Die Kunst der Recherche - Hektor Haarkötter - E-Book

Die Kunst der Recherche E-Book

Hektor Haarkötter

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Beschreibung

Recherchieren ist heute zur universellen Metapher für den digitalen Alltag geworden: 'Ich suche – also bin ich.' In Zeiten des 'Information Overload' ist die Aufgabe allerdings nicht mehr so sehr, jede nur erdenkliche Information zu erlangen. Im Gegenteil drohen selbst die professionellen Schleusenwärter des Informationsgewerbes, also die Journalisten, in der Datenflut zu ertrinken: Wer suchet, der findet noch lange nicht. Recherchieren bedeutet darum heute, nur noch so viele Daten zu sammeln, wie für eine gute journalistische Geschichte nötig sind. Das ist der Ansatz der storybasierten Recherchemethode, der in diesem Buch vorgestellt wird. Neben die Informationssuche treten deren sinnvolle Auswahl, Eingrenzung und Filterung. Der richtige Einsatz von Suchmaschinen und datenjournalistische Verfahren spielen dabei eine ebenso große Rolle wie Recherchen in Social Media und im Deep Web, also dem Teil des Internets, der von Suchmaschinen gar nicht erschlossen wird. Strategien der Recherche im Internet haben heute zwar an Bedeutung erheblich zugenommen, für eine gute Story sind aber nach wie vor althergebrachte Recherchemethoden wichtiger: Von einfachen Telefonbefragungen bis zu verdeckten Recherchen im Stile Günter Wallraffs, von Quellenkunde bis zur Frage nach der Organisation von Daten und Informationen in Rechercheprotokollen, Mindmaps und Masterplänen sind analoge Verfahren entscheidend für Die Kunst der Recherche. Einblicke in die juristischen Möglichkeiten und Grenzen von Recherchejournalismus und Ausblicke in den Bereich journalistischer Ethik runden das Buch ab.

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Hektor Haarkötter, Prof. Dr., ist Studiengangleiter Journalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln sowie geschäftsführender Vorsitzender der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e. V. Zuvor hat er viele Jahre als Journalist, Filmemacher und Fernsehregisseur gearbeitet. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und anderer Veröffentlichungen. Für seine medialen Arbeiten wurde Haarkötter mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

