Das Geheimnis der Dior-Kleider - Natasha Lester - E-Book
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Das Geheimnis der Dior-Kleider E-Book

Natasha Lester

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Beschreibung

Eine große Freundschaft. Eine verlorene Liebe. Eine geheime Sammlung von Dior-Kleidern.  

London, 1939: Die Pilotin Skye muss als Frau in der britischen Armee ständig um Anerkennung kämpfen. Auf einer Mission trifft sie ihren Jugendfreund Nicholas wieder, und alte Gefühle werden wach. Doch in den Wirren des Krieges laufen sie Gefahr, einander für immer zu verlieren.

Cornwall, 2012: Kat findet im Haus ihrer Großmutter sechzig wertvolle Dior-Kleider unbekannter Herkunft. Fasziniert beginnt sie, die mysteriöse Geschichte ihrer Familie zu ergründen, und stößt auf ein ungeheuerliches Geheimnis. 

Nach der wahren Geschichte der Widerstandskämpferin Catherine Dior, der Schwester des großen Modeschöpfers.

»Geschrieben in eleganter, stimmungsvoller Prosa, so sorgfältig konstruiert wie ein Couture-Kleid.« BOOKLIST.

 

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Seitenzahl: 642

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Über das Buch

Cornwall, 1928: Als die zehnjährige Skye dem nur wenig älteren Nicholas begegnet, ist es der Beginn einer großen Freundschaft voll sorgloser Tage am Meer und aufregenden Flugstunden mit Skyes Mutter. Dann jedoch muss Nicholas in seine Heimatstadt New York zurückkehren, und es bricht Skye das Herz. Viele Jahre später, als der Zweite Weltkrieg durch Europa wütet, begegnen sich die beiden wieder. Doch das Grauen des Krieges droht, sie erneut auseinanderzureißen …

Sydney, 2012: Die Modekonservatorin Kat erfährt zu ihrer Verblüffung, dass ihre Großmutter ein altes Cottage in Cornwall besitzt. Dort stößt sie auf eine riesige Sammlung wertvoller und zum Teil völlig unbekannter Dior-Kleider, über deren Herkunft ihre Großmutter sich ausschweigt. Zusammen mit dem Journalisten Elliott macht Kat sich auf die Suche nach der Wahrheit über ihre Familiengeschichte. 

»Legen Sie Taschentücher bereit, setzen Sie sich in eine ruhige Ecke, bis Sie dieses außergewöhnliche Buch beendet haben.« MARIE CLAIRE

Über Natasha Lester

Natasha Lester war Marketingleiterin bei L’Oréal und verantwortlich für die Marke Maybelline, bevor sie sich entschloss, an die Uni zurückzukehren und Creative Writing zu studieren. Heute lebt sie als Autorin und Dozentin in Perth, Australien, und ist Mutter dreier Kinder. Ihre Romane, in denen es stets um spezifisch weibliche Aspekte der Geschichte geht, sind internationale Bestseller.

Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls ihre Romane »Die Kleider der Frauen«, »Die Bilder der Frauen« und »Die Farben der Frauen« vor.

Mehr zur Autorin unter www.natashalester.com.au  

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Natasha Lester

Das Geheimnis der Dior-Kleider

Roman

Aus dem Englischen von Annette Hahn

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil 2 — Kat

Kapitel 3

Teil 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil 4 — Kat

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 5

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 6 — Kat

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil 7

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Teil 8 — Kat

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Teil 9 — Margaux

Kapitel 27

Teil 10

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Teil 11 — Kat

Kapitel 31

Teil 12

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Teil 13 — Nicholas

Kapitel 35

Teil 14 — Kat

Kapitel 36

Teil 15 — Margaux

Kapitel 37

Teil 16 — Kat

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Anmerkungen der Autorin

Danksagung

Anmerkungen der Übersetzerin

Impressum

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Prolog

Paris, 2. Februar 1947 | In einer imposanten Stadtvilla an der Avenue Montaigne 30 steht Margaux Jourdan in dem zur Umkleidekabine umfunktionierten Nebenraum des großen Salons und lässt sich in eine elfenbeinfarbene Jacke aus Shantung-Seide mit ausgestellten, gepolsterten Schößchen helfen. Der dazugehörige Faltenrock aus schwarzem Wollstoff ist wadenlang und fast schockierend weit – was für verschwenderische Stofffülle in einer rationierten Nachkriegswelt! Eine Perlenkette, ein breitkrempiger Hut und schwarze Handschuhe komplettieren das Ensemble. Trotz der Gräueltaten des Krieges sind die Hände einer Frau offenbar immer noch zu aufsehenerregend, um unbekleidet zu bleiben.

Wie die Ballerina in einer Spieldose wird Margaux von Madame Raymond einmal im Kreis herumgedreht, dann gestattet sich die ältere Frau ein kaum merkliches, zufriedenes Nicken. Wortlos weist sie Margaux den Weg durch den Vorhang in den Salon.

Und so präsentiert Margaux an diesem Abend einer noch ahnungslosen Welt das »Bar Jacket«, einen Entwurf, der bald legendär werden wird.

Im großen Salon sitzen elegante Pariser Schulter an Schulter – unter ihnen der Künstler und Filmregisseur Jean Cocteau sowie die Chefredakteure von Vogue und Harper’s Bazaar, Michel de Brunhoff und Marie-Louise Bousquet. Etliche Gäste stehen entlang der Wand, andere drängen sich auf der Treppe – die Nachfrage nach den Eintrittskarten für Diors erste Modenschau der Haute Couture war so groß, dass die Vermittler sie teurer verkaufen konnten als Schwarzmarktbutter.

Die gedämpfte Farbpalette des Salons bewegt sich zwischen Perlgrau und Weiß und ist so unaufdringlich wie ein verdeckter Reißverschluss. Louis-XVI-Medaillonstühle, vergoldete Barockbilderrahmen mit verschnörkelten Bogenaufsätzen und Belle-Époque-Kronleuchter – alles scheint zu verkünden, die Zeit sei stehengeblieben und man solle besser aufmerksam sein. Das Rascheln wedelnder Fächer klingt wie vorzeitiger Applaus, der Geruch von Parfüm, Zigaretten und gespannter Erwartung liegt in der Luft, kribbelnde Vorfreude macht sich breit.

Während Margaux durch den Raum schreitet, hört sie Seufzer des Erstaunens, sieht Köpfe, die sich einander zuneigen, und Hände, die begierig zucken, als wollten sie am liebsten über den Stoff ihres ausladenden Rockes streichen. Sie beendet ihren Rundgang und taucht erneut durch den grauen Satinvorhang, hinter dem Christian Dior persönlich steht – der Mann, der mit Zauberhänden wundervolle Entwürfe fertigt und dessen Kreationen der Mode neue Maßstäbe setzen. Wenn jemand achtzig Jahre später nach dem Namen eines Modeschöpfers fragt, wird man seinen Namen als ersten nennen. Doch das ist die Zukunft.

Christian lächelt Margaux zu. Die Modenschau geht weiter. Dass sie eine Sensation ist, muss niemand laut aussprechen, es ist auch so sonnenklar.

Als Finale wird – wie sollte es anders sein? – ein Brautkleid gezeigt. Reglos lässt Margaux es sich anziehen. Dann betritt sie erneut den Salon, und das kollektive Aufseufzen der Anwesenden scheint dem Raum allen noch verbliebenen Sauerstoff zu rauben. Margaux sieht aus, als sei sie in eine voll erblühte weiße Rose gehüllt, die exakt im Moment der Perfektion gepflückt wurde. Es ist vor allem der voluminöse Rock des Kleides, der diese Illusion erzeugt: Üppig, nein, verschwenderisch bauscht sich die Seide um sie herum zu grandiosem Optimismus auf, während sie sich nach oben hin in eine Taille von nur fünfzig Zentimetern verjüngt, dem geforderten Standardmaß für jedes Dior-Modell.

Keiner der Anwesenden weiß, dass Margaux diesen Taillenumfang nur aufgrund jahrelanger Entbehrungen besitzt; dass er in einer Zeit begründet liegt, in der ein solches Kleid ebenso schockierend gewesen wäre wie ein Sonnenaufgang um Mitternacht. Doch niemandem ist damit geholfen, sich an Dinge zu erinnern, die nicht ungeschehen gemacht werden können. Also konzentriert sich Margaux auf ihre Füße und schreitet in einem Tempo durch den Salon, das es dem Publikum erlaubt, die sensationellen Besonderheiten des Kleides zu erkennen, das Gewand aber gleichzeitig so schnell wieder aus dem Blickfeld verschwinden lässt, dass die Zuschauer augenblicklich Sehnsucht danach empfinden.

Zwischen all den Gästen ist kaum ausreichend Platz für dieses überwältigend voluminöse Kleid: Der Rock streift die weiße Säule eines Standaschenbechers. Niemand außer Margaux sieht, wie ein wenig Asche zu Boden rieselt. Auch dass es draußen minus vierzehn Grad sind und Paris sich durch einen Winter mit rationierter Elektrizität und knapper Kohle bibbert, nimmt in diesem Moment niemand wahr. Christians Kleid besitzt die Macht, die harte Realität vergessen zu machen.

