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Wolfgang Schivelbusch blickt auf die Zeiten seines Lebens zurück und formt daraus zugleich eine kulturgeschichtliche Biographie der Bundesrepublik. Ein Leben, das durchweg in Beziehung zu den USA gestanden hat: die GIs im Frankfurter Freibad, denen er als Kind bewundernd gegenüberstand, die Studentenrevolte und sein Aufbruch in das gritty New York von 1970 und das intellektuelle Leben dort, der Blick aus seiner Wohnung auf das World Trade Center bis zur Rückkehr nach Deutschland. Schivelbusch bringt in diesem Buch die Themen zusammen, die ihn sein Leben lang beschäftigt haben: die Beziehung von Geist und Macht, die Kultur der Niederlage, Physiologie und Konsumtion. Als melancholisch-distanzierter Zeitzeuge beschreibt er den Weg aus der Eindeutigkeit der Nachkriegszeit zum existenziellen Unbehagen der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks. Das Buch ist Autobiographie und Zeitdiagnostik in einem.
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2021
Wolfgang Schivelbusch
Leben und Forschen zwischen New York und Berlin
Wolfgang Schivelbusch blickt auf die Zeiten seines Lebens zurück und formt daraus zugleich eine kulturgeschichtliche Biographie der Bundesrepublik. Ein Leben, das durchweg in Beziehung zu den USA gestanden hat: von den GIs im Frankfurter Freibad, denen er als Kind bewundernd gegenüberstand, über die Studentenrevolte und seinen Aufbruch in das gritty New York von 1970, den Runden mit Richard Sennett und Susan Sontag zu dem Blick aus seiner Wohnung auf das World Trade Center und die Rückkehr nach Deutschland.
Schivelbusch bringt in diesem Buch die Themen zusammen, die ihn sein Leben lang beschäftigt haben: die Beziehung von Geist und Macht, die Kultur der Niederlage, Physiologie und Konsumtion. Er beschreibt als melancholisch-distanzierter Zeitzeuge den Weg aus der Eindeutigkeit der Nachkriegszeit zum existenziellen Unbehagen der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks. Das Buch ist Autobiographie und Zeitdiagnostik in einem.
«Ein Meister kulturgeschichtlicher Forschung.»
Die Zeit
Wolfgang Schivelbusch, geboren 1941 in Berlin, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main und Berlin. Er lebt nach vielen Jahren in New York wieder in Berlin. 1977 erschien «Geschichte der Eisenbahnreise», 1980 «Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genussmittel», 2001 «Die Kultur der Niederlage», 2005 «Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939». 2003 wurde er von der Akademie der Künste zu Berlin mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet, 2013 erhielt er den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Coverabbildung privat
ISBN 978-3-644-00244-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Widmung
Vorwort
Frankfurt 1948–1964
Berlin 1964–1973
Erste Amerikareise 1970
Kulturschock New York
Revolution, Technik und Demokratie in Amerika
Exkurs: Amerikanische Bibliotheken
Die amerikanische Eisenbahn
Exkurs: Ungeschriebene Bücher und unakademische Projekte
Frankfurter Intellektuelle
Versailler Vertrag Artikel 247
Kalter Krater Berlin
Ressentiment der Verlierer
New York: Die persönliche Topographie
Vergleichen
Pendeln zwischen New York und Berlin
Leben der Dinge
Zurück 2014
Werksverzeichnis
Register
Für Helma von Kieseritzky
Anlass zu diesem Buch war der Vorschlag, den Alexander Fest mir nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten im November 2016 machte: ein Buch über meine persönliche Wahrnehmung des Landes zu schreiben, von dem niemand eine derartige Überraschung erwartet hatte.
Der Titel zu diesem Buch stand, bevor es geschrieben war. Das ist außergewöhnlich. Normalerweise folgt die Taufe auf die Entbindung. Aus zwei Gründen hielt ich den Titel für geeignet. Erstens: Amerika, der eine Schauplatz, ist die Europa gegenüberliegende andere Seite des Atlantik. Historisch und kulturell ist Amerika eine Art Gegen- oder anderes Europa.
Zweitens: Mein Verhältnis zur akademischen Wissenschaft. Da ich nie eine Position im akademischen Bereich innehatte, musste ich mir meine eigene Seite schaffen. Die wurde naturgemäß eine andere als die reguläre. Wie meine Bücher entstanden und welche Rolle dabei der amerikanische Teil meiner Biographie spielte, davon handelt dieses Buch.
Eine Anspielung oder Bezugnahme auf den Roman «Die andere Seite» von Alfred Kubin (1908) liegt nicht vor.
Der Vorschlag Alexander Fests traf mich im Zustand einer bereits längere Zeit anhaltenden Schreibblockade. Um diesen Zustand zu überwinden, einigten wir uns auf das Format eines Gesprächsbuchs. Es wurde eine holprige Partie mit drei aufeinander folgenden Gesprächspartnern: Nika Wiedinger, Till Greite, Stephan Speicher. Der Letztgenannte redigierte zusätzlich mit liebenswürdiger Beharrlichkeit den gesamten Text. Schließlich danke ich Karl-Gert Kribben, dem spät wiederentdeckten Freund aus früher Sandkastenzeit, für seine treffsichere Hilfe bei der Herstellung des letzten Schliffs.
Mein letzter Dank gilt Sigrid Weigel und Eva Geulen, die mir nach der Rückkehr aus New York eine neue Heimstatt als Senior Fellow am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin boten, wo auch diese Gespräche geführt wurden.
Die hier gedruckten Texte sind kein wortgetreues Protokoll. Sie wurden von mir gründlich überarbeitet. Weshalb man sie auch als Selbstgespräch eines Schreibblockierten lesen kann.
Beginnen wir mit Ihrer Jugend in Frankfurt am Main. Sie wurden 1941 in Berlin geboren. Am Ende des Krieges flüchtete die Familie vor den Russen nach Westen, zuerst aufs Land bei Bremen. Dann, im Jahre 1948, zogen Sie nach Frankfurt um. Frankfurt lag in der amerikanischen Besatzungszone. Wie erlebten Sie die Amerikaner?
In strikter Segregation. Die in den Kasernen untergebrachten Soldaten sah man überhaupt nicht, außer wenn sie im Stadtwald Übungen abhielten und man auf dem Weg ins Schwimmbad unversehens auf eine Stellung stieß. In der Stadt hatten sie sich die unzerstörten besseren Wohngegenden ausgesucht. Die bekam man aber nicht zu Gesicht, weil sie mit einem hohen Zaun abgegrenzt waren. Das waren Luxus-Gettos wie heute die Gated Communities. Ich stelle mir das Wohnen in den klassischen Kolonien ähnlich vor. Während des Vietnamkriegs muss es so ungefähr in Saigon gewesen sein. Nur stand dort alles im Zeichen des Endes. Eine Illusionsruhe und ein Illusionsgenuss, die die spätkoloniale Macht Amerika noch auskostete, während sich bereits aus dem Dschungel die nordvietnamesischen Truppen näherten. 1945 in den deutschen Städten war es andersherum. Ein ausgesprochen zukunftsträchtiger und von den Eroberten herbeigesehnter Kolonialismus. Dieser Kontrast hat mich immer fasziniert. Und er tut es jetzt im Zeitalter der gegenwärtigen Völkerwanderung aufs Neue und in gesteigertem Maße.