Inhalt

1 Statt eines Vorworts

2 Die Kunst der Recherche

2.1 Recherche in Zeiten des Information Overload

2.2 Journalistische Recherche

2.3 Andere Rechercheberufe

2.4 Kleine Typologie der Recherche

2.5 Methodisches Recherchieren

2.6 Recherchieren als Kunst

3 Recherchegeschichte(n)

3.1 Von der Kolportage zu den »Nestbeschmutzern«

3.2 Story-basierter Recherchejournalismus

3.3 Neue Recherchewege

4 Die Methode: Story-basierte Recherche

4.1 Was ist eine Geschichte?

4.2 Die Vorrecherche: Wie man ein Thema findet

4.3 Basisrecherche: Die Hypothese

4.4 Von der Basis- zur Erweiterungsrecherche

4.5 Die Überprüfungsrecherche

5 Aus Quellen schöpfen

5.1 Nicht-personale Quellen

5.2 Personale Quellen

5.3 Quellen organisieren: Der Masterplan

5.4 Schreiben und Publizieren

6 Die Welt ist doch eine Google

6.1 Die Googleisierung des Journalismus

6.2 Warum Google anders ist als die anderen

6.3 Vergiss W-Fragen!

6.4 Noch mehr Suchtipps

6.5 Google-Ergebnisse einschränken

6.6 Google und das »Totengräber«-Problem

6.7 Weitere Google-Dienste und -Programme

6.9 Hört das mit Google denn überhaupt nicht mehr auf?

7 Jenseits von Google

7.1 Suchmaschinen-Alternativen

7.2 Recherchieren in sozialen Netzwerken

7.3 Kuratieren statt Recherchieren

8 Oberwasser im Datenmeer

8.1 Zum Begriff Datenjournalismus

8.2 Die Open-Data-Bewegung

8.3 Wo Daten zu finden sind

8.4 Recherchen im Hidden Web

8.5 Der Datenjournalismus von morgen

9 Alles, was Recht ist

9.1 Wie weit Rechercheure zu weit gehen dürfen

9.2 Pflichten und Grenzen der Recherche

9.3 Journalistische Sorgfaltspflicht

9.4 Zeugnisverweigerungsrecht

10 Ein Rechercheblick nach vorn

10.1 Das Waterloo der deutschen Presse

10.2 Rollenbilder von Recherche-Journalisten

10.3 Woran Recherchen scheitern

10.4 Skizzen einer Recherche-Ethik

Bildnachweis

Literatur

Index

1 Statt eines Vorworts

»Statt eines Vorworts« schreibt ein Autor wie weiland Erich Kästner immer dann, wenn er möchte, dass das Vorwort auch wirklich gelesen wird, das ja bekanntermaßen umstandslos überblättert wird, wenn schnöde »Vorwort« oder »Einleitung« darüber steht. Da sich dieses Buch aber mit neuen Wegen und Methoden der Recherche beschäftigt und Recherchen nach Möglichkeit immer am Anfang beginnen sollten, möchte dieses Vorwort gerne gelesen werden. Bei den anderen Kapiteln verhält sich das durchaus anders: Dieses Buch soll und kann auch als Handbuch verstanden und zum Nachschlagen verwendet werden. Das Vorwort indes soll in knappen Worten klarmachen, wie dieses Buch funktioniert. »Begin at the beginning«, sagt der König in »Alice in Wonderland« zu dem kleinen Mädchen, »and go on till you come to the end: then stop«. Die weise Aussage des Königs könnte auch als grundlegendste Recherchemethodik angesehen werden: Fange am Anfang an und fahre so lange fort, bis du zum Ende kommst: Dann höre auf!

Dieses Buch wendet sich an Berufseinsteiger ebenso wie an Praktiker, die sich über neue Formen der Recherche informieren wollen. Es wendet sich an (angehende) Journalisten ebenso wie an Mitglieder anderer Rechercheberufe und auch Otto und Ottilie Normalverbraucher insofern, als das Recherchieren heute zur universellen Metapher für den digitalen Alltag geworden ist: Ich suche, also bin ich. Es wendet sich nicht so sehr an Fachwissenschaftler, wiewohl ihnen womöglich die Lektüre auch frommen mag, und wenn nicht zum Nutzen, dann wenigstens zum Verriss. Deswegen ist auf die Konsistenz mancher Terminologie nicht so strenger Wert gelegt worden wie auf Verständlichkeit und, wie man neudeutsch sagt, Usability. So wird der Begriff »Information« hier sehr allgemein im umgangssprachlichen Sinne benutzt als Synonym für das, was gewusst und in Erfahrung gebracht werden kann. Ebenso wird das, was in Erfahrung gebracht worden ist, in gewissermaßen gewollter Unschärfe als »Daten« bezeichnet. Es soll aber auf die Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft und der Journalismusforschung zurückgegriffen werden, wenn diese für Methodik und Durchführung von Recherchen hilfreich sein können. Und tatsächlich! Wissenschaft kann, neben viel kryptischer Selbstbespiegelung (die es in jeder Disziplin gibt), auch nutzbar für die Praxis sein. Neben die Theorie der Recherche soll bewusst auch eine kleine Geschichte der Recherche treten, so wie zwar eine theoriegeleitete Recherchemethodologie vorgestellt wird, die sich aber bewusst als Story-basierte Methode versteht. Die Geschichte soll sich wiederum absichtsvoll aus vielen kleinen Geschichten erklären, die vom Text abgesetzt sind. Denn Mnemotechnik und Didaktik lehren, dass das, was in Geschichten gewusst und abgespeichert wird, häufig besonders nachhaltig gewusst wird und wieder abgerufen werden kann. Wer darum in Lektüre und Studium dieses Buchs etwas flotter vorankommen will, kann diese Einschübe auch auslassen (oder andererseits auch nur diese lesen, wenn es ihm angenehm ist).