Als Margaux den Raum verlässt, brandet ein Applaus auf, der Tote wecken könnte. Doch Margaux weiß, ihre Toten wird rein gar nichts wieder zum Leben erwecken.

Die Modelle kehren in den Salon zurück und stellen sich in einer Reihe auf. Christian – oder »Tian«, wie er von Margaux und einigen wenigen Auserwählten genannt wird – verbeugt sich und nimmt Lob und Gratulationen entgegen.

Er stellt sich neben Margaux, die immer noch das Brautkleid trägt, obwohl sie niemals eine Braut sein wird, nimmt ihre Hand und hebt sie zum Kuss an seine Lippen.

»Magnifique«, sagt er.

Christians Schwester Catherine küsst Margaux auf beide Wangen. »Du warst magnifique, chérie.«

Carmel Snow, Chefredakteurin der amerikanischen Ausgabe von Harper’s Bazaar, tritt zu ihnen. Verzückt lässt sie ihre Fingerspitzen über Margaux’ Rock gleiten. »Mein lieber Christian«, sagt sie, »Ihre Kleider haben wirklich einen außergewöhnlichen neuen Look.«

Als könnte sie plötzlich in die Zukunft sehen, weiß Margaux sofort, dass Christians neue Kollektion von nun an so genannt werden wird: der New Look.

Ein neuer Look für eine neue Welt. Eine Welt, in der man den Schmerz von Tod und Verlust und gebrochenen Herzen unterdrückt, weil er einem sonst mit groben Klauen die Haut in Stücke risse. Solche Gefühle werden das Leben nicht mehr bestimmen, so wie sie es in den letzten Jahren des Krieges getan haben. Der New Look wird das perfekte Betäubungsmittel werden für eine Generation, die den Krieg überlebt hat und sich an nichts aus dieser Zeit erinnern will.

Margaux ist die Einzige, die sich erinnert. Skye und Liberty und Nicholas und O’Farrell sind nicht mehr da. Nie mehr wird sie ihre Namen aussprechen, vor niemandem. Niemand will die Namen der Opfer hören. So wie niemand wissen will, dass Margaux nur deshalb eine schmale Taille hat, weil auch sie ein Opfer ist.

Catherine hakt sich bei ihr unter. »Komm, chérie, lass uns anstoßen – auf …« Sie zögert. »Die Zukunft?«

Das Wort wird von nun an immer mit einem Fragezeichen ausgesprochen werden. Also trinkt Margaux nicht auf die Zukunft. Sie hebt ihr Champagnerglas und prostet ihnen allen zu: Catherine, Skye, Liberty, Nicholas, O’Farrell und sich selbst. Dabei spürt sie, wie ihre Geister sich um sie herum versammeln und sie anflehen, so wie sie es jede Nacht in ihren Träumen tun. Aber so, wie sie damals nichts für irgendeinen von ihnen tun konnte, so kann sie auch jetzt nichts für sie tun. Außer: Champagner trinken, lächeln und in ihrem neuen Look in diese furchtbare neue Welt treten, die sie nicht begreifen kann.

Teil 1

… in einem einsamen Leben gibt es jene seltenen Momente, in denen eine Seele die andere berührt, so wie Sterne einmal im Jahr die Erde streifen. Die Begegnung mit [ihm] war ein solcher Moment für mich.

– Madeline Miller, Ich bin Circe

Kapitel 1

Cornwall, August 1928 | »Ich kann dein Höschen sehen.«

Skye Penrose wusste, dass ein zehnjähriges Mädchen nach einer solchen Aussage sofort damit aufhören sollte, ein Rad nach dem anderen zu schlagen, als wäre sie ein trudelnder Stern. Sie sollte sich auf der Porthleven Pier ordentlich hinstellen und ihren Rock glatt streichen. Stattdessen hielt sie nur kurz inne, um die Richtung zu wechseln, und wirbelte dann mit zwei perfekten Radschlägen auf den Jungen zu, der sie angesprochen hatte. Beim letzten Aufrichten erwischte sie seine Hose und zog sie ein Stück nach unten, wobei mindestens ein Knopf abriss.

»Deines kann ich auch sehen.« Sie grinste. Eigentlich hatte sie gleich fortrennen wollen, um möglichem Ärger zu entgehen, aber der Junge sah sie derart überrascht an – mit großen Augen und den Mund zu einem perfekten O gerundet, durch das sie ein Bonbon hätte werfen können –, dass sie stehen blieb und »Hallo, ich bin Skye« sagte.

Er zog die Hose wieder hoch und stammelte: »Ich heiße Nicholas Crawford. Freut mich, dich kennenzulernen.« Er redete seltsam: die Wörter eher rund als scharf, manch eine Betonung auf der falschen Silbe, so dass die vertraute Sprache fremd klang.

»Ich finde es nur fair, dass wir beide, wenn wir Freunde werden wollen, gleich viel voneinander wissen«, sagte Skye. »Deshalb musste ich deine Unterhose auch sehen.«

Nicholas Crawford nickte, als sei das vollkommen einleuchtend. Er war größer als Skye, mit fast schwarzem Haar und Augen von einem auffallenden Blaugrau, wie das Meer an wechselhaften Tagen. Seine Kleidung sah sauber und frisch gebügelt aus, nicht schmutzig vom Spielen, wie die von Skye.

»Freunde«, wiederholte er.

»Nur, wenn du meine Geheimnisse für dich behalten kannst.«

Die Neugier ließ seine Augen in einem aquamarinblauen Schimmer aufblitzen. »Was für Geheimnisse sind das denn?«

»Die besten. Komm mit, ich zeig sie dir.«

Sie ergriff seine Hand und lief los. Er folgte ihr, ohne zu zögern. Weder protestierte er, er müsse erst seiner Mutter Bescheid geben, noch wandte er ein, dass er mit jemandem, der ihm die Knöpfe von der Hose gerissen hatte, nicht befreundet sein könne. Er rannte einfach los und konnte sogar mit ihr mithalten, auch wenn er seinem Akzent und seinem Verhalten nach aus einer Gegend weit entfernt von Cornwall stammen musste – einem Ort, an dem man wahrscheinlich kaum je frei und wild herumrannte. Sie liefen nebeneinanderher, bogen vor dem Rathaus zum Strand ab und flitzten über den Sand, bis ihnen eine scheinbar unüberwindliche Felsmauer den Weg versperrte.

»Hier durch«, sagte Skye und zeigte ihm eine Lücke, die gerade groß genug war, dass sie hindurchkriechen konnten.

Auf der anderen Seite staunte er wieder mit offenem Mund, und Skye freute sich, dass er genau so fasziniert war, wie sie es sich erhofft hatte.

»Du bist der erste Mensch, dem ich das hier zeige«, sagte sie.

»Warum mir?«

Sie überlegte, wie sie es ausdrücken sollte. Du siehst aus wie jemand, der leicht zu beeindrucken ist, klang irgendwie fies. »Weil ich dachte, es könnte dir gefallen.«

Beide Kinder drehten sich einmal um die eigene Achse, um alles in sich aufzunehmen: das wie mit weißer Spitze gesäumte Meer, das sich linker Hand immer wieder gegen die Felsen warf, die Rundung der Bucht, in der sich die Wellen bei der relativen Windstille nur minimal kräuselten, und hinter ihnen die Höhle, dunkel, zerklüftet und verheißungsvoll.

»Das alles ist meins«, erklärte Skye stolz. »Siehst du das Haus da oben?« Sie deutete zur Felskuppe des Kliffs, wo ein verwittertes Cottage die Fersen in den Boden zu stemmen schien, um sich an Ort und Stelle zu halten. »Da oben wohne ich mit meiner Mutter und meiner Schwester. Zu der Bucht kommt man nur durch den Spalt in der Felswand oder über den Weg, der vom Haus hierherführt. Also ist es meine Bucht. Und jetzt auch deine.«

Nicholas runzelte die Stirn. Dann griff er in seine Hosentasche und zog eine Taschenuhr hervor. »Wenn du deine Bucht mit mir teilst, dann teile ich das hier mit dir.« Er reichte ihr die Uhr. »Die hat meinem Vater gehört. Und davor seinem Vater.«

Skye fuhr mit dem Finger über die gravierte goldene Oberfläche, dann klappte sie den Deckel auf. Das Ziffernblatt zeigte elegante römische Zahlen und einen seltsam geformten Halbmond.

»Wo ist dein Vater denn?«, wollte sie wissen.

»Da oben.« Nicholas deutete zum Himmel.

»Aber … du musst die nicht mit mir teilen.« Sie gab die Taschenuhr zurück, weil sie erkannte, dass sie sein wohl kostbarster Besitz sein musste.

»Ich will es aber so. Du kannst sie jede Woche einen Tag lang haben.«

Er sagte es sehr entschieden. Dieser gut gekleidete Junge, der hier in Cornwall wahrscheinlich noch nie einen Strand betreten hatte, besaß Willensstärke. Und konnte rennen. Und mochte ihre Bucht.

»Das bedeutet, dass du morgen wiederkommen musst, um sie zurückzuholen«, sagte sie.

Er nickte.

»Magst du jetzt mit mir in die Höhle gehen?«

Er nickte wieder.