Bei aller Segregation wird es aber doch zu Begegnungen gekommen sein. Erlebten Sie nicht, dass die GIs an die deutschen Kinder Kaugummi verteilten, wie es immer in den Erzählungen aus jener Zeit heißt? Oder dass die Kinder um Kaugummi und Süßigkeiten bettelten? Bettelten Sie um Kaugummi?
Bei den Soldaten im Stadtwald wird das vorgekommen sein. Wichtiger ist mir aber, was im Schwimmbad geschah. Die Schwimmbäder waren in den ersten Jahren ebenfalls voll segregiert. Dann wurden die Deutschen zugelassen. Da gab es genug Gelegenheit zur Beobachtung. Weniger Kontakt als Beobachtung. Die deutschen Jungen und die ein paar Jahre älteren GIs blieben in ihren Gruppen unter sich. Allerdings mit sehr verschiedener Aufmerksamkeit. Die GIs übten auf uns eine geradezu magnetische Anziehung aus. Die hatten eine Entspanntheit im Leibe, die uns anzog. Es war aber wohl eher die Aura der Macht der Sieger, die sie ausstrahlten, obwohl diese Begriffe für uns sicher nicht existierten. Eine Ausstrahlung wie von Reichtum, die ich deshalb später in meinem Privatvokabular als «finanzielle Schönheit» bezeichnete. Die GIs waren etwas ganz anderes als die deutschen Männer, die hier allerdings kaum in Erscheinung traten. Schon die Badehosen: Die deutschen Männer trugen diese schwerfälligen wollenen Dinger aus der Vorkriegszeit, die für mich damals schon das Inbild der Spießigkeit waren. Die GIs in ihren Boxershorts wirkten leicht und luftig. Und sie bewegten sich auch so. Sportlich. Entspannt. Spielerisch. Die idealen älteren Brüder, an die man Anschluss suchte. Die Jüngeren unter uns machten das noch in aller Unschuld und Naivität als Schwarm, der sich an die Fersen eines GI heftete. Die etwas Älteren hielten sich zurück und beschränkten sich aufs Beobachten. Für mich war es die erste Begegnung mit einer Leichtigkeit des Lebens, wie ich sie bis dahin nicht erlebt hatte.
Aber noch mal zurück zu den Badehosen und dem Kontrast der schwerwollenen deutschen Hosen und der amerikanischen Schwimmshorts. Ich war in dieser Beziehung vorbelastet. Denn mein Vater hatte von einer Geschäftsreise nach Amerika selber solche Schwimmshorts mitgebracht. Wenn mein Vater in seinen Shorts ins Wasser ging, war er für mich ein Stück Amerika.
Ein weiteres Textil-Detail, das ich von ihm übernahm und mein Leben lang behielt, war das amerikanische Oberhemd. Es hatte auf der linken Brust eine aufgenähte Tasche. Die war äußerst praktisch, weil man Zettel und Geldscheine darin stets parat hatte. In einem deutschen Oberhemd ohne diese Tasche fühle ich mich nackt. Dass er diese amerikanischen Eigenheiten durch seine Biographie angenommen hatte, wurde mir erst später und sehr allmählich bewusst.
Nämlich?
Mit einem Freund fuhr er in den 20er Jahren los. Ob er auswandern oder nur ein paar Jahre aus Deutschland weg wollte, weiß ich nicht. Ich habe ihn merkwürdigerweise nie danach gefragt.
Jahrelang hing in seinem Büro in Frankfurt ein gerahmtes altes Foto. Es zeigte ihn und einen ebenfalls jungen Mann, offenbar sein Freund und Gefährte, auf dem Deck eines Dampfers. Beide in der üblichen Weise posierend mit dem Arm auf den Schultern des anderen. Der Freund blieb dann in den USA und gründete dort eine Familie. Im Prinzip aber war mein Vater allein unterwegs, jedenfalls nicht in einer Gruppe und ohne ein Entrée in irgendeine Berufslaufbahn. Das kam später, nach seiner Rückkehr nach Deutschland, als man ihm eine gute berufliche Perspektive anbot. Also ein ganz eigener Weg. Tellerwäscher in Amerika, Karriere in Europa.
Eine Schlüsselsituation für mich war, dass mein Vater, nachdem er bereits Jahre in New York gelebt hatte, sich entschloss, nach Südamerika weiterzureisen. Also nicht einfach in die USA und wieder zurück nach Deutschland. Sondern die USA als Ausgangspunkt für die nächste Etappe.
Das machte ich als Jugendlicher nach, wenn ich im Rahmen meiner obligaten Städtereisen in Europa Extrareisen in die Provinz unternahm. Wenn ich in der Gare Montparnasse in Paris oder der Stazione Termini in Rom den Zug in die Bretagne oder nach Sizilien bestieg, kam ich mir wie ein in die Provinz reisender Pariser oder Römer vor. Das war etwas ganz anderes, als von Deutschland aus direkt dorthin zu fahren. Eine Art Selbst-Enttouristifizierung oder Going-Native, wie die Ethnologen sagen. Ich stellte mir dabei jedes Mal vor, wie mein Vater aus dem Hafen von New York mit dem Schiff in Richtung Süden aufbrach. Die amerikanische Ostküste runter, durch den Golf von Mexiko, den Panamakanal und auf der Pazifikseite weiter nach Chile. Das wurde sein Lieblingsland.
Sie haben diese Reise auch gemacht?
Nein. Das einzige Mal, dass ich in Amerika bewusst einen Ort aufsuchte, an dem mein Vater gewesen war, war das Hotel in Chicago, in dem er einmal gewohnt hatte. Das war aber nicht in der Zeit seines ersten Amerika-Aufenthalts in den 20er Jahren, sondern auf der schon erwähnten Geschäftsreise 1950. Also zu einer Zeit, die ich als Achtjähriger selber erlebte und klar in Erinnerung habe. Wenn der Vater eines deutschen Jungen im Jahre 1950 aus dem damaligen Ruinen-Deutschland nach Amerika flog – natürlich mit Zwischenstopp in Irland –, war das etwas Außergewöhnliches. Ich merkte mir damals und erinnere mich noch heute genau an den Namen des Hotels in Chicago, in dem er einige Tage oder Wochen lang wohnte: Hotel Bismarck. Es war ein gespenstisches Gefühl, sich durch dieses Hotel zu bewegen und dann auch noch in einem Zimmer zu übernachten, das möglicherweise vor 35 Jahren das Zimmer meines Vaters gewesen war.
Der Aufenthalt in Chile muss so etwas wie die schönste Zeit seines Lebens gewesen sein. Er erzählte mir von der Schiffsreise durch den Panamakanal, in der untersten Klasse, dem sogenannten Zwischendeck. Er warf sich dann manchmal abends in Schale und schaffte es irgendwie in den Salon der ersten Klasse. Dort kam er mit einem gebildeten Südamerikaner ins Gespräch. Wie das angesichts der Trennung der Klassen möglich war, habe ich nie gefragt. Als sein Gesprächspartner eines Tages in einem südamerikanischen Hafen das Schiff verließ, wurde er von einer Musikkapelle und einer Menschenmenge begrüßt wie ein von seiner Auslandsreise zurückkehrender Präsident. Ich habe den Verdacht, dass diese Episode Phantasie war. Aber ob die meines Vaters oder meine eigene, kann ich nicht sagen. Jedenfalls aber fand ich diese Verbindung in die höheren Kreise respektabel, ja vorbildhaft.
Und deshalb gefällt mir von allen Thomas-Mann-Romanen wahrscheinlich auch «Felix Krull» am besten. Wenn ich meinen Vater literarisch beschreiben sollte, würde ich ihn zwischen Felix Krull und Brechts Herrn Keuner plazieren. Keine Heroik, aber auch kein autoritäres oder gar repressives Gehabe. Gelegentliche Ausbrüche von Jähzorn, aber prinzipiell tolerant und liberal wie in deutschen Familien der 50er Jahre nicht üblich. Das führte bei mir dazu, dass ich ihn, wenn ich ihn mit autoritären Vätern verglich, von denen die Schulkameraden erzählten, für eher schwach hielt. Ich brauchte ziemlich lange, bis ich mich von dieser jugendlichen Fehleinschätzung der Liberalität löste. Offenbar bedeutete Liberalität für mich damals das Fehlen von Widerstand. Widerstand aber ist etwas, an dem man sich abarbeitet. Ohne Widerstand keine Energie.
Neben Felix Krull also der Brecht’sche Herr Keuner als Charakterzug Ihres Vaters. Wie zeigte sich das?
Wenn ich Keuner sage, meine ich immer das Verhältnis zur Gewalt. Also die Geschichte, wie ein Agent der Gewalt in Herrn Keuners Haus kommt, ihn fragt: «Wirst du mir dienen?», dieser dem Agenten widerspruchslos bis zu seinem Tod dient, dann den Kadaver aus dem Haus schleift und antwortet: «Nein.»
Sie meinen, er hat sich nicht nach der Heldenrolle gedrängt, sondern sich lieber bedeckt gehalten?
Das war auch etwas, was er seinen beiden Söhnen immer gesagt hat. Sie sollten nicht versuchen, sich zu Helden zu machen, sondern so klug sein, sich im Hintergrund zu halten. Entsprechend habe ich zum Beispiel, als ich beim Fall der Berliner Mauer zur Bornholmer Straße fuhr und dort sah, wie die Menschen vom Westen nach Ost-Berlin strömten, mich bewusst zurückgehalten. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die auf Nimmerwiedersehen im Osten verschwunden wären wie die Kinder in der Sage vom Rattenfänger von Hameln. So weit mein Unbewusstes am 9. November 1989. Zurückhaltung und Vorsicht, diese Grundregeln habe ich von meinem Vater. Inbegriffen die Abneigung, sich Vereinen und Organisationen anzuschließen. Die allerdings hat nichts mit der Vorsicht im Sinn der Gefahrenvermeidung zu tun. Eher mit der Sorge, die persönliche Unabhängigkeit aufzugeben. Mitglied einer politischen Partei zu werden war undenkbar. Aus diesem Grund trat ich Ende der 60er Jahre auch nicht in den SDS ein, obwohl die meisten meiner Freunde eben das taten und meine politischen Sympathien ganz auf dieser Linie lagen. Bei den vom SDS organisierten Sit-Ins, Teach-Ins und Demonstrationen mitzumachen, war dagegen selbstverständlich: teilnehmende Beobachtung.
Wann und warum kehrte Ihr Vater wieder zurück nach Deutschland?
Er kam zurück, weil ihm – das muss um 1930 gewesen sein – eine vielversprechende Stellung in einer Bremer Übersee-Spedition angeboten wurde. Zu deren Chef hatte er ein sehr gutes, fast freundschaftliches Verhältnis. Das war ein Job, der ihm erlaubte, bei fester Bezahlung völlig unabhängig zu sein. Zuerst in Berlin und nach dem Krieg in Frankfurt. Von da aus hat er dann Süddeutschland bereist, um Kundenkontakte zu pflegen und Aufträge zu akquirieren. Auch da gab es übrigens wieder etwas, was mich irritiert hat. In der Hierarchie der Firma nahm er als Außenvertreter nicht die Stellung ein, die er als Prokurist in der Zentrale gehabt hätte. Ich verstand nicht, dass die persönliche Unabhängigkeit ihm wichtiger war als die Höhe des Gehalts und die Position in der Firmenhierarchie. Ihm aber war wichtig, sein eigener Herr zu sein und im Sommer mitten in der Bürozeit ins Auto steigen und zum Schwimmen fahren zu können. Aber der persönliche Kontakt zum Chef hat mir dann doch Eindruck gemacht. Später erkannte ich etwas davon wieder in der Formel Carl Schmitts vom «Vertrauten des Machthabers». Der Chef kam ein- oder zweimal im Jahr im Mercedes mit Chauffeur nach Frankfurt, und dann machten die beiden ihre Geschäftsreise. Ich hatte mitbekommen, dass die beiden am Telefon sich sehr informell unterhielten. Mein Vater benutzte für den etwas umständlichen Namen des Generalkonsuls, eines königlich dänischen Generalkonsuls, ein einsilbiges Kürzel (Herr ’tau, für Nebelthau), wie umgekehrt auch der Chef ihn als Herr ’busch ansprach. Eines Tages, als ich das Telefon abnahm und der Chef am Apparat war, sprach ich ihn mit diesem Kürzel an. Eisiges Schweigen. Er bat dann meinen Vater, mir zu sagen, dass er diese Vertraulichkeit von einem Zehnjährigen nicht wünsche.
Dieses Modell also, um alle hierarchischen Ordnungen herum den direkten Draht zum Chef zu haben, hat mich geprägt. Wobei «Chef» für mich der Machthaber im Schmitt’schen Sinne ist. Von daher kommt das völlige Desinteresse, meinerseits Teil einer Hierarchie zu werden, stattdessen der Wunsch, von außen zu beobachten. Ich würde das als machtlose Souveränität bezeichnen.
Welche Eigenschaften haben Sie von Ihrer Mutter geerbt?
Den Blick für die von anderen übersehenen Kleinigkeiten. Zum Beispiel die Kleinigkeit, einen verletzten Vogel nicht einfach seiner Qual zu überlassen, sondern ihn mit einem Stein zu erlösen. Das war ein Akt scheinbarer Brutalität. Umgekehrt die Rettung von aus dem Nest gefallenen Spatzen. Die brachte ich nach Hause, baute ihnen ein Nest, und meine Mutter und ich pflegten sie einträchtig bis zu ihrem dann aber bald eintretenden Tod. Jedes Mal, wenn sie einen verletzten Vogel tötete, musste sie sich dazu überwinden. Das habe ich frühzeitig als Selbstopferung erkannt und das untätige Vorbeigehen der anderen als Feigheit.
Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Schule beschreiben? Und welche außerschulischen Interessen hatten Sie? Gab es die für dieses Alter charakteristische Sammlerleidenschaft?
Zuvor noch einmal zum Problem des Vogel-Tötens und Vogel-Rettens: Beides war mir gleich wichtig. Jahrelang lag ich meinem Vater in den Ohren mit dem Wunsch nach einem Luftgewehr. Er wurde nie erfüllt. Was man mit einem Luftgewehr machen konnte, lernte ich bei meinem Freund Richard, dem Sohn eines Gärtners aus der Nachbarschaft. Er hatte ein Luftgewehr, und das weckte in uns die Jagdlust. Ziel und Opfer waren die im höheren Geäst der Bäume sitzenden Vögel, meistens Amseln. Trafen wir mal eine, und fiel sie von Ast zu Ast torkelnd zu Boden, war die Jagdlust weg, und es blieb mir ein Gefühl der Leere und ein Bewusstsein der Schuld. So endete meine Sehnsucht nach einem Luftgewehr. Ich sah es als ein Instrument, außerhalb meiner Reichweite liegende Dinge wie die hoch oben im Baum sitzende Amsel in meinen Griff zu bekommen. Dass das nur um den Preis des Tötens ging, war die Lektion, die das Luftgewehr mich lehrte.
Das war in der Zeit, in der meine Familie am Stadtrand von Frankfurt-Sachsenhausen auf dem Sachsenhäuser Berg wohnte, also halb auf dem Lande. Wenige Jahre später nach unserem Umzug in die Innenstadt begann ich Münzen zu sammeln. Da kamen zwei Linien zusammen. Mein Interesse an der römischen Geschichte und die Münzen als die direkten und konkreten Sendboten aus dieser Vergangenheit. Unmöglich zu sagen, was mich auf die Spur des jeweils anderen brachte.
Es gab in Frankfurt zwei Münzenhandlungen. Die eine, Dr. Busso Peus, war seriös, fast wissenschaftlich. Hier wurde streng nach Katalog verkauft. Ich wagte mich nur einmal dorthin. Die andere gehörte der Witwe des verstorbenen Inhabers und war weniger seriös. Hier hatte ich ein gutes Entrée, weil man herausfand, dass mein Urgroßvater Hermann Dannenberg war, ein bekannter Numismatiker. Meine Erwerbungen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Kiste mit der ungeordneten Billigware. Hier konnte Entdeckerlust sich austoben. Die Witwe hatte einen Angestellten. Als ich einmal mit meiner Mutter anrückte, wunderte ich mich über sein Interesse an ihrer Person, nahm es aber als Zeichen der Wertschätzung wie für meinen berühmten Urgroßvater.
Von heute gesehen – worum ging es Ihnen damals beim Münzensammeln? Das Übliche in Ihrem Alter wären doch Briefmarken gewesen.
Kolonialbriefmarken mit ihren exotischen Motiven hatten einen gewissen Reiz. Aber sie waren Papier. Und sie waren jedermanns Sache. Münzen waren etwas Besonderes, für das sich in meiner Altersgruppe keiner interessierte. Und sie führten in weiter zurückliegende Vergangenheiten. Sie waren Körper aus diesen Vergangenheiten. Besonders der antiken, die mir damals besonders am Herzen lag. Sie waren ein unmittelbarer Einstieg und wohl auch eine Vorstufe und Wegweiser für mein späteres Verhältnis zur Geschichte. Ein römischer Denar mit einem Cäsar-Porträt war Zeitgenosse Julius Cäsars. Eine Reliquie aus der damaligen Welt, die ihren Weg durch die dazwischenliegenden Jahrhunderte und Jahrtausende in meine Hände gefunden hatte.
Die Schule setzt andere Prioritäten und interessiert sich gewöhnlich nicht für solche privaten Vorlieben. Was waren Ihre Erfahrungen?
Mathematik und Naturwissenschaften schwach. Dazu noch in Mathematik und Chemie ein sadistischer Lehrer, von dem gemunkelt wurde, dass er einen Schülerselbstmord auf dem Gewissen habe. Der hatte mich persönlich zwar nicht auf seinem Radarschirm, ich ihn aber sehr wohl auf meinem Angstradar. Einmal kam ich auch nahe an den Punkt, wegen ebendieser Fächer nicht versetzt zu werden. Meine Eltern schlugen mir schon vor, eine Tischlerlehre ins Auge zu fassen.
Das Gegenstück war der Latein- und Geschichtslehrer. Da ich in diesen Fächern ziemlich gut war, standen wir in einem Verhältnis gegenseitiger Herausforderung. Später klärte ein Klassenkamerad, dessen Vater von den Nazis ermordet worden war und der politisch viel reifer war als ich, mich darüber auf, dass dieser Lehrer ein echter Nazi war. Als im Geschichtsunterricht Rom dran war, inklusive Karthago und Hannibal, war ich unschlagbar. Ich erinnere mich an die Frage-Antwort-Situation vor der Klasse als eine Art Schlagabtausch, ein wechselseitiges Provozieren bei wechselseitigem Respekt. Später wiederholte sich das mit dem Deutschlehrer. Der war ein Konservativer der alten Schule. Einarmig noch aus dem Ersten Weltkrieg. Sehr auf Formen bedacht. Den provozierte ich durch meine gepflegt ungepflegte äußere Erscheinung: Blue Jeans und ohne Hemd, d.h. das Unterhemd über die Hose hängen lassend. Es war übrigens ein amerikanisches Unterhemd, ein T-Shirt, nicht das damals übliche an den Schultern ausgeschnittene.
Der rief mich immer als Ersten auf, wenn er der Klasse einen Text vorlegte und fragte, was das wohl sei. Einmal war es Kafkas «Vor dem Gesetz». Aber das sagte Dr. Kress natürlich nicht. Auf meine herumrudernde Ignoranz reagierte er wie ein alter Spieler, den die Unfähigkeit seines jungen Gegners amüsiert. Rückblickend war es eine wunderbare pädagogische Methode.
Es gab in meiner Klasse zwei Schüler, die hervorstachen. Der eine war der offizielle Primus, der von den Lehrern, auch von dem sadistischen Mathematiklehrer, mit Respekt behandelt wurde. Der andere war Joachim Perels, von dem schon die Rede war, der Sohn des von den Nazis umgebrachten Widerstandskämpfers. Der war klar der politisch Bewusstere und unterschied sich vom Rest der Klasse durch einen altersuntypischen Ernst. Erst später verstanden wir den Grund dafür. Dass er mit einem prominenten FDP-Politiker in Bonn, Thomas Dehler, dem Bundesjustizminister, verwandt war, verlieh ihm eine gewisse Aura. Eine Zeitlang war er Klassensprecher. Später wurde er ein begeisterter Habermas-Anhänger.
Der Klassenprimus wurde für mich später in der Studentenbewegung der erste Beleg dafür, dass jugendliche Rebellen vom herrschenden System letztlich besser belohnt werden als angepasste Musterknaben. Die Belohnung lässt zwar etwas länger auf sich warten, ist aber dafür üppiger als die der Angepassten. Jedenfalls wurden die lautstark gegen ihre Professoren protestierenden SDS-Studenten einige Zeit später Staatssekretäre – das meine ich nicht wörtlich, sondern metaphorisch –, während unser Primus ein loyaler Gefolgsjüngling seines Ordinarius blieb und später sein unauffälliger Lehrstuhlnachfolger wurde.
Nach dem Abitur gingen Sie nicht wie die meisten Ihrer Mitschüler auf die Universität.
Ich hatte einfach genug vom Zuhören und Lernen und Appetit auf etwas anderes. Die Aussicht, von der letzten Schulklasse ins erste Semester überzugehen, war mir ein Graus. Damals war gerade Fellinis Film «La Dolce Vita» Tagesgespräch, mit Marcello Mastroianni in der Rolle eines mondänen Gesellschaftsreporters. Eine mir sehr gelegen kommende Identifikationsfigur: einer, der selber nicht zu der Welt gehört, in der er verkehrt und die er beobachtet, aber deren Attraktivität er genießt. Wahrscheinlich waren auch die «Verlorenen Illusionen» von Balzac in meinem Kopf. Auch hier die glanzvolle Welt der großen Gesellschaft und des Theaters, die sich der Held Lucien de Rubempré als Journalist erschließt. Dass er am Ende kläglich scheitert und auch schon vorher mehr ein Blender als ein wirklicher Held wie Wilhelm Meister ist, spielte für mich keine Rolle. Es war gerade die Mischung von glänzender Fassade und dahinter verborgener Mittelmäßigkeit, die mich anzog. Mit diesen Rosinen im Kopf entschloss ich mich, nach dem Abitur Journalist zu werden. Ich bewarb mich als Volontär. Die Frankfurter Rundschau, bei der ich zuerst anklopfte und sogar vom Herausgeber, dem damals in Frankfurt legendären Karl Gerold, empfangen wurde, ließ mich abblitzen. Also absolvierte ich die zwei Jahre Volontariat im benachbarten Wiesbaden, beim Wiesbadener Kurier. Dort wurde ich einmal zur Berichterstattung über ein avantgardistisches Happening bei den Festspielen 1962 geschickt. Es bestand aus einer musikalisch untermalten Klavierzertrümmerung. Die amerikanisch-koreanische Gruppe, die das veranstaltete, hieß Fluxus. Sie wurde später eine Weltberühmtheit. Die Wiesbadener Veranstaltung ging als ihr Gründungsakt in die Geschichte der Avantgarde ein. Und ich kann also sagen, dass ich dabei gewesen bin.
Die zwei Jahre Zeitung erfüllten ihren Zweck, meine Lern-Überdrüssigkeit und meinen Realitätshunger zu kurieren. Sie verkehrten sie ins Gegenteil. Realitätsüberdrüssig und lernhungrig tat ich nun das, was meine Schulkameraden zwei Jahre früher begonnen hatten, ich ging an die Universität. Zuerst an die FU in Berlin. Dann Frankfurt. Hier gab es einen peinlichen Moment, der mir klarmachte, was die zwei Zeitungsjahre mit mir gemacht hatten. Enzensberger, der damals höchstverehrte Intellektuelle, hielt im Wintersemester 1964/65 die Frankfurter Poetik-Vorlesung. Im Anschluss an seine Vorlesung bot er die Teilnahme an einem Seminar an. Die Aufgabe war das Verfassen einer Buchrezension. Jeder bekam einen Roman zugeteilt. Ich habe vergessen, welchen ich bekam. Ich erinnere mich nur, dass ich in meinem Elaborat alle Register der journalistischen Phraseologie zog. Inklusive der Abschlussformel, dies sei wohl noch kein Meisterwerk, aber wir – der Rezensent im Pluralis Majestatis – sähen dem nächsten Werk dieses nicht ganz uninteressanten Autors mit Interesse entgegen.
Was daraufhin erfolgte, war ein lautes Gelächter oder vielmehr ein Ausgelächter. Statt Bewunderung für meine vermeintliche journalistische Eleganz erntete ich von den erfahreneren Kommilitonen den reinen Hohn. So hatte ich mir meine Journalistenkarriere nach dem Vorbild Marcello Mastroiannis nicht vorgestellt.
Aber diese kalte Dusche war nützlich, da sie den ganzen journalistischen Sprachmüll, den ich in den zwei Jahren Zeitungsschreiberei in mir angesammelt hatte, mit einem Schwung wegspülte. Was von der journalistischen Erfahrung blieb, war allerdings auch nicht unwichtig. Denn sie immunisierte mich gegen den akademischen Jargon, in den die eben noch hohnlachenden Kommilitonen nun ihrerseits verfielen, ohne sich natürlich bewusst zu sein, dass auch dieser Jargon Jargon war. Heute noch klingen mir das in den Seminararbeiten und später in den Dissertationen nachgeäffte Vokabular und die Syntax Walter Benjamins in den Ohren.
Ein paar Wochen oder Monate nach der Enzensberger-Blamage unterzog ich in einem Artikel in der Studentenzeitung Diskus den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einer gründlichen Analyse. Reich-Ranicki schrieb damals für Die Zeit und war als Kritiker ziemlich angesehen. Das war auch der Grund für den Diskus, ihn einmal antiautoritär unter die Lupe zu nehmen. Die Überschrift meines Beitrags war schon die Botschaft. Sie lautete: «Der Heinrich Lübke der Literaturkritik». Heinrich Lübke, der damalige Bundespräsident, war für seinen unbeholfenen Sprachstil bekannt. Rückschauend halte ich es für wahrscheinlich, dass ich die Demütigung, die mir im Enzensberger-Seminar widerfahren war, unbewusst an Reich-Ranicki weiterreichte.
Noch ein letztes Beispiel für die unbewusste akademische Arroganz, die mir wenige Jahre später unangenehm aufstieß. Es war eigentlich mehr als bloß akademische, es war Klassenarroganz. Das war in Berlin, als die Studentenrebellion hochkochte. Da erlebte ich am Rande einer gerade beendeten Vietnamdemonstration, dass ein Polizist, in der damaligen Sprachregelung ein «Bulle», von studentischen Demonstranten umringt wurde. Einer von ihnen bemächtigte sich seiner Mütze und warf sie über den Kopf des Opfers hinweg seinen Genossen auf der gegenüberliegenden Seite zu. Großes Vergnügen allseits darüber, wie der Bulle sich vergebens abrackerte, wieder in den Besitz seiner Mütze zu kommen. In diesem Moment war er für mich kein bedrohlicher Vertreter der Obrigkeit mehr, sondern ein armes Schwein, umringt von einer Meute, die ihr Vergnügen an der Demütigung des wehrlosen Einzelnen auskostete.
Lassen Sie mich noch mal nach Ihren Motiven fragen, Journalist zu werden. Gab es über das Vorbild Marcello Mastroianni hinaus noch andere Gründe?
Sehr einfach: die Vorstellung, in die Köpfe der Menschen zu gelangen. Wenn ich in Wiesbaden meinen täglichen Weg vom Bahnhof zur Redaktion ging – ich führte in diesen zwei Jahren eine Pendlerexistenz zwischen Frankfurt und Wiesbaden –, dann stellte ich mir tagträumerisch vor, wie die Glossen und Artikel, die von mir gerade in der Zeitung standen, auch in den Köpfen der Passanten waren. Präsent sein in den anderen, ohne sie persönlich zu kennen und ohne dass sie etwas davon ahnten, das war meine Form des Narzissmus.
Wir sind jetzt etwas hin und her gesprungen zwischen Ihrem Zeitungsvolontariat und dem Beginn des Studiums. Als Volontär waren Sie Tagträumer. Als Student machten Sie die peinliche Erfahrung, dass das journalistische Produkt, die Rezension, auf die Sie so stolz waren, ausgelacht wurde. Wie akklimatisierten Sie sich dann im Unibetrieb?
Sehr zögerlich. Für mein erstes Semester ging ich nach Berlin an die Freie Universität. Ich erinnere mich noch an den Titel meiner ersten Proseminararbeit, sonst aber an kaum etwas. Der Titel lautete: «Das Motiv des Fremdlings und der Ferne in Novalis’ ‹Heinrich von Ofterdingen›». Die Freie Universität erlebte ich als kalten unpersönlichen, in jeder Hinsicht fremden Ort. In Frankfurt hatte ich schon als Gymnasiast die Uni kennengelernt. Regelmäßig besuchte ich Vorführungen des studentischen Filmclubs «Filmstudio», der einen überregionalen Ruf hatte, und ab und zu Adorno-Vorlesungen im Hörsaal VI. Der Weg in die Uni durchs Westend war mir vertraut. All das fehlte in Berlin. Und das war wohl auch der Grund dafür, dass ich nach einem Semester nach Frankfurt zurückkehrte und mich hier immatrikulierte.
Ich konzentrierte mich aber nicht so sehr auf das Studium – Hauptfach Germanistik, Nebenfächer Philosophie und Soziologie –, sondern eher auf das, was außerhalb geboten wurde. Also das Filmstudio, die Studentenzeitung Diskus und das Studententheater «Neue Bühne». Alle drei genossen einen Ruf über die Universität hinaus. Und alle drei waren Nebenprodukte der Kritischen Theorie. Ich vermute, dass sie in den 50er Jahren von Mitgliedern der ersten Studentengeneration des gerade wiedereröffneten Instituts für Sozialforschung ins Leben gerufen wurden. Die Kritische Theorie selber erlebte ich im Original in den Vorlesungen Adornos im bereits erwähnten Hörsaal VI und im kleineren Kreis des Adorno’schen Hauptseminars. «Erleben» hieß in diesem Fall, in meinem Fall: andächtig zuhören, ohne selber ein Wort zu sagen. Nicht als Lehrfach hatte ich mir die Philosophie vorgestellt, sondern als Selber Philosophieren. Also das, was mir später unter der Bezeichnung «Spekulation» bekannt wurde. Die erste Enttäuschung war eine Vorlesung über meinen damaligen Lieblingsphilosophen Schopenhauer. Was es hier gab und was ich zeit meines akademischen Lebens nicht mitvollziehen konnte oder wollte, waren das Aufnehmen und Auswendiglernen der vorhandenen philosophischen Lehren. Das galt natürlich nicht für Adorno. Hier lag mein Problem in der von ihm verkörperten Perfektion, die mir das eigene unperfekte Denken verschlug.
Dann erlebte ich am 3. Juni 1967 das Echo auf die Erschießung Benno Ohnesorgs am vorangegangenen Tag. Das Datum, der 2. Juni, wurde noch jahrelang in der Studentenbewegung als historisches Ereignis in Erinnerung gehalten wie später der 11. September in der Weltöffentlichkeit.
Die Bedeutung ließ sich an der Reaktion Adornos ablesen. Der war seit seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil nie mit Stellungnahmen zu politischen Ereignissen in Erscheinung getreten. Diese Enthaltsamkeit war sozusagen sein Markenzeichen. Nun, am Tag nach Benno Ohnesorgs Tod, eröffnete er seine Vorlesung mit einer persönlichen Erklärung, die das Ereignis direkt ansprach. Das schlug ein wie eine Bombe.
Das muss auch der Zeitpunkt gewesen sein, an dem Sie sich entschlossen, Frankfurt ein zweites Mal zu verlassen und nach Berlin zurückzukehren.
Das geschah im Herbst desselben Jahres, also 1967. Wobei ich mir nicht sicher bin, welches das entscheidende Motiv für mich war: ob die Berufung Peter Szondis an das von ihm gegründete Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft oder der allgemeine politische Klimawechsel in der Universität durch den Tod Benno Ohnesorgs. Vermutlich das Letztere. Denn so attraktiv eine Literaturwissenschaft im Geiste der Kritischen Theorie anstatt der üblichen Germanistik auch war – und das war das Programm Szondis –, noch attraktiver war die Aussicht, eine wirkliche Revolte aus der unmittelbaren Nähe zu erleben und mitzumachen. Jedenfalls war es ein ganz anderes Berlin, in das ich im Herbst 1967 zurückkehrte, als das, was ich vom Sommersemester 1964 her in Erinnerung hatte. Das stocksteife «Sie» unter den Studenten, das mir immer wie ein Kälteschock vorgekommen war, war ersetzt durch das nunmehr allgegenwärtige «Du».
Berlin war offenbar ein schwieriges Ziel. Der erste Anlauf endete im Kälteschock. Aber mit dem zweiten Anlauf wurde die Stadt zu Ihrem dauernden Wohnsitz. Wie kamen Sie überhaupt nach Berlin?
Das war wahrscheinlich ähnlich wie nach dem Abitur, als ich nicht einfach den vorgespurten Weg in die Uni als die nächsthöhere Schulklasse gehen wollte. Ich wollte etwas anderes machen. Der Trieb, den Schauplatz meines bisherigen Lebens zu verlassen, war stark. Eine frühere Schnapsidee war Saudi-Arabien. Dazu belegte ich sogar einen Arabisch-Kurs im Volksbildungsheim. Auf Saudi-Arabien kam ich durch den Monumentalfilm «Lawrence von Arabien» von David Lean. Das ihm zugrundeliegende Buch von Thomas Edward Lawrence «Die Sieben Säulen der Weisheit» stand im Bücherregal meiner Eltern, aber ich hatte mich nie dafür interessiert. Wahrscheinlich, weil es ein kleingedruckter Riesenwälzer war. Im Cinemascope-Format war das eine andere Sache. Die Weite der Wüste, der europäische Außenseiter und eigentlich Klassenverräter, der sich der Lost Cause der Araber annimmt, sie als genialer Feldherr zum Sieg führt und der dann von den etablierten Mächten wieder abserviert wird – das war für mich eine Wiederkehr des Heldentypus Hannibal.
Das Nächste war die schon ernstere Absicht, ein Grundstück auf einer Insel in der Ägäis zu kaufen. Sie kam ihrer Verwirklichung schon näher, bis im letzten Moment auf der Insel Alonnisos – die gehört zu den Nördlichen Sporaden – der Verkäufer durch sein Nichterscheinen zum entscheidenden Termin einen Strich durch meine Rechnung machte. Ein paar Jahre später las ich in einer Zeitung, dass Alonnisos von einem Erdbeben heimgesucht worden war. Das nahm ich dankbar als Schicksalsfügung entgegen. Bis ich wiederum einige weitere Jahre später hörte, dass der Club Mediterranée hier eine blühende Ferienkolonie gegründet hatte, mit der Folge eines steilen Anstiegs der Immobilienpreise.
Die näherliegenden Universitäten in der Bundesrepublik erschienen mir jedenfalls reizlos. Berlin war etwas anderes. Der Eiserne Vorhang, die zweigeteilte Metropole, das weckte meine Neugier. Die Welttrennlinie lief ja mitten durch die Stadt. Das hat für mich wohl die entscheidende Rolle gespielt. Der Weltflucht-Aspekt, der mich von Arabien und einer griechischen Insel phantasieren ließ, bot sich als eine weitere Option an. Immer wieder gefiel ich mir in der Vorstellung, was wäre, wenn ich in Berlin die Grenze in Richtung Osten nicht nur als Besucher, sondern als Umsiedler überschritte.
Zunächst überschritten Sie auf Ihrer ersten Fahrt nach Berlin die innerdeutsche Zonengrenze. Das Durchqueren der DDR, um auf die Insel West-Berlin zu gelangen, muss für einen in Westdeutschland aufgewachsenen Jüngling eine ganz neue Erfahrung gewesen sein.
Es war eine Reise in ein fernes Land, wie ein damals modisches journalistisches Bonmot lautete. Der Zug brauchte zehn Stunden. Auf westdeutschem Gebiet fuhr er mit normaler Geschwindigkeit. Kaum war die Zonengrenze überschritten, verlangsamte sich das Tempo extrem. Und dann sah man in den Bahnhöfen die Schilder mit Ortsnamen, die man zwar aus der Weimarer Klassik kannte, die man aber nie als gegenwärtige Realität erlebt hatte: Apolda, Gotha, Erfurt, Weimar, all diese thüringischen Orte. Dann die Halte in den Bahnhöfen. Das waren kleine Bahnhöfe, die einen Blick auf die dahinterliegenden Städte gestatteten. Anders als die westdeutschen Städte waren sie unzerstört und unmodernisiert erhalten. Dass sie heruntergekommen waren, konnte man aus der Bahnhofsperspektive nicht sehen. Und verlassen durfte man den Zug ja nicht. Die Reise durch die DDR nach West-Berlin begann mit der Kontrolle beim Grenzübertritt von der westlichen auf die östliche Seite, in Gerstungen, dann die Bahnhofshalte, bei denen die Türen geschlossen blieben. Und zuletzt wieder die Kontrolle in Griebnitzsee, dem letzten Stopp auf DDR-Seite.
Ich erinnere mich an einen Halt auf offener Strecke bei Potsdam. Da hatte man einen guten Blick auf einen der Seen dort, auf dem die sonntäglichen Segelboote herumschipperten. Ich wusste, das war fremdes und verbotenes Gebiet, und doch gab es diese vertrauten Dinge. Diese Doppelbödigkeit des scheinbar Vertrauten, das aber nicht zugänglich ist, weil es auf einem anderen Gebiet liegt, sie ist so ein Ur-Eindruck, der mir geblieben ist und die Grundierung für meine späteren Berlin-Erfahrungen bildete.
Später fuhr ich die Strecke Frankfurt-Berlin nicht mehr mit der Bahn, sondern mit dem Auto. Da kam man dann am West-Berliner Kontrollpunkt Dreilinden im amerikanischen Sektor an. Dieser Grenzübertritt prägte sich mir ein als das Entrée in die merkwürdige Welt West-Berlins. Denn nun war die andere Hälfte der Welt, der Osten, die DDR, aus der Wahrnehmung und dem Denken ausgeschaltet. Das galt erstaunlicherweise gleichermaßen für die Kalten Krieger der Springer-Presse wie für die linken Studenten. Beide Lager waren sich einig in ihrem Desinteresse an der Ost-West-Realität, wie sie tatsächlich war.
Mit meinem Interesse für das Zusammentreffen der beiden Welthälften an dieser Stelle stand ich ziemlich allein auf weiter Flur. Wie ich dann dieses Interesse in die Praxis umsetzte, war allerdings auch alles andere als eindrucksvoll. Mit der Naivität, mit der ich zuvor in den Journalismus eingestiegen war, stieg ich jetzt in den Marxismus ein. Oder vielmehr in das, was in der DDR als Marxismus ausgegeben wurde. Zum Beispiel nahm ich eine der parteichinesisch geführten «Debatten» – Debatten in Anführungszeichen – ernst und schrieb darüber einen Artikel in den Frankfurter Heften. Das war eine Zeitschrift, die in der frühen Bundesrepublik eine intellektuelle Rolle spielte. Heute wundert mich, dass der Redakteur mir dieses Elaborat abnahm. Es war alles andere als kritisch-marxistisch. Eine ahnungslose Nacherzählung des Funktionärsgeschwätzes, das die DDR als Theorie verkaufte und das ich Tor ernst genommen hatte. Ich kann mir die Kritiklosigkeit des Redakteurs und schlimmer noch das Lob, das er mir spendete, nur durch die in Westdeutschland herrschende Ahnungslosigkeit erklären. Eine Ahnungslosigkeit, die den Marxismus wie die DDR umfasste. Aus der Rückschau war diese Episode dann aber eben doch eine Bestätigung für mein Interesse, von Berlin aus den real existierenden Osten zu verstehen.
Wie Sie das erzählen, kann man sich leicht vorstellen, dass Sie in einem Zirkel hochgestochener SDS-Intellektueller mit Ihrem Artikel nicht besonders gut angekommen wären. Kam Ihnen nicht der Gedanke, dass die Abstinenz der West-Berliner Linken gegenüber der DDR ihre Berechtigung hatte? Und dass das, was von Herbert Marcuse aus Berkeley herüberkam, wichtiger war als das, was in Ost-Berlin vor der Tür lag?
Genau das entdeckte ich in den nächsten Jahren. Das Ergebnis war aber nicht, nun das reale Ost-Berlin so zu ignorieren, wie meine neu-linken Kommilitonen es von Anfang an getan hatten, sondern eine andere Perspektive zu entwickeln. Praktisch lief das hinaus auf eine Zweiteilung meines Studiums. Auf der einen Seite das formelle Studium: die Literaturwissenschaft im Komparatistischen Institut Peter Szondis. Auf der anderen Seite die Entdeckung und Entwicklung einer neuen Perspektive auf das, was in Ost-Berlin geschah. Also ein Kontrastprogramm oder eine Parallelaktion. Jedenfalls eine Doppelveranstaltung, die mir gestattete, die verschiedenen Zügel in der Hand zu halten und gegebenenfalls mit- oder gegeneinander auszuspielen.
Wie hat man sich das vorzustellen?
Als ich im Herbst 1967 aus Frankfurt nach Berlin zurückkam, war die Studentenbewegung auf ihrem Höhepunkt. An der FU wurde als Gegeninstitution zur regulären Uni eine sogenannte «Kritische Universität» organisiert. Hier vereinten sich guter Wille, große Rhetorik und mittelmäßiger Einfallsreichtum zu einem wenig inspirierenden Unternehmen künftiger Studienräte.
In dieser Zeit besuchte ich mit ein paar Freunden eine Veranstaltung in der Akademie der Künste, in der Hartmut Lange auftrat, der ein oder zwei Jahre zuvor aus der DDR geflüchtete Dramatiker. Sein Stück «Marski» hatte ich in Frankfurt gesehen und war begeistert. Hier waren Marxismus und Sozialismus nicht eine anämische Intellektuellen- und Bürokratensache, sondern eine aus den Nähten platzende Lebenslust und Lebenskraft. Das Stück hätte vom jungen Brecht geschrieben sein können oder von Rabelais. Wir sprachen Lange an, erzählten ihm von der Kritischen Universität und luden ihn zur Teilnahme ein. Mit richtigem Instinkt beurteilte er die Lage und sprach seine Gegeneinladung aus. Ein Gespräch oder eine Diskussionsgruppe bei sich zu Hause, unter Hinzuziehung seines Freundes Dieter Sturm, Dramaturg an der Schaubühne. Das war der Beginn meines Kontrastprogramms zum regulären Studium.
Überspringen wir die Einzelheiten dieses Kontrastprogramms, um gleich zu dem Ergebnis zu kommen, das dabei für Sie herauskam: Was verdanken Sie Hartmut Lange und Dieter Sturm, das Sie ohne den «Kapitalkreis» – das war ja die Bezeichnung, die die Teilnehmer dem Unternehmen gaben – nicht geworden wären?
Eigentlich sagte ich es schon: die Entdeckung der vitalen Seite des Marxismus und Sozialismus, wo ich bis dahin nur die bürokratisch-kollektivierte Seite wahrgenommen hatte. Marxismus als Voluntarismus, als Ich-Kult, als anarchische Freiheit. Also all das, was im Frühsozialismus vor Marx so lebendig gewesen war und was der spätere Marxismus exorziert und wegdiszipliniert hatte. Das war im Westen zwar auch bekannt, aber auf eine ganz andere Weise als im real existierenden Sozialismus. Im Westen waren Ich-Kult und Anarchie Teil und eigentlich sogar die Hauptstütze des politisch-ökonomischen Systems. Im Realsozialismus waren sie der verfemte Teil.
So fand ich hier das Thema meiner späteren Dissertation. Es war die Frage, wie der siegreiche, aber bürokratisierte Sozialismus mit den vitalen und anarchischen Energien des Individuums umgeht. Welche neuen Konfliktsituationen dabei entstehen und ob die von der realsozialistischen Ideologie behauptete Konflikt- und Widerspruchslosigkeit überhaupt möglich ist.
Konkreter gesprochen: Ich entdeckte, dass es in der DDR noch eine andere Dramatik gab als die eintönig-schönfärberische des sozialistischen Happy Ends und der Parteischriftsteller. Dass diese Dramatik es wagte, die Brecht’sche Dialektik auf den Sozialismus anzuwenden. Und dass sie mir ein authentischeres Bild von der DDR vermittelte als die triste Realität, die ich bis dahin für Sozialismus gehalten hatte. Denn das gehörte ja auch zur geistigen Sozialisierung in der Adenauer-Zeit, in der ich groß geworden war: dass etwas richtig und wahr nur dann sein konnte, wenn es keinen Spaß machte. Die Studentenbewegung warf das gründlich über den Haufen, verlor dabei allerdings aus den Augen, dass die Welt nicht nur aus Spaß besteht.
Nach der Begegnung mit Lange begriff ich dann allmählich, dass er kein Einzelfall war, sondern dass es auch einen Peter Hacks gab und einen Heiner Müller.
In dieser Zeit begann ich mir Gedanken über meine akademische Abschlussarbeit zu machen. Alle meine Freunde wählten ihre Themen aus dem bewährten literaturhistorischen Kanon. Ich entschied mich, meine Entdeckung der in der DDR verfemten Dramatik zum Thema meiner Magisterarbeit zu machen. Der Titel lautete: «Anarchische Züge an Hauptgestalten in einigen DDR-Dramen», und die drei behandelten Autoren waren Hartmut Lange, Peter Hacks und Heiner Müller. Später erweiterte ich das zu meiner Dissertation «Sozialistisches Drama nach Brecht». Aber das war bereits nach meiner ersten Amerika-Reise und meiner Orientierung auf ganze andere Themen jenseits der Literatur.
Bleiben wir noch einen Moment beim Thema Ihrer Dissertation: «Sozialistisches Drama nach Brecht». Das war, wie Sie selber sagen, kein abgehangenes akademisches Thema der Literaturgeschichte, sondern unmittelbare Gegenwart, und darüber hinaus ein wesentlicher Teil Ihres persönlichen Bildungsromans. Hartmut Lange trafen Sie persönlich. Wie war es mit Peter Hacks und Heiner Müller?
Ich lernte alle drei persönlich kennen. Als ich Hacks in seiner riesigen Wohnung in der Schönhauser Allee im obersten Geschoss besuchte, sprach man in Ost-Berlin bereits von ihm als dem Herrn eines Schlosses im Brandenburger Umland, in dem er inmitten antiker Möbel, Meißner Porzellans und erlesener Werke alter Kunst residieren sollte. Eine Pracht, die ihm der Fama zufolge aus den Schlössern enteigneter Junker zugeflossen war. Die Wohnung, in der er mich empfing und in der wir tatsächlich aus Meißner Tassen Tee tranken, bestätigte die Fama mindestens zum Teil. Ich war damals in meiner maoistischen Phase und hielt damit auch nicht hinter dem Berg. Er belächelte das nachsichtig. Sonst verstanden wir uns gut. In meiner Dissertation kam er nicht besonders gut weg, weil ich einige seiner späteren Komödien, die er als sozialistische Klassik – Betonung auf Klassik – verstanden wissen wollte, eher als klassizistischen Kitsch einschätzte. Einige Jahre später erzählte mir jemand (und ich prüfte es gleich nach), dass in seiner Bearbeitung von Goethes «Jahrmarktsfest von Plundersweilern» eine Figur auftritt, die es im Original nicht gibt. Sie heißt Magister Schievelbusch und ist natürlich von der beckmesserischen Art.
Und Heiner Müller? Von den drei Autoren Ihrer Dissertation ist er der bekannteste geworden, ein Mann von internationaler Wirkung.
Er war das totale Kontrastprogramm zu Peter Hacks. Das fing mit der Zweizimmerwohnung am Kissingenplatz in Pankow an. Die war spartanisch. Und ich sah ihn darin als Intellektuellen, der wie die Spinne in ihrem Netz die Wirklichkeit erbarmungslos einfängt und aussaugt. Als Gestalt entsprach er für mich dem Urbild des marxistisch-bolschewistischen Intellektuellen. Ein Typus zwischen Trotzki und Stalin wie der heute vergessene Karl Radek. Eher klein und zierlich und vor allem keine Spur des Vergnügens an der eigenen geistigen Brillanz, wie das bei Lange und Hacks immer durchschien. Seinen scharfen Witz, von dem viele sprachen, habe ich lange nicht einmal bemerkt. Ebensowenig wie seine menschliche Sensibilität. Ich kenne viele Leute, die von bacchanalischen Besäufnissen erzählten, die sie mit Müller hatten. Ich blieb immer der andächtig zuhörende Student. Das einzige Mal, dass ich ihn im Zustand der Betrunkenheit erlebte, war Jahre später in New York. Aber auch da mussten mich andere darauf aufmerksam machen. Von mir aus hätte ich es nicht bemerkt.
Aus der Rückschau war er vielleicht ein ähnlicher Typus wie Peter Szondi. Aber das ist ein anderes Kapitel, auf das wir später kommen werden. Um es nur kurz vorwegzusagen: Ich war ihm nicht unsympathisch, aber intellektuell habe ich ihn nicht beeindruckt.