Methodisches Recherchieren ist im deutschen Sprachraum maßgeblich von Michael Haller und seinem Buch »Recherchieren« vorangetrieben worden. Doch obwohl dieser Ratgeber nun schon seit 30 Jahren verfügbar ist, zeigen empirische Studien, dass Journalisten bis heute alles andere als methodisch vorgehen, wenn sie sich Themen erschließen, Informationen suchen und Daten sammeln. Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass wegen der medientechnischen Entwicklung wertvolle Informationen im Meer der Desinformation unterzugehen drohen und neben die Schwierigkeit der Informationsbeschaffung heute die Notwendigkeit der Evaluation, sprich: Bewertung, tritt. Wer sich aber Quellen und Informationen nicht systematisch und methodisch erschließt, der wird gerade im Zeitalter des Information Overload seine liebe Not haben, an die Fleischtöpfe valider und exklusiver Informationen zu gelangen. Genau in diese Töpfe wollen wir aber mit diesem Buch hineinschauen. Darum soll hier nicht nur eine Methodik der Recherche, also das »Wie« journalistischer Informationsgewinnung, dargelegt werden, sondern auch das »Wo«: Wo finde ich konkret Gesprächspartner, Datensätze, Hintergrundinformationen? Wer konkret kann mir dabei helfen (beziehungsweise auf wessen Hilfe kann ich getrost verzichten)? Welches sind die coolen Websites, die abgefahrenen Datensammlungen, die wichtigsten Toolkits? Wo und mit welchen Werkzeugen kann ich aus dem Arbeitswerkzeug Nummer eins für Journalisten, dem Computer, das meiste in Sachen Recherche herausholen?

Gerade dieses »Wo« ist heute in einem Rechercheleitfaden heikel: Einerseits kann der ratsuchende Leser erwarten, dass ihm die wichtigsten Quellen und Ressourcen genannt werden. Andererseits sind diese Ressourcen, soweit es sich, was die Regel sein wird, um Onlineressourcen handelt, auch schnell verändert, umgezogen oder gar veraltet. Beim Umgang mit dem evident wichtigen Bereich der Internetrecherche macht sich die Medienentwicklung in doppeltem Sinne und nicht nur auf hilfreiche Weise bemerkbar. Gerade die Nennung konkreter Webadressen hat bei dem exponentiellen Wachstum des Internets etwas Beliebiges. Dem begegnet dieses Buch auf zweierlei Weise: Zum einen sind gerade die Tipps in diesem Buch (blau hinterlegt) auch als reine Beispiele für eine Recherchemethodik zu verstehen, die insbesondere darüber Auskunft geben wollen, wie sich im Allgemeinen Internetressourcen finden lassen. Auf diese Weise sollte der aufmerksame Leser im Stande sein, sich selbst auf den aktuellen Stand zu bringen. Zum anderen bieten wir mit der Website WWW.KUNSTDERRECHERCHE.DE einen Findeplatz im Internet an, auf dem sich die je aktuellen Links und Trends wiederfinden. Alle Onlinequellen zu diesem Buch werden dort zu finden sein und sind im Text mit dem -Symbol gekennzeichnet. Da sich diese Seite auch als Blog versteht, können hier auch kontroverse Themen rund um Recherche, Internet und Journalismus behandelt, vertieft und auf den neuesten Stand gebracht werden. Gleichzeitig freut sich der Verfasser auf Hinweise aufmerksamer Leser und User, um dieses Angebot weiter auszubauen.