* * *

Skye stand am Rand der Klippe, hielt die sorgsam in ein Taschentuch eingeschlagene Uhr in der Hand und beobachtete, wie sich ihr neuer Freund durch die Lücke zwischen den Felsen zwängte und dahinter weiter über den Strand trabte. Kurz bevor er Richtung Dorf abbog, sah er sich noch einmal zu ihr um und winkte. Schnell legte Skye die Uhr beiseite und schlug ein paar Räder, weil sie dachte, darüber würde er sich bestimmt freuen. Dann ging sie zum Abendessen ins Haus.

Ihre Schwester Liberty, die ein Jahr jünger war als sie, stürmte ihr entgegen, sobald sie durch die Tür kam.

»Wo warst du?«, quengelte sie.

»Am Strand.«

»Immer bist du am Strand.« Liberty verzog das Gesicht.

»Dann hättest du mich ja leicht finden können.«

»Ich habe Hunger.«

Bevor Skye ihre Schwester daran erinnern konnte, dass sie sich jederzeit Essen aus der Küche holen konnte und Skye dafür überhaupt nicht brauchte, sah sie über Libertys Schulter hinweg das Spielbrett von Schlangen und Leitern auf dem Tisch liegen. Grüne und goldene Schlangen wanden sich auf Abbildungen unartiger Kinder zu, und Skye erkannte, dass sie wie eines dieser verdorbenen Kinder war: Sie hatte Liberty versprochen, heute Nachmittag ein paar Runden mit ihr zu spielen. Aber in der Aufregung, jemanden gefunden zu haben, der die Bucht und ihre Höhle ebenso liebte wie sie, hatte sie das ganz vergessen.

Liberty bemerkte ihren Blick, drehte sich um und schubste das Spielbrett vom Tisch. Laut klackernd fielen die Würfel zu Boden und übertönten kurz die gedämpften Stimmen aus dem Nebenzimmer, wo Mutter offenbar noch mit einer ihrer Kundinnen saß.

»Ich mache dir eine Tasse Tee«, schlug Skye vor, »und dann können wir spielen.«

Liberty schwieg. Skye dachte, sie würde vielleicht gleich nach oben in ihr Zimmer laufen und schmollen, so wie sie es häufig tat. Doch dann nickte sie, und der Frieden war wiederhergestellt. Sie tranken beim Spielen Tee, und Skye widersprach nicht, als Liberty ihre Figur eine falsche Anzahl von Feldern vorrückte, um über eine Leiter weiter nach oben zu gelangen. Sie ließ Liberty auch gewähren, als diese behauptete, Skye habe sich verzählt und müsse über eine Schlange hinunterrutschen. Liberty gewann.

* * *

Am nächsten Morgen stand Skye schon mit den ersten Sonnenstrahlen auf, zog ihren Badeanzug an und wartete – die Taschenuhr fest in der Hand – voller Ungeduld auf Nicholas. Sie saß auf dem Fenstersitz im Wohnzimmer, blickte auf ihr geliebtes Meer hinab und hoffte inständig, er werde sich über den gebotenen Anstand hinwegsetzen und jetzt schon kommen, auch wenn es selbst zum Frühstücken noch zu früh war. Als Liberty eine Stunde später die Treppe herunterkam, zog sie beim Anblick von Skyes Badeanzug einen Schmollmund und trat gehässig nach der Schwester. Doch Skye, die dieses Verhalten gewohnt war, konnte ausweichen. In diesem Moment klopfte es, und Skye begann zu strahlen. Auch Nicholas war ihre Bucht offensichtlich wichtiger als das Frühstück.

»Schau bitte nach, wer das ist, mein Schatz«, rief ihre Mutter aus der Küche, in der es immer nach Kaffee, Holzrauch und französischen Zigaretten roch. Vanessa Penrose stand an dem angeschlagenen blauen Windsor-Holzofen und rührte das Porridge um. »Vor zehn erwarte ich eigentlich niemanden.«

Skye war schon durch den Flur zur Tür gerannt und riss sie nun auf. Nicholas stand draußen und neben ihm eine Frau, die ihm besitzergreifend eine Hand auf die Schulter legte. Skyes Lächeln erstarb.

»Ist sie das?«, wollte die Frau wissen.

»Das ist Skye«, antwortete Nicholas.

»Ich möchte deine Mutter sprechen«, sagte die Frau forsch.

»Bitte treten Sie ein«, erwiderte Skye höflich. Während sie die Tür aufhielt, flackerten durch den Wind die Flammen in den gläsernen Öllampen auf – für Elektrizität wohnten sie zu weit vom Ort entfernt.

Ihre Mutter wandte den Kopf und begrüßte den Besuch. In ihrem langen, üppig berüschten und bestickten schwarzen Seidenmorgenrock mit den weiten Ärmeln und dem tiefen Ausschnitt hatte Vanessa Penrose etwas Königliches an sich. Die Frau neben Nicholas starrte sie jedoch an, als würde auch sie Rad schlagend durchs Haus wirbeln und dabei ihr Höschen zeigen.

»Sind Sie zum Frühstück gekommen?«, erkundigte sich Vanessa, so dass die fremde Frau ihren Blick von dem Morgenrock lösen und ihr ins Gesicht sehen musste. »Du bist sicher Nicholas«, fuhr Vanessa fort. »Skye hat mir schon viel von dir erzählt. Ich bin Vanessa … oder Mrs Penrose, wenn du willst. Magst du Porridge?«

Jetzt lächelte Nicholas. »Ja, sehr.«

»Nein, mag er nicht«, sagte die Frau.

»Doch, mag ich, und ich habe Hunger«, sagte Nicholas mit derselben ruhigen Bestimmtheit wie vorhin an der Tür, als er Das ist Skye gesagt hatte.

»Skyes Beine sind innen hohl«, erzählte ihm Vanessa nun, »was bedeutet, dass sie kaum richtig stehen kann, bevor sie etwas gegessen hat. Du musst dich also zu uns setzen.«

Skye kicherte, und Nicholas nahm Platz.

»Ich bin Finella Crawford, und Ihre Tochter muss sich bei meinem Neffen entschuldigen.« Nicholas’ Tante hatte eine Stimme wie ein Angelhaken: scharf und schneidend. Sie sprach mit demselben Akzent wie Nicholas, aber bei ihr klang es eher aggressiv als interessant.

»Sie hat ein gutes Paar Hosen ruiniert und einen sehr wertvollen Gegenstand gestohlen«, fuhr die Tante fort.

Skye drückte Nicholas unter dem Tisch die Taschenuhr in die Hand.

»Danke«, flüsterte er.

Vanessa nahm eine Orange aus der Obstschale, schnitt sie durch und presste sie aus. Sie goss den Saft in ein Glas und gab es Nicholas. »Von der Hose hat Skye mir erzählt. Ich kann die Knöpfe wieder annähen. Aber stehlen tut meine Tochter auf keinen Fall.«

»Da irren Sie sich. Sie hat meinem Neffen die Taschenuhr gestohlen, die ihm sein Vater hinterlassen hat – mein lieber Bruder.« Nicholas’ Tante tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen, und Skye hatte den Eindruck, dass sie ihre Vorstellung genoss.

»Die Uhr ist hier«, sagte Nicholas und hielt sie hoch.

»Dann ist das Rätsel ja gelöst.« Mit geschickten Fingern presste Vanessa drei weitere Orangen aus, bevor auch sie sich setzte.

Skye sah Nicholas an. »Es tut mir leid, dass wegen mir ein Knopf an deiner Hose abgerissen ist«, sagte sie artig.

»Knöpfe und Skye passen zusammen wie Meereswind und glattes Haar«, sagte ihre Mutter und blickte auf Finellas windzerzauste Frisur.

Nicholas’ Tante wechselte das Thema. »Ich habe gehört, dass Sie die Zukunft weissagen.«

»Das stimmt.«

»Meine Schwägerin würde sich gern ihre Zukunft vorhersagen lassen.« Sie presste die Worte hervor, als fände sie die Vorstellung so abstoßend wie Tierkot. »Sie hat einen schweren Verlust erlitten – ihr Ehemann, Nicholas’ Vater, ist verstorben. Auf Anraten meines Arztes habe ich sie von New York in ihr Geburtsland zurückgebracht; sie braucht gute Seeluft und viel Ruhe. Aber in Anbetracht dessen, was sie erlitten hat, bin ich gewillt, ihr diese wunderliche Bitte zu gewähren.«

Skyes Mutter goss Honig auf Nicholas’ Porridge. Liberty machte große Augen, als sie die Menge sah, und öffnete schon den Mund, um zu protestieren, aber Skye sah sie an und schüttelte stumm den Kopf. Der Honig war Ausdruck einer Solidarität, die noch nicht ausgesprochen werden konnte. Genau wie Nicholas hatten auch Skye und Liberty keinen Vater.

