Die Bilder der Frauen - Natasha Lester - E-Book
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Die Bilder der Frauen E-Book

Natasha Lester

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Beschreibung

Mit den Augen einer Frau. Paris, 1942: Die Amerikanerin Jessica May soll als Fotojournalistin für die Vogue über den Krieg berichten, doch die Soldaten akzeptieren keine Frau an ihrer Seite. Erst mit Hilfe der Journalistin Martha Gellhorn und des Offiziers Dan Hallworth gelingt es Jessica, aus ihrem ganz eigenen – nämlich weiblichen – Blickwinkel von der Front zu berichten. Inmitten der Gräuel des Krieges verliebt sie sich in Dan und nimmt sich eines kleinen Waisenmädchens an. Doch dann werden Jess und Dan getrennt, und ihre Liebe droht zu tragisch zu enden. Ein vielschichtiger Roman nach der authentischen Geschichte der bedeutenden Fotografin Lee Miller

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Über das Buch

Mit den Augen einer Frau.

Paris, 1942: Die Amerikanerin Jessica May soll als Fotojournalistin für die Vogue über den Krieg berichten, doch die Soldaten akzeptieren keine Frau an ihrer Seite. Erst mit Hilfe der Journalistin Martha Gellhorn und des Offiziers Dan Hallworth gelingt es Jessica, aus ihrem ganz eigenen – nämlich weiblichen – Blickwinkel von der Front zu berichten. Inmitten der Gräuel des Krieges verliebt sie sich in Dan und nimmt sich eines kleinen Waisenmädchens an. Doch dann werden Jess und Dan getrennt, und ihre Liebe droht zu tragisch zu enden.

Ein vielschichtiger Roman nach der authentischen Geschichte der bedeutenden Fotografin Lee Miller

Über Natasha Lester

Natasha Lester war Marketingleiterin bei L’Oréal und verantwortlich für die Marke Maybelline, bevor sie sich entschloss, an die Uni zurückzukehren und Creative Writing zu studieren. Heute lebt sie als Autorin und Dozentin in Perth, Australien, und ist Mutter dreier Kinder. Ihre Romane, in denen es stets um spezifisch weibliche Aspekte der Geschichte geht, sind internationale Bestseller.

Mehr zur Autorin unter www.natashalester.com.au

Christine Strüh übertrug u.a. Kristin Hannah, Gillian Flynn und Cecelia Ahern ins Deutsche. Sie lebt in Berlin.

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Natasha Lester

Die Bilder der Frauen

Roman

Aus dem Englischen von Christine Strüh

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil 2

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 3

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Teil 4

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil 5

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Teil 6

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil 7

Kapitel 25

Kapitel 26

Teil 8

Kapitel 27

Teil 9

Kapitel 28

Kapitel 29

Teil 10

Kapitel 30

Teil 11

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Teil 12

Kapitel 34

Kapitel 35

Teil 13

Kapitel 36

Kapitel 37

Nachwort der Autorin

Dank

Bibliographie

Impressum

Teil 1

Heute, fast fünfzig Jahre später, ist es fast unmöglich

nachzuvollziehen, wie schwer es für eine Frau war,

als Korrespondentin über eine militärische

Etappenposition hinauszukommen, mit anderen Worten,

wirklich an die Front zu gelangen, wo etwas passierte.

David E. Scherman, Korrespondent

des LIFE Magazine

Kapitel 1

New York, September1942 | Jessica May setzte ihr berühmtes Lächeln auf und hob den Arm – ihre Bewegungen waren eigentlich nicht weniger monoton als die der Nieterinnen, Schweißerinnen und all der anderen Frauen, die derzeit in den Fabriken die Arbeit der Männer verrichteten. Nur dass sie keinen Overall trug.

Stattdessen stand sie an diesem strahlenden Herbsttag in einem langen weißen Seidenkleid auf einer weißen Plattform. Das Kleid hätte ein Brautkleid sein können, so geschnitten, dass es vorn eng anlag und sich, gemeinsam mit dem weißen Schultercape, hinter ihr im Luftstrom der auf sie gerichteten Ventilatoren üppig bauschte. Es verlieh ihr die Ausstrahlung eines Himmelswesens. Neben ihr wehten zwei große amerikanische Flaggen, und mit ihrem ausgestreckten Arm sah Jess fast aus, als würde sie gleich etwas höchst Bedeutsames vortragen. Allerdings war auch das nur Teil der hier erschaffenen Illusion, denn seit wann hatte ein Model denn etwas Wichtiges zum Thema Patriotismus und Krieg zu sagen?

Früher hatte sie auf den Straßen von Paris leidenschaftlich gegen den Faschismus demonstriert; zuerst, als seine niederträchtige Ideologie sich in Spanien breitmachte, dann, als diese in Italien und Deutschland immer groteskere Formen annahm. Nun war Jessica May lediglich eine Galionsfigur. Oder besser gesagt – Toni Frissell, die Fotografin, würde sie in eine solche verwandeln, wenn das Foto für das Cover der Vogue sorgfältig zurechtgeschnitten und so manipuliert worden war, dass sie die Menschen Ende 1942 wachrüttelte. Niemand würde je erfahren, dass es in der Realität kein Schiff, kein Wasser, keine Meeresbrise und auch kein Himmelswesen gab, sondern nur ein paar Requisiten auf einer Wiese nördlich von New York, direkt neben einer Herde von Kühen, die mit verwunderten Glotzaugen über die Störung in ihrer normalerweise friedlichen Umgebung nachsannen.

Toni bat Jessica, zu Ehren der Flagge, der Soldaten, ihres Landes als solches und der Tatsache, dass es in einen Krieg verwickelt war, ein ernsteres Gesicht aufzusetzen. Selbstverständlich kam Jess dem sofort nach.

»Perfekt«, sagte Toni kurz darauf. »Ich habe alles, was ich brauche.«

Also verließ Jess die Plattform, winkte jedoch ab, als die Assistentin der Garderobiere ihr beim Heruntersteigen helfen wollte. Unterwegs löste sie das Cape und verschwand dann hinter einem Paravent, wo sie sich von der jungen Frau ins nächste Modell helfen ließ: einen schwarzen Wolljersey-Badeanzug von Claire McCardell mit einem tiefen V-Ausschnitt und einem Verschluss aus Messinghaken und -ösen.

Diesmal nahm Jess zwischen den Flaggen Platz und tat so, als tauche sie die Zehen in Wasser, das die Vogue-Leserinnen außerhalb des Bildrahmens vermuten würden, wandte lächelnd das Gesicht der Sonne zu und lehnte sich auf die Ellbogen zurück, was eine Kuh mit einem anerkennenden Muhen kommentierte. Jess lachte, und Tony drückte genau im richtigen Moment auf den Auslöser.

Fast zeitgleich hielt ein Auto auf dem Feldweg neben der Wiese, und Belinda Bower, Herausgeberin der Vogue und Jess’ Freundin, stieg aus. In Bleistiftrock und auf hohen Absätzen suchte sie sich einen gangbaren Weg über die Wiese – schwankend, aber offensichtlich wild entschlossen, nicht allzu deplatziert zu wirken. Toni senkte die Kamera, Jess richtete sich auf. Bel störte sonst nie bei einem Fotoshooting. Irgendetwas war also passiert.

Genau das bestätigte Belinda wenige Augenblicke später, als sie bei Jess ankam und ihr die neueste Ausgabe von McCall’s mit einer ganzseitigen Werbeanzeige für Kotex-Damenhygiene unter die Nase hielt. Oben auf der Seite prangte der Slogan »Davon sind Frauen hundertprozentig begeistert!«, darunter posierte Jessica May in einem Abendkleid. Entspannt, unbekümmert – und das ausgerechnet beim Tabuthema Menstruation.

»Verdammt!«, entfuhr es Jess.

»Genau«, stimmte Bel zu. »Wir machen Schluss«, rief sie Toni und ihrem Team zu.

Ohne Fragen zu stellen packte Toni die Kamera ein, doch alle anderen beobachteten Jess und Bel verstohlen aus den Augenwinkeln. Wenn ein Fototermin abgebrochen wurde, der offensichtlich gut gelaufen war, gab es dafür nur einen einzigen Grund, nämlich, dass Jessica May in Schwierigkeiten war. Und das war sowohl wahrscheinlich als auch eine saftige Klatschgeschichte, die sich niemand entgehen lassen wollte.

»Garantiert steckt Emile dahinter«, murmelte Jess, als sie sich mit Bel in Richtung der Kühe zurückzog, um ungestört reden zu können. »Er hat das Foto letztes Jahr gemacht und wahrscheinlich jetzt an Kotex verkauft.«

»Das dachte ich mir«, antwortete Bel. »Ich habe versucht, es Condé auszureden, Himmel, er wollte sogar, dass ich es ihm ausrede – du weißt ja, wie sehr er dich verehrt –, aber wir wissen auch, dass die Anzeigenkunden uns schneller fallen lassen als eine heiße Kartoffel.«

Jess seufzte. Bel hatte vollkommen recht, kein Inserent der Vogue würde Wert darauf legen, dass seine Anzeigen in einer Zeitschrift erschienen, auf deren Cover das Gesicht des Kotex-Mädchens prangte. Und das war Jess nun unwiderruflich, denn das Thema Menstruation war ein schlimmeres Tabu, als mit Emile in wilder Ehe zu leben. »Wie lange werde ich wohl auf der schwarzen Liste stehen?«, fragte sie.

»Das kann ich dir auch noch nicht sagen«, antwortete Belinda ehrlich. »Hängt davon ab, wie lange Kotex die Anzeige bringt. Condé hofft, dass wir dich nächstes Jahr wieder bei uns modeln lassen können, aber …«

»… aber bis dahin sollte ich Emile umbringen und eine andere Möglichkeit finden, meine Miete zu bezahlen«, vollendete Jess den Satz.

»Condé möchte aber, dass du heute Abend trotzdem zu seiner Party kommst. Er wird dich nicht komplett fallen lassen.«

Nur was meinen Lebensunterhalt angeht, dachte Jess grimmig. Im Alter von zweiundzwanzig, nach fast drei Jahren, in denen sie Hunderte von Kleidern vorgeführt und eine unfassbare Menge Lippenstift verbraucht hatte, nachdem unzählige Fotos von ihr in der Vogue, im Harper’s Bazaar und der Glamour erschienen waren und viel Wind um ihre blonden Haare gemacht worden war, schien ihre Karriere vorerst zu Ende zu sein. Sie würde nicht mehr zu denen gehören, die eine Phantasiewelt lebendig zu erhalten versuchten, in der eine Frau trotz Krieg einen ausgeschnittenen Badeanzug tragen und sich bei einem Ausflug an den Strand in einen Prinzen verlieben konnte.

»Außerdem«, fuhr Bel fort und schob mit dem gleichen Nachdruck, mit dem sie sich glückloser Praktikanten entledigte, eine Kuhnase von ihrer Mainbocher-Jacke weg, »außerdem wirst du mehr Zeit haben, für mich zu fotografieren. Und zu schreiben.«

»Wird Condé das dulden?«

Bel sah Jess an, die immer noch den Badeanzug trug, in dem ihr Dekolleté besonders anmutig zur Geltung kam. »Deine Namenszeile wird für die Inserenten nicht annähernd so bedrohlich wirken wie eine ganzseitige, annähernd hüllenlose Jessica May.«

Das brachte Jess zum Lachen, so laut und herzlich, dass das gesamte Team sich zu ihr umwandte. Ein seltsamer Anblick, ein Fotomodell in einem Badeanzug mitten auf einer Wiese, umgeben von Kühen, vertieft in ein Gespräch mit einer Frau, der man ansah, dass sie eigentlich in ein Büro in der City gehörte.

»Denk zumindest darüber nach«, drängte Bel. »Du weißt, wie sehr mir die Sachen gefallen haben, die du für mich gemacht hast.«

»In Ordnung«, sagte Jess. »Aber jetzt muss ich mich erst mal umziehen, zurück in die Stadt fahren und mir Emile vorknöpfen.«

»Und was wirst du ihm sagen?«, fragte Bel, während sie zu dem provisorischen Umkleideraum hinübergingen.

Jess hakte den Badeanzug auf, ohne sich um Belindas Anwesenheit zu kümmern. Sie war es so gewohnt, sich vor anderen Leuten auszuziehen, dass es ihr inzwischen manchmal seltsam vorkam, wenn sie dabei allein in ihrer Wohnung war. »Etwas, das ich ihm schon vor einem halben Jahr gesagt hätte, wenn er nicht mit zwei Fingern weniger aus dem Trainingslager zurückgekommen wäre«, antwortete sie finster.

***

Ein paar Stunden später eilte Jess, den Blick zielstrebig auf ihre gewohnte Nische gerichtet, durch den Stork Club, ohne den pompösen Blumenarrangements und üppigen Samtvorhängen die geringste Beachtung zu schenken. Als zwei Männer ihr nicht rechtzeitig aus dem Weg gingen, reagierte sie energisch wie immer, wenn ein Mann dachte, Gesicht und Körper von Jessica May, dem Model, gehörten ihm. »Sehen Sie mal, dort«, sagte sie nur und deutete nach vorn.

Als die beiden verwundert den Blick von ihr abwandten, bahnte Jess sich mit einem Rempeln den Weg und rief über die Schulter zurück: »Sie sollten besser aufpassen, sonst gibt es noch Verletzte.«

In der Nische erwartete Emile sie mit dem Lächeln, das sie früher einmal charmant und sinnlich gefunden hatte. Er hatte wie üblich die Haare glatt nach hinten gekämmt, sein Anzug war gerade noch elegant genug für den Stork Club. Als Jess ihm gegenüber Platz nahm, schob er ihr einen Manhattan-Cocktail über den Tisch. Sie nahm ihn entgegen und reichte ihrerseits Bels Exemplar von McCall’s zu ihm hinüber.

»Ich dachte, du würdest dich freuen.« Sein Lächeln wurde breiter – dachte er wirklich, mit seinem typischen Grinsen könnte er sie dazu bringen, sich dafür zu bedanken, dass er ihre Karriere ruiniert hatte?

»Du hast genau gewusst, was du damit anrichtest. Sonst hättest du mir Bescheid gesagt.«

Sein Lächeln blieb. »Du sagst doch immer, ich soll wieder arbeiten gehen. Ich habe deinen Rat befolgt.«

Instinktiv blickten sie beide auf seine rechte Hand, die nur noch aus zwei Fingern und Daumen bestand. Früher einmal war der attraktive Franzose Emile Robard einer der beliebtesten Modefotografen gewesen, gleichrangig mit Man Ray und Cecil Beaton, erst in Frankreich, dann in New York, wohin er 1939, als der Krieg ausbrach, geflohen war. Genau genommen war auch Jess hierher geflohen – sie war zwar Amerikanerin, hatte mit ihren Eltern jedoch mehr als ihr halbes Leben in Frankreich verbracht und dort auch Emile kennengelernt.

Bereits ein Jahr nach ihrer Ankunft in New York waren Emile Robard und Jessica May die Lieblinge sowohl der Skandalblätter als auch der Gesellschaftsseiten geworden. Ein erfolgreiches Model und ein französischer Fotograf, beide nach Meinung der Presse mit einer Schönheit gesegnet, die jede Party, bei der sie auftauchten, zum Ereignis machte.

Dass Jess mit Emile zusammenlebte – als seine Mätresse, wie manche es ausdrückten –, war für die meisten Einwohner Manhattans, die wesentlich konservativer waren, als ihre kosmopolitische Fassade es nahelegte, nicht nur schockierend, sondern auch prickelnd und enorm interessant. Jess hasste das Wort »Mätresse«, weil es suggerierte, dass sie von Emile ausgehalten wurde. Dabei verdiente sie als Model mehr als genug eigenes Geld, in den letzten Monaten war sogar Emile derjenige gewesen, der auf ihre Kosten gelebt hatte. In der Presse war zu lesen, er habe ihr das Fotografieren beigebracht, was ebenfalls eine Lüge war, selbst wenn sie durch seinen Einfluss einiges dazugelernt hatte. Auch die Behauptung, er habe dafür gesorgt, dass sie das beliebteste Gesicht der Modezeitschriften wurde, entbehrte jeder Grundlage, denn sie fand jederzeit Arbeit und kannte in der Branche inzwischen so viele einflussreiche Leute, dass sie es seit zwei Jahren nicht einmal mehr nötig hatte, zu Castings zu gehen.

Als Emile Anfang des Jahres bemerkt hatte, welcher Ruhm Kriegsfotografen wie Robert Capa und Edward Steichen umgab, hatte er beschlossen, sich selbst etwas von diesem Glanz zu besorgen, hatte den Models und Hochglanzmagazinen abgeschworen und sich einen Auftrag in einem Trainingslager der Armee in Texas verschafft. Insgeheim war Jess froh gewesen, ihn eine Weile los zu sein, denn in den vergangenen sechs Monaten hatte Emile sich mit der gleichen Leidenschaft ins Partyleben gestürzt, die er zuvor beim Fotografieren gezeigt hatte, und außerdem Whiskey getrunken, als wäre es Wasser. Dieser Lebensstil war absolut nicht nach Jess’ Geschmack. Durchfeierte Nächte ließen sich schlecht mit einem fotogenen Gesicht vereinbaren, vor allem aber lag ihr die Rolle des geistlosen Partygirls ganz und gar nicht. Sie hatte andere Ambitionen, als eine Couch zu finden, auf der sie um drei Uhr morgens ohnmächtig werden konnte. Doch jedes Mal, wenn sie eine Party vor Mitternacht verlassen wollte, brach Emile einen Streit vom Zaun und bezichtigte sie, langweilig geworden zu sein. Nun hoffte sie, dass sein plötzlicher Drang, militärische Übungsmanöver zu fotografieren, dazu führen würde, sich von etwas anderem als Alkohol inspirieren zu lassen. Leider geriet er stattdessen im Camp in eine Auseinandersetzung mit einem Soldaten, wurde angeschossen und verlor dabei zwei Finger.

Als er mit einer verbundenen Hand zurückkehrte, erzählte er Jess, er habe ihre Ehre verteidigen müssen, weil der Soldat anzügliche Kommentare über ein Zeitschriftenfoto gemacht hatte, auf dem ihr nackter Rücken zu sehen war. Demzufolge war es ihre Schuld, dass er nun seine Kamera nicht mehr richtig halten konnte. Deshalb war sie bei Emile geblieben, obwohl sie längst nicht mehr sicher war, ob sie ihn überhaupt noch liebte.

Doch nun war es aus zwischen ihnen. Jess konnte nicht mehr in dem Wissen zur Arbeit gehen, dass Emile den ganzen Tag nur in der Wohnung saß und Whiskey trank, konnte abends nicht mehr mit ihm tanzen gehen und sich das leere Lächeln, das für ein Model angeblich so typisch war, aufs Gesicht kleistern. Sie wollte Emile auch nicht mehr irgendwann am frühen Morgen nach Hause bringen, weil er zu betrunken war, um auch nur noch einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Und vor allem konnte sie jetzt die Tatsache nicht ignorieren, dass er sich auf ihre Kosten die Taschen mit Kotex-Geld gefüllt hatte.

Sie schob ihr unberührtes Martiniglas über den Tisch zurück zu ihm. »Ich habe gemeint, dass du rausgehen und Fotos machen sollst, und nicht, dass du alte Bilder von mir verkaufst, für eine Anzeige, die mich zur Persona non grata in der ganzen Modelszene macht. Du kannst nur deshalb die Kamera nicht mehr ruhig halten, weil du zu viel trinkst. Mit ein bisschen Training würdest du bestimmt wieder auf dein früheres Niveau zurückkommen.«

Emile trank sein Glas leer und nahm noch einen großen Schluck aus ihrem. »Ich habe nichts Unrechtes getan.«

Jess seufzte. Sie musste es aussprechen. Es ist aus. Sie musste vergessen, wie sie in einem Jazzclub in Paris aufgeblickt und diesen Mann gesehen hatte, der sie so charmant angelächelt und dann mit ihr bis in die frühen Morgenstunden getanzt hatte. Auch das Romantischste von allem musste sie vergessen – wie sie mit ihm bei Sonnenaufgang Hand in Hand durch Paris geschlendert war, wie sie haltgemacht hatten, um einen Espresso zu trinken und sich zu küssen. Sie musste einsehen, dass das, was sie mit ihm verbunden hatte, eine Art von hedonistisch aufregender Liebe gewesen war, die in ihre damalige Lebensphase gepasst hatte, als sie dachte, sie würde verrückt vor Kummer, weil ihre Eltern gerade gestorben waren und sie niemanden mehr hatte. Außer Emile. Aber sie würde die Trennung freundlich vollziehen, so viel hatte er verdient.

»Heute früh hat der New Yorker für dich angerufen«, sagte Emile.

Jess wünschte sich, sie könnte ihn ein andermal fragen, wenn er nüchterner und einfühlsamer war als jetzt, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. »Was wollten sie von mir?«

»Dir mitteilen, dass deine Idee nicht ihren Ansprüchen genügt und deshalb für sie uninteressant ist.« Emiles Blick wanderte im Raum umher und blieb bei Gene Tierney, der Schauspielerin, die als schönste Frau der Welt galt, hängen. Was eigentlich ein Glück war, denn so entging ihm, wie betroffen Jess war.

Bei einem Casting abgewiesen zu werden, hatte Jess nie viel ausgemacht, aber die Ablehnung des New Yorker traf sie hart. Sie hatte gehofft, mit ihrem Exposé an die Reportagen anknüpfen zu können, die sie für die Vogue über Künstlerinnen der Parsons School of Design geschrieben und fotografiert hatte. Statt ihre eigenen Kunstwerke zu schaffen, malten diese Frauen jetzt Camouflage auf Flugzeuge und entwarfen Propagandaposter. Jess wollte darüber schreiben, was mit all diesen Frauen geschehen würde, wenn der Krieg einmal zu Ende war und die Männer wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten. Was würden die Frauen mit ihren neuen Fähigkeiten anfangen? Würde es überhaupt weiterhin Arbeit für sie geben?

Sie hatte vorgehabt, auf eine Leiter zu steigen, so dass sie in den Fabriken von oben fotografieren und zeigen konnte, wie viele Frauen dort derzeit beschäftigt waren – nämlich nicht nur eine oder zwei, sondern eine ganze Generation. Sie wusste, dass eine Fotografie nicht so schnell abgetan werden konnte wie Worte. Sie wollte etwas tun, was sich wichtig anfühlte, statt ihre Empörung über den Faschismus an der Place de la Concorde in den Wind zu schreien, wie sie es in jüngeren Jahren getan hatte. Vielleicht konnte sie so verdeutlichen, dass der Krieg nicht nur mit Gewehrkugeln ausgefochten wurde, sondern dass seine Verästelungen bis zu diesen Frauen reichten, die einmal Bronze zu Skulpturen verarbeitet hatten und jetzt Propeller für Flugzeuge herstellten.

»Meine Idee mochten sie dagegen sehr«, fuhr Emile fort, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an.

»Deine Idee?«

»Ich habe ihnen angeboten, einen Artikel über die Arbeitsstellen zu schreiben, an denen Frauen weniger gute Leistungen erbringen, als es vorher bei den Männern der Fall war. Ich werde die auftretenden Mängel mit Fotos dokumentieren und die Mehrkosten offenlegen, die entstehen, wenn eine Arbeit von einer dafür nicht geeigneten Person erledigt wird. Man erzählt euch Amerikanern ja gern, wie gut alles läuft, aber vielleicht stimmt das gar nicht.«

»Das kannst du doch nicht ernst meinen.« Jess starrte ihren Exliebhaber an und wartete darauf, dass er endlich anfing zu lachen. Es musste ein Scherz sein – so einen Quatsch würde er niemals schreiben.

Aber er begegnete ihrem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, und erwiderte: »O doch.«

Nun kamen ihr die Worte auf einmal ganz leicht über die Lippen. »Du weißt, dass es aus ist zwischen uns«, begann sie und stand auf. »Wir klammern uns an etwas Vergangenes, was vor langer Zeit passiert ist, als ich jung war und es nicht besser wusste. Und als du …« Wie sollte sie den Satz zu Ende bringen? »Als du noch ein besserer Mensch warst. Und damit meine ich nicht, dass dir jetzt zwei Finger fehlen.«

»Von denen spricht sowieso nie jemand«, gab er zurück. »Obwohl alle an sie denken. An den armen Emile, dem früher die Models zu Füßen lagen.«

»Ist es das, was du vermisst?«, fragte sie, plötzlich traurig. »Ich bin sicher, dass du irgendein Mädchen dazu kriegen würdest, sich dir vor die Füße zu werfen – falls du am Ende der Nacht überhaupt noch stehen kannst. Ich werde die nächsten Tage anderswo übernachten, dann kannst du deine Sachen aus meiner Wohnung räumen.«

»Wie soll ich denn so schnell eine neue Bleibe finden?«, fragte er, weinerlich wie ein Kleinkind.

»Ich lasse dir genug Geld überweisen, dass du einen Monat davon Miete zahlen kannst. Danach kannst du dich bestimmt mit deinen genialen Artikeln über Wasser halten.« Sie konnte ihre Wut nicht ganz verbergen, drehte sich aber rasch um und ging davon, ehe einer von ihnen Zeit hatte, noch mehr verletzende Sachen zu sagen.

***

Nach diesem Gespräch hatte Jess eine Party bitter nötig. Gegen Mitternacht traf sie in Condé Nasts Wohnung an der Park Avenue ein, was spät, aber noch nicht unhöflich war – hier begannen die Partys frühestens um zehn. Condé küsste sie auf beide Wangen und entschuldigte sich für seine Haltung in der Kotex-Sache.

Er war derjenige gewesen, der Jess entdeckt hatte, kurz nachdem sie nach New York zurückgekommen war. Sie hatte für die Fahrt nicht das gleiche Schiff genommen wie ihre Eltern, weil Emile nicht auf der SS Athenia hatte fahren wollen – an seine Begründung konnte sie sich nicht mehr erinnern. Als dieses Schiff dann unterging, sprachen alle von einem glücklichen Zufall, doch Jess’ Eltern waren tot, wie konnte man da von Glück reden?

Einen Monat nach ihrer Ankunft in Manhattan, als sie nicht mehr ständig weinen musste, hatte sie sich schließlich in der Parsons School of Design für ein paar Fotokurse eingeschrieben. Condé Nast hatte dort gerade eine Mode-Vorlesung gehalten und sie gesehen – mit ihren braunen, von den Wochen des Weinens noch feuchten Augen so anrührend wie eine leibhaftige Madonna. So formulierte er es jedenfalls später, wenn er von ihrer ersten Begegnung erzählte. Der Rest war, wie man so schön sagt, Geschichte.

Nachdem Condé ihr noch einmal beteuert hatte, dass sie natürlich noch immer sein Lieblingsmodel war, entließ er sie aus seiner Umarmung und befahl ihr, sich zu amüsieren.

Das würde vermutlich in dieser Umgebung nicht schwierig werden: Die Bar war gut ausgerüstet mit französischem Champagner, der eigentlich nicht mehr zu bekommen war – ein Mann wie Condé hatte vermutlich einen Keller, der groß genug war, um den Krieg zu überdauern –, die Gäste waren teuer gekleidet, in der Luft lag der Duft französischen Parfüms. Ein Orchester spielte Melodien von Cole Porter, an einem der Tische plauderte George Gershwin mit einer Gruppe von Bewunderern, auf der Terrasse war unter dem versöhnlich milden Herbsthimmel ein mehr als reichliches Buffet aufgebaut, und drinnen wurde eifrig getanzt. In der Menge der Tanzenden entdeckte Jess auch Emile Wange an Wange mit einer ihrer Modelkolleginnen – diese war vier Jahre jünger als sie selbst, also gerade achtzehn. Jess wartete, ob sich etwas wie Eifersucht in ihr regen würde, spürte jedoch nichts dergleichen – wenn überhaupt, empfand sie eine gewisse Erleichterung. Sie ließ sich an einem der Tische nieder und zündete sich gerade eine Zigarette an, als sie ihren Namen hörte.

»Sie sind Jessica May, richtig?«

Jess blickte auf und erkannte das Gesicht sofort.

»Martha Gellhorn!«, rief sie, verblüfft grinsend.

»Offenbar eilt mein Ruhm mir voraus«, erwiderte Martha mit einem ironischen Lächeln, setzte sich neben Jessica und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Ein Gefühl, das Ihnen sicher nicht ganz unbekannt sein dürfte.«

»Wahrscheinlich passiert es mir nicht ganz so oft wie der Ehefrau von Ernest Hemingway«, erwiderte Jess. »Bringt es Sie nicht jedes Mal zur Weißglut, wenn man Sie so nennt?«

Martha lachte. »Ich habe mir schon überlegt, ein Schild zu tragen, auf dem alles steht, was ich selbst geleistet habe, aber das scheint niemanden zu interessieren.«

Jess schüttelte den Kopf; sie wusste ja, dass Martha eine der wenigen Frauen – wenn nicht sogar die einzige – war, die über den Krieg in Europa berichtete, und dass die meisten Menschen sie trotzdem in erster Linie als Frau von Ernest Hemingway kannten.

»Ich habe alle Ihre Artikel gelesen«, sagte sie. »Natürlich haben sie mir keine Freude gemacht – schließlich sind Krieg und Tod keine erfreulichen Themen –, aber ich fand sie hervorragend.«

»Ich habe Ihre Texte auch gelesen.« Martha musterte Jess. »Und Ihre Fotos gesehen. Das von dem Gemälde neben den von der Künstlerin jetzt produzierten Propagandapostern sagt mehr aus als jeder Zeitungsbericht, finde ich. Mir gefällt, wie Sie das eine Bild ins andere verschwimmen lassen …«

»Solarisation«, erklärte Jess. »Ich wollte, dass es aussieht, als blutete das eine buchstäblich ins andere.«

Martha nickte. »Das dachte ich mir. Ein höchst subtiler Kommentar. Sie erklären ohne Worte das Problem, dass sich die Künstlerin einerseits wünscht, selbstlos zu erscheinen und ihr Talent ihrem Land zu opfern, aber dass sie gleichzeitig den Verlust der wahren Kunst bedauert.«

»Danke.« Jess spürte, wie sie rot wurde, was ihr seit sehr langer Zeit nicht mehr passiert war.

»Woran arbeiten Sie zurzeit?«, fragte Martha, die keinen Champagner trank, sondern an einem Whiskey nippte.

»Das ist eine sehr gute Frage. Außer dass ich meinen Liebhaber dazu bringen muss, auszuziehen, arbeite ich momentan nicht viel«, antwortete Jess mit einer Kopfbewegung zu Emile auf der Tanzfläche.

»Ich habe von seiner Hand gehört«, meinte Martha ohne eine Spur von Mitleid. »Und ich habe auch gehört, wenn es nicht passiert wäre …«

»… hätte ich ihn wahrscheinlich schon vor langer Zeit rausgeschmissen«, vollendete Jess den Satz für sie.

»Warum sehen Sie dann nicht glücklicher aus? Soweit ich weiß, waren Sie beide früher ein außergewöhnliches Paar – ähnlich wie Hem und ich –, aber ist das nicht schon eine ganze Weile her?«

»Jessica May und Emile Robard. Model und Fotograf. Unkonventionelle Künstlertypen«, erwiderte Jess nachdenklich.

»Sie verkaufen sich aber deutlich unter Wert, wenn Sie sich nur als Model bezeichnen. Nach allem, was ich gesehen habe, sind Ihre Fotos den seinen absolut ebenbürtig. Sie haben doch einiges veröffentlicht.«

»Das vergessen die meisten aber lieber. Schauen Sie doch mal.« Jess griff nach der Zeitung auf dem Sideboard, schlug die Gesellschaftsseiten auf und deutete auf ein Foto, das vor zwei Tagen bei einer Party gemacht worden war. Darunter stand: Der gefeierte Fotograf Emile Robard mit dem Model Jessica May. »Allzu offensichtlich werde ich jedenfalls nicht gefeiert«, meinte sie mit einem bitteren Lächeln. »Gerade heute Vormittag habe ich gedacht, dass ich nicht weiß, wie lange ich noch in irgendwelchen schicken Kleidern herumstolzieren und in die Kameras lächeln möchte. Sie tun etwas Nützliches«, fügte sie an Martha gewandt hinzu. »Aber ich?«

»Sie stärken den Kampfgeist?«, schlug Martha scherzhaft vor. »Ich wette, im Trainingslager haben etliche Soldaten ein Bild von Ihnen über dem Bett hängen.«

Jess verdrehte die Augen. »Und genau dafür möchte ich den Menschen in Erinnerung bleiben«, entgegnete sie ironisch.

»Ach, da seid ihr ja!«, rief eine muntere Stimme. Belinda gesellte sich zu ihnen und küsste Jess und Martha nacheinander auf die Wangen.

»Du siehst so finster aus, wie ich mich fühle«, stellte Jess fest, als Bel sich setzte.

»Du siehst eben nie richtig finster aus, Jessica May«, erwiderte sie. »Und ihr beide macht den Eindruck, als würdet ihr das interessanteste Gespräch auf der ganzen Party führen.«

»Darauf trinke ich«, sagte Martha und hob ihr Glas.

»Vielleicht können wir dafür sorgen, dass dein Stirnrunzeln verschwindet, Belinda«, meinte Jess. »Geteiltes Leid und all das.«

Bel trank einen Schluck Champagner. »Ich habe den ganzen Nachmittag mit irgendwelchen Regierungsvertretern verbracht. Seit Kriegsbeginn ist der Papierpreis ins Unermessliche gestiegen, und jetzt redet man auch noch von Rationierung. Ich weiß, ich muss mich mit den Politikern gut stellen, wenn ich die Vogue im Krieg am Leben erhalten will, aber bei dem Treffen heute bin ich tatsächlich gefragt worden, ob ich nicht etwas mehr zu den Kriegsanstrengungen beitragen könne, als wir das bisher tun.«

»Ich nehme an, mit ›gefragt‹ meinst du, dass sie dich erpresst haben?«, vermutete Jess.

»Genau. Ich habe den Herren erklärt, dass Frauen ein wichtiger Teil der Propagandamaschinerie sind und die Vogue dabei helfen kann und muss. Die Regierung möchte die Frauen dazu bringen, ihre Männer klaglos in den Kampf ziehen zu lassen, die Rationierungen als moralische Pflicht und Schuldigkeit hinzunehmen und zu arbeiten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Vogue-Leserinnen sind genau die Frauen, die die Regierung auf ihrer Seite haben möchte. Deshalb soll ich mir jetzt etwas einfallen lassen, aber ich weiß nicht, was – ich brauche Bilder, nicht nur Worte; die Vogue ist ein visuelles Medium. Vermutlich willst du nicht zufällig bei Collier’s aufhören und für mich arbeiten?« Bel sah Martha fast flehend an.

Plötzlich formte sich in Jess’ Kopf eine ebenso haarsträubende wie perfekte Idee. Als sie sich vor vier Jahren in Paris den antifaschistischen Demonstrationen angeschlossen hatte, hätte sie sich niemals vorstellen können, in naher Zukunft, während der Faschismus ein Leben nach dem anderen und ein Land nach dem anderen einforderte, bei einer Party in einem Penthouse der Park Avenue zu sitzen und Champagner zu trinken. Damals war sie marschiert, hatte protestiert und sich vor allem große Sorgen gemacht wegen dem, was in der Welt geschah. Natürlich sorgte sie sich immer noch, doch auf eine hilflosere Art. Die Fotos und Artikel für Bel hatten ihr das Gefühl gegeben, sie könne mehr tun, vielleicht so etwas wie Martha. Fliegen oder schießen konnte sie zwar nicht, aber schreiben und fotografieren dafür sehr gut.

Martha lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, zielte mit ihrer Zigarette in Jess’ Richtung und sprach genau das aus, was Jess dachte: »Du brauchst mich nicht«, meinte sie. »Du hast doch Jess.«

»Ja. Schick mich!«, sagte Jess, und als sie sich zu Bel umwandte, fiel jede Rastlosigkeit von ihr ab, und an ihre Stelle trat eine Lebendigkeit, die sie seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.

Bel lachte. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du mich aufheitern willst, aber …«

»Ich meine es ernst.« Jess stellte ihr Glas ab und fixierte Bel. »Ich bin perfekt dafür. Du weißt, dass ich schreiben und Bilder machen kann, also bin ich doch die ideale Korrespondentin für die Vogue.«

»Ich werde dich nicht in ein Kriegsgebiet schicken, kommt nicht infrage.« Bel trank einen großen Schluck Champagner und fügte dann hinzu: »Die Idee ist brillant, aber lächerlich.«

Doch Jess spürte den Riss in Bels Mainbocher-Rüstung. »Die Idee ist wirklich brillant. Und ich bitte darum, in ein Kriegsgebiet zu gehen, du schickst mich nicht. Da drüben sind noch andere Frauen.«

Bel zog die Augenbrauen hoch. »Ungefähr zwei.«

»Mit mir wären es immerhin schon drei. Drei ist eine Glückszahl.«

»Du hast sogar recht«, warf Martha ein und duzte Jess nun ganz selbstverständlich, als gehöre sie dazu. »Margaret Bourke-White ist die einzige Fotojournalistin im Mittelmeerraum, die ich kenne. Es gibt ein paar Korrespondentinnen wie mich, aber das ist dann auch schon alles.«

Diesmal verzog Bel die Augenbrauen so akrobatisch, dass Jess ein Kichern unterdrücken musste. »Ich wollte eigentlich einen Scherz machen, als ich zwei gesagt habe!«, protestierte sie.

»Ich möchte Kriegskorrespondentin werden«, sagte Jess, so ruhig sie konnte. »Ich muss Kriegskorrespondentin werden. Bitte.«

Bel winkte einem Kellner und bat um Champagner-Nachschub. »Wie um alles in der Welt soll ich für dich denn eine Zulassung kriegen? Ehemaliges Model, Emiles Geliebte … Bist du das eigentlich noch? Ich sehe da drüben, dass er soeben großen Gefallen an den Lippen anderer Mädchen findet – gehört das jetzt dazu, wenn man unkonventionell leben möchte? Außerdem ist die Frau in der Passstelle angeblich ein ganz harter Brocken, die denkt bestimmt, dass ein Model nur auf Seidenlaken in den teuersten Hotels schläft, und würde nie im Leben jemanden wie dich in ein Kriegsgebiet reisen lassen.«

»So billig solltest du mich auch nicht verkaufen«, sagte Jess. »Du weißt doch, wie ich aufgewachsen bin, dass ich häufig in einem Zelt gewohnt und unter freiem Himmel geschlafen habe – wahrscheinlich bin ich in dieser Hinsicht abgehärteter als die meisten Männer. Wir sollten es wenigstens versuchen. Oder etwa nicht?«

»Als ich 1937 in Spanien gelandet bin, um über den Bürgerkrieg zu berichten, hatte ich noch nie in einem Zelt geschlafen«, steuerte Martha bei. »Und noch nie gesehen, wie ein Mensch erschossen wird. Aber ich hab’s überlebt. Man lernt am besten, wenn man einfach ins kalte Wasser springt. Mit Bomben und allem.«

Bel sog den Rauch tief ein, atmete ihn wieder aus und inhalierte noch einmal. »Wenn du nur nicht so verdammt recht hättest«, sagte sie zu Jess. »Du wärst tatsächlich perfekt. Und ich wusste schon immer, dass du nicht dein ganzes Leben lang Model bleiben würdest.« Sie griff nach Jess’ Hand und drückte sie. »Martha, du warst doch schon drüben in Europa. Sollte ich nicht viel entschiedener versuchen, Jess von ihrem Vorschlag abzubringen?«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Martha. »Wenn du das tust, kriegen wir nur Geschichten von Männern, die uns etwas über andere Männer erzählen. Da ich mit dem größten Chauvinisten des Landes verheiratet bin, habe ich ein ureigenes Interesse daran, das zu ändern.«

Bel wandte sich wieder Jess zu und sagte: »Du bist wirklich die einzige Person auf der ganzen weiten Welt, die mir das Gefühl gibt, ich tue ihr einen Gefallen, wenn ich mich bereit erkläre, sie in ein Kriegsgebiet zu schicken.«

»Dann versuchen wir’s doch«, antwortete Jess. »Wenn wir scheitern, dann immerhin spektakulär.«

Kapitel 2

Wenn wir scheitern, dann immerhin spektakulär. Als Jess Anfang 1943 – Eile war der Bürokratie fremd – auf einem Korridor des Außenministeriums saß und auf das Gespräch wartete, das über ihre Zukunft entscheiden würde, ging ihr dieser Satz immer wieder durch den Kopf. Du musst einfach sämtliche Einwände ausräumen, schärfte sie sich ein, während sie auf die leise tickende Uhr sah, nervöser als bei jedem Casting, bei dem sie je gewesen war.

Beim Casting wusste sie, dass sie alles getan hatte, was sie konnte. Ihr Portfolio war fertig, ein freundliches Schicksal hatte sie mit dunkelbraunen Augen gesegnet, von denen alle Fotografen, mit denen sie je zusammengearbeitet hatte, behaupteten, ihnen niemals gerecht werden zu können. Aber bei diesem Interview hing alles davon ab, was sie sagte, nicht davon, wie sie aussah. Vielleicht auch von ihrem Lächeln – wie viel war zu viel? Was unterschied für die Frau, die ihr einen Passierschein nach Europa ausstellen oder verweigern konnte, ein halbherziges Grinsen von einem übertrieben schmeichlerischen Lächeln, das alle Vorurteile gegenüber Fotomodellen bestätigte?

Schluss damit, sagte sie sich und blickte auf ihre nüchterne schwarze Smokinghose von Stella Designs und ihre förmliche, weiße Bluse – ebenfalls von Stella, denn nur deren Modelle hatten eine weiße Pfingstrose über der linken Brust, wodurch die Kombination eher Jess’ wahrem Wesen entsprach als der Person, die sie zu sein vorspielte.

»Miss Jessica May«, rief eine Stimme.

Jess stand auf, straffte den Rücken, und als sie merkte, dass sie den Flur hinuntermarschierte wie ein Model auf dem Laufsteg, versuchte sie, sich zu korrigieren, konnte sich aber gar nicht mehr richtig erinnern, wie man normal ging. Am Ende marschierte sie einfach weiter und hoffte, dass sie trotzdem eher militärisch als modelhaft wirkte.

»Nehmen Sie Platz.« Eine große Frau – sie hätte ein verdammt gutes Model abgegeben – deutete auf einen Stuhl.

Jess setzte sich und machte ein Gesicht, von dem sie hoffte, dass es Kraft, Ausdauer und Entschlossenheit ausdrückte.

»Ich dachte, ich sollte mein Anliegen näher erklären«, begann sie. »Ich weiß, dass ich eine ungewöhnliche Kandidatin dafür bin, um in Europa als Fotojournalistin zu arbeiten. Aber ich verfüge über viele Vorteile, die einige Männer, die derzeit über den Krieg berichten, sicher nicht besitzen. Sehen Sie, meine Eltern waren Paläobotaniker, und ich war schon als Kind ziemlich viel auf Reisen. Wir haben rund um den Erdball Pflanzenfossilien untersucht; ich habe in Südamerika, Australien und auf Tahiti gelebt. Nachdem die Arbeit meiner Eltern anfing, Anerkennung zu gewinnen, sind wir nach Europa gezogen. Dank zehn Jahren in Frankreich spreche ich fließend Französisch.« Sie spürte, wie ihre Stimme sich entspannte, war immer mehr überzeugt von ihrer Glaubwürdigkeit.

»Als ich alt genug war, um zu lernen, wie man mit einer Kamera umgeht, habe ich jeden Sommer und oft auch während der Schulzeit für meine Eltern Fotos gemacht. Wenn sie dachten, dass sie einer Entdeckung auf der Spur waren, nahmen sie mich einfach mit, drückten mir die Rolleiflex in die Hand und baten mich, festzuhalten, was immer sie gefunden hatten. Ich habe an der Parsons School of Design studiert, danach hat mir Emile Robard noch zusätzlich einiges beigebracht.«

Während sie erzählte, erschienen und verschwanden in ihrem Kopf Bilder, als öffne und schließe sich ein Kameraverschluss: fossilisierte Farnwedel, die sich zart über einen Felsen rankten, winzige Spuren von Keimblättern auf der Oberfläche eines Steins, kaum erkennbare, in Kalkstein geritzte Zamitenblätter. Und dann Bilder, auf denen sie selbst zu sehen war, sehr wenige nur, denn ihre Mutter nahm die Kamera nur selten in die Hand: eine Jessica, die in ihre schlaksigen Gliedmaßen und ihr breites Grinsen noch hineinwachsen musste, die blonden Haare wild und wuschelig, die Haut in damals ganz unmoderner Manier gebräunt, die Nase voller Sommersprossen.

Weitere Schnappschüsse von Jess im Schlamm, beim Klettern über Felsen, an denen sie sich die Knie aufschürfte, beim Schwimmen in Seen und Flüssen, obwohl es Warnungen vor Parasiten und Krokodilen gegeben hatte. Ihre Mutter, die Jess anlächelte, mit Schlapphut, schmutzig, voller Staub. Wie immer glücklich, mit den Händen im Matsch zu wühlen, Zeugnisse längst vergangener Zeiten freizulegen, Berichte und Forschungsergebnisse in die alte Schreibmaschine zu hämmern. Und auch ihr Vater, ein stiller Mensch, nicht ganz von dieser Welt, den Kopf immer in der Vergangenheit, verträumt, in der Phantasie vielleicht gerade mit einem längst ausgestorbenen Verwandten des Ginkgobaums beschäftigt.

Eine unkonventionelle Kindheit mit gelegentlich unterbrochener Schulbildung, oft vor die Wahl gestellt, entweder Deutsch, Italienisch oder Französisch zu lernen oder nicht mit anderen Kindern spielen zu können. Wenn ihre Eltern Bücher auftreiben konnten, las sie, so viel sie konnte. So war Jess’ Kindheit von zwei scheinbar gegensätzlichen Quellen geformt worden: von den Geheimnissen der Erde und den auf Buchseiten gebannten Geschichten. Was bedeutete, dass sie in Englisch, Geschichte und Naturwissenschaften immer gut gewesen war, aber nie das geringste Interesse an Mathematik entwickelt hatte.

»Darf ich auch etwas sagen?« Die Stimme der Frau war ruhig und höflich. Jess blinzelte, verdrängte eilig die Vergangenheit und ärgerte sich darüber, dass sie so leicht abzulenken war.

»In Europa herrscht Krieg, und Sie haben Pflanzen fotografiert«, fuhr die Frau fort.

Auf einmal bemerkte Jess, dass sie der Frau nicht einmal Zeit gelassen hatte, sich vorzustellen, sondern hereingestürzt war und, statt selbstbewusst ihre Qualifikationen darzulegen, wahrscheinlich arrogant jedes Vorurteil bestätigt hatte, das diese Frau gegen Models hegte. Beispielsweise, dass sie es gewohnt waren, im Mittelpunkt zu stehen, und sich häufig für etwas Besseres hielten.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. Sollte sie zugeben, dass sie nervös war? Aber man würde wohl kaum jemanden in ein Kriegsgebiet schicken, dem schon am helllichten Tag in einem Büro die Nerven flatterten. »Ich habe nicht nur Pflanzen fotografiert, 1939 wurden auch einige Bilder und Artikel von mir über den Exodus aus Paris in der französischen Vogue veröffentlicht. In der amerikanischen Vogue ist außerdem meine Arbeit über von Frauen kreierte Camouflage und Propaganda erschienen.«

Jess schwieg und wartete. Wartete. Und wartete. Und wartete.

Sie war es gewohnt, beurteilt zu werden. Wenn sie zu einer Party kam oder einen Club betrat, spürte sie unweigerlich Dutzende von Blicken auf sich, die herausfinden wollten, ob Jessica May im wirklichen Leben genauso schön war wie auf den Seiten einer Zeitschrift. Aber das hier war etwas anderes. Diese Überprüfung war so intensiv, dass sie sich auf ihrem Stuhl immer weiter zurückzog und den Blick zu Boden richtete, um zu verhindern, dass diese Frau etwas an ihr entdeckte, was sie zu der Überzeugung brachte, es wäre besser, Jess nicht nach Europa zu schicken.

»Es ist nicht mein Ziel, Frauen ins Kriegsgebiet zu entsenden«, sagte die Frau nüchtern und sogar höflich. Aber für Jess fühlten ihre Worte sich an, als setze man sie unter Druck, um ihr klarzumachen, dass sie lieber bleiben sollte, wo sie war, und weiterhin das tun, was sie jetzt tat. Dass sie zu nichts anderem als zur Kleiderpuppe mit einem hübschen Lächeln taugte.

Sie versuchte, sich dem pragmatischen Ton der Frau anzupassen. »Ich spreche auch Deutsch, zwar nicht fließend, aber mehr als genug, um zurechtzukommen. Italienisch spreche ich ebenfalls. Haben Sie denn schon mal einem Mann, der Französisch, Deutsch und Italienisch spricht, einen Passierschein ausgestellt?«

Die Frau hielt ihrem Blick stand. »Nicht dass ich wüsste«, antwortete sie.

Also hatte Jess wenigstens einen kleinen Vorteil.

Endlich wandte die Frau den Blick ab. »Ich werde der Chefredakteurin der Vogue meine Entscheidung mitteilen, aber es wird sicher eine Weile dauern.«

Jess wurde weggeschickt, ohne den geringsten Anhaltspunkt, ob sie ihre Sache gut gemacht hatte oder nicht. Wenn es nicht funktionierte, würde sie mit Glück irgendwann wieder auf einer Wiese oder an einem Strand oder vor einem stahlgrauen Hochhaus stehen, die Kleider der nächsten Modesaison vorführen und dabei lächeln. Unbeachtet wie ein vergessener, von der Zeit in Vulkangestein gepresster Farnwedel.

***

Zwei Monate darauf bekam sie ihren Passierschein. Das Jahr 1943 schritt voran, und Jess hatte nichts erreicht, außer dass sich ihre Ersparnisse spürbar reduziert hatten; sie lebte von externen Model-Aufträgen bei Firmen wie Stella Designs und konnte von Glück sagen, dass ihre Eltern ihr eine Wohnung hinterlassen hatten, für die sie keine Miete bezahlen musste.

Nun fehlte ihr nur noch die Überprüfung durch die Pressestelle des Kriegsministeriums. Dafür einen Termin zu bekommen, dauerte einen weiteren Monat. Jess war sich bewusst, dass ihre Eltern die Fähigkeit besessen hatten, der Erde Geheimnisse abzutrotzen, aber auf die Rigorosität des Kriegsministeriums war sie trotzdem nicht vorbereitet. Dabei hatte Martha sie gewarnt: »Wenn die mit dir fertig sind, fühlst du dich, als säßest du in Unterwäsche vor ihnen.«

Genau so war es. Beispielsweise hatte man ihr ein Foto ihrer Mutter gezeigt, und als sie es sich abends in ihrer Wohnung noch einmal anschauen wollte, war es nicht mehr im Fotoalbum – ein weiterer Beweis dafür, dass Emile noch wesentlich fieser war, als sie gedacht hatte. Sie fühlte sich verloren, wie an dem Tag, als sie in New York von Bord gegangen waren: Jess saß in ihrem Apartment in Greenwich Village auf dem Boden und weinte. Allerdings war damals Emile bei ihr gewesen, auch wenn er nur stumm und ratlos im Türrahmen gestanden und nicht gewusst hatte, was er tun sollte. Jetzt aber war sie völlig allein. Sie hatte schon lange nicht mehr geweint. Aber das Foto ihrer Mutter zu sehen und – falls die haarsträubenden Behauptungen des Kriegsministeriums der Wahrheit entsprachen – zu wissen, dass ihr tatsächlich weder Tochter noch Mann noch Botanik je genügt hatten, brachte den Schmerz zurück.

Doch dann war ihr plötzlich, als höre sie die Stimme ihrer Mutter, die sie ermahnte, praktisch zu denken und aufzustehen, statt sich in ihrem Kummer zu suhlen. Sich von diesem Ministerium nicht so leicht unterkriegen zu lassen. Also wischte sie sich die Wangen trocken und tat genau das, was ihre Mutter – die immer den besten Lagerplatz gefunden, das Kochen organisiert und stets dafür gesorgt hatte, dass alles Notwendige vorhanden war – auch getan hätte.

Als Erstes holte sie ihre Rolleiflex, ein Geschenk ihrer Mutter, hervor. Dann die Leica, die Emile ihr in ihrem ersten Jahr in Manhattan zum Geburtstag gekauft hatte. Zwar mochte sie die Rollei lieber, wusste aber, dass es von Vorteil sein würde, zwei Kameras mitzunehmen. Sie strich über die Schreibmaschine, die ebenfalls ihrer Mutter gehört hatte und zu deren Tastengeklapper Jess als Kind jeden Abend eingeschlafen war – das Wiegenlied ihrer Jugend.

Für Europa würde sie nicht genügen. Eine kleine Reiseschreibmaschine wie die Hermes Baby wäre genau das Richtige für ihre Zwecke. Wie viel Papier konnte sie mitnehmen? Martha hatte gesagt, in ganz Europa gebe es Papierengpässe. Sie zwang sich, bei diesem Gedankenstrang zu bleiben – als gäbe es keinerlei Zweifel daran, dass sie die Reise antreten würde –, denn die Vorstellung, dass sie hierbleiben, weiterhin als Model arbeiten und darauf warten musste, dass die Inserenten ihre Fotos wieder in den Zeitschriften duldeten, war ihr mittlerweile nahezu unerträglich geworden.

Als es an der Tür klopfte, zuckte sie zusammen, doch auf der Schwelle stand Bel mit einem Topf Suppe und einer Flasche Wein.

»Das letzte Abendmahl«, verkündete sie fröhlich und machte sich sofort auf den Weg in die Küche. »Ich dachte, wenn wir es durchspielen, wird es vielleicht wahr.«

Jess brachte ein Lächeln zustande, während sie Suppenschalen und Gläser aus dem Schrank holte und dann ihre Freundin umarmte. »Danke. Was soll ich in Europa bloß ohne dich machen?«

»Ach, du wirst schon einen Ersatz für mich finden, du landest doch immer auf den Füßen.« Damit stellte Bel die Suppe auf den Herd, und die beiden Freundinnen setzten sich an den Küchentisch. »Wie war es denn?«, fragte Bel und musterte Jess.

»Genau so, wie Martha es prophezeit hat.« Jess zögerte und griff nach einer Zigarette. »Man hat mir ein Foto meiner Mutter gezeigt, das ich damals in einem Club in Montmartre von ihr gemacht habe, bei einem der eher seltenen Besuche meiner Eltern in der Zivilisation. Ich bin in Paris aufs Internat gegangen, und sie haben mich dort abgeholt, um abends mit mir auszugehen. Ich glaube, es ist ihnen nicht im Traum eingefallen, dass ein Jazzclub in Montmartre nicht unbedingt die richtige Umgebung für ein sechzehnjähriges Mädchen ist.«

Bel grinste. »Klingt, als wären sie die Art Eltern gewesen, die sich jede Sechzehnjährige wünscht. Aber die Realität sah vermutlich anders aus.«

»Damals fand ich das jedenfalls nicht, aber jetzt …« Jess dachte an das Foto – ihre Mutter saß an einem Tisch mitten in einer Gruppe von Künstlern, zu deren Kreis sie schon immer gehört hatte, sie hatte auf dem College ja neben Botanik auch Illustration und Zeichnen studiert. Im Hintergrund stand ihr Vater an der Bar und betrachtete seine Frau mit einem Blick, als wäre sie der kostbarste Schatz der Welt. So war es immer gewesen: Er stand am Rand des Geschehens, damit zufrieden, Zuhörer und Bewunderer zu sein. Jess saß eigentlich immer bei ihm, bis sich herausstellte, dass sie die Kunst des Erzählens besser beherrschte als die meisten anderen – zumindest glaubte sie selbst das in dieser Zeit –, und sich zu der Gruppe am Tisch gesellte. Recht bald wurde ihr allerdings klar, dass der Wechsel ins Zentrum eher damit zusammenhing, dass sie in ihren Körper und ihr Lächeln hineinwuchs, und nicht so sehr mit ihren erzählerischen Fähigkeiten.

»Mit fünfzehn habe ich meinen ersten Gin getrunken«, erzählte Jess, inhalierte tief den Zigarettenrauch und atmete ihn wieder aus. »Meinen ersten Kuss habe ich am selben Abend bekommen, und man könnte sagen, dass meine Neugier hinsichtlich Sex mit siebzehn ausreichend gestillt war. Meine Eltern waren entweder blind oder folgten einem anderen moralischen Standard als die meisten Menschen – das wusste ich nie so genau. Ich bin mir auch relativ sicher, dass meine Mutter meinem Vater nicht immer treu war.«

»Was das Kriegsministerium sicher nur zu gern bestätigt hat«, meinte Bel bedächtig, als füge sie in Gedanken zusammen, was sich in etwa am Vormittag abgespielt hatte.

Jess nickte. »Ja, sie haben mir eine Liste der Männer präsentiert, mit denen meine Mutter angeblich eine Affäre hatte. Und eine weitere Liste mit Namen von Männern, mit denen ich ihrer Meinung nach ins Bett gehe. Um herauszufinden, ob irgendein Muster dahintersteckt, haben sie behauptet. Eine Neigung zu Freizügigkeit und Unmoral, die von vornherein ausschließen würde, dass sie mich auf eine Armee männlicher Wesen loslassen könnten. Natürlich war ihre Liste meiner Liebhaber lang und enorm übertrieben.«

»Dann gehst du also nicht nach Europa?«

»Keine Ahnung. Ich hab ihnen gesagt …« Sie zögerte und fragte sich, wie sie jemals die Kühnheit besessen hatte, zu kontern, wo sie doch eigentlich nur weinen wollte. Die Ironie der Geschichte bestand darin, dass sie zwar drei Jahre lang in aller Offenheit mit einem Mann zusammengelebt hatte, aber eben nur mit diesem einen. Fremdgehen lag ihr völlig fern, ganz gleich, was das Kriegsministerium von ihr dachte.

»Ich hoffe, du hast irgendetwas Jessica-May-Typisches gesagt, das ihnen ihr dreckiges Mundwerk gestopft hat.« Bel griff nach Jess’ Hand.

Etwas Jessica-May-Typisches. Im Büro des Kriegsministeriums hatte Jess sich zum ersten Mal gewünscht, etwas anderes zu sein als typisch sie selbst. Aber warum sollte sie sich für diese Gruppe herablassender Männer ändern?

Sie stand auf und stemmte die Hand in die Hüfte. »›Meine Güte, es ist ja ein Wunder, dass ich noch genug Energie habe, mich als Korrespondentin zu bewerben. Kriegen die Männer auch eine Liste mit ihren Eroberungen? Oder stoßen Sie später in der Bar alle zusammen darauf an? Vielleicht könnte ich in der Vogue etwas über das Prüfungsverfahren hier veröffentlichen, wo ich doch anscheinend sowieso keinen Ruf zu verlieren habe.‹«

Bel lachte. »Bravo!«

Jess ging hinüber zum Herd, um in der Suppe zu rühren. Klar, dass man sie nach dieser Retourkutsche weggeschickt hatte, ihre Drohung hing ja in der Luft wie billiges Parfüm – geschmacklos, aber durchdringend. Doch wenn sie jetzt kapitulierte, wie würde sie es jemals schaffen, an europäischen Kriegsschauplätzen zu überleben?

»Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ständig Abschied nehmen muss«, sagte Jess unvermittelt, den Rücken zu Bel. »Das gehört zu meinen wichtigsten Erinnerungen. Ich musste lustig und interessant sein, um Freunde zu finden, und wenn ich endlich welche gefunden hatte, zogen wir schon wieder weiter. Selbst als ich in Paris das Internat besuchte, holten meine Eltern mich alle paar Wochen ab, wenn sie jemanden zum Fotografieren brauchten. Zwar kam ich dann in dieselbe Schule zurück, aber es war trotzdem wieder ein Neuanfang.«

Ein Neuanfang. Genau wie jetzt, falls sie die Erlaubnis bekam, nach Europa zu gehen. Ein Glück, dass sie solche Situationen so gründlich geübt hatte.

»Nur einem einzigen Mädchen, Amelia, schreibe ich bis heute«, fuhr sie fort. »Sie ist Engländerin, ihre Eltern haben sie im Alter von sieben Jahren ins Internat gesteckt und sich in den folgenden neun Jahren nur zwei Mal dort blicken lassen. Obwohl sich unsere Eltern überhaupt nicht ähnelten, haben wir auf der Grundlage einer Art von elterlicher Ignoranz einen engen Kontakt zueinander entwickelt. Amelias Vater war in der Armee und immer irgendwo unterwegs. Mein Vater hatte die sozialen Fähigkeiten eines Einzellers, weshalb meine Mutter dachte, wenn sie mich zu ihren Partys mitschleppte, würde ich sowohl lernen, mich um mich selbst zu kümmern, als auch, andere Menschen für mich zu gewinnen.«

»Hat es funktioniert?«, fragte Bel mit einer Spur Ironie.

»Bei dir zumindest, oder etwa nicht?«, erwiderte Jess mit einem leisen Lachen, wandte sich ihrer Freundin zu und drängte die Vergangenheit dorthin zurück, wo sie hingehörte.

Dann schöpfte sie die Suppe in die Schalen und schob einen Stapel Zeitungsausschnitte über den Tisch zu Bel. »Martha hat mir gesagt, ich soll das hier alles lesen. Ruth Cowan und Inez Robb sind dem Women’s Army Corps in Nordafrika zugeteilt worden und berichten von dort. Es geht darum, wie es ist, wenn man statt Röcken Hosen tragen muss, und wie man leidet, wenn man nur alle paar Monate zum Friseur gehen kann. In diesem Artikel hier« – Jess deutete auf eine Seite – »behauptet Cowan sogar, es wäre ihr lieber, von einer Bombe getroffen zu werden, als im Schützengraben neben einer Spinne zu sitzen. Ich frage mich, ob sich die Soldaten da draußen ähnliche Gedanken machen. Übrigens steht in jeder Namenszeile der Frauen die Bezeichnung Girl Reporter. Wenn du das auch nur einem einzigen Artikel von mir anhängst, spreche ich nie wieder ein Wort mit dir. Man erwartet doch wohl nicht ernsthaft von mir, dass ich nach Europa gehe und darüber berichte, was ich alles erdulden muss, um gut auszusehen? Und es würde doch bestimmt niemand wagen, mich als Girl Reporter zu bezeichnen, oder?«

»Was werden die nur mit dir machen, wenn du tatsächlich da drüben aufkreuzt?«, überlegte Bel kopfschüttelnd und fing an zu lachen. »Ich möchte jedenfalls nicht in der Haut des Mannes stecken, der dich als Erster Girl Reporter nennt. Aber vergiss nicht, dass du wahrscheinlich dem Kriegsrecht unterstehst und möglicherweise hin und wieder etwas schlucken musst. Obwohl ich mir auch nicht vorstellen kann, dass eine Frau, die mit fünfzehn ihren ersten Kuss bekommen hat, allzu viel Zensur dulden wird.«

»Mein Plan ist, niemanden zu küssen, solange ich weg bin«, informierte Jess sie sittsam. »Wenn ich es tue, bestätige ich damit doch nur jedes Vorurteil, das man gegen mich hat. Garantiert warten die nur darauf, dass ich mir einen Fauxpas leiste oder als Klischee-Model die Hälfte der US-Armee verführe. Ich habe nicht vor, ihnen diese Genugtuung zu verschaffen.«

»Klingt ganz so, als würdest du da drüben auf sämtliche Befriedigung verzichten müssen.« Bel grinste, aber der Satz traf bei Jess offenbar einen wunden Punkt.

Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Ich glaube jedenfalls, dass Emile mich für eine ganze Weile von dem Wunsch nach dieser speziellen Befriedigung geheilt hat.«

»Ich wollte dich zum Lachen bringen«, sagte Bel. »Weine nicht, du bist die furchterregende Jessica May. Ich habe dich nicht mal weinen sehen, als unser Art Director dich damals vor einem ganzen Team von Designern runtergeputzt hat, weil du ihrer Meinung nach ein Bild zu surrealistisch gestaltet hast.«

Jess lachte leise, wischte sich die Tränen aus den Augen und hoffte, dass sie damit auch die Erinnerung an Emile loswurde. »Daran habe ich lange nicht gedacht«, sagte sie. »An dem Tag hast du mir gesagt, du würdest meinen ersten Artikel bringen. Danach haben wir uns im Stork Club mit Champagner betrunken.«

»Und jetzt sitzt du hier in den Startlöchern, um weiter zu fotografieren und noch jede Menge Reportagen über einen Krieg zu schreiben.«

»Vielleicht zahlt es sich ja aus, öffentlich heruntergeputzt zu werden und sich danach zu betrinken.«

»Hört sich nach einem Motto an, das dir möglicherweise in den nächsten Jahren gute Dienste leisten wird.« Bel nahm Jess in den Arm. »Ich werde dich vermissen, wenn du weg bist. Die Frage lautet ja nicht ob, sondern wann.«

Kapitel 3

Das Kriegsministerium ließ Jess tatsächlich nach Europa reisen – glücklicherweise war der Einfluss des Condé-Nast-Imperiums gewaltig. Erste Erfahrungen machte sie mit dem Auftrag, von der Heimatfront über das Training für die Frauen des WAC einen Bericht zu schreiben, den die Vogue veröffentlichte, und als sie ihre Aufgabe zur allseitigen Zufriedenheit erledigt hatte, bekam sie kurz nach ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag endlich den Marschbefehl nach Übersee.

So wurde sie Captain der US-Armee – ihr Rang und ihre Uniform eine Gefälligkeit, die als Tarnung diente und im Fall, dass sie in Gefangenschaft geriet, verhindern sollte, dass sie als Spionin erschossen wurde. Sie wurde gegen Tetanus, Typhus und Fleckfieber geimpft und bekam vom Büro des Generaladjutanten des Kriegsministeriums eine Ausweiskarte mit Fingerabdrücken, Geburtsdatum, Haarfarbe, Augenfarbe, Größe, Gewicht und einem Foto, auf dem sie wie betäubt aussah. In der Vogue würde so etwas niemals erscheinen, dachte sie grinsend. Sie rüstete sich aus mit Hosen – die beiden Röcke, die man ihr aufgedrängt hatte, packte sie zwar ebenfalls ein, bezweifelte aber, dass sie in der Kampfzone praktisch sein würden –, zwei Armeehemden, einer Krawatte, Tarnkleidung und grünen US-Kriegskorrespondenten-Abzeichen für Jacke und Mütze.

Ihr Einschiffungspunkt war Brooklyn, wo ein Sergeant sie musterte und fragte: »Jungfrau?«

Jess konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Nur was den Krieg angeht«, antwortete sie schlagfertig, woraufhin der Mann knallrot wurde. Er bemühte sich, seine Verlegenheit zu verbergen, und führte sie schweigend zu einem Lagerhaus. Eigentlich hatte er sich mit seiner Frage über Jess lustig machen wollen, aber nun hatte sie den Spieß umgedreht.

Im Lager bekam sie einen Tornister und auch eine Sonnenbrille, die sie jedoch verstohlen auf den Haufen zurücklegte, weil sie eine eigene besaß und dank der Exkursionen ihrer Eltern wusste, dass diese wahrscheinlich besser war als alles, was die Armee der Vereinigten Staaten zu bieten hatte. Als Nächstes kam das Insektenpulver, das ihr von den paläobotanischen Expeditionen bekannt war, Schokolade, ein Moskitonetz und Handschuhe. Sie legte die Sachen zu denen, die sie mitgebracht hatte: Socken, Unterwäsche, Cold Cream, Lippenstift und Puder, ihre beiden Kameras, Film, Kameraobjektive, Blitzbirnchen, Ersatzteile und Schreibmaschinenpapier. Außerdem ein Kleid von Stella Designs, eigens für sie von Estella Bissette geschneidert, aus hauchfeiner Seide, so dass es sich auf Handtellergröße zusammenfalten ließ. Zum Glück hatte man ihr gestattet, ihre Schreibmaschine als extra Gepäckstück mitzunehmen, statt sie auch noch in die Reisetasche quetschen zu müssen.

Nach ausführlicher Recherche hatte sie darum gebeten, nach Italien geschickt zu werden, denn man hatte ihr gesagt, dass die Krankenschwestern dort näher an der Front waren als irgendwo sonst. Als Frau durfte Jess nicht direkt über die Kampfhandlungen, sondern lediglich über das Hilfspersonal berichten. Daher war das jüngst von der US-Armee befreite Neapel ihr Ziel, und ihr Auftrag lautete, für die Leserinnen und Leser der Vogue die Arbeit der im Lazarett stationierten Krankenschwestern zu dokumentieren.

In Neapel stand sie sich zwei Wochen lang die Beine in den Bauch, während der Public Relations Officer – kurz PRO – überprüfte, ob ihr Marschbefehl gültig war und tatsächlich irgendein verdammter Idiot in Washington einer Frau erlaubt hatte, nach Italien zu kommen. Offensichtlich hatte Warren Stone, der verdammte Idiot in London, ihn nicht vorgewarnt. Obwohl mit Jess’ Papieren alles in Ordnung war, konnte er sich gar nicht genug aufregen, und ihr war rasch klar, dass es besser für sie war, ihn nicht weiter auf die Palme zu bringen.

»Meinetwegen können Sie ins Feldlazarett 11 gehen«, erklärte er ihr schließlich. »Aber Sie müssen warten, bis jemand in die Richtung fährt. Ich habe keinen Jeep für Sie.«

»Und wo soll ich warten – was schlagen Sie vor?«, fragte sie gelassen. »Am Straßenrand mit ausgestrecktem Daumen? Oder verlangt die US-Armee eine ordnungsgemäßere Herangehensweise?«

»An Ihrer Stelle würde ich mich auf meine eigene Sicherheit konzentrieren«, antwortete er gleichmütig. »Frauen ist es nicht gestattet, sich in die Nähe eines Kampfgebiets zu begeben. Ich werde keinesfalls dafür geradestehen, wenn Ihnen etwas passiert.«

***

Auf dem Tanzboden des Orange Club in Neapel hatte Jess erfahren, dass das Feldlazarett 11 in der Nähe der kleinen Ortschaft Mignano auf dem Höhenrücken über dem Cassinotal lag. Die Gegend hatte der Beschreibung nach idyllisch geklungen, aber als sie in einem Jeep, der an der Stelle, wo das Lazarett eigentlich liegen sollte, ankam, war sie alles andere als das: Es herrschte ein unvorstellbarer Lärm, so laut, dass man keine einzelnen Geräusche unterscheiden konnte, sondern nur ein ohrenbetäubendes Dröhnen wahrnahm, wie von einem gewaltigen, wütenden Löwen.

Auf der Fahrt von Neapel nach Norden hatte es für Jess keinerlei Anzeichen dafür gegeben, was ihr bevorstand. Sie hatte in dem Jeep gesessen, dessen Boden gegen eventuelle Minen mit Sandsäcken belegt war, eines in einer Kolonne anderer olivgrüner Fahrzeuge – Panzer, Lastwagen, Rettungsfahrzeuge, Kommandoautos mit aufgemalten Namen wie Black Devil und Death Dodger. Sie waren an Zeltlagern vorbeigekommen, die sich meilenweit in einen Schlammsee hinein erstreckten, man erkannte Soldaten, die mit nacktem Oberkörper umherliefen und sich rasierten. Trümmerberge, die einmal Häuser gewesen sein mussten, gelegentlich eine rosa Mauer, die noch aufrecht stand. Italienerinnen, die in Trögen Kleidungsstücke wuschen, denn die Wäsche musste ja auch im Krieg gemacht werden. Endlose Kabelschlangen, die herumlagen, als stelle man die Adern der Erde zur Schau. Kinder, die in zerstörten Munitionskarren spielten.

Dann plötzlich kamen schneebedeckte, wilde Berggipfel in Sicht. Aus dem Tal unter ihnen stiegen dicke, weiße Rauchschwaden auf, Granatennarben durchfurchten die ehemals wunderschöne Landschaft, Geschützeinschläge hatten hier ein seltsam kreisförmiges Muster hinterlassen. Doch einen Moment später setzte sintflutartiger Regen ein, so heftig, dass er alles in seiner grauen Nässe zu verschlingen schien.

Kurz darauf brachte der Fahrer den Jeep schlingernd zum Stehen. Hinter der Kurve, die sie soeben genommen hatten, fanden sie kein Lazarett vor, sondern ein Schlachtfeld. Inzwischen hörte Jess den Lärm nicht mehr nur in den Ohren, sondern spürte ihn im ganzen Körper, wie ein zweiter oder gar dritter Herzschlag pochte er in ihr, nahezu unerträglich presste das Getöse auf Kopf und Brust. Der Fahrer machte Anstalten, zu wenden, doch Jess öffnete die Tür des Jeeps und sprang – Rollei um den Hals, Leica in der Hand – aus dem Fahrzeug, ehe er sie aufhalten konnte.

»Sie sollten helfen!«, rief sie, als der Mann zögerte. Für sie sah es aus, als könnten die Soldaten auf ihrer Seite sich nur mit größter Mühe gegen den feindlichen Beschuss verteidigen.

So folgte er ihr und landete im Schlamm, der so zäh war, dass man sich festen Boden darunter nicht vorstellen konnte. »Bleiben Sie beim