Das Buch ist modular aufgebaut und geht dabei vom Allgemeinen zum Besonderen. In den Kapiteln 2 und 3 wird die Bedeutung der Recherche für Journalismus und Alltag in einer eher etwas theoretischen und medienwissenschaftlichen Weise beleuchtet. Eine kurze Geschichte des Recherchejournalismus und ein Vergleich mit anderen Rechercheberufen sollen der Einordnung dienen und die Relevanz methodischen Vorgehens belegen. Die folgenden zwei Kapitel skizzieren eine neue Form der Recherchemethodik, die man als Story-basierte oder hypothesenbasierte Recherche bezeichnen kann. Kapitel 4 ist dabei eher prozessorientiert, beschreibt also den idealtypischen Ablauf einer Recherche, während Kapitel 5 sich ganz der Frage widmet, wie man Quellen findet und sich erschließt. In den folgenden drei Kapiteln stehen Internetrecherchen im Fokus. Kapitel 6 widmet sich vollständig dem mächtigsten und am meisten verbreiteten Recherchewerkzeug, nämlich der Suchmaschine GOOGLE. Kapitel 7 führt Alternativen zum Quasi-Suchmaschinenmonopol GOOGLE vor und zeigt spezielle Recherchewerkzeuge für bestimmte Einsatzgebiete. Kapitel 8 befasst sich mit dem neuen und gerade in Sachen Recherche wichtigen Gebiet des Datenjournalismus. Kapitel 9 gibt einen Überblick über die juristischen Implikationen der Recherche und geht der Frage nach, wieweit Journalisten juristisch zu weit gehen dürfen. Das zehnte und letzte Kapitel beleuchtet die ethische Dimension der Recherche und fragt nach dem Zusammenhang von Recherche, Kunst und journalistischer Qualität. Modular ist dieses Buch insoweit aufgebaut, als jedes Kapitel auch für sich stehen kann und sich, auch einzeln betrachtet, zum Nachschlagen eignet.

Service

Die Service-Elemente innerhalb der einzelnen Kapitel sollen für Überblick sorgen und den Gebrauchswert erhöhen:

Am Anfang jedes Kapitels sind kurz die Lernziele zusammengefasst.In blau unterlegten Info-Kästen gibt es Begriffsklärungen sowie Ausflüge in die Mediengeschichte.»Checklisten« bieten Schritt-für-Schritt-Anleitungen und bringen Prozesse auf den praxisrelevanten Punkt.»Tipps« geben alltagstaugliche Hinweise und nennenwichtige Internetressourcen und Onlinequellen.Am Ende jedes Kapitels gibt es weiterführende »Literaturtipps & Links«.»Zu guter Letzt« soll zeigen, dass die Kunst der Recherche wie jede Kunst auch mit einem Augenzwinkern zu tun hat.

Noch ein persönliches Wort vom Verfasser: Ich selbst habe mir, wie viele Journalisten meiner Generation, viele der Tätigkeiten, um die es in diesem Buch geht, selbst oder zusammen mit tollen Kollegen angeeignet. Journalismus war und ist sehr häufig Learning by Doing. Ich hatte das Glück (so empfinde ich es), diesen Beruf noch kurz vor der großen medientechnischen Wende Ende der 1980er-Jahre ergriffen zu haben. Ich habe noch Fahnenkleben und Offsetdruck kennengelernt und den Übergang zum digitalen Desktop-Publishing live miterlebt, ich habe noch langwierige Telefonrecherchen betrieben und bin in Hauptpostämter gerannt, um Telefonbücher aus anderen Städten einzusehen. Später war ich einer der Early Adopter von Bulletin Board Systems, des Usenet und schließlich des World Wide Web. Auch die Videoformate und Schnittsysteme wechselten in dieser Zeit schneller, als der 1. FC Köln in der Bundesliga auf- und wieder absteigen konnte. Neben meiner Tätigkeit als Fernsehjournalist und Filmemacher habe ich immer auch für Computermagazine geschrieben und war darum, was die Entwicklung der digitalen Welt angeht, nach Möglichkeit am Puls der Zeit. Man kann mich wirklich nicht als einen »Nerd« bezeichnen. Aber in Zeiten, in denen es noch nicht für jede Lebenslage eine »App« gab, war die Kunst der Improvisation eine nicht unwesentliche Voraussetzung für die Kunst der Recherche: Ich schraube auch schon mal einen PC auseinander, wenn er nicht genau das tut, was ich möchte (um dann manchmal festzustellen, dass er es nach dem Wiederzusammenschrauben noch weniger tut). Es ist für den normalen Anwender völlig egal, wie ein Gerät von innen aussieht, solange es funktioniert. Wer aber Profi sein will, der muss seinem wichtigsten Arbeitsgerät auch schon einmal unter die Haube schauen, um etwas genauer zu verstehen, wie es vorgeht. Nur dann kann man nämlich das Möglichste herausholen. Leider ist die Disziplin des Computational Journalism, die es in den USA schon zum Rang eines eigenen Unterrichtsfachs an Universitäten und Journalistenschulen gebracht hat, in Deutschland noch unterentwickelt. Auch dieses Buch kann den Bereich Hard- und Software für den journalistischen Einsatz und die Recherche nur am Rande streifen. Auf der Website zum Buch sind aber Links zu interessanten Webressourcen zu finden, die diesen Bereich erschließen helfen.

Schließlich ein Wort zu den Schreibweisen in diesem Buch: In tiefer Überzeugung von der Arbitrarität (also Beliebigkeit) des sprachlichen Zeichens hätte ich gerne Personenangaben im generischen Femininum gehalten, wie es sich ganz langsam im akademischen Bereich einbürgert und wie es in amerikanischen Publikationen schon fast üblich ist. Publikationstechnische Überlegungen und der Wunsch des Verlags haben dazu geführt, dass nun grundsätzlich das generische Maskulinum verwendet wird. Es versteht sich, dass das grammatische Maskulinum nicht mit dem biologischen Geschlecht verwechselt werden soll, zumal gerade der Journalismus sich zu einem sehr weiblichen Beruf entwickelt. »Man« lese also bitte »sie«, wo ein »er« geschrieben steht, gemeint sind ohnehin immer alle (oder jedenfalls alle, die sich angesprochen fühlen).

Der Verfasser dankt für vielfältige Hilfe, Tipps und Verbesserungen Günther Bartsch und Oliver Schröm vom Netzwerk Recherche, dem freien Journalisten Daniel Drepper, Sönke Iwersen vom HANDELSBLATT, Hans-Martin Tillack vom STERN, Martin Welker von der Universität Leipzig besonders für seine maßgebliche Recherchestudie und die Biere bei der Frankfurter Buchmesse, den Rechtsanwälten Christian Solmecke und Dr. Matthias Schote für juristischen Rat, Stefan Rohr von der Süddeutschen Zeitung für die Abdruckgenehmigung eines Musterbriefs, Martin Kotynek für eine ebensolche einer Zeit-Grafik, Luuk Sengers für Omas Apotheke, Marcus Lindemann für Rat und Bild zu GOOGLE Adwords, Heinz Hoppe vom Kölner »Sprechzimmer« als Erstleser und Freund, meinem Bürogenossen Frank Überall für den Schreibtisch gegenüber, Lina Lindner für Nachrecherchen, Günther Hahn für Korrekturen, Katharina Kesper für Hilfen bei der Fertigstellung des Manuskripts und meinem Lektor Rüdiger Steiner für seine Geduld und wunderbare theatralische Abende am Bodensee. Alle Fehler, die sich jetzt noch in diesem Buch finden, nimmt der Verfasser auf die eigene Kappe.

Köln, im März 2015

Hektor Haarkötter

2 Die Kunst der Recherche

Was man in diesem Kapitel lernt

Wie sich journalistische Recherche im Informationszeitalter verändert hat + welche Schwierigkeiten es bei der Definition von Recherche gibt + welche Rechercheberufe sonst noch existieren + was für Typen von Recherche es gibt + was die Methodik journalistischen Recherchierens auszeichnet + und warum Recherchieren eine Kunst ist.

2.1 Recherche in Zeiten des Information Overload

Heute recherchiert jeder. Die Masse an Information, die uns tagtäglich um die Ohren fliegt, macht uns alle zu Informationsjägern: Wann gibt es das nächste Schnäppchen beim Discounter? Wie komme ich am günstigsten von Hamburg nach Kufstein? Wo finde ich Arbeiten über die tibetanische Hegel-Rezeption in den 1930er-Jahren? Eine Masse an Informationen liegt offen da, man muss sie nur zu finden wissen: in den Medien, im Internet, in Datenbanken oder in Foren. Die Revolution der Informations- und Wissensgesellschaft hat den Begriff der Recherche selbst nachhaltig verändert.

Früher gab es auch andere Formen des Wissenserwerbs als das Recherchieren oder, wenn wir es einfacher ausdrücken wollen: das Suchen (franz. rechercher: genau suchen). War man z. B. Experte in seinem Fach, dann hatte man naturgemäß das nötige Wissen über sein Fachgebiet abrufbereit auf Lager (Glaser 1996: 303). Die Wissensbestände einzelner Fachrichtungen waren immer noch so überschaubar, dass man sie sich in den Jahren einer Berufsausbildung oder eines, wenn auch manchmal recht langen, Hochschulstudiums aneignen konnte. Für die tägliche Konversation, das Verständnis einer Nachrichtensendung oder die Partygespräche am Abend war das nötige Wissen mindestens in den voluminösen Bänden eines deswegen auch sogenannten Konversationslexikons unterzubringen. Dieser Zustand hat sich nicht erst, seit der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas die »neue Unübersichtlichkeit« ausgerufen hat (1985: 139), grundlegend geändert.

Heute hat nicht nur das aktuelle Ausmaß der Wissensbestände, sondern auch ihr ständiges exponentielles Wachstum die Situation fürs Wissensmanagement, aber auch für den Wissenserwerb und damit für die Recherche grundsätzlich auf den Kopf gestellt. »Der Aufstieg der Suche als vorherrschende Form des Auffindens von Information ist Ausdruck eines fundamentalen Wandels in unserer informationellen Umwelt«, schreibt der Computerwissenschaftler Lev Manovich (2010: 221). Der Medienwissenschaftler Geert Lovink sieht uns in einer »Gesellschaft der Suchanfrage« leben (2010: 58). Und der Technikhistoriker David Gugerli sieht schon die ganze »Welt als Datenbank« (2009: 92). Die amerikanischen Forscher Martin Hilbert und Priscila López haben errechnet, wie sich in allerjüngster Zeit die Kapazitäten verändert haben, Informationen durch den Raum zu übermitteln (Kommunikation), durch die Zeit zu übertragen (Speicherung) und zu berechnen (Informatik). Die Kapazität, Informationen durch Telekommunikationsnetze auszutauschen, betrug 1986 eine Summe von 281 Petabyte (das sind 1.000 x 1.000 Gigabyte) und im Jahr 2007 lag dieser Wert bei 65 Exabyte (das sind 1.000 Petabyte). Auch die Berechenbarkeit hat sich in dieser Zeit vertausendfacht. Und die Möglichkeiten, Informationen zu speichern, haben sich im gleichen Zeitraum immerhin verhundertfacht. Anno 2003 war der Punkt erreicht, an dem mehr Informationen in digitaler als in analoger Form vorlagen. Waren im Jahr 1993 erst drei Prozent der weltweiten Informationsspeicherkapazität digital, so waren es 2007 bereits 94 Prozent (Hilbert/López 2011: 60 ff.). Der Internet-Suchmaschinenbetreiber GOOGLE gibt im Jahr 2008 bekannt, dass der Index der Webseiten eine Trillion URL’s erreicht habe. Im selben Monat gibt das Internet-Videoportal YOUTUBE preis, dass seine Nutzer in jeder Minute 13 Stunden neues Videomaterial hochladen. Und im November des gleichen Jahres verkündet der Bilderdienst FLICKR, dass er die Zahl von drei Milliarden gespeicherten Bildern passiert hat: Die Anzahl der Fotos, die mittlerweile jede Woche auf diesen Bilderdienst hochgeladen werden, ist höher als die Zahl aller Objekte in allen Museen der Welt (Manovich 2010: 222).

Nun ist die Zunahme von Wissensressourcen in einer Wissens- und Informationsgesellschaft nichts Ungewöhnliches. Der Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price hat schon in den 1970er-Jahren errechnet, dass seit dem Zeitalter der Aufklärung, also seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, das menschliche Wissen sich ungefähr alle 15 Jahre verdoppelt hat (de Solla Price 1974: 17). Was neu und ungewöhnlich ist, das ist der Umstand, dass Wissen heute von einem objektiven Tatbestand zu einem relationalen geworden ist: Man besitzt heute keine Kenntnisse mehr, sondern weiß, wo man suchen muss.

Wenn man es denn weiß! Internetsuchmaschinen und darunter vor allem der unangefochtene Marktführer, die kalifornische Firma GOOGLE, sind zur universellen Sigle fürs heutige Wissensmanagement in Wissenschaft und Beruf, in der Freizeit und im Privatleben geworden. Indem historische Wissensbestände ebenso wie die aktuelle Medienproduktion digitalisiert wurden und ins Internet abgewandert sind, ist der Begriff der Recherche nachgerade ein Synonym für »googeln« geworden. Aber wer suchet, der findet noch lange nicht. Die Deutschen stellen zwar täglich mehr als 100 Millionen Suchanfragen an die Suchmaschine GOOGLE ( Schmidt 2008; Kroker 2013). Über 80 Prozent der Befragten einer Studie an der Hochschule Pforzheim zeigten sich auch mit den Suchergebnissen von GOOGLE zufrieden. Allerdings wusste ein ähnlich hoher Prozentsatz der GOOGLE-Nutzer häufig gar nicht, wie die Reihenfolge der Suchergebnisse zustande kommt, noch kannten sie Alternativen zu dem Suchmaschinengiganten, geschweige denn dass sie mal eine andere Suchmaschine ausprobiert hätten. Dafür hielten fast 70 Prozent der Befragten häufig Suchergebnisse für irrelevant, selbst wenn sie mit den Suchbegriffen zu tun hatten ( Gaulke 2008: 94). Die Internetnutzer finden zwar, sie finden sich aber nicht zurecht. Andere Experimente haben gezeigt, dass nur 20 Prozent der Nutzer ausgefeiltere Recherchemöglichkeiten wie Suchoperatoren verwendeten, 51 Prozent der Nutzer wussten noch nicht einmal von deren Existenz (Machill u. a. 2008: 233). Wer darüber hinaus sein informationelles Schicksal einem Suchmaschinenbetreiber in die Hände legt, der verliert auch die Beurteilungskriterien dafür, welche womöglich wichtigen Informationen tatsächlich in der virtuellen Welt vorliegen und damit für einen Zugriff über Suchmaschinen zur Verfügung stehen und welche nach wie vor nur in der realen, analogen Welt vorhanden sind.

Was den Begriff der Recherche noch nachhaltig verändert hat, ist nicht nur die Digitalisierung von Wissensressourcen, sondern deren überbordende Fülle. Stichwort: Information Overload. Ludwig Wittgenstein konstatierte in seinen »Philosophischen Untersuchungen«: »Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus« (1993: 302). Das Problem haben aber nicht mehr nur Philosophen. Heute kennt sich niemand mehr aus.

Nach dem klassischen Verständnis bestand Recherche darin, solche Informationen aufzuspüren, die andernfalls geheim, nicht-öffentlich und unter Verschluss geblieben wären. »Recherchejournalismus setzt intensive, kritische Methoden ein, um Verborgenes ans Tageslicht zu bringen«, stellt Siegfried Weischenberg fest (1983: 350). Joseph Pulitzer, der legendäre amerikanische Verleger und Stifter des nach ihm benannten Journalistenpreises, wies seine Redakteure an: »Es gibt kein Verbrechen, keinen Kniff, keinen Trick, keinen Schwindel, kein Laster, das nicht von Geheimhaltung lebt. Bringt diese Heimlichkeiten ans Tageslicht, beschreibt sie, macht sie vor allen Augen lächerlich« (zit. nach Adamek/Otto 2008: 43). Natürlich gibt es nach wie vor Informationen, die vor der Öffentlichkeit verheimlicht werden, und es bleibt die Kunst von Journalisten, diese aufzudecken. Daneben tritt aber ein neuartiges Problem, nämlich aus dem Wust des Offensichtlichen das Relevante herauszufischen. Die Datenmassen – Statistiken und Tabellen, Bildarchive und Musikkollektionen, publizistische Angebote und private Blogs – müssen gesichtet und sortiert, gefiltert und bewertet werden. Neben das Problem der Geheimhaltung tritt heute das vielleicht noch virulentere Problem der Auffindbarkeit oder Findability: Die eine Information, die wichtig und entscheidend ist, könnte im Meer des Irrelevanten untergehen und nicht zu finden sein.

Recherche ist also heute im Internet eine universelle Tätigkeit, die nicht mehr auf Journalisten und die wenigen anderen Rechercheberufe beschränkt ist. Wenn heute jeder recherchiert, dann haben vermutlich auch viele ähnliche Probleme beim Recherchieren:

die richtigen, einschlägigen Suchbegriffe zu finden;

die notwendigen Suchmethoden zu kennen;

nur die relevanten Suchtreffer aufzuspüren;

beurteilen zu können, was online auffindbar ist und was nicht;

auch Offline-Daten zuverlässig zu finden.

Journalistische Recherche muss darüber hinaus heute noch etwas anderes vermögen: Sie muss leistungsstärker und professioneller sein als die Alltagsrecherche, wenn sie sich behaupten will. Wer als Journalist mit Informationsbeschaffung punkten, das heißt ein publizistisches Produkt auf den Markt bringen will, für das Leute bereit sind, weiterhin Geld auszugeben, der muss auch in Sachen Recherche Fertigkeiten beherrschen, die ihn vom Alltags-Internetnutzer unterscheiden. Was hier den Unterschied ausmacht, ist:

eine methodische Vorgehensweise,

vertiefte Kenntnisse in digitaler Informationsbeschaffung,

ein nachvollziehbares Informationsmanagement,

ein persönliches und ein professionelles redaktionelles Umfeld, das Recherchen ermöglicht und voranbringt und

ein ethisches Verständnis von der gesellschaftlichen Relevanz der Recherche.

Recherchieren kann heute jeder. Wenn Journalisten recherchieren, sollten sie es zu einer Kunst machen.

2.2 Journalistische Recherche

Nach landläufiger Meinung sind Journalisten Leute, die Geschichten recherchieren und dann aufschreiben und veröffentlichen beziehungsweise einen Film oder einen Radiobeitrag darüber produzieren. Die Recherche wäre dann neben dem Verfassen von Artikeln (oder der Produktion von Radio-/TV-Beiträgen) die Kernbeschäftigung im Journalismus. Doch so arbeiten viele Journalisten gar nicht. Sie sind sogenannte Sitzredakteure (zum Begriff vgl. Schneider 1998: 32; zur Sache Haller 2008: 17). In den Nachrichtenredaktionen von Zeitungen und Onlinemagazinen sitzen Redakteure unentwegt am Schreibtisch und tun kaum etwas anderes, als die Texte anderer Leute – freier Mitarbeiter, Korrespondenten, Agenturen, Pressemitteilungen – zu redigieren. In den großen Rundfunkanstalten, vor allem den öffentlich-rechtlichen, sieht es nicht besser aus. Beim WESTDEUTSCHEN RUNDFUNK KÖLN sind 4.900 Menschen angestellt. Über 90 Prozent des Programms wird aber nicht von diesen produziert, sondern von freien Mitarbeitern. Die festangestellten Redakteure dieser Anstalt sind im überwiegenden Maße nicht mit Recherchen oder dem kreativen Akt der Produktion von Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen beschäftigt, sondern mit dem Verwalten von Programm, der Beauftragung freier Mitarbeiter und dem Redigieren von deren Filmen und Radioberichten. Die Kunst der