»Ich werde Ihrer Schwester die Zukunft lesen, wenn Sie Nicholas weiterhin mit Skye spielen lassen«, sagte Vanessa. »Ich glaube, die beiden tun einander gut.«

Die Tante nickte stumm und wandte sich zum Gehen, als hätte sie ihren Neffen schon vergessen. Skye versuchte, die Lieblosigkeit zu überspielem und rief: »Nicholas wird rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause sein.«

* * *

Im Verlauf des nächsten Monats zeigte Skye ihrem neuen Freund, der ein Jahr älter war als sie und aus einer fernen Stadt mit Wolkenkratzern stammte, ihre Welt. Eine Welt, in der man in Felsenpfützen nach Einsiedlerkrebsen und Borstenkrabben suchte und dann ausprobierte, was auf dem Trockenen schneller davonkrabbelte. Eine Welt, in der man unter den forschen Blicken rotschnäbliger Austernfischer Napfschnecken und Miesmuscheln von den Felsen abkratzte. In der man nach Kaurimuscheln suchte, diesen pfirsichfarbenen, lustig geformten kleinen Muschelschalen, die man leicht übersah und die deshalb umso kostbarer für Skyes Sammlung waren.

Am Anfang kam Liberty noch mit und trabte über den Weg zur Bucht hinter ihnen her. Irgendwann versuchte sie, mit Skye zu verhandeln. »Ich verspreche, dass ich dich nie mehr trete, wenn ihr zu Hause bleibt und mit mir spielt.«

»Komm lieber mit und spiel mit uns hier draußen«, sagte Skye, für die Libertys Tritte keine Bedrohung waren. Der Sommer war für sie nicht die Zeit, um im Haus zu sitzen.

Aber Felsenpfützen erkunden und Muscheln sammeln machte Liberty keinen Spaß. Schmollend setzte sie sich in den Sand, kehrte Skye den Rücken zu und funkelte Nicholas böse an, wenn er ihr die größte und schnellste Krabbe für ein Rennen anbot.

Nach einer Weile vergaß Skye dann ihre Schwester und merkte erst Stunden später, dass sie wieder ins Haus gegangen war, um mit ihren Puppen zu spielen, die artig mit ihr zum Tee zusammensaßen und keine Muscheln von Felsen kratzen wollten.

Eines Morgens auf dem Weg zum Strand war Liberty besonders weinerlich. »Lasst mich nicht allein«, quengelte sie immer wieder.

»Wenn du mitkommst, bis du nicht allein«, entgegnete Skye pragmatisch.

Sie blieb also bei ihnen, doch nach geraumer Zeit schob sie Skye heimlich einen Krebs in den Badeanzug, der dann vor lauter Angst in Skyes Bauch zwickte.

»Du Biest!«, fuhr Skye sie an.

Liberty warf ihrer Schwester eine Handvoll Sand ins Gesicht und brach in Tränen aus. Dann lief sie zum Haus zurück.

Skye sah ihr nach. Der Sand in ihren Augen brannte genauso wie die bösen Worte auf der Zunge. Heute Abend würde sie mit Liberty gleich zweimal Schlangen und Leitern spielen, schwor sie sich.

»Lass uns in die Höhle gehen«, sagte sie zu Nicholas.

Im tiefsten, dunkelsten Teil der Höhle, in dem man nichts sah außer Schwarz, legten sie sich nebeneinander auf den Boden. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, erzählten sie sich gegenseitig Dinge, die bei Licht nicht erzählt werden konnten. Nicholas’ Geschichten handelten von seinem Vater, der an »exzessivem Gefühl« gestorben war, was auch immer das bedeuten mochte. Seine Mutter war danach auch von exzessivem Gefühl befallen worden, allerdings hatte ihres sie zunächst ans Bett gefesselt und anschließend zurück in ihre Heimat in England gebracht, und nicht in den Himmel zu ihrem Ehemann.

»Deshalb sorgt jetzt meine Tante für mich. Meine Mutter geht nirgendwo mehr hin – nur zu deiner Mutter, um sich die Zukunft weissagen zu lassen.« In seiner Stimme hörte Skye, dass er unter alldem litt – dem Verlust seines Vaters, der Unnahbarkeit seiner Mutter und der strengen, lieblosen Art seiner Tante.

Wir Penroses werden uns um ihn kümmern, beschloss Skye. Doch zunächst musste sie ihm erklären, wer die Penroses waren.

»In der Schule will kein anderes Kind mit mir oder Liberty spielen«, sagte sie, »weil unsere Mutter als Wahrsagerin arbeitet.« Ein Windstoß fuhr durch die Höhle und entlockte ihr noch mehr Wahrheiten. »Und weil Liberty und ich keinen Vater haben. Aber nicht auf die Art, wie du keinen Vater hast. Wir hatten noch nie einen. Meine Mutter war nie verheiratet. Man soll aber verheiratet sein, wenn man ein Kind bekommt.«

Solange sie denken konnte, hatte Skye von höhnenden Erwachsenen und spöttelnden Kindern zu hören bekommen, es sei eine Sünde, auf die Weise vaterlos zu sein, wie sie und Liberty es waren. Zu sterben war heldenhaft – einfach nur abwesend zu sein, kam einer Gotteslästerung gleich.

»Ich finde es gut, dass deine Mutter Wahrsagerin ist«, sagte Nicholas. »Ich mag deine Mutter. Und du bist meine Freundin.«

* * *

Einige Tage später konnte Skye ihm ihre Lieblingsbeschäftigung vorführen. Am frühen Morgen nahm Vanessa die Kinder zu einer großen Wiese mit, die als Flugfeld diente, und zeigte auf eine De Havilland Gipsy Moth, ein Doppeldeckerflugzeug.

»Heute ist ein wunderbarer Tag zum Fliegen.«

»Zum Fliegen?«, wiederholte Nicholas ungläubig und starrte auf die mit Stoff bespannten Tragflächen.

»Du darfst als Erster«, bot Skye an.

»Ich will hier nicht allein sitzen«, jammerte Liberty, aber Skye hatte keine Lust, mit ihrer Schwester, die das Fliegen hasste, im Auto zu versauern. Lieber rannte sie neben der Moth her, die leicht holpernd Anlauf nahm und sich dann in die Lüfte erhob. Nicholas, der mit Lederhelm, Schal und dicker Jacke gegen die Kälte oben im Himmel gewappnet war, winkte ihr vom vorderen Cockpit aus zu, während Vanessa hinter ihm das Flugzeug steuerte.

Danach war Skye an der Reihe. Nach dem Abheben der Moth durfte sie die Steuerung übernehmen – ihre Mutter gab ihr seit sechs Monaten Flugunterricht. Über die Gosport-Röhren, deren Enden im Lederhelm über ihren Ohren lagen, hörte sie die Anweisungen, die Vanessa in die Röhrenöffnung hineinsprach, auch wenn Skye eigentlich gar keine Unterstützung mehr brauchte.

Skye flog einen Turn und tat dann, was sie bei ihrer Mutter schon Hunderte Male beobachtet hatte: Sie flog mit voller Geschwindigkeit gegen den Wind und lenkte steil nach oben, bis das Flugzeug in Rückenlage kam. Sie liebte es, Loopings zu fliegen, und genoss das aufregende Bauchkribbeln dabei.

»Sag Bescheid, wenn du Probleme hast«, sagte ihre Mutter belustigt. Doch das Flugzeug reagierte genau so, wie Skye es wollte. Im richtigen Moment drosselte sie die Benzinzufuhr, richtete die Querruder so aus, dass sie parallel zum Boden blieb, und flog einen perfekten, gleichmäßigen Kreis.

Am liebsten hätte sie gleich noch seitliche Loopings vollführt, wie Radschlagen über die Tragflächen, aber sie wusste, sie hatte die Geduld ihrer Mutter schon genug strapaziert, und überließ ihr nun die Landung.

Sobald das Flugzeug stand, hob ihre Mutter sie aus dem Cockpit und sagte: »Ich weiß nicht, ob ich schimpfen oder lachen soll.«

»Lachen wäre mir lieber«, sagte Skye. »Hast du meinen Looping gesehen?«, rief sie Nicholas zu.

»Bist du den geflogen?« In seiner Stimme lag tiefe Bewunderung.

»O ja, das war meine Tochter, die mir wohl demonstrieren wollte, dass sie demnächst allein starten und landen kann. Wer weiß, vielleicht wirst du nächstes Jahr auch allein Loopings fliegen – was meinst du, Nicholas?«

Nicholas legte die Hände auf den Stoff der Tragflächen. »Meinen Sie wirklich, das könnte ich auch schaffen?«

»Ich bringe es dir gerne bei. Ich glaube, du besitzt genau die richtigen Voraussetzungen fürs Fliegen. Besonnenheit ist nämlich wichtiger als Wagemut – egal, wie Skye darüber denken mag. Was das betrifft, könntest du ihr gern noch das eine oder andere beibringen.«

»Ich glaube nicht, dass Skye sich von irgendjemandem irgendetwas beibringen lässt«, sagte Nicholas, woraufhin Vanessa lachte und ihm durchs Haar strubbelte. »Da könntest du leider recht haben, mein Junge.«

* * *

Viel zu schnell war der Sommer vorbei, und sie konnten ihre Zeit nicht mehr nur am Strand oder auf dem Flugplatz verbringen, sondern mussten wieder zur Schule. Doch selbst die war erträglicher, da Skye dort nun einen Freund hatte. Schon am Ende des ersten Tages wurde diese Tatsache deutlich, als alle durchs Schultor gingen und Skye die üblichen Gemeinheiten der anderen Kinder hörte: »Hexentochter, Teufelin.«

Sie zog ihre Schwester an sich, denn sie hatte gesehen, wie der größte von ihnen, der Sohn des Metzgers, einen Stein genommen hatte und damit auf Liberty zielte, die erfahrungsgemäß das schwächere Opfer war. Skye wehrte den Stein mit ihrem Arm ab und biss die Zähne zusammen, um ihren Schmerz nicht zu zeigen. Die Wunde blutete, und Liberty begann zu weinen.

Als Nicholas kehrtmachte und zu den anderen Kindern ging, wunderte Skye sich kaum. Sie hatte schon befürchtet, dass er sich andere Freunde suchen würde, sobald er mitbekam, wie unbeliebt sie war – Freunde, deren Leben nicht durch Unehelichkeit und Zauberei besudelt waren.

Doch dann baute Nicholas sich vor dem großen Jungen auf und sagte höflich: »Es ist ja bekannt, dass, wann immer man das Wort ›Teufelin‹ in Gegenwart einer solchen ausspricht, man graue Zähne kriegt, die dann bald ausfallen.«

Schnell hob der Metzgerssohn eine Hand vor den Mund, um seine Zahnlücke auf der einen und den grauen Zahn auf der anderen Seite zu verdecken.

Von da an galten Skye und Nicholas als unzertrennliche Freunde. Und weil Nicholas der klügste Schüler war, wagte es niemand, seine Aussage anzuzweifeln.

Nach der Schule gingen sie nun meist zu Skye nach Hause, wo Nicholas in der Küche zusätzliche Schulaufgaben erledigte. Als Skye ihn das erste Mal dabei beobachtete, wunderte sie sich und sagte, sie mache sich noch nicht einmal die Mühe, ihre Buchstabierübungen zu überprüfen.

»Aber willst du denn nicht eines Tages von hier weg?«, hatte er gefragt und dann den Kopf geschüttelt. »Nein, ich schätze, für dich ist das anders. Aber ich muss dafür sorgen, dass ich später hingehen kann, wohin ich will.«

Von hier weg. Mit einem Schlag traf Skye die Erkenntnis, wie sehr er es hassen musste, bei einer Tante festzusitzen, die ihn nicht lieb hatte, und darauf zu warten, dass seine Mutter irgendwann wieder gesund würde. Von da an setzte sie sich immer zu ihm und übte nicht nur Buchstabieren, sondern nahm sich auch das knifflige Rechnen vor.

Schnell verging ein Jahr, es wurde wieder Sommer. Die beiden verkrochen sich in ihrer Höhle, bekamen von Vanessa Flugunterricht und stromerten durch die Heidemoorlandschaft hinter der Hütte. Hin und wieder veranstaltete Skyes Mutter Partys, zu denen interessante Leute nach Porthleven reisten. Einige übernachteten bei ihnen zu Hause, andere kamen im Ort unter. Obwohl Skye kaum jemanden der Gäste kannte, waren die Partys wie ein plötzliches Sommergewitter: aufwühlend, elektrisierend, belebend.

An solchen Wochenenden überredete Vanessa Nicholas’ Tante, ihren Neffen auch bei ihnen übernachten zu lassen, und dann schliefen er und Skye und Liberty in einem Zelt im Garten, weil alle Betten im Haus von den Gästen belegt wurden. Sie badeten und zogen ihre besten Kleider an, und Skye kämmte zu diesem besonderen Anlass sogar die Kletten aus ihren dunkelbraunen Haaren. Dann machten sie und Nicholas es sich auf den Fenstersitz bequem, von dem aus sie alles gut beobachten konnten.

Liberty genoss die Partys auf ihre Weise: Sie spazierte durchs Wohnzimmer, beäugte die schönen Kleider der Frauen, lauschte den Gesprächen und sah mit großen Augen zu den Gästen hinüber, bis diese sie zu sich winkten. Mit strahlendem Gesicht lief sie dann hin und plauderte artig mit ihnen – niemand wäre auf die Idee gekommen, dass dieses brave Mädchen je anderen Leuten Krabben in den Badeanzug schieben würde –, bis es den Erwachsenen zu viel wurde und sie sich wieder ihren eigenen Gesprächen zuwandten. Später bekam Skye mit, wie Liberty die Szenen mit ihren Puppen nachspielte; die dunkelhaarige Puppe, die auch Liberty hieß, war dann immer die Hauptfigur, die im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stand.

Etwa ein Jahr nachdem Skye und Nicholas sich kennengelernt hatten, kam Vanessa auf einer ihrer Partys sehr viel später ins Wohnzimmer als ihre Gäste und sah dabei für Skye ganz fremd aus: eine Frau mit fast schwarzem lockigem Haar und dunkelrot geschminkten Lippen. Sie trug ihr »französisches Kleid«, wie sie es nannte, mit einem eng anliegenden cremefarbenen Miederteil aus Seide und tiefem V-förmigen Dekolleté. Der Rock war über und über mit Straußenfedern in unterschiedlichsten Creme- und Goldtönen bedeckt. Die nackte Haut am Ausschnitt hätte eigentlich von dem dazugehörigen Tuch bedeckt sein sollen, doch Vanessa ließ es meistens weg. Es musste wohl an der Kombination aus den glänzenden vollen Haaren, den roten Lippen und den extravaganten goldenen Federn liegen, vermutete Skye, dass ihre Mutter die ganze Nacht über zum Tanzen aufgefordert wurde.

Es gab einen Mann, der zu jeder Party kam und öfter als die anderen mit Vanessa tanzen durfte. Skye fiel auf, dass ihre Mutter ihn ganz anders anlächelte als sie oder Liberty oder die anderen Gäste. Die zwei tanzten gut zusammen, wie Filmstars, und selbst Liberty saß immer still und verzaubert daneben und beobachtete ihre strahlende Mutter.

An diesem Abend kam der Mann Vanessa sehr nah und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Skye wollte nicht mehr länger zusehen. Liberty, die den Kopf an die Wand gelehnt hatte, fielen immer wieder die Augen zu, so dass Skye eine Decke holte und sie ihr über die Beine legte. Dann ging sie mit Nicholas nach draußen.

»Ich wünschte, ich könnte auch so tanzen«, sagte sie seufzend.

»Soll ich es dir zeigen?«

»Du kannst tanzen?«

Er zuckte die Achseln. »Meine Eltern haben mich zum Tanzunterricht geschickt. Alle Gentlemen müssen tanzen können, haben sie gesagt.«

Skye lachte verlegen. »Als Gentleman brauchst du zum Tanzen eine Dame. Und wir wissen doch beide, dass den guten Bürgern von Porthleven zufolge die Penrose-Frauen keine Damen sind.«

»Du bist sehr wohl eine Dame, finde ich.«

Mit diesen Worten verbeugte er sich schwungvoll und lächelte sie so strahlend an, dass ihre Schüchternheit nachließ. Und als sie sich zunächst ziemlich unbeholfen bewegte, zog er sie nicht auf, sondern zeigte ihr wieder und wieder, was sie tun musste. Der volle Mond stand am Himmel. Unten im Meer glänzten die Wellenkämme wie silberne Bänder und tanzten in Richtung Strand.

»Das müssen wir später noch einmal machen, wenn wir älter sind«, sagte Skye, sobald sie die Grundschritte einigermaßen beherrschte. »Diese schöne Landschaft hat ein schöneres Kleid verdient.« Sie deutete auf ihr schlichtes weißes Gewand, das zwar sauber, aber ohne goldene Federn nicht sonderlich spektakulär war.

Nicholas blieb abrupt stehen. »Was, wenn wir dann keine Freunde mehr sind?«

Beinahe wäre Skye ihm auf die Füße getreten. »Wieso sollten wir keine Freunde mehr sein?« Sie stellten sich nebeneinander und starrten aufs Meer hinaus.

»Meine Tante sagt, wir fahren bald wieder nach New York zurück. Ich soll dort dieselbe Schule besuchen, auf der mein Vater war. Sobald es meiner Mutter besser geht, werden wir abreisen.«

»Wird es ihr denn wieder besser gehen?« Skye sah Nicholas’ Mutter nur, wenn sie zu ihren Sitzungen ins Haus kam, und dabei wirkte sie immer sehr blass und zerbrechlich, wie ein Gespenst, das jederzeit in die glitzernden Wellen abtauchen und verschwinden könnte.

»Ich … ich weiß es nicht«, sagte Nicholas.

Es war das erste Mal, dass Skye ihn zögern sah. Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Du wirst für immer hierbleiben«, versicherte sie ihm. Mit einer Wahrsagerin als Mutter konnte sie in dieser Hinsicht bestimmt auch eine gewisse Kompetenz für sich beanspruchen.

»Ja, das hoffe ich.«

Kapitel 2

Am darauffolgenden Wochenende streiften Skye und Nicholas lieber durch die hügelige Moorlandschaft, als zur Höhle zu gehen, denn der Wind war stürmischer geworden, und so dünn und schmal, wie Skye war, drohte er, sie einfach fortzuwehen. Die Moore reichten hinter dem Haus fast eine halbe Meile weit ins Land, und die zwei Kinder liefen länger und weiter als üblich und entdeckten am Ende des Penrose-Grundstücks eine verwitterte Mauer.

