Im totalen Krieg des Zeitalters der Massendemokratie hat diese Art der Revanche keinen Platz mehr, stehen sich hier doch nicht mehr einander respektierende Kriegerkasten und Herrscherdynastien gegenüber, sondern nationalistisch entfesselte öffentliche Meinungen, die im Gegner die Inkarnation des Bösen und den Weltfeind sehen, mit dem es keine Gemeinsamkeit und keinen Kompromiß gibt, sondern der nur zu vernichten oder, wie es nun heißt, ein für allemal unschädlich zu machen ist. In dieser Unversöhnlichkeit ist der totale Krieg der Moderne den jede Revanche ausschließenden Religionskriegen des 16. und 17.Jahrhunderts und den Vernichtungsfeldzügen der Antike vom Typus des 3.Punischen Krieges näher als seinem unmittelbaren Vorgänger, dem noch weitgehend nach den Regeln des klassischen Kabinettskriegs operierenden Nationalkrieg des 19.Jahrhunderts.66

Die völkerrechtliche Form der totalen Unterwerfung des Verlierers unter den Willen des Siegers ist die bedingungslose Kapitulation. Sie läßt sich im Unterschied zur klassischen Kapitulation – der zwischen Militärkommandanten vertraglich ausgehandelten ehrenhaften Niederlegung der Waffen – nur beschränkt als völkerrechtliches Instrument bezeichnen, da sie den Verlierer als völkerrechtliches Subjekt liquidiert, ein innerer Widerspruch, der vielleicht mit ihrem Ursprung im amerikanischen Bürgerkrieg zu erklären ist. Denn die bedingungslose Kapitulation General Lees im April 1865 betraf nicht nur seine Armee, sondern mit ihr das gesamte Staatswesen der Konföderation. Von hier bis zu den bedingungslosen Kapitulationen Deutschlands und Japans am Ende des nicht ohne Grund immer häufiger als »Weltbürgerkrieg« bezeichneten Zweiten Weltkriegs war es noch ein weiter Weg;67 in dieser Hinsicht bahnbrechend war der amerikanische Bürgerkrieg aber vor allem als der erste massendemokratisch und massenmedial geführte Totalkrieg. In seiner Interaktion von militärischer Strategie und politisch-publizistischer Agitation stellte er sich »almost as an expanded political platform« dar. Eric L.McKitrick, von dem diese Formulierung stammt,68 hat daraus einige bemerkenswerte Schlüsse über die Triumph- und Unterwerfungspsychologie in Massendemokratien und die damit verbundenen Rituale abgeleitet. »Für den Sieger ist es wichtig, daß er den Triumph in seiner ganzen moralischen und symbolischen Totalität auskosten kann. Er muß das Gefühl haben, daß die Opfer nicht umsonst waren; daß er sein Kriegsziel erreicht hat; und daß seine gerechte Sache durch den Sieg voll bestätigt wird […]. Das erfordert bestimmte Rituale. Es genügt nicht, daß der Gegner einfach kapituliert. Gefordert wird die symbolträchtige Unterwerfung, die Aufführung des Unterliegens als ›Drama‹.« Erfüllt er, wie der Süden nach 1865, dies »protocol of defeat« nicht, entsteht beim Sieger der Eindruck, nachträglich betrogen worden zu sein, und es kommt zu einer Reaktion in Form von Straf- und Erziehungsmaßnahmen, die ihrerseits zu Gegenreaktionen auf der Verliererseite, einer wechselseitig sich steigernden Verhärtung, einer Art kaltem Krieg führen.69 Wenn McKitrick die ressentimentfreien bedingungslosen Kapitulationen Deutschlands und Japans 1945 damit erklärt, daß hier das »protocol of defeat« zufriedenstellend erfüllt worden sei, verkennt er allerdings die Ursachen. Denn nicht weil sie sich bedingungslos ergaben, zeigten diese beiden Militärkulturen dem Sieger gegenüber kein Ressentiment, sondern weil sie, physisch und moralisch annähernd in die Steinzeit zurückgebombt, für andere Reaktionen einfach zu erschöpft waren.

Es gibt verschiedene Grade des Unterliegens und des Am-Ende-Seins. Solange sie über ein intaktes nationales Selbstbewußtsein verfügen, sind Verlierernationen nicht bereit, der Forderung nach moralisch-spiritueller Kapitulation (Reue, Bekehrung, Re-Education) zu entsprechen. Das ändert sich erst, wenn neben der physischen auch die spirituell-moralische Grundlage des Landes zerstört ist. Soweit waren die Verlierer von 1865, 1871 und 1918 noch nicht.

Erneuerung

Wenn nach dem ersten Schrecken die Niederlage nicht mehr als nationale Katastrophe, sondern als Befreiung und Erlösung gedeutet wird, zeigt sich ihre zukunftsträchtige, fast möchte man sagen, ihre missionarische Seite. Wie der Neubekehrte seinen früheren Stand der Sünde, so schildert im Traumland-Stadium der Verlierer die Welt, von der ihn die Niederlage befreite. In Frankreich sprach man nach Sedan von der »atonie complète«, den »vingt ans de torpeur«, der »plaie du luxe asiatique où l’Empire nous avait plongés« und davon, daß es der Kruppschen Kanonen bedurfte, die Nation aus diesem Zustand der Dekadenz und chinesischen Stasis zu erwecken.70 Für die Vorkriegssituation des amerikanischen Südens verwendete William Gilmore Simms die Metapher des Schaums und Abschaums (scum), den wegzufegen Krieg und Niederlage notwendig waren.71 Im Deutschland der Traumland-Periode wurde der Zusammenbruch als eine Art erneuertes August-Erlebnis begrüßt.

Das wichtigste Erbteil der Niederlage aus der Hinterlassenschaft des Krieges ist die alte Vorstellung von dessen reinigender und erneuernder Kraft. Zwar hält die Traumland-Euphorie als Massenstimmung nicht länger an als ihr Vorgänger, das Hochgefühl der »union sacrée« bei Kriegsausbruch. Doch verschwindet sie nicht spurlos in der anschließenden Desillusionierung, sondern wird Teil der nun beginnenden längerfristigen Sinngebung. Neben der stets offenkundigen Anlehnung an die Leidensgeschichte Christi stellt der Brückenschlag in die Geschichte dabei eine wichtige Stütze dar. Die frische Niederlage in Beziehung zu den »Klassikern« des Verlierens zu setzen eröffnet eine doppelte Perspektive von Sinn und Trost. Einmal die Ehre, in eine tragischheroische Ahnenreihe einzutreten. Und zum anderen die Lektion, daß Niederlagen auch ihre Vorteile haben. Denn natürlich werden nur solche historischen Zusammenbrüche beschworen, die Wendepunkte zu erneutem Aufschwung darstellten. Jena und Auerstedt als Untergang des alten und Geburtsstunde des reformierten neuen Preußen wurden im 19.Jahrhundert sowohl für die deutsche wie die französische Geschichtsphilosophie ein wichtiger Markstein der Niederlagensinngebung. Nach 1871 erklärte die Dritte Republik Sedan zum Jena/​Auerstedt des Second Empire und begründete ihre Reformen mit dem Hinweis auf Wilhelm von Humboldt, Friedrich von Stein, den General Scharnhorst und den Turnvater Jahn. In Deutschland wurde der November 1918 mit dem Oktober 1806 verglichen und auf eine Wiederholung der Sequenz von Reform und Freiheitskrieg gehofft. In delikater Balance wechselte im deutsch-französischen Duett zwischen 1806 und 1918 die Stimmführung. Einmal gab der eigene Zyklus von Untergang, Bewährung und Neubeginn den Ton an, ein andermal der des Gegners. Seine Vollendung fand der dialektische Wechselgesang in der Vorstellung, der jeweils jüngste Sieg des Gegners sei das Resultat seiner vorangegangenen Niederlage, der nunmehrige Verlierer mithin der eigentliche Vater des Sieges des Gegners, wie dieser in der nächsten Runde den erneuten eigenen Sieg begründen werde, und so fort.

Wenn aber Niederlagen als Krisis der Krankheit »Dekadenz« verstanden werden, aus welcher die Nation geheilt und gestärkt hervorgeht, bleibt die Frage nach den bei diesem Reinigungsprozeß ausgeschiedenen Schadstoffen. Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Ziele und Programme, für die Nationen in den Krieg zogen, nach der Niederlage aufgegeben und vergessen werden. So regte sich nach 1865 im amerikanischen Süden kein ernsthafter, nicht einmal verbaler Widerstand gegen die Abschaffung der Sklaverei, in Frankreich sprach nach 1871 niemand mehr von der Rheingrenze und der kontinentalen Hegemonie, und in Deutschland wurde 1918 mit ähnlich stiller Selbstverständlichkeit von allen Weltmachtplänen Abstand genommen und der Flottenbau als unglückselige Marotte des Kaisers abgetan.

Daß die Niederlage, so beharrlich sie auf einer Ebene des Bewußtseins geleugnet wird, auf einer anderen eine derart überraschende Fügsamkeit gebärt, erklärt sich eben damit, daß sie im selben Moment, da sie vor einer kollektiv erträumten Zukunft den Vorhang zuzieht, den Prospekt auf eine glorreiche nationale Vergangenheit eröffnet. Den zu Krieg und Niederlage führenden Weg als Irrweg ausweisend, erklärt sie die vor der verhängnisvollen Abzweigung liegende Wegstrecke als dem Geiste, der Bestimmung und der Wahrheit der Nation gemäßer. Das Amerika Thomas Jeffersons, das Frankreich von 1789, das Deutschland der Befreiungskriege, der Reichsgründung und der Revolution von 1848 – diese Vergangenheiten wurden für die Generationen von 1865, 1871 und 1918Wegweiser in eine heile Welt der Zukunft.72

Das galt nicht nur für die innere Erneuerung, sondern auch für das Verständnis der künftigen Rolle der Nation in der Völkergemeinschaft, aus der der Irrweg ja herausgeführt hatte. Von der Vorstellung der Niederlage als Akt der Reinigung, der Vergeistigung, der Demütigung und des Opfers im Sinne der Kreuzigung Christi hin zum Anspruch auf geistig-moralische Führung ist es nur ein kurzer Weg, und unsere drei Verlierernationen beschritten ihn, indem sie die citadelles sentimentales ihrer Sinngebung zu Bollwerken der Menschheit erweiterten. Die eigene Niederlage als Spruch des Weltgerichts zu akzeptieren war eines, die Bedrohung der Menschheit durch künftiges Unheil etwas anderes. Und wer, so fragten die Verlierer, war besser geeignet zur moralischen Aufrüstung gegen diese drohenden Gefahren als derjenige, der ihnen schon einmal ins Auge geschaut hatte?

Was der amerikanische Süden nach 1865 der Welt offerierte, war neben dem widerspruchslosen Verzicht auf die Sklaverei die Mahnung, es niemals zur politischen Gleichberechtigung der Schwarzen kommen zu lassen. »Als er [der Süden; W.S.] den Kampf zur Verteidigung der Sklaverei führte, stand die ganze Welt gegen ihn. Jetzt hingegen, da er für die Vorherrschaft des weißen Mannes kämpft, ist aus seiner verlorenen eine größere Sache geworden. In diesem Kampf ist der Süden nicht mehr allein. Auf seiner Seite stehen der Norden und die ganze zivilisierte Menschheit.«73

Frankreich schwor nach 1871 seiner imperialen Vergangenheit ab und empfahl sich als Bastion der Humanität und der Zivilisation gegen die die gesamte zivilisierte Welt bedrohende »barbarie scientifique« Deutschlands.