Die Kunst der Frauen - Natasha Lester - E-Book
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Die Kunst der Frauen E-Book

Natasha Lester

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Beschreibung

Die Kunst ist die Tochter der Freiheit.

Paris, 1939: Die junge Éliane studiert Kunst, arbeitet im Louvre und kümmert sich liebevoll um ihre jüngeren Schwestern. Eines Tages lernt sie den talentierten Maler Xavier kennen, und die beiden verlieben sich Hals über Kopf. Doch dann wird Frankreich von den Deutschen besetzt, und mit einem Mal muss Éliane alles riskieren, um die Kulturschätze des Landes vor den Nazis zu schützen ...

Côte d‘Azur, 2015: Modebloggerin Remy flieht nach einem schweren Verlust in das Haus ihrer Familie am Mittelmeer. Dort stößt sie auf das Rätsel eines geheimnisvollen Gemäldes, das einst von den Nazis geraubt wurde. Kann sie das Geheimnis lüften? 

Nach der wahren Geschichte der Kunsthistorikerin und Widerstandskämpferin Rose Valland.



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Seitenzahl: 647

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

Paris, 1939: Die junge Kunststudentin Éliane verliebt sich in den aufstrebenden Maler Xavier. Doch als die Nazis die Stadt besetzen, flieht Xavier nach England. Mit gebrochenem Herzen bleibt Éliane in Paris zurück und findet Arbeit im Museum Jeu de Paume, wo sie an der Seite von Rose Valland arbeitet. Schon bald findet sie heraus, dass Rose Informationen über die Deutschen an die Résistance liefert. Éliane will ihr helfen, doch sie ahnt nicht, in welche Gefahr sie sich damit begibt …

Jahrzehnte später reist die australische Modebloggerin Remy nach Frankreich, um ihrer Trauer zu entkommen. Im Haus ihrer Familie an der Côte d’Azur begegnet sie nicht nur dem schweigsamen Fotografen Adam, sie findet auch Hinweise auf ein Gemälde, das einst dem Kunstraub der Nazis zum Opfer gefallen war. Remy beginnt, die Herkunft des Bildes zu erforschen, und stößt dabei auf eine bewegende Geschichte, die auch etwas mit ihrer Familie zu tun hat.

Über Natasha Lester

Natasha Lester war Marketingleiterin bei L’Oréal und verantwortlich für die Marke Maybelline, bevor sie sich entschloss, an die Uni zurückzukehren und Creative Writing zu studieren. Heute lebt sie als Autorin und Dozentin in Perth, Australien, und ist Mutter dreier Kinder. Ihre Romane, in denen es stets um spezifisch weibliche Aspekte der Geschichte geht, sind internationale Bestseller.

Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls ihre Romane „Die Kleider der Frauen“, „Die Bilder der Frauen“ und „Die Farben der Frauen“ vor.

Mehr zur Autorin unter www.natashalester.com.au  

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Natasha Lester

Die Kunst der Frauen

Roman

Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jarić

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Teil 1 — Paris, 1939–1941

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil 2 — Saint-Jean-Cap-Ferrat, 2015

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 3 — Paris, 1941–1943

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 4 — Saint-Jean-Cap-Ferrat, 2015

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil 5 — Frankreich, 1943

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Teil 6 — Saint-Jean-Cap-Ferrat, 2015

Kapitel 27

Kapitel 28

Teil 7 — Paris, 1943–1944

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Teil 8 — Saint-Jean-Cap-Ferrat, 2015

Kapitel 34

Teil 9 — Paris, 1944

Kapitel 35

Kapitel 36

Teil 10 — Paris und New York, 2015

Kapitel 37

Kapitel 38

Teil 11 — Paris, 1944

Kapitel 39

Teil 12 — New York, 2015

Kapitel 40

Teil 13

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für meinen Vater, der nicht mehr fähig sein wird, diesen Roman zu lesen, der vielleicht nicht mehr da ist, wenn er erscheint. Du verdienst nun Ruhe und Frieden. Ich hoffe, dass sie bald kommen. Meine ganze Liebe.

Und so kommen wir zu dem Teil, der einem das Herz brechen könnte. Ich selbst kann solche Momente nicht ertragen, denn jenseits davon wird es Tage geben, die nicht einmal ich vorhersehen kann, und nicht alle Tage werden gut oder einfach sein. Doch auch das ist Kunst. Die Dinge, die das Herz versengen.

Heather Rose, The Museum of Modern Love

Teil 1

Paris, 1939–1941

Kapitel 1

»Ich komme zu spät.«

Éliane sah Yolande beschwörend an, doch die Fünfjährige interessierte sich keine Spur für die Verpflichtungen ihrer großen Schwester. Stattdessen verrieten ihre geballten Fäuste, dass sie kurz vor einem Tobsuchtsanfall stand. Die Kleine hatte Hunger, und zum Frühstück gab es nur einen trockenen Kanten Brot. Jeden Moment könnte Yolande ihrer Wut freien Lauf lassen, und Éliane würde eine Vorlesung an der Kunsthochschule verpassen.

»Wir sind alle hungrig«, fuhr Angélique Yolande an. Nach Éliane war sie die zweitälteste der Schwestern.

Éliane betrachtete die finsteren Mienen der beiden, dann wanderte ihr Blick zu der zwölfjährigen Jacqueline, die sie stumm anzuflehen schien, etwas gegen Yolandes Theater und Angéliques Zorn zu unternehmen. Die achtjährige Ginette musste gähnen; die lauten Stimmen ihrer Schwestern hatten sie soeben geweckt.

Sie würde definitiv zu spät kommen. Doch es war nicht die Schuld ihrer Schwestern, dass ihre Eltern jeden Franc in ihre dem Untergang geweihte Brasserie steckten und es für die Familie nicht genug zu essen gab.

Éliane sammelte ihre Pinsel zusammen und verstaute sie in ihrer Tasche. Der Gedanke, dass sie sie würde verkaufen müssen, bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen.

Sie wandte sich erneut an Yolande. Liebevoll und entschieden zugleich sagte sie: »Morgen gibt es ein Croissant zum Frühstück, das verspreche ich dir. Aber nur, wenn du dich jetzt für die Schule anziehst und es zulässt, dass Angélique dich kämmt.«

Die Tränen der Wut versiegten. Strahlend und mit wehendem Haar stürzte Yolande zu Éliane, flüsterte »Merci« und vergrub ihr Gesicht im Rock der großen Schwester.

Éliane strich ihr über das Haar. »Ich hab dich lieb.« Und da Angélique noch damit beschäftigt war, Ginettes Schuhe zu suchen, beugte sie sich zu Yolandes Ohr hinab und flüsterte: »Angélique hat Angst. Sie kümmert sich erst seit kurzer Zeit allein um euch. Hilf ihr. Dann sieht sie, dass sie sich um dich nicht so viele Sorgen machen muss.«

Als sie sich von Angélique verabschiedete, sagte Éliane: »Yolande braucht vor allem Zuneigung. Nimm sie oft in den Arm, dann benimmt sie sich auch.«

Angélique war vor einem halben Jahr fünfzehn geworden. Ihr Geburtstagsgeschenk hatte darin bestanden, das »Privileg« ihrer Schwester Éliane zu übernehmen, die kleineren Geschwister morgens für die Schule fertigmachen zu müssen, sie nach der Schule abzuholen, mit Resten aus der Brasserie Abendbrot für sie zuzubereiten und sie zu Bett zu bringen. Éliane fehlte dazu die Zeit. Nach den Vorlesungen am Morgen musste sie mittags zur Arbeit, ein Umstand, an den Angélique und Yolande sich noch immer nicht gewöhnt hatten.

Im Gegensatz dazu brauchten Ginette und Jacqueline morgens jeweils nur eine Umarmung und einen Kuss, bevor Éliane aufbrechen konnte. Nachdem das erledigt war, lief sie die Wendeltreppe von ihrer Wohnung im dritten Stock hinunter zur Galerie Véro-Dodat, einer passage couvert, die früher, zu Zeiten der Belle Époque, einmal prachtvoll gewesen war. Nun waren die Schaufenster der kleinen Geschäfte überwiegend leer. Viele waren mit Mahagoni eingefasst, einige wurden durch schlanke Marmorpfeiler voneinander getrennt. Hier und da sah man oben an den Pfeilern fröhlich wirkende Putten, auch wenn den meisten ein paar Zehen fehlten, wenn nicht gleich ein ganzes Bein.

Aus der Brasserie von Élianes Eltern drang der säuerlich-bittere Geruch abgestandenen Kaffees. Er waberte um die alten Gaslaternen der Passage und schlug die Menschen, die so unklug gewesen waren, hierherzukommen, in die Flucht.

Éliane durchquerte die Passage zur Straße und lief weiter zum Louvre, wo sie studierte, arbeitete und eine Zeit lang von der Verantwortung für ihre Schwestern befreit war. Diese Befreiung empfand sie auf ihrem Weg ganz deutlich, doch gleichzeitig spürte sie den Verlust der Umarmungen und Küsse und anderer winziger Liebesbekundungen, die nun Angélique zuteilwurden. Sie hoffte, dass ihre Schwester sie zu schätzen wusste.

An der Aile de Flore angekommen – dem Flügel des Louvre, der sich entlang der Seine erstreckte –, rannte Éliane die Treppen zur École du Louvre hinauf. Sie schlüpfte in den Hörsaal, setzte sich auf einen freien Platz und ließ ihren Blick suchend über die Reihen der Studierenden gleiten. Luc war nicht da. Die Seele ihres Bruders war zwar der Kunst zugetan, doch sein Körper liebte die Bars und Cafés in Montparnasse.

An diesem Tag ging es in der Vorlesung um die Maler der italienischen Renaissance. Éliane konzentrierte sich auf Gemälde üppiger Frauen mit langem wallendem Haar, auf Putten, die noch sämtliche Körperteile besaßen, und auf die Helldunkel-Malerei, auch Chiaroscuro genannt, mit ihren Szenen biblischer Strafgerichte.

Gegen Mittag verließ sie die École. Spätere Lehrveranstaltungen konnte sie nicht mehr besuchen, ihre Familie war auf das Geld angewiesen, das sie am Nachmittag verdiente.

Bevor sie im Museum des Louvre ihren Platz am Empfang einnahm, um Besuchern den Weg zur Venus von Milo oder der Mona Lisa zu erklären, suchte sie Monsieur Jaujard auf, den Direktor der Nationalmuseen. Er war derjenige, der ihr erlaubt hatte, an der École zu bleiben, obwohl sie nicht mehr ganztags am Unterricht teilnehmen konnte. Auch die Studiengebühren hatte er ihr erlassen.

»Monsieur«, begann Éliane scheu, »wissen Sie vielleicht, wo ich meine Pinsel verkaufen kann?« Sie holte sie aus der Tasche, ohne sie anzusehen. Es waren die letzten Überbleibsel ihres kindischen Traums, Malerin zu werden. »Sie sind von guter Qualität, aus Zobel. Vielleicht kommen sie für neue Studierende infrage.«

Jaujard begutachtete Élianes Schätze. Gütigerweise mied er dabei den Blick in Élianes hochrotes Gesicht. Sie schämte sich, weil sie ihn erneut um einen Gefallen bitten musste, außerdem bedauerte sie den Verlust zutiefst.

»Lassen Sie die Pinsel hier. Ich kenne einen jungen Mann, der an ihnen interessiert sein könnte.«

»Danke«, sagte Éliane leise und zwang sich, Jaujard die Pinsel zu überreichen. Zum Trost stellte sie sich Yolandes Gesicht am nächsten Morgen vor, wenn sie zum Frühstück ein Croissant statt altbackenes Brot zu essen bekam.

* * *

Kurz bevor der Louvre schloss, kam Jaujard mit einem Umschlag zu ihr. »Ich habe alle Pinsel verkaufen können.«

Éliane öffnete den Umschlag und zählte das Geld. Die Einnahmen waren mindestens doppelt so hoch wie das, was sie sich erhofft hatte. Sie bedankte sich so überschwänglich, dass es nun Jaujard war, der errötete.

Beim Verlassen des Louvre überlegte Éliane, dass sie das Geld schleunigst würde ausgeben müssen. Überließe sie es ihren Eltern, würde es in der Brasserie in flüssiger Form durch die Kehlen ihres Vaters und seiner Freunde rinnen.

Auf den Straßen war es ruhig. Die Furcht vor Hitler und seinen undurchsichtigen Plänen hatte das Pariser Leben gedämpft.

Éliane betrat das Kaufhaus La Samaritaine und erstand für Jacqueline zwei preisgünstige Büstenhalter. Die brauchte ihre Schwester seit Monaten. Ihre Mutter arbeitete von morgens bis abends in der Brasserie; falls sie die körperliche Reife ihrer Tochter überhaupt bemerkt hatte, dürfte ihr das Geld für die BHs gefehlt haben.

Nachdem Éliane für ihren Einkauf bezahlt hatte, war noch Geld übrig, um Croissants zu kaufen.

Beschwingt machte sie sich auf den Heimweg und stellte sich vor, wie glücklich der Inhalt ihrer Tasche ihre Schwestern machen würde. Ein Mann kam ihr entgegen, mit zwei Gasmasken in der Hand. Éliane wandte den Blick ab, nur um auf der anderen Straßenseite ebenfalls jemanden zu sehen, der welche bei sich trug.

Die deutschen Truppen würden nicht in Frankreich einmarschieren, daran musste sie einfach glauben. Deutschland hatte die Gebiete, auf die es Anspruch erhoben hatte, doch bekommen. Reichte das nicht? Trotzdem blieb sie stehen und betrachtete ihre Einkaufstasche. Mithilfe der Büstenhalter würde Jacqueline sich wegen der zunehmenden Rundungen ihres Körpers nicht mehr genieren, eine Gasmaske könnte ihr jedoch das Leben retten.

»Éliane!«

Ein Arm legte sich um ihre Schultern. Luc, ein Jahr älter als Éliane und ebenso blond wie sie, war wie aus dem Nichts erschienen. Sein breites Lächeln war ansteckend.

»Erinnerst du dich an meinen Freund Xavier?« Luc sprach um die Zigarette in seinem Mund herum. Als er versuchte, sie anzuzünden, ohne den Arm von Élianes Schultern zu nehmen, schützte sie die Flamme mit ihrer Hand vor dem Wind. »Er war eine Zeit lang in meiner Klasse. Dann haben seine Eltern ihn wieder nach England geholt.«

Éliane entsann sich vage eines dunkelhaarigen Jungen aus England, der zwei Jahre älter als Luc gewesen war. Vor Jahren hatte er Luc einmal nachmittags in ihrer Wohnung besucht. Luc hatte ihn zum nächsten Picasso erklärt und Xavier überredet, ihm Malunterricht zu geben. Eigentlich hätte Luc sich mit Éliane um die kleineren Geschwister kümmern sollen, stattdessen malte er bis zum Abendbrot. Die Malsachen und Xavier verschwanden, kurz bevor ihre Mutter aus der Brasserie kam, um den Kleinen Gute Nacht zu sagen. Damals hatten Luc und Éliane beide noch ein großes Geheimnis aus ihrer Begeisterung von der Malerei gemacht. Darüber hatten sie nur gesprochen, wenn sie allein waren, wenn sie abends vor ihrer Wohnung auf der Treppe saßen und sich eine Limonade teilten.

»Ich bin Xavier vorhin über den Weg gelaufen«, sagte Luc nun. »In Montparnasse. Er wollte Matisse besuchen. Matisse!«

»Matisse empfängt ihn?« Éliane lachte. »Dann muss er sich ganz schön verändert haben. Ich weiß noch, dass er früher diese fürchterlichen kurzen Hosen der Engländer trug und – «

»Die passen mir nicht mehr«, fiel ihr eine Männerstimme ins Wort.

Luc wirkte amüsiert.

Éliane fuhr herum. Hinter ihr stand ein dunkelhaariger Mann mit Farbflecken an den Händen. Er trug einen Anzug statt kurzer Hosen, die Ärmel seines Hemds waren hochgerollt, und das Jackett ließ er lässig am gebogenen Finger über die Schulter baumeln.

»Du bist Xavier?«, fragte sie ungläubig. Trotz seiner verschmierten Hände wirkte er älter als die dreiundzwanzig Jahre, die er inzwischen sein musste.

Er nickte. »Und du musst Éliane sein. Auch wenn ich glaube, dass ich dich noch nie ohne wenigstens eine kleine Schwester auf dem Arm gesehen habe.«

»Angélique kümmert sich jetzt um die Kleinen«, entgegnete Éliane. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie einfach ihr Kleid war. Sie hatte es aus einem Stoffrest genäht, nach einem Modell von Lanvin, das sie in einem Modejournal gefunden hatte. Plötzlich kam sie sich darin wie ein Kind vor, das versucht hatte, sich zu verkleiden.

In diesem Augenblick schlugen die Kirchturmuhren sechsmal, und Éliane erschrak. »Ich komme zu spät«, sagte sie zum zweiten Mal an diesem Tag und drückte Luc ihre Tasche in die Hand. »Gib die bitte Jacqueline. Ich muss in die Brasserie, sonst – « Sie sprach es nicht aus, bedeutete nur mit einer Handbewegung zu ihrer Wange, was sie meinte.

»Dann nichts wie los«, sagte Luc.

Allerdings gingen er und Xavier fast ebenso schnell wie sie, so dass sie gleichzeitig ankamen. Und obwohl Éliane sich nur um fünf Minuten verspätet hatte, hörten sie, als sie die Brasserie betrat, das Gebrüll ihres Vaters:

»Wo warst du?«

»Ich habe Jacqueline einen BH gekauft«, gab Éliane zurück. »Sonst tut es ja niemand.«

Ihr Vater schlug ihr ins Gesicht.

Aus dem Augenwinkel nahm sie noch wahr, dass Xavier Anstalten machte, in die Brasserie zu kommen, doch Luc zog ihn vom Eingang fort die Treppe hinauf.

In der Wohnung würde Xavier feststellen, wie viele Möbelstücke seit seinem letzten Besuch verschwunden waren. Sie waren verkauft worden, um die Schulden ihres Vaters zu begleichen. Nur das Allernötigste war noch vorhanden.

Élianes Mutter hatte das klatschende Geräusch der Ohrfeige vernommen und kam aus der Küche der Brasserie. Sie sah ihre Tochter an und zuckte hilflos mit den Schultern.

Éliane wünschte, sie könnte nur einmal so etwas wie Kopfschmerzen vortäuschen und damit der Arbeit entkommen, doch diesen Luxus konnte sie sich nicht leisten.

* * *

Während sie auf Gäste warteten, faltete Éliane Servietten. Doch Gäste waren bei ihnen rar. Im Moment waren zwei Tische besetzt, mit Freunden ihres Vaters, die kamen, weil er ihnen für ihren Wein nur wenig Geld abnahm. Éliane fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie an der École du Louvre wieder Vollzeitstudentin sein könnte. Wahrscheinlich eine Ewigkeit.

Gegen halb neun entdeckte sie durch ein Fenster Angélique, die ihr bedeutete, nach draußen zu kommen.

Éliane schlüpfte aus der Brasserie in die Passage. »Was ist denn?«

»Yolande findet ihre Puppe nicht. Die, mit der sie nachts schläft.«

Éliane schloss die Augen und stellte sich die versteckten Winkel der Wohnung vor, in die eine Puppe sich verirrt haben könnte. Eine große Auswahl gab es in den karg möblierten Zimmern nicht.

»Meine Handschuhe sind auch weg«, sagte Angélique leise. »Die, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast.«

Sie warfen einen Blick zur Küche, wo ihr Vater Gerichte für den nächsten Tag vorbereitete, und schauten einander an.

»Vielleicht hat er sie noch nicht verkauft«, sagte Éliane. »Vielleicht kann ich sie finden.«

»Ohne die Puppe schläft Yolande nicht ein.«

Angélique war eigentlich eine resolute junge Frau, doch nun wirkte sie resigniert. Éliane nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Stirn. Es war ein Zeichen der Anerkennung dafür, dass Angélique die Puppe über ihre eigenen, geliebten Handschuhe stellte. »Gib Yolande etwas von mir, das ihr beim Einschlafen hilft«, schlug sie vor. Wenn Yolande nicht schlafen konnte, wurde sie für jedermann zur Qual. »Und du kannst meine Handschuhe haben.«

Angélique drückte sie fest an sich. Und Éliane wünschte sich zum wahrscheinlich tausendsten Mal, sie könnte ihre Schwestern nehmen und mit ihnen davonlaufen. Mit Sicherheit wäre sie fürsorglicher als ihr bankrotter Vater und die abgearbeitete Mutter. Nachdenklich sah sie zu, wie Angélique die Treppe hinaufstieg. Vielleicht sollte sie ihr Studium aufgeben und ganztags am Empfang des Louvre arbeiten. Bei dem Gedanken zog sich ihr das Herz zusammen.

Sie kehrte in die Brasserie zurück, wo die Zeit im Schneckentempo zu vergehen schien. Gegen zehn Uhr, gerade, als sie hoffte, die Brasserie schließen zu können, bimmelte die kleine Glocke über dem Eingang. Éliane setzte ein Lächeln auf und wandte sich zur Tür um.

Es war Xavier. »Ich hatte gehofft, ein Glas Wein zu bekommen«, sagte er mit seinem kaum wahrnehmbaren englischen Akzent.

»Luc ist nicht da«, erwiderte Éliane. Ihr Bruder saß sicher irgendwo in Montparnasse und trank dort Wein. Er würde sich vormachen, dass er, wenn er dieselben Lokale besuchte wie die Maler der Pariser Schule, selbst auch zum Künstler würde. Sie wunderte sich, dass Xavier nicht bei ihm war.

»Ich war in Montparnasse«, sagte Xavier, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Habe mir zwei Stunden lang angehört, wie Luc mit einem Malermodell über Musen philosophiert hat. Danach war mir nach einem ruhigeren Ort.«

»Na dann.« Éliane deutete auf die leeren Stühle der Brasserie. »Du hast das ruhigste Restaurant von ganz Paris gefunden.«

Xavier lachte. »Wahrscheinlich nicht die beste Reklame für eine Brasserie, aber für mich genau das Richtige.«

Éliane schenkte ihm ein Lächeln – diesmal war es aufrichtig –, winkte ihn zu einem Tisch und brachte ihm ein Glas Wein.

Xavier warf einen kurzen Blick zur Küche hinüber, aus der die Stimme ihres betrunkenen Vaters ertönte, der ein zotiges Lied sang. Dann wandte er sich wieder Éliane zu. »Setz dich doch.«

Éliane ließ sich neben ihm nieder.

Er schob ihr das Glas Wein hin. »Der ist für dich.«

»Danke.« Éliane nahm einen großen Schluck und spürte, wie gut er ihr tat. »Machst du in Paris Ferien?«, fragte sie. Plötzlich wollte sie alles über diesen jungen Mann erfahren, der ihr da gerade ein Glas Wein spendierte. »In diesen Zeiten?« Auf dem Tisch lag eine Zeitung, die in großen Lettern verkündete, dass die Sowjetunion und Deutschland einen Nichtangriffspakt geschlossen hatten. Éliane schob sie mit dem Ellbogen fort.

»Es sind die merkwürdigen Zeiten, die mich nach Paris gebracht haben.« Xavier lehnte sich zurück.

Éliane fragte sich, warum er in die Brasserie gekommen war. Um sie, die kleine Schwester seines Freundes, zu besuchen? Sie war sich nur allzu deutlich ihres verblassten Lippenstifts, des einfachen Baumwollkleids und der pochenden, wahrscheinlich geschwollenen Wange bewusst, auf die ihr Vater sie geschlagen hatte.

»Womöglich erinnerst du dich, dass mein Vater in Paris eine Kunstgalerie besitzt«, sprach Xavier weiter. »Und auch je eine in London und New York.«

Éliane schüttelte den Kopf. »Falls du es mal erwähnt hast, war ich wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt, meine kleinen Schwestern anzuschreien, um irgendetwas mitzubekommen.«

Éliane konnte den Blick nicht von seinen Augen abwenden. Sie waren dunkelbraun, doch es war eine Schattierung, die sie von keiner Ölfarbe kannte, die sie nicht einmal zu mischen gewusst hätte. Wie Bronze im Morgenlicht.

»Ich weiß nicht mehr viel über dich und deine Familie, aber ich erinnere mich, dass du deinen Schwestern gegenüber nie laut geworden bist«, sagte er.

Éliane holte ein zweites Glas aus dem Schrank. Eigentlich hatte sie vorgehabt, den Fußboden zu fegen und danach zu Bett zu gehen, doch nun war sie nicht mehr müde. »Bin gleich wieder da.«

Sie steckte ihren Kopf in die Küche. »Ich schließe nachher ab. Wir haben nur noch einen Gast, und er möchte nichts essen.«

Ihr Vater gab eine Art Grunzen von sich, streifte seine Schürze ab und verließ die Brasserie, ohne auf seine Frau zu warten, die sich noch mit zwei Wangenküssen von ihrer Tochter verabschiedete.

Éliane nahm sich eine Flasche Wein, kehrte zu Xavier zurück und schenkte auch ihm ein. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ sie sich wieder in ihren Stuhl sinken. »Wie wenig ich es gewohnt bin, irgendwo zu sitzen und nichts zu tun.«

Xavier nippte an seinem Wein und betrachtete sie, als wäre sie ein Gemälde, mit dem man sich genau auseinandersetzen musste. »Sorgst du noch immer für deine Schwestern? Luc hat erzählt, du studierst mit ihm an der École, arbeitest nachmittags im Louvre und abends hier. Ich meine mich zu erinnern, dass du auch malst, genau wie Luc.«

Éliane lachte auf. »Nein, nicht wie Luc.«

Xavier sah sie fragend an und schien auf eine Erklärung zu warten.

Éliane nahm einen Schluck Wein, drehte das Glas mit den Fingern hin und her und betrachtete gedankenverloren die dunklen Flecken, die zahllose Gläser Wein auf dem Tisch hinterlassen hatten.

»Früher habe ich gemalt«, sagte sie, den Blick noch immer auf den Tisch gerichtet. »Aber Leinwand ist teuer. Und man braucht Zeit zum Üben. Im Moment besuche ich nur noch ein paar Vorlesungen über Kunstgeschichte, bis mittags meine Schicht im Louvre beginnt.«

»Hast du noch welche von den Bildern, die du gemalt hast?«

Xavier senkte den Kopf, um ihren Blick einzufangen und ihn wieder auf sein Gesicht zu lenken. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich musste all meine Bilder weiß übermalen und die Leinwände verkaufen«, sagte Éliane und betrachtete Xavier.

Sein dunkles Haar, die tiefbraunen Augen und sein gut gebauter Körper waren sehr attraktiv, doch es war seine liebenswürdige Art, die ihn nahezu unwiderstehlich machte. Sein Vater besaß weltweit Kunstgalerien, Xavier selbst traf sich mit Künstlern wie Matisse. Demnach war er vermögend und hatte die besten Beziehungen. Sowohl seine Kleidung als auch sein Verhalten verrieten einen selbstbewussten Mann, einen, der seinen Platz in der Welt kannte. Doch statt sich mit seinem Geld oder seiner Bekanntschaft mit berühmten Künstlern zu brüsten, erkundigte er sich nach ihrer Malerei.

Diese Freundlichkeit und Warmherzigkeit, das aufrichtige Interesse in seinen Augen, all das war so berauschend, dass sie keine weitere Stimulation brauchte und ihr Weinglas fortschob. »Du wolltest etwas über dich und die Galerie deines Vaters sagen«, erinnerte sie ihn.

»Ich habe soeben mein Jurastudium beendet«, erzählte er. »Das war der Kompromiss zwischen meinem Vater und mir: Ich studiere in Oxford und darf dann meine letzte Affäre mit Ölfarben und Leinwand genießen, wie er es nennt. Ein Jahr lang werde ich von ihm lernen, wie man eine Kunstgalerie führt, und in meiner Freizeit darf ich malen.« Er warf einen Blick auf die bunten Farbflecke an seinen Händen und zuckte die Achseln. »Anschließend bleibe ich in Paris und vertrete unsere Interessen in Europa. Mein Vater kümmert sich um den englischen und amerikanischen Markt. Hitler ist unberechenbar, schon deshalb müssen wir für die Sicherheit unserer Objekte sorgen. Nur für den Fall, dass es – « Er brach ab.

»Glaubst du, es gibt Krieg?«, fragte Éliane bedrückt.

»Ich weiß es nicht.«

Éliane lehnte sich ein wenig vor und wartete gespannt. Würde er noch mehr dazu sagen? Ihre Eltern schien dieses Thema nicht zu interessieren, Luc tat es lachend ab, und mit ihren kleinen Schwestern konnte sie nicht darüber sprechen; es würde sie zu sehr ängstigen.

»Ich hoffe, Hitler hat langsam genug«, fuhr Xavier fort. »Er hat Österreich, das Sudetengebiet, Böhmen und Mähren erobert und einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion geschlossen. Außerdem wurden alle jüdischen Künstler aus Deutschland und den eroberten Gebieten vertrieben. Auch den Künstlern, die nicht nach Hitlers Geschmack malen, wird ein Berufsverbot erteilt. Er begnügt sich nicht damit, in andere Länder einzumarschieren, sondern ist auch dabei, ihre Kunst und Kultur zu zerstören.«

»Dass ein Krieg sich auch auf die Kunst auswirken kann, war mir gar nicht klar«, sagte Éliane nachdenklich. »Dabei muss man nur an frühere Kriege zurückdenken. Natürlich fallen dem Krieg alle möglichen Dinge zum Opfer.«

»Alles leidet, wenn schlechte Menschen an die Macht kommen. Und manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es mehr schlechte als gute.« Xavier schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Wein. »Entschuldige, ich bin nicht gekommen, um über unerfreuliche Dinge zu reden. Ich bin gekommen, um …«

Er sah sie an, und das tiefe Braun seiner Augen erinnerte sie an ein Gemälde von Rembrandt. Als er blinzelte, fühlte Éliane sich einen Moment lang beraubt.

»Ich wollte dich zum Lächeln bringen«, sagte er schließlich, ohne den Blick abzuwenden oder die Bedeutung zu verhehlen, die hinter seinen Worten lag. »So, wie du deinen Bruder heute auf der Straße angelächelt hast. Es war wunderschön.«

Bei seinen Worte verzog sich nicht nur Élianes Mund zum besagten Lächeln, ihr ganzes Gesicht strahlte eine intensive Freude aus, die sich in Xaviers Miene widerspiegelte.

Sie traute sich nicht, es auszusprechen, doch in ihrem Kopf war nur ein Gedanke. Dein Lächeln ist auch wunderschön.

Kapitel 2

Auf dem Weg zur École begegneten Éliane vielen Menschen, die Gasmasken gekauft hatten. Und am Nachmittag, als sie am Empfangstisch des Louvre saß, gingen ihr abwechselnd die Nachricht, dass Belgien und die Niederlande nun auch mobilmachten, um sich gegen einen deutschen Angriff verteidigen zu können, und Gedanken über Xavier durch den Kopf.

In der vergangenen Woche hatten sie sich jeden Abend gesehen. Er kam stets kurz nach zehn Uhr, wenn Éliane dabei war, die Brasserie zu schließen. Dann tranken sie zusammen ein Glas Wein und unterhielten sich.

Mitunter erzählte Éliane ihm dann etwas, das sie bisher noch nie laut ausgesprochen hatte, illoyale Dinge über ihre Familie – und Luc. Dass ihr Bruder sein Studium vernachlässigte, obwohl es ihm als Ausrede diente, nicht arbeiten zu müssen, was sie manchmal wütend machte und neidisch, weil sie diese Möglichkeit nicht hatte. Hätte sie so viel freie Zeit wie er, hätte sie mehr vorzuweisen als die neuesten Klatschgeschichten und jeden Morgen einen Kater vom Weintrinken.

»Nicht, dass ich mir über mein Talent Illusionen mache«, sagte sie und wandte den Blick von Xaviers mitfühlender Miene ab, bei der ihre Augen zu brennen begannen. »Ich habe keine Zeit zum Malen, und das Wenige an Talent, das ich vielleicht besitze, kann sich nicht entfalten. Aber wenn ich nicht nur vormittags, sondern auch nachmittags Kunst studieren und über Kunstwerke Seminararbeiten schreiben könnte, dann – «

Errötend brach sie ab. Warum schüttete sie dem Mann ihr gegenüber ihr Herz aus, obwohl sie ihn kaum kannte? Nur, weil er Luc und den Lokalen von Montparnasse jeden Abend den Rücken kehrte, um mit ihr Zeit zu verbringen?

»Dann was?«, fragte er sanft. »Dann könntest du etwas für dich tun, statt immerfort zu arbeiten und dich um deine Geschwister kümmern zu müssen?«

Sie sah ihn an. Und auch wenn sie das Gefühl hatte, ihre Familie, einschließlich ihrer unschuldigen Schwestern, zu verraten, sagte sie: »Ja.«

Ihre Wünsche waren sinnlos. Éliane spürte, wie eine Träne überquoll und ihre Wange hinunterrann. Xavier ballte die Hände zu Fäusten, als wolle er für die Verwirklichung ihrer unmöglichen Träume kämpfen.

In diesem Moment trat ein Besucher des Louvre an ihren Tisch und holte sie mit einer Frage nach dem Weg zur Skulpturengalerie ins Hier und Jetzt zurück. Ihr Blick fiel auf das Gemälde Die Schlacht von San Romano von Paolo Uccello. Im Vordergrund bäumte sich ein Rappe auf, bereit zum Angriff, im Hintergrund ließen lange, blutrote Lanzen ahnen, was folgen würde.

Sie erschauderte. Kunst war nicht immer erhebend. Manchmal zeigte sie auch die ungeschminkte, hässliche Wahrheit.

»Mademoiselle Dufort.« Jaujard stand vor ihr, hochgewachsen und würdevoll, die Miene so ernst wie auf einem Portrait aus der Renaissance.

»Morgen schließen wir das Museum für drei Tage, um notwendige Instandhaltungsarbeiten durchzuführen«, sagte er. »Ich brauche so viele Helfer wie möglich. Sind Sie und Ihr Bruder verfügbar?«

»Natürlich«, antwortete Éliane. »Ich könnte auch noch einen Freund fragen. Er ist Maler und arbeitet in einer Galerie.«

»Das wäre wunderbar.«

Bevor sie ihm irgendwelche Fragen zum Ablauf stellen konnte, wandte Jaujard sich um und trat zu einem der Freiwilligen, die im Louvre arbeiteten. An ihn schien er die gleiche Bitte zu richten.

Éliane war verwundert, dass der Louvre drei Tage lang geschlossen bleiben sollte. So etwas war bisher noch nie vorgekommen.

Sie blickte auf die dicht gedrängten Pferde des Uccello-Gemäldes, die aussahen, als könnten sie jeden Augenblick von der Leinwand in die Empfangshalle galoppieren. Eine Gruppe Besucher trat ein, und ihre Unterhaltung über le boche, die Deutschen, und Hitler hallte durch den Raum.

Élianes Gedanken kehrten zu Jaujard zurück. Drei Tage waren viel zu wenig, um das riesige Museum auf Vordermann zu bringen. Was also hatte er vor?

* * *

Als Éliane, Xavier und Luc am nächsten Tag im Louvre eintrafen, waren dort bereits zahllose Helfer versammelt – Kunststudenten, Angestellte des Louvre, sogar Verkäufer und Verkäuferinnen aus den Kaufhäusern Les Grands Magasins du Louvre und La Samaritaine.

Jaujard begann, seine Pläne zu erläutern. »Heute beginnen wir damit, unsere Kunstwerke in Sicherheit zu bringen. Schließlich würde nur eine einzige Bombe ausreichen, um …« Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen, aber dennoch lief ein Schauder durch die Menge. »Allerdings fürchte ich nicht nur die Bomben.« Seine Stimme erfüllte die Eingangshalle. »Adolf Hitler führt Krieg gegen die europäische Kultur. Bei einer Kundgebung in München hat er geschworen, alle Werke, die gegen den deutschen Kunstgeschmack verstoßen, zu vernichten. In Deutschland und in den besetzten Gebieten wurden und werden Unmengen an Gemälde zerstört, weil die Nazis sie für ›entartet‹ befinden. Dazu zählen Bilder großer Impressionisten, Expressionisten, Surrealisten, Dadaisten und Kubisten. Die Werke, die ihrer engen Definition von Kunst entsprechen, rauben die Nationalsozialisten hingegen, um sich selbst zu bereichern. Dazu zählen Gemälde von Rubens, Tizian und da Vinci. Wir können also nur beten, dass sie den Louvre niemals betreten. Doch sollte es dazu kommen, werden sie hier keine wertvollen Exponate mehr finden.«

Die Anwesenden jubelten. Éliane tat es nicht. Sie wusste nun, was mit »Instandhaltung« gemeint gewesen war, doch dass die Lage so bedrohlich war, machte ihr Angst. Wertvolle und unersetzliche Gemälde wurden nur dann den Risiken eines Transports ausgesetzt, wenn eine Katastrophe bevorstand. Diese Sicherheitsvorkehrungen mussten bedeuten, dass Deutschland Frankreich angreifen würde, und zwar bald.

Dann wären auch ihre Schwestern in Gefahr – Angélique, Jacqueline, Ginette, Yolande … der Gedanke war unerträglich. Und zu allem Überfluss würden die Deutschen also versuchen, die französischen Museen zu plündern und die Menschen all der Kunstschätze zu berauben, die sie glücklich machten, zu Tränen rührten oder in Erstaunen versetzten. Éliane hatte selbst miterlebt, wie sich die Miene eines Besuchers vollkommen verändern konnte, wenn er ein Kunstwerk erblickte, das ihn tief berührte und das er nie mehr vergessen würde. Und all das sollte ihnen genommen werden?

Die freiwilligen Helfer begannen mit der Arbeit. Die Männer trugen Schutz- und Verpackungsmaterial in die Grande Galerie: Kisten, Holzlatten, Pappröhren, Polsterwatte und Sandsäcke. Unter Jaujards wachsamen Augen wurden die Buntglasfenster vorsichtig entfernt. Studierende der École begannen, Gemälde abzuhängen. Xavier half, die Kisten mit Codes zu beschriften, die den Inhalt unkenntlich machten. MN stand für Musées Nationaux. Eine Reihe von Buchstaben stand für die Abteilung des Louvre, zu der die Werke gehörten, dann folgten Nummern für die einzelnen Kunstwerke. Das leise Klappern der Schreibmaschinen war zu hören, während die Sekretärinnen die entsprechenden Listen in vierfacher Ausführung tippten. Und immer wieder erklangen die Hammerschläge, mit denen Kisten zugenagelt wurden.

Als Maler war Luc mit einer Arbeit betraut worden, bei der es um Geschick und Fingerspitzengefühl ging. Er nahm die größten Gemälde aus ihren Rahmen, rollte sie vorsichtig auf Pappspulen und schob sie in Röhren aus dicker Pappe.

Éliane erhielt von Jaujard eine Liste der Kunstwerke und ein dickes Bündel Seiten, die mit runden, bunten Aufklebern bestückt waren. »Die gelben Aufkleber kommen auf die Kisten, die den Großteil der Werke enthalten«, erklärte Jaujard. »Die grünen sind für die sehr bedeutenden Werke. Zwei rote kennzeichnen ein Kunstwerk, dessen Verlust einfach unvorstellbar ist. Und drei rote stehen für das Gemälde, das unter gar keinen Umständen verloren gehen darf.«

»La Joconde.«

Jaujard nickte.

Éliane befestigte die Aufkleber auf Kisten, die die französischen Kronjuwelen enthielten, auf Artefakten des Alten Ägyptens, auf der Röhre, in der sich das riesige, zusammengerollte Gemälde Hochzeit zu Kana von Veronese befand. Sie war eine der wenigen, die dabei waren, als man La Jaconde – die Mona Lisa – von der Wand nahm. Das Gemälde wurde in einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Kiste aus Pappelholz untergebracht, die Éliane mit drei roten Aufklebern versah. Sie war auch dabei, als Jaujard dem Kurator Pierre Schommer einen Brief schrieb. Schommer würde die ungewöhnliche Fracht im Château de Chambord an der Loire in Empfang nehmen, dem vorläufigen Lager für jahrhundertealte Kunstwerke von unschätzbarem Wert.

Der Code auf der Kiste, die da Vincis weltberühmtes Gemälde enthielt, bestand nur aus den Buchstaben MN. In seinem Brief bat Jaujard Schommer, beim Empfang die Buchstaben LPO zu ergänzen. Zusammen mit den drei roten Aufklebern sollte diese Buchstabenkombination die echte Mona Lisa kennzeichnen.

Éliane prägte sich den Code ein, nur für alle Fälle.

Die Dämmerung brach bereits an, als die Mona Lisa mit der ersten Lastwagenkolonne entschwand. Éliane und Luc sahen ihr hinterher.

Éliane wandte sich an ihren Bruder. »Ich kann jetzt nicht einfach in die Brasserie gehen und Vaters Freunde bedienen, als wäre nichts gewesen.« Die Strafe ihres Vaters für ihren Ungehorsam würde sie in Kauf nehmen müssen.

»Nein«, sagte Luc, der ungewöhnlich ernst wirkte. »Das kannst du nicht.«

Sie kehrten in die Grande Galerie zurück, deren Wände nahezu leer waren. Nur die hellen Rechtecke verrieten, dass hier einmal Bilder gehangen hatten. Auch die Sockel der Skulpturen waren verwaist, und die Stimmen der Helfer hallten von den Wänden wider, als befänden sie sich in einer Bahnhofshalle und nicht an einem Ort der Schönheit und der Kunst.

Éliane versuchte, sich eine Welt ohne Paris vorzustellen, dann ein Paris ohne Palais du Louvre als Mittelpunkt und schließlich ein Museum, dem das Herz in Form seiner Kunstwerke fehlte. Es gelang ihr nicht, und sie merkte, wie ihre Augen feucht wurden.

Sie hatte den Eindruck, dass auch Luc Tränen unterdrückte, doch er schritt einfach davon, verschwand in dem Staub, der in der Luft hing.

Gegen Morgen wurde die über drei Meter hohe Statue der Nike von Samothrake, die aus hundertachtzehn Marmorfragmenten zusammengesetzt war, von ihrem Platz am Kopfende der Daru-Treppe entfernt.

Die hellen, weit ausgebreiteten Flügel glänzten im Licht des frühen Tages, und der Anblick der Siegesgöttin erinnerte daran, dass Kriege gewonnen werden und Menschen nicht nur Kriege führen, sondern auch Dinge unendlicher Schönheit erschaffen konnten.

Langsam, Stück für Stück, wurde die von Seilen umschlungene Siegesgöttin mit Flaschenzügen hochgehoben und mit ihrem gewaltigen Gewicht von dreißig Tonnen auf der Rampe über der Treppe abgesetzt.

Einige Helfer wandten den Blick ab oder bedeckten ihre Augen mit der Hand, um nicht zusehen zu müssen. Éliane hielt den Atem an. Xavier stand dicht neben ihr, und während die Göttin langsam über die Rampe nach unten glitt, spürte sie, wie heftig sein Herz schlug. Wenn die Statue ins Schwanken oder gar Taumeln geriet, hörte sie, wie die Umstehenden zischend einatmeten.

Die Siegesgöttin durfte nicht fallen.

Xavier berührte Élianes Hand, verflocht seine Finger mit ihren.

Noch drei Stufen. Zwei. Eine.

Dann war die Statue sicher am Fuß der Treppe angelangt, ohne in tausend Stücke zu zerbrechen.

Von den Umstehenden war ein Seufzer der Erleichterung zu vernehmen, ein wundervoller Laut, geradezu hymnisch, der von den Marmorwänden widerhallte und von Raum zu Raum getragen wurde.

»Ich möchte glauben, dass sie ein gutes Omen ist.« Mit einer Kopfbewegung deutete Éliane auf die geflügelte Göttin. »Ein Versprechen, dass es keinen Krieg gibt und niemand umkommt.«

»Das würde ich auch gerne glauben.« Xavier hielt immer noch ihre Hand.

Ringsum sah es jedoch aus, als hätte der Krieg bereits begonnen. Um die Statuen, die zum Transport zu groß und zu schwer waren, wurden Sandsäcke gestapelt, auf den Böden lagen Holzreste verstreut, als hätte es eine Explosion gegeben, und die Mienen der Helfer waren voller Sorge.

Und in diesem Moment wusste Éliane – mit der gleichen Gewissheit, mit der sie mitten in der Nacht spürte, wenn eine ihrer Schwestern fieberte, und sie aufstand, um ihre Stirn zu fühlen –, dass das Versprechen nicht erfüllt werden würde. Es würde Krieg geben. Die Frage war nur, wann. Und wer nach dem Krieg noch da sein würde, um die Siegesgöttin wieder auf ihren angestammten Platz zurückschweben zu sehen.

* * *

Jaujard entließ die Helfer, die seit dem vergangenen Tag durchgearbeitet hatten, in eine wohlverdiente Pause. Luc verschwand, um seine neueste amour zu besuchen. Xavier und Éliane verließen das Museum Hand in Hand.

Sie wanderten durch den Jardin des Tuileries, über die Place de la Concorde zu den Jardins des Champs-Élysées. Hinter den hohen Gebäuden zu ihrer Linken floss die Seine. Die Morgensonne fiel wie ein Segen auf sie herab, die Kastanienbäume streckten ihre Äste dem Himmel entgegen. Vögel sangen, Springbrunnen plätscherten, Blumen wiegten sich im sanften Wind. Es war ein Spätsommermorgen von geradezu malerischer Schönheit, an dem die Natur bewies, dass sie die großartigsten aller Kunstwerke erschuf. All das verlieh Éliane den Mut, Xavier um etwas zu bitten, das ihr bisher zu persönlich erschienen war. Auch die Berührung seiner Hand, die Nähe seines Körpers, sein Blick, der ihr in den vergangenen Tagen so viel über seine Gefühle verraten hatte, ließen sie hoffen, dass es in seinem Herzen einen Winkel gab, zu dem sie Zutritt hatte.

»Darf ich deine Bilder sehen?«, fragte sie. »Oder hast du nach gestern erst mal genug vom Thema Kunst?«

Der Griff seiner Hand verstärkte sich. »Von der Kunst habe ich nie genug.«

Sie bogen in Richtung der Rue la Boétie ab und erreichten nach kurzer Zeit Laurent’s, die Galerie seines Vaters. Xavier öffnete die Tür.

»Da seid ihr«, rief ein Mann, der wie eine ältere Version von Xavier aussah – hochgewachsen und distinguiert, das dunkle Haar von grauen Fäden durchzogen.

»Das hier ist Éliane Dufort«, sagte Xavier. »Und das ist Pierre Laurent, mein Vater.«

»Endlich lerne ich Sie kennen.« Xaviers Vater schüttelte Élianes Hand. »Xavier hat mir erzählt, dass Sie eine Freundin der Malerei sind. Möchten Sie sich umschauen?«

Er deutete auf die Wände, an denen phantastische Gemälde von großer Sinnlichkeit ausgestellt waren. Sie zeigten halb entblößte Frauen auf Chaiselongues oder in Sesseln, gewandet in luftige Kleidung von orientalischer Pracht. Um sie herum standen prall gefüllte Blumenvasen, und den Hintergrund schmückten bunt bedruckte Tapeten.

»Odalisken von Matisse«, erkannte Éliane und trat näher an die Bilder heran.

»Eine Frau, die sich auskennt«, bemerkte Laurent anerkennend. Dann ließ er sie die Galerie in Ruhe erkunden.

Xavier und Éliane streiften durch die Räume, vorbei an Bildern voller leuchtender Farben – vor allem Rot, Blau und Smaragdgrün.

Xavier machte sie auf dieses Grün aufmerksam, indem er auf eine seidige Hose in einem der Gemälde deutete. »Das ist die Farbe deiner Augen. Nicht immer zwar, nicht, wenn du in der Brasserie arbeitest. Aber jetzt.«

»Weil ich mit dir zusammen bin.« Es war die Wahrheit, die sich aus ihrem Herzen auf ihre Zunge drängte.

Xaviers Augen strahlten – dunkles Braun mit Blattgold bestrichen.

Die Farben schienen aus den Gemälden zu strömen und zwischen ihnen zu funkeln. Das Rot floss in Élianes Hals, stieg hinauf in ihre Wangen.

Xavier ergriff wieder ihre Hand. »Meine Bilder sind oben. Falls du sie noch sehen möchtest.«

Sie nickte, den Blick auf seinen Mund gerichtet, während er sprach. Sein Blick wanderte über ihre Wangenknochen hinab zu ihren Lippen.

Er führte sie die Treppe hinauf in einen großen lichtdurchfluteten Raum voller Gemälde. In einer Ecke standen eine Staffelei und ein Tisch, auf dem farbverschmierte Lappen, Farbtuben und eine Mischpalette lagen. Xavier wies auf die ungerahmten Bilder, die nebeneinander an der Wand lehnten.

Éliane sah sich jedes einzelne gründlich an und war überwältigt. Luc hatte seinen Freund stets als vielversprechenden Maler bezeichnet, doch damit war er ihm nicht einmal im Ansatz gerecht geworden. Éliane wurde bewusst, dass Xavier wohl aus Rücksicht auf ihre unerfüllte Sehnsucht, selbst zu malen, nie von seinem Können sprach und seine Gemälde nur selten erwähnte. Diese Erkenntnis berührte sie tief, und ihre Zuneigung zu ihm wuchs. Er wusste, was in ihr vorging, und fühlte mit ihr.

Dann fiel ihr auf, dass sie noch gar nichts zu seinen Bildern gesagt hatte und er ihr Schweigen womöglich falsch deuten könnte. »Das mag ich am liebsten«, sagte sie und zeigte auf ein farbgewaltiges, abstraktes Gemälde.

»Das hat Édouard de Rothschild gekauft. Morgen bringe ich es zu ihm.«

»Rothschild«, wiederholte Éliane andächtig. Diese Familie besaß eine der bedeutendsten Kunstsammlungen Frankreichs.

»Manchmal …«, Xaviers Stimme versickerte.

Éliane wandte sich ihm zu, um ihm zu signalisieren, dass sie hören wollte, was immer er zu sagen hatte.

»Manchmal, wenn ich die Gemälde hier in der Galerie betrachte und mir die künstlerische Kraft vor Augen führe, die dahintersteckt, erkenne ich auf schmerzhafte Weise, dass ich talentiert bin, aber nicht brillant. Dann sage ich mir, dass ich mich auf den An- und Verkauf großer Kunst konzentrieren sollte, statt selbst nach dem Unerreichbaren zu streben. Und dann verkaufe ich etwas, das ich gemalt habe, an jemanden wie Rothschild und frage mich, ob ich nicht vielleicht zu … zu pragmatisch denke. Vielleicht kann ich meinen Lebensunterhalt doch als Maler verdienen. Es fällt mir schwer, diesen Traum aufzugeben.«

»Bist du sicher, dass du ihn aufgeben solltest? Meinst du nicht, so eine pragmatische Entscheidung könntest du später bereuen?«, entgegnete Éliane und dachte an alles, was sie geopfert hatte, um ihre Familie ernähren zu können. Sie sprach aber nicht davon, es hätte zu sehr nach Selbstmitleid geklungen. »Du darfst nicht aufhören zu malen.« Sie wandte sich ab und strich mit einer Fingerspitze über die glänzenden Mulden getrockneter Farbe auf der Palette.

Seine Hand näherte sich der ihren, strich über ihren Handrücken und dann ihr Handgelenk entlang. Er war dichter an sie herangetreten. Sie hörte, dass sein Atem schneller ging.

»Éliane.« Er sagte es, als wäre ihr Name etwas Kostbares – als wäre sie kostbar.

Er legte eine Hand auf ihre Wange, fuhr mit dem Daumen sanft über den Wangenknochen. Jede seiner Bewegungen schien eine Ewigkeit zu dauern, mit jeder Berührung wünschte sie sich die nächste herbei, wollte, dass es schneller geschah.

Und dann war es so weit. Sie spürte seinen Kuss überall, bis in die Spitzen ihrer Finger und Zehen. Es war ein so wundervoller Kuss, dass ihr Tränen in die Augen schossen.

Xavier wischte ihre Tränen fort und küsste die Stellen, wo sie gewesen waren. Sie bot ihm ihren Mund dar, wollte seine Lippen wieder dort spüren. Ihre Körper drängten sich aneinander. Sie legte eine Hand auf seinen Nacken, und er umschloss ihr Gesicht mit den Händen, bis sie dem goldenen, eng umschlungenen Paar in Klimts Gemälde ähnelten. Für sie existierte nichts als dieser Moment, dieser Kuss.

Und dann ertönte von unten die Stimme von Xaviers Vater, der rief: »Hitler hat Polen überfallen.«

* * *

Éliane rannte den ganzen Weg nach Hause. In der Wohnung saß ihre Mutter am Küchentisch und weinte, das Gesicht in den Händen vergraben. Dabei weinte sie sonst nie, nicht einmal, wenn sie sich den Arm oder die Hand am Herd der Brasserie verbrannte.

Luc, ihr Vater und Angélique waren auch da. Luc reichte Éliane ein amtliches Schreiben. Es enthielt den Einberufungsbescheid für ihn und ihren Vater.

»Im Radio haben sie gesagt, dass Frankreich Deutschland den Krieg erklärt, falls die deutschen Truppen sich nicht bis morgen um fünf Uhr aus Polen zurückziehen«, sagte Angélique mit zittriger Stimme. »England wird es auch tun.«

»Ab sofort ist die Familie hauptsächlich auf deine Einnahmen angewiesen«, sagte ihr Vater zu Éliane. Dann wanderte sein Blick zu Luc. »Und unser genialer Herr Künstler hier wird leider nicht die Möglichkeit bekommen, sein Talent endlich einmal gewinnbringend einzusetzen.« Sein Sarkasmus trieb Luc die Zornesröte ins Gesicht. Er hob die Faust, als wolle er seinen Vater schlagen.

Éliane packte Lucs Arm und zog ihn aus der Wohnung und die Wendeltreppe hinunter. Auf der untersten Stufe ließen sie sich nieder. Die Spiegel auf beiden Seiten des Eingangs waren voller Sprünge und zeigten eine zersplitterte Welt. Auf einem Sockel stand eine Putte, so wacklig und schief, dass sie betrunken wirkte und jeden Augenblick herunterzustürzen drohte.

Éliane reichte ihrem Bruder eine Zigarette und zündete auch sich selbst eine an.

»Kriegsdienst«, sagte Luc bitter. »So viel zu meinem Traum, ein Maler zu werden, der es mit Picasso aufnehmen kann.«

Warum hast du dann nicht mehr gemalt?, dachte Éliane. Dich nicht mehr angestrengt? Warum waren die Cafés und Weinlokale in Montparnasse wichtiger als deine Kunst?

Luc lächelte reumütig. »Wenn ich geahnt hätte …«

Éliane blickte in die leeren, verstaubten Schaufenster der Geschäfte, verfolgte die Rauchfäden, die von ihren Zigaretten emporstiegen und vor der heruntergekommenen Brasserie verwehten. »Ich werde mein Studium aufgeben müssen und nur noch im Louvre und in der Brasserie arbeiten.«

Luc nickte. »Maman wird die Brasserie nicht allein führen können.«

In der Nacht kletterten ihre Schwestern zu Éliane ins Bett und klammerten sich an sie. Ihr Vater und ihr Bruder würden am nächsten Tag in den Krieg ziehen, und Éliane war diejenige, die für sie sorgen und sie beschützen würde. Um sie zu beruhigen, sang Éliane »Au clair de la lune«, Yolandes Lieblingslied. Angélique drehte sich zu ihr um und blickte sie an, ihre Augen zwei große dunkle Flecke. Éliane lächelte, als wolle sie sagen: Alles wird gut.

Nach und nach schliefen sie alle ein. Nur Éliane nicht.

* * *

Am nächsten Morgen verschwand Luc für einige Stunden. Kurz bevor er sich zum Kriegsdienst melden musste, kehrte er zurück und zog einen prall gefüllten Umschlag aus seiner Jacketttasche. »Xavier hat mich Édouard de Rothschild vorgestellt, und er hat eins meiner Bilder gekauft.«

Er schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Küchentisch. Es waren mehr Geldscheine, als Éliane jemals zuvor auf einmal gesehen hatte. Ihr Vater griff gierig danach und küsste die Scheine. Dann küsste er Luc auf die Stirn und legte einen Arm um ihn.

Angélique stieß Freudenschreie aus. Die kleineren Geschwister umringten Luc und blickten zu ihm auf, als wäre er ein König. Ihre Mutter sank auf einen Stuhl und sah abwechselnd das Geld und ihren Sohn ungläubig an.

»Du hast Rothschild ein Gemälde verkauft?«, sagte Éliane und lachte vor Glück. Sie hatten Geld. Und Luc hatte einen vermögenden Mäzen gefunden. Es war, als wäre ein wunderbarer Traum aus der Asche des vorherigen Tags aufgestiegen und wahr geworden.

»Habe ich dich also zu Recht als genial bezeichnet.« Ihr Vater zerzauste Lucs Haar. Von seinem sarkastischen Ton fehlte diesmal jede Spur.

»Ich habe euch etwas Schönes mitgebracht.« Luc verteilte Päckchen an jede der kleinen Schwestern. Quietschend vor Freude zeigten sie einander ihre Schätze, die eigentlich eher zu Malermodellen als zu kleinen Mädchen gepasst hätten – Modeschmuck, Seidenstrümpfe, die Pariser Vogue.

»Du nimmst das Geld an dich«, sagte Luc zu Éliane. »Das ist dein Geschenk.« Er zwinkerte ihr zu, und es versetzte Éliane einen kleinen Stich, dass er ihr nichts gekauft hatte. Doch das war albern – das Geld in ihre Obhut zu geben, war pragmatisch und das beste Geschenk überhaupt.

»Welches Gemälde hat Rothschild gekauft?«, fragte sie neugierig.

»Das, auf dem ich mich mit einem meiner Modelle gemalt habe. Es trägt den Titel Die Liebenden.«

Die Liebenden, dachte Éliane, und ihr war, als spürte sie Xaviers Lippen wieder auf ihren. Wie viel seit diesem Kuss geschehen war. Und was würde aus ihr und Xavier werden, nun, da Frankreich im Krieg war? Was zwischen ihnen war, hatte gerade erst begonnen, und jetzt …

Statt weiter an den Krieg und eine ungewisse Zukunft zu denken, versuchte Éliane, sich an das Gemälde zu erinnern, das ihr Bruder beschrieben hatte. In seinem Atelier in Montparnasse gab es zahlreiche Gemälde seiner Modelle, doch in der Regel waren sie jeweils allein abgebildet und räkelten sich unbekleidet auf einem zerwühlten Bett oder schicken Sofa. Es wunderte sie, dass so etwas Rothschilds Geschmack entsprach.

»An das Bild kann ich mich nicht erinnern«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte es sehen.«

»Dann müsstest du zu den Rothschilds eingeladen werden«, entgegnete Luc trocken.

»Ich bin stolz auf dich«, sagte Éliane. »Aber ich habe von jeher gewusst, dass du eines Tages berühmt sein wirst.«

»Wenn ich die Deutschen besiegt und mir als Maler einen Namen gemacht habe, wirst du vor mir knicksen müssen«, erwiderte Luc lachend.

Éliane stimmte in sein Lachen ein. »Pass auf dich auf. Und – « Sie überlegte, ob sie die nächsten Worte aussprechen konnte, doch dann überwand sie sich und sagte: »Und auf Vater.«

»Der kann selbst auf sich aufpassen«, erwiderte Luc. Und dann war er fort.

Am Abend übernahm ihre Mutter die Aufgaben ihres Mannes in der Brasserie. Angesichts des bevorstehenden Kriegs war den wenigen Stammgästen die Lust auf Geselligkeit anscheinend vergangen, und Éliane hatte noch weniger zu tun als sonst. Ohnehin war sie mit den Gedanken ganz woanders, denn bei jedem Bimmeln der kleinen Glocke über dem Eingang flog ihr Blick sehnsüchtig zur Tür.

Endlich kam Xavier, sogar früher als üblich. Éliane sah das dunkle Haar, die faszinierenden Augen, den leichten Bartschatten, all die aufregenden Details, die Xavier ausmachten, und auf ihrem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. Statt ihn mit Worten zu begrüßen, küsste sie ihn lang und leidenschaftlich.

Dann machte ihr Überschwang sie verlegen, und sie lehnte ihre Stirn an seine. »Vielleicht hätte ich erst einmal Guten Abend sagen sollen.«

Lächelnd schüttelte Xavier den Kopf. »Ich finde, wir sollten uns immer so begrüßen«, murmelte er an ihren Lippen. »Abgesehen davon habe ich ja auch nicht Guten Abend gesagt. Das tue ich hiermit.« Er küsste Éliane hingebungsvoll.

Schließlich zog Éliane ihren Kopf ein Stück zurück, um mit Xavier reden zu können, doch ihr Körper blieb weiterhin an seinen gepresst. »Danke, dass du Luc mit Rothschild bekannt gemacht hast. Ohne deine Hilfe hätte Luc ihm sicherlich nichts verkaufen können.«

»Ich war Luc etwas schuldig – ohne ihn hätte ich dich nicht kennengelernt.« Xavier griff nach einer Locke, die sich aus Élianes Haarspange gelöst hatte. »Weißt du, wie wunderschön ich dein Haar finde?«

Sie setzten sich an einen Tisch einander gegenüber. Die Trennung überwanden sie, indem Éliane Xaviers Bein mit dem Fuß berührte, er ihr eine Gauloise anzündete und seine Finger die ihren streiften, zart wie ein feiner Pinsel auf einer Leinwand, nur dass eine Leinwand dabei nicht so erbebte, wie Éliane es tat.

* * *

Seltsamerweise hatten sie in den Monaten danach eine wundervolle Zeit, denn der Krieg schien auszubleiben, die deutschen Truppen hielten sich zurück. »La drôle de guerre« nannten die Franzosen diesen Krieg spöttisch. Ein drolliger Krieg. Nichts hatte sich geändert, außer dass die Fenster abends verdunkelt werden mussten, Luc und Élianes Vater nicht bei ihnen waren, und natürlich, dass Xavier Éliane in einen regelrechten Liebestaumel versetzt hatte.

Auch die Arbeit ging weiter, obwohl im Louvre mittlerweile nur noch zehn Prozent der Gemäldesammlung übrig war, sowie die wenigen Statuen, die man nicht hatte transportieren können.

Jaujard behielt Éliane, er wusste, dass sie das Geld brauchte. Sie half ihm bei der Korrespondenz mit den Schlössern in Frankreich, in denen die Kunstschätze der Nationalmuseen nach und nach untergebracht worden waren.

An diesem Winterabend ging Éliane nach ihrer Schicht in die Wohnung statt in die Brasserie. Ihr Vater hatte zwei Wochen Heimaturlaub, und die Sorge um ihre Schwestern trieb sie nach Hause. Seit er wieder bei ihnen war, tobte er wegen jeder Kleinigkeit. Im Treppenhaus war jedoch nichts zu vernehmen, und das war höchst ungewöhnlich. Selbst, wenn ihr Vater nicht zu Hause war, hörte man um diese Zeit normalerweise Angélique mit Yolande schimpfen, die irgendetwas angestellt hatte, während Yolande selbst lauthals darüber lachte.

Éliane öffnete die Wohnungstür und traute ihren Augen nicht. Angélique stand seelenruhig am Herd und rührte in einem Suppentopf. Ginette machte Schularbeiten. Jacqueline deckte den Abendbrottisch – und auf dem Fußboden saß Xavier mit Yolande auf dem Schoß und las ihr aus einem Buch vor.

Als Éliane die Tür ins Schloss drückte, sahen alle zu ihr auf und machten einen schuldbewussten Eindruck. Doch niemand sagte etwas.

Xavier hob Yolande von seinem Schoß und stand auf. Seine Anzugsjacke und Krawatte hingen über einer Stuhllehne. Seine Hose und sein Hemd, die vor seinem Besuch wahrscheinlich frisch gebügelt gewesen waren, hatten Knitterfalten. Seine Hemdsärmel hatte er hochgerollt, so dass man die teure Armbanduhr sah, die in der schäbigen Wohnung wirkte wie der Silberlöffel im Nest einer diebischen Elster.

»Bei deiner Rückkehr wollte ich eigentlich schon fort sein«, sagte er und warf einen Blick auf seine Uhr. Sein Gesichtsausdruck glich dem Angéliques. So sahen Menschen aus, die bei etwas Verbotenem ertappt worden waren.

Éliane verstand nicht, wieso Xavier hier war. Warum hatte er Yolande vorgelesen, statt in der Galerie zu arbeiten? Sie sah Angélique fragend an.

Angélique legte den Kochlöffel ab und stemmte die Fäuste angriffslustig in die Seiten. »Ich bin zu ihm in die Galerie gegangen und habe ihn gebeten zu kommen«, sagte sie.

»Was?« Éliane blickte zwischen ihr und Xavier hin und her.

Sie hatte Xavier nie um etwas gebeten und war ihm dankbar, dass er ihr nie Geld angeboten hatte. Sie hätte es ohnehin nicht angenommen. Hin und wieder kaufte er ihren Schwestern eine Kleinigkeit – einen Papierdrachen für Yolande, ein Buch für Ginette, einen frischen Apfel für Jacqueline, eine mit Strass besetzte Haarspange für Angélique. Ein Geldgeschenk wäre wie ein Almosen gewesen und hätte schmerzhaft hervorgehoben, dass sie zu unterschiedlichen sozialen Schichten gehörten. Sie hätte sich dadurch schwach und hilflos gefühlt. Es gab so wenig, worauf Éliane stolz sein konnte, doch dass sie in der Lage war, für ihre Schwestern zu sorgen, zählte dazu.

»Ich wollte zu dir in den Louvre«, erklärte Angélique. »Aber das Museum war geschlossen, und ich konnte nicht hinein. Ich hatte …« Ihre Wangen röteten sich. »Ich hatte etwas Dummes getan und wollte es wiedergutmachen.« Sie warf Yolande einen so liebevollen und fürsorglichen Blick zu, dass es Éliane die Brust zuschnürte.

»Was ist passiert?«, fragte sie und trat näher zu Xavier.

Angélique zuckte mit den Schultern. »Ich habe etwas zu Papa gesagt, das ich nicht hätte sagen sollen.«

»Hat er dich geschlagen?«

Xavier tastete nach Élianes Hand und drückte sie fest.

Soweit Éliane wusste, vergriff sich ihr Vater in seinem Jähzorn nur an ihr und ihrer Mutter. Doch wenn er nun auch Angélique schlug, würde sie während seines Heimaturlaubs in der Wohnung bleiben müssen, um sich, wenn nötig, schützend vor ihre Schwester zu stellen. Sie würde nicht mehr arbeiten gehen können. Und dann hätte die Familie überhaupt kein regelmäßiges Einkommen mehr.

»Nein, aber er hat das Abendessen, das er aus der Brasserie hochgebracht hat, vor Wut auf den Fußboden geworfen. Und Yolande war hungrig. Wir alle waren hungrig.« Sie drückte Yolande an sich. »Ich bin zu Xavier gegangen, um ihn um etwas zu essen zu bitten.«

Éliane entzog Xavier ihre Hand, doch er schlang ihr stattdessen einen Arm um die Taille, so fest, als wolle er sie nie mehr loslassen.

»Und dann hat er uns nicht nur etwas zu essen besorgt, sondern ist auch mit zu uns gekommen.« Angélique sah Éliane trotzig an, vielleicht rechnete sie damit, gescholten zu werden. »Ich habe den Fußboden saubergemacht, und er hat sich um die Kleinen gekümmert.«

»Oh, Angélique«, sagte Éliane. Sie wollte ihrer Schwester keine Vorwürfe machen, wollte die gedrückte Stimmung in der Familie nicht noch verschlimmern. Sie löste sich von Xavier und umarmte ihre Schwester. »Danke, dass du dich um alles gekümmert hast.«

Angélique begann zu weinen. Éliane strich ihr über das Haar und gab tröstende Laute von sich.

Xavier teilte unterdessen die Suppe aus.

»Du musst auch essen«, sagte Éliane zu Angélique. Dann holte sie eine Handvoll Francs aus dem Umschlag, den Luc ihr gegeben hatte, und erklärte, nach dem Essen dürfe Angélique für sich und die kleineren Schwestern Eiscreme kaufen. Angélique sah sie an, als hätte Éliane den Verstand verloren. Doch Éliane hoffte, dass Yolande vielleicht in der Erinnerung an diese seltene Leckerei schwelgen würde, wenn sie das nächste Mal zu wenig zu essen hatten. Sie selbst hatte Xavier, der ihr Kraft gab, doch Yolande hatte nichts, nicht einmal mehr ihre Puppe, die sie an sich drücken konnte, wenn sie mit ihren fünf Jahren die Welt nicht mehr verstand.

»Ich muss in die Brasserie«, sagte Éliane. »Bin jetzt schon zu spät dran. Schlaft schön.«

Sie verließ die Wohnung mit Xavier. Oben an der Treppe blieb er stehen und sah Éliane an. In seinem Blick lagen die unterschiedlichsten Emotionen: Sorge, Zorn und eine Zärtlichkeit, die so tief war, dass Éliane nichts anderes mehr sehen wollte.

Er zog sie an sich und wand seine Finger in ihr Haar.

Éliane versteifte sich vor Angst, er würde etwas sagen, das sie nicht hören wollte, etwas wie: Lass mich dir helfen.

Doch er sagte: »Ellie, ich liebe dich.«

O Gott, dachte sie, gleich fange ich an zu weinen. Sie legte die Arme um ihn, spürte, wie ihre Körper entflammten, und küsste ihn so leidenschaftlich und innig wie noch nie. Er drückte sie gegen die Wand und presste sich an sie.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder von ihr löste. Seine Wangen waren gerötet, und seine Augen glitzerten mit einer solchen Intensität, dass Éliane glaubte, die einzelnen Farbtöne ausmachen zu können, die sich zu diesem einzigartigen Braunton verbanden – blau, golden, grün und rot.

»Ich kann nicht aufhören, dich zu küssen«, sagte er. »Du küsst so wundervoll.« Er studierte ihre Miene. »Bedeutet das, du liebst mich auch?«

Éliane lachte und musste ihn noch einmal küssen, bevor sie antwortete: »Musst du das überhaupt fragen? Natürlich liebe ich dich. Mehr als alles auf der Welt.«

Sein Lächeln war eine einzige Liebkosung.

»Ich liebe dich, Xavier.«

»Es gibt so vieles, was ich mir jetzt wünsche«, sagte er. »Aber am meisten wünschte ich, ich könnte mit dir davongehen und nie mehr hierher zurückkehren.«

Wieder befiel sie die Angst, er würde erklären, dass er ihr helfen wolle. Sie schloss die Augen.

Er küsste ihre Lider.

Als sie die Augen wieder öffnete, sagte er: »Ich weiß, dass du das nicht tun kannst. Auch deshalb liebe ich dich. Du bist der selbstloseste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.« Seine Stimme nahm einen entschiedenen Tonfall an. »Jetzt gehe ich mit dir in die Brasserie, und ich bleibe, bis mindestens ein weiterer Gast erscheint. Denn ich weiß, was dir passiert, wenn du zu spät kommst und keine Zeugen da sind. Das werde ich diesmal verhindern. Es ist nur eine winzige Sache im Vergleich zu allem, was ich gern für dich tun würde. Bitte lass es zu.«

Nun musste sie doch weinen. Sie dachte daran, wie Yolande sich an Xavier gekuschelt und ihre Wange an seine Brust geschmiegt hatte. Das hatte sie bei ihrem Vater noch nie getan. Und dann dachte sie daran, dass Xavier sie, Éliane, liebte. Dass er etwas für ihre Familie tat, jedoch taktvoll genug war, nie zu viel anzubieten.

»Danke«, sagte sie.

»Ich würde alles für dich tun, Éliane.«

Und sie glaubte ihm.

Kapitel 3

Dann kam der Mai 1940. Deutsche Truppen fielen in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg ein und drohten, Frankreich von Norden her anzugreifen. In der Kathedrale Notre-Dame wurde eine Gebetswache abgehalten. Die Reliquien der Heiligen Genoveva, der Schutzpatronin von Paris, wurden durch die Straßen getragen. Éliane sah die Prozession zusammen mit ihren Schwestern, Yolande trug sie dabei auf ihrer Hüfte. Wie klein der Sarkophag mit den Reliquien war. Ein Panzer würde ihn wie eine Ameise zerquetschen. Stell dir so etwas nicht vor, ermahnte sie sich, als sie spürte, wie Yolandes Arm sich haltsuchend um ihren Nacken schlang. Mal dir auch nicht aus, was die Deutschen sonst noch zerquetschen könnten.

Nach einigem Hin und Her hatte die französische Regierung erklärt, sie bleibe standhaft und werde Paris nicht verlassen. Xavier wirkte nun ständig sorgenvoll und sagte Éliane jeden Tag, wie sehr er sie liebte. Sie erwiderte seine Worte aus ganzem Herzen.