Skye kletterte hinauf und rezitierte aus Ein Sommernachtstraum, dem Stück, das sie gerade in der Schule lasen. Noch während sie Hermias Groll über Lysanders vermeintlichen Betrug mit Helena deklamierte – Weh mir! – Du Gauklerin! du Blütenwurm! / Du Liebesdiebin! Was? Du kamst bei Nacht, / Stahlst meines Liebsten Herz? – und sich wieder einmal an dem Wort »Blütenwurm« ergötzte, das sie beim nächsten Streit mit Liberty einsetzen wollte, verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf die andere Seite der Mauer.

Zwar landete sie weich auf einem Dickicht aus verwilderten Büschen, dennoch verschlug ihr der Aufprall für einen Moment den Atem.

Oben an der Mauer erschien Nicholas’ Gesicht. Er musste lachen. »Das ist das erste Mal, dass ich dich sprachlos erlebe.«

Sie lächelte gequält. »Kommst du bitte rüber?«

Behände kletterte er auf ihre Seite und ließ sich vorsichtig hinunter.

Vor ihnen lag ein verlassener Garten, ein Ort, den die Zeit und wucherndes Unkraut vor der Welt verborgen hatten. Falls er zu einem Haus gehörte, so war es nicht zu sehen, was bedeutete, dass auch sie niemand hier entdecken würde.

Neben ihnen auf dem Boden lag eine sehr große Statue. Sie war nicht umgefallen, sondern stellte eine schlafende Frau dar, eine Hand neben dem Gesicht. Ihr Körper war von Moos und Blättern bedeckt, und ein Gestrüpp aus Farnkräutern formte die Haare. Sie war das Schönste, was Skye je gesehen hatte.

»Sie sieht aus wie du, wenn du schläfst«, sagte Nicholas unvermittelt.

Skye schüttelte den Kopf. Nicholas hatte sie bei der Party schlafend gesehen, als sie mit Liberty zusammen im Zelt übernachtet hatten, aber Skye fühlte sich sehr unelegant im Vergleich zu dieser zauberhaften Steinfrau, die auf ewig in einem schönen Traum gefangen schien.

Plötzlich entdeckte sie hinter der Statue etwas: einen See, fast ein kleines Meer, mit einer Seilbrücke darüber. Die Zweige der Trauerweiden am Ufer hingen tief ins Wasser.

Skye lief zum See und stellte probeweise einen Fuß auf die Brücke. Das Seil knarzte, offenbar war es schon lange nicht mehr benutzt worden.

»Was, denkst du, ist da auf der anderen Seite?«, fragte sie und ignorierte dabei die viel wichtigere Frage: Ist die Brücke sicher?

»Die andere Seite des Himmels«, antwortete Nicholas, und Skye lächelte.

Sie hatten eine geheime Welt jenseits ihrer eigenen gefunden; eine Welt ohne kranke Mütter und tretende Schwestern und tuschelnde Dorfbewohner und Schulen im fernen New York.

Sie hatten etwa die Mitte der Brücke erreicht, als es passierte.

Skye hörte, wie hinter ihr etwas riss. Blitzschnell fuhr sie herum und sah, dass die Seilkonstruktion unter Nicholas’ Füßen auseinanderklaffte. Er verlor den Halt, ergriff im Fallen noch ein Seil, und als der gesamte Boden der Brücke nachgab, tat Skye es ihm gleich. Zum Glück waren diese seitlichen Halteseile der Brücke intakt geblieben, so dass sie sich daran festhalten konnten und nur ihre Beine ins Wasser hingen.

»Wir werden wohl schwimmen müssen«, meinte Skye sachlich, als schlüge ihr Herz gerade nicht mindestens so schnell wie die Propellerflügel der Moth beim Abheben. »Wir können ja so tun, als wäre es das Meer und nicht dieser eklige Schleim.« Skeptisch beäugte sie die grüne Schicht auf dem Wasser, unter der womöglich gruselige Dinge lauerten.

Nicholas war blass geworden, und seine Fingerknöchel traten hervor, weißer als Kalk. Plötzlich sagte er: »Ich kann nicht schwimmen.«

Skye starrte ihn an. »Natürlich kannst du schwimmen. Ich habe dich doch gesehen.«

Aber noch während sie es sagte, fiel ihr ein, dass sie Nicholas tatsächlich noch nie hatte schwimmen sehen. Sie hatten zwar viel Zeit in der Bucht verbracht, aber während sie sich ins Meer gestürzt hatte, war er lieber bei den Felspfützen geblieben. Ein paarmal hatte er bis zu den Knien im Wasser gestanden, aber weiter war er nie gegangen.

»Ich falle gleich«, sagte er.

Skye hörte zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, Angst in seiner Stimme. Also tat sie das Einzige, was sie tun konnte. Sie presste die Lippen fest aufeinander und ließ sich ins Wasser gleiten. Dann schwamm sie zu Nicholas.

»Du kannst dich an dem Seil entlanghangeln, bis du stehen kannst«, erklärte sie entschieden, als wäre sie fest davon überzeugt, dass es funktionieren würde. »Wahrscheinlich wird es wehtun, und du wirst Blasen kriegen, aber es ist die einzige Möglichkeit. Ich schwimme neben dir her.«

Nicholas nickte. Keiner von ihnen erwähnte die möglichen Gefahren.

Langsam setzte er sich in Bewegung, wie beim Klettergerüst auf dem Schulhof, an dem er sich immer gut entlanghangeln konnte. Also würde er das hier auch hinbekommen, folgerte Skye. Wie versprochen, schwamm sie neben ihm her und sah ihm fest in die blauen Augen, um ihm so zu versichern, dass er es schaffen würde. Und sein fester Blick in ihre braunen Augen bestätigte ihr, dass er ihr glaubte.

Sie waren noch ein gutes Stück vom Ufer entfernt, als er zu stöhnen begann; das Seil scheuerte ihm allmählich die Haut von den Händen. Skye ließ ihre Füße nach unten sinken, spürte aber noch keinen Grund.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte sie trotzdem, und Nicholas hangelte sich weiter, ohne Pause, obwohl er bestimmt schon erschöpft war und offensichtlich Schmerzen hatte.

Wenn jemand das hier schaffen konnte, dann war es Nicholas. Liberty wäre zu schwach, und aus der Schule würde sich keiner so etwas trauen. Vielleicht nicht einmal Skye selbst. Aber Nicholas wachte jeden Morgen in einem Haus ohne Liebe auf und konnte trotzdem ihr allerbester Freund sein. Wenn er es schaffte, solchen Schmerz zu ertragen, dann würde er es auch bis ins flache Wasser schaffen, bevor ihn die Erschöpfung übermannte.

Kurz darauf spürte sie beim Nachtasten den sandigen Boden unter ihren Zehen. »Jetzt kannst du loslassen«, rief sie erleichtert, »und dann hüpfen und dich abstoßen, wie auf einem Springstock. So bleibt dein Mund über Wasser.«

Noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, ließ Nicholas los. Da er größer war als sie, brauchte er nur wenige Male zu hüpfen, ehe er gehen konnte. Bald hatten sie es geschafft und ließen sich keuchend aufs Ufer fallen.

»Ich weiß gar nicht, warum ich so außer Atem bin«, sagte Skye nach einer Weile. »Was machen deine Hände?« Er hielt sie ihr entgegen, und sie verzog das Gesicht. »Das wird eine Menge Ärger geben.«

Nicholas lächelte nur. »Wenigstens kann ich dich jetzt fragen, was ich dich schon seit dem letzten Sommer fragen will: Bringst du mir schwimmen bei?«

»Gleich morgen fangen wir damit an«, erklärte Skye entschlossen. »Wer hat denn je davon gehört, dass jemand tanzen kann, aber nicht schwimmen?«

»In New York, da tanzt man eben«, sagte er mit aufgesetzt hochnäsiger Stimme, so dass sie lachen musste. »Und in Cornwall schwimmt man. Ich bin froh, dass ich in Cornwall bin.«

»Ich auch. Aber warum hast du mir es nicht schon früher gesagt?«

Er inspizierte seine wund gescheuerten Handflächen. »Ich dachte, du hältst mich dann für einen unfähigen Idioten.«

»Ein Idiot hätte so viel Angst gehabt, dass er ins Wasser gefallen und ertrunken wäre. Ich wusste, das würde dir nicht passieren.«

Nun strahlte er, und Skye spürte, wie ihr bei diesem seltenen Anblick das Herz aufging.

Sie stand auf. »Wir lassen dir jetzt am besten von meiner Mutter die Hände verbinden.«

Glücklicherweise konnte Skye sich darauf verlassen, dass ihre Mutter nicht mit ihr schimpfte, solange sie die Wahrheit sagte. Ihr einziger Kommentar lautete: »Du kannst Nicholas nicht beibringen, wie man schwimmt; das werde ich tun. Ich werde mit ihm jeden Morgen eine halbe Stunde an den Strand gehen, und in der Zeit bleibst du zu Hause und kümmerst dich um deine Schwester. Nicholas’ Tante werde ich erzählen, dass er ritterlich für mich Holz gehackt und sich die Hände aufgeschürft hat – und nicht, dass er sich aus dem See eines verlassenen Grundstücks retten musste, das ihr gar nicht erst hättet betreten dürfen. Ich weiß, es wäre sinnlos, euch zu verbieten, wieder dorthin zu gehen, aber ich bitte euch, es nicht zu tun, bis Nicholas gut genug schwimmen kann, um sich aus dem See zu retten, falls er aus irgendeinem Grund wieder hineinfallen sollte.«

Den restlichen Nachmittag über blieben sie im Haus, damit Nicholas’ Hände heilen konnten, und lauschten an der Wand, was Vanessa ihren Kundinnen erzählte.

Den letzten Termin an diesem Tag hatte Nicholas’ Mutter, und als seine Tante mit ihr kam, stand Nicholas unvermittelt auf. »Lass uns eine Runde spazieren gehen«, sagte er.

»Willst du denn nichts über die Zukunft deiner Mutter hören?«

Er schüttelte den Kopf.

Skye runzelte die Stirn. Wenn sie blieben, erführen sie vielleicht, wann Nicholas’ Mutter wieder gesund werden würde. Einerseits hoffte Skye, es werde nie geschehen, weil Nicholas dann nicht fortgehen müsste. Andererseits wünschte sie, Mrs Crawford würde noch an diesem Tag wieder genesen, denn seine Mutter war das Einzige, worüber Nicholas nie sprach. Ihr ureigenes kindliches Gespür sagte Skye, dass hinter diesem Schweigen ein tiefer Schmerz lag.

Sie gingen an der Bucht spazieren, bis Nicholas’ Tante oben am Kliff erschien, die Hände in die Hüften stemmte und mit bösem Blick seine bandagierten Hände musterte. »Ich habe nie eingewilligt, auch noch deine Krankenschwester zu spielen.«

Als er mit den zwei Frauen davonging, sah Skye ihrem Freund hinterher. Seine Mutter hatte kein Wort gesprochen, um ihren Sohn zu verteidigen, sondern nur eigenartig beseelt gelächelt, als sei sie gerade gesegnet worden.

»Sagst du mir meine Zukunft auch voraus? Und die von Nicholas?«, wollte Skye von ihrer Mutter wissen, als sie wieder im Haus war.

Vanessa erschauerte leicht. »Nein, Skye, das werde ich niemals tun. Du brauchst also nicht noch einmal danach zu fragen.«

»Aber warum denn?«

»Ich kann dir nichts weissagen, das nicht schon in dir ist. Die Zukunft ist kein Versprechen, das noch eingehalten wird. Sie ist etwas, das nur darauf wartet, zu beginnen. Vielleicht hat sie schon begonnen.«

Nun erschauerte auch Skye. Noch nie hatte sie Angst vor der Gabe gehabt, die ihre Mutter angeblich besaß: zu sehen, was noch nicht geschehen war, und es denen zu offenbaren, die danach fragten – als würde einem eine fingernagelgroße Kaurimuschel mit den perlmuttfarbenen Lippen all ihre Geheimnisse zuraunen.

* * *

Ein weiteres Jahr verging. Skye wurde vierzehn und fing an, einmal im Monat zu bluten. Sie bekam längere Beine, ihre Brüste und Hüften rundeten sich, und die einzigen Orte, an denen sie sich geborgen fühlte, waren das Meer beim Schwimmen und der Himmel beim Fliegen.

Beim Schwimmen war Nicholas nun immer dabei. Und beim Fliegen ging sie oft schon allein mit der Moth in die Luft – was Nicholas auch bald tat. Es gab weitere Partys, und Skyes Mutter tanzte weiterhin mit dem Mann, der ihr so gern ins Ohr flüsterte.

Liberty teilte ihre Tritte gezielter und schmerzhafter aus, bis sie allmählich immer weniger Zeit mit Skye und Nicholas verbrachte und nur noch selten forderte, Skye möge sie nicht allein lassen. Nur, wenn sie den verborgenen Garten besuchten, ging sie mit, aber selbst dort überließ sie die beiden sich selbst und saß lieber allein und wie verzaubert vor dem schlafenden Mädchen aus Stein, das sie mit ähnlich verträumtem Blick betrachtete wie ihre Mutter beim Tanzen.

Als Skye einmal fragte, woran sie dann denke, zuckte Liberty die Achseln und sagte: »Ans Leben«, als sei das offensichtlich.

Und bevor sie riskierte, Liberty zu provozieren, indem sie sagte, was sie dachte – Das Leben ist hier im Garten und in der Bucht, nicht in einer Statue –, zuckte Skye lieber ebenfalls die Achseln und ging zurück zu Nicholas auf die Seilbrücke.

Nicholas war inzwischen fünfzehn. Obwohl sie erst vier Jahre befreundet waren, kam es ihr vor, als kenne sie ihn schon ewig. Skye konnte sich an keine Zeit erinnern, in der er nicht das Wichtigste in ihrem Leben gewesen war: ihr Ozean, ihr Himmel.

»Wenn ich an dich denke, sehe ich immer die Farbe Blau vor mir«, sagte er mit seltsam belegter Stimme, als sie am letzten Schultag zu ihr gingen und wiederum ein langer Sommer auf sie wartete. »Wasser und Luft.«

Sie empfand das als besonders schönes Kompliment und lächelte – bis sie sein Gesicht sah. Abrupt blieb sie stehen.

»Ich reise morgen nach New York«, sagte er bedrückt. »Meine Tante hat es mir heute beim Frühstück eröffnet. Aber nur für sechs Wochen. Ich muss einen Test für die Schule absolvieren.«

Sechs Wochen! Genauso gut hätte er »Ein Jahr« sagen können. Alles, was sie sich für den Sommer ausgemalt hatte, war nun zunichtegemacht, wie Spuren im Sand, die die Wellen auslöschten.

Skye trat mit der Schuhspitze gegen den Boden, so dass die schwarze Farbe abplatzte. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, und es entstanden dunkle Schatten, wie jene, die schon jetzt über dem morgigen Tag lagen.

»Komm zurück«, sagte sie, von plötzlicher Angst ergriffen.

»Ich verspreche es«, antwortete er.

Skye sah ihm nach, als er ging, so wie am ersten Tag, als sie sich kennengelernt hatten, und genau wie an jenem Tag drehte er sich noch einmal um und winkte, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand. Auch wenn sie schon zu alt dafür war, schlug sie ein Rad, als wollte sie sagen: Nichts wird sich dadurch ändern.

Im folgenden Monat ging sie nach Möglichkeit jeden Tag zum Fliegen. Sie war nie mit Nicholas zusammen in der Luft gewesen, deshalb nahm sie seine Abwesenheit dort oben nicht so stark wahr wie am Boden. Da ihre Mutter sie nicht jeden Tag zum Flugfeld bringen konnte, kaufte sie ihr ein Fahrrad. Obwohl sie inzwischen schon fast so gut flog wie Vanessa, waren die beiden nicht sicher, wie die anderen Piloten darauf reagieren würden, dass sie mit nur vierzehn Jahren allein fliegen durfte – auch wenn es kein offizielles Verbot gab. Skye, die jetzt beinahe so groß war wie ihre Mutter, setzte also deren Helm und Schutzbrille auf und gab sich für sie aus. Wie üblich vertraute Vanessa ihrer Tochter, dass sie ihre eigenen Grenzen kannte.

Doch als würde der Himmel über die Trennung der beiden Freunde weinen, war der Sommer neblig und feucht, und bei schlechter Sicht konnte Skye nicht fliegen. So lag sie viele Tage zusammengerollt auf dem Fenstersitz und schmollte das Wetter an.

Als Liberty einmal forderte, sie solle sich zu ihr auf den Boden setzen und durch die Wand Vanessas Vorhersagen belauschen, weigerte sich Skye. Warum sollte überhaupt jemand das Recht auf eine Zukunft haben, wo sie selbst doch nur diese verschwommene, verregnete Gegenwart hatte? Wie zu erwarten, kniff Liberty ihre Schwester daraufhin mit aller Kraft in den Arm, doch dann wechselte sie ihre Taktik und starrte Skye einfach nur an, ohne zu blinzeln, was noch viel irritierender war als körperliche Gewalt.

»Liberty, füll doch bitte mal den Korb mit Feuerholz«, sagte Vanessa, als sie dazukam.

»Warum muss ich das denn machen?«, quengelte Liberty.

»Skye hat es gestern gemacht.«

Liberty schlurfte los, und Vanessa kochte Skye einen süßen Tee mit Milch.

»Nicholas’ Vater war ein sehr reicher Mann«, sagte sie, während sie Teeblätter in die Kanne gab. »Wenn Nicholas alt genug ist, wird er sein Unternehmen erben, und ich glaube, er soll bald schon dafür ausgebildet werden.«

»Was?«, fragte Skye erschrocken.

»Der Zustand seiner Mutter ist inzwischen als nicht behandelbar eingestuft worden, und seine Tante meint, es sei an der Zeit, sich um Nicholas’ Zukunft zu kümmern. Sie will, dass er eine gute Ausbildung bekommt, und sie will wieder nach New York ziehen. Weil seine Mutter so krank ist, hat seine Tante nun ihre Rolle übernommen. Er muss also tun, was sie sagt.«

»Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«

Ihre Mutter lächelte. »Ich habe versucht, die Zukunft hinauszuschieben. Aber Nicholas hat dieses Schicksal schon immer in sich getragen. Er ist jetzt fünfzehn – ein Alter, in dem Geburtsrecht und Traditionen wichtig werden.«

Skye spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen. Im selben Moment kam Liberty mit dem Holz zurück. Sie sah zu Skye, ließ den Korb fallen und sagte: »Ich werde dich nie mehr anstarren, versprochen.«

Skye wischte sich über die Augen. »Ich weine nicht wegen dir.«

Liberty kam zu ihr auf den Fenstersitz, und Skye wurde ganz warm ums Herz, weil ihre Schwester trotz ihrer aufbrausenden Übellaunigkeit auch sehr lieb sein konnte.

»Er hat gesagt, er kommt zurück«, erklärte Skye ihrer Mutter.

»Ich wüsste nicht, wie er das machen sollte, Skye.«

»Nicholas lügt mich nicht an!«

Da setzte Vanessa sich an den Tisch, und ihr sonst so vertrautes Gesicht nahm einen seltsam fremden Ausdruck an.

Skye griff nach Libertys Hand und hielt sie fest umklammert. Liberty legte ihre zweite Hand noch darüber.

Als Vanessa das sah, begann es um ihren Mund zu zucken. »Ich habe mir überlegt, euch zu eurer Tante nach Frankreich zu schicken, für etwa sechs Monate«, sagte sie unvermittelt. »Ihr könntet dort zur Schule gehen. Und all die Dinge lernen, die ich euch nicht beibringen kann, die sie aber ausgezeichnet beherrscht.« Sie lehnte sich vor und strich Skye über die ungekämmten Haare. »Ich habe mich nie um Frisuren oder gute Manieren geschert, aber wenn ich dich jetzt so ansehe, denke ich, dass ich das vielleicht tun sollte.«

»Ich will nicht nach Frankreich«, sagte Skye.

Liberty schmiegte sich an sie.

Sie hatten diese »Tante« nur zweimal gesehen, damals als kleine Kinder in Frankreich. Aber weil Vanessa ihren Bruder, den Vater von Skye und Liberty, nie geheiratet hatte, gehörte diese Frau nicht wirklich zur Familie.

»Und ich bin es allmählich auch leid, in jedermanns Zukunft zu sehen«, fuhr Vanessa fort, »aber nichts für meine eigene zu tun – die auch zu den wenigen gehört, die ich nie vorhersagen werde. Ich möchte gern das machen, was Amy Johnson gemacht hat: nach Australien fliegen. Einfach abheben und los … Ich will wissen, ob ich solche Herausforderungen auch bewältigen kann. Versteht ihr das?«

»Ich komme mit«, erklärte Skye sofort.

»Mein Wunsch wäre, dass du für mich auf Liberty aufpasst. Und sicher würde dir Frankreich guttun. Wenn du ohne Nicholas in Cornwall bleibst, wirst du ihn nur umso mehr vermissen.«

»Warum ausgerechnet Australien?«, fragte Skye.

»Es ist eine Herausforderung. Ich habe Amy gekannt, und von uns beiden war ich die bessere Pilotin. Aber sie hat inzwischen Rekorde aufgestellt – in nur einem Tag nach Moskau und in Rekordzeit nach Kapstadt –, und was habe ich erreicht?«

Da begriff Skye, dass das Leben ihrer Mutter in Cornwall – trotz Partys, trotz ihrer beiden Töchter – auch seine Schattenseiten hatte. Dass sie offenbar eine Rastlosigkeit, eine Leere, ein Gefühl der Versäumnis empfand. Bei dieser Erkenntnis spürte Skye einen Schmerz, den sie kaum ertragen konnte.

»Aber …« Sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. »Ich dachte, alles würde immer so bleiben wie jetzt«, brachte sie schließlich hervor.

»Du kannst nicht immer und ewig nach Kaurimuscheln suchen, Skye.«

* * *

Sechs Wochen nachdem Nicholas abgereist war, sah Skye eines Morgens einen Mann über den Kliffweg zur Bucht herunterkommen. Erst als er den Strand erreicht hatte, erkannte sie, dass es Nicholas war.

Wie hatte er sich innerhalb von sechs Wochen so verändern können? Er war größer und breitschultriger geworden und sein Gesicht kantiger; alles Jungenhafte war verschwunden. Skye verharrte reglos, die Füße bis zu den Knöcheln im Wasser, und verschränkte abwartend die Arme.

»Lass uns in die Höhle gehen«, sagte sie, als Nicholas in Hörweite war.

Er nickte und folgte ihr ins Dunkel der Kliffhöhle, wo sie sich nebeneinander auf den Rücken legten.

»Ich werde nächste Woche in New York mit der Schule beginnen«, sagte er mit einer neuen, tieferen Stimme. »Meine Tante wollte jemanden damit beauftragen, unsere Sachen hier zusammenzupacken, aber ich habe einen Aufstand gemacht, der Liberty alle Ehre gemacht hätte, und meine Tante überzeugt, dass wir das selbst erledigen.«

»Na, wenn du Liberty nachgeahmt hast, brauche ich mich über deinen Erfolg nicht zu wundern.« Skye zwang sich zu lächeln, damit er es in ihrer Stimme hören konnte.

Die Geräusche ihrer gemeinsamen Kindheit erfüllten die Höhle: das unablässige Heranrollen der Wellen an den Strand, der kraftvolle Sog der Wassermassen, das dröhnende Schäumen beim Aufprall. Wie zum Protest rauschte eine Windbö durch die Höhle: Das hier durfte einfach nicht geschehen. Salzwasser lief Skye über die Wangen – so viele Tränen, es war ein Wunder, dass sie nicht darin ertrank.

Eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Sie lagen auf dem Rücken, Seite an Seite, die Hände so dicht beieinander, dass Nicholas’ Wärme und Lebendigkeit durch seine Finger in ihre zu strömen schien. Sie hob ihre Hand aus dem Sand, formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, kniff ein Auge zusammen und spähte mit dem anderen durch den Ring.

»Als ich damals vor dir das Rad geschlagen habe, war das nur ein winziger Moment. Aber jetzt …« Zögernd breitete sie die Arme aus, so weit sie konnte. »Dieser Moment hier ist zu groß. Er ist so groß, dass ich ihn nicht in voller Größe erfassen kann, und ich will ihn auch nicht spüren. Er ist zu groß«, wiederholte sie.

Sie glaubten, das gedämpfte Geräusch eines Aufpralls wahrzunehmen, als wäre neben ihnen ein Rad schlagendes Mädchen im Sand gelandet. Gleichzeitig drehten beide die Köpfe, doch es war nichts als eine Erinnerung.

»Ich will nicht weggehen«, sagte Nicholas leise.

Skye setzte sich auf, beugte sich zu ihm hinüber und umarmte ihn so fest und stürmisch, dass es mit Sicherheit wehtat. Seine Wangen waren so nass wie ihre. Dann rappelte sie sich auf und rannte davon. Sie spürte einen schmerzvollen Schlag gegen die Brust und dachte, in ihrer Tränenblindheit müsse sie wohl gegen einen Felsvorsprung gelaufen sein.

So schnell sie konnte, rannte sie den Weg zum Haus hinauf und dann weiter in das dahinterliegende Moor. Auf der höchsten Hügelkuppe blieb sie stehen und ließ sich zu Boden sinken. Von hier aus konnte sie alles überblicken, nur Nicholas sah sie nicht, und so würde es von nun an immer sein.

Sie tastete sich ab, fand aber keine Beschädigung des Stoffes, keine Verletzung durch einen Felsvorsprung, und doch war da ein so starker Schmerz, wie sie ihn noch nie zuvor gespürt hatte.

* * *

Tante Sophie war so geschäftig und munter wie Vanessa, aber freigebiger mit Zärtlichkeiten: Wenn sie redete, beendete sie ihre Sätze eher mit Umarmungen und Küssen als mit Punkten. Sie war die eleganteste Person, die Skye je gesehen hatte, und trug stets Sachen von Schiaparelli oder Poiret. Liberty musterte sie meist ganz verzückt, und selbst Skye versuchte jeden Morgen vor dem Spiegel, das Haar in ähnlich schwungvolle glänzende Wellen zu frisieren wie das ihrer brünetten Tante. Verglichen mit allem anderen, das in Paris passierte, war das allerdings nur eine kleine Veränderung.

Liberty war die Erste, bei der sich eine erkennbare Wandlung vollzog. Sie hörte auf, Skye zu treten. Sie lächelte. Wenn sie morgens aufwachte, freute sie sich darauf, zur Schule zu gehen. Sie wollte nicht mehr das ganze Wochenende in der Wohnung in Passy – im 16. Arrondissement – hocken, sondern besuchte ihre neuen Freundinnen, ging mit ihnen Eis essen und flanierte durch den Jardin du Ranelagh. Sie wurde eine selbstbewusste, elegante Pariserin, fast so wie ihre Tante Sophie.

Skye konnte die Verwandlung nur staunend beobachten.

Die zweite große Veränderung betraf Nicholas. Fast jeden Tag schrieb Skye ihm einen Brief. Doch eine Antwort bekam sie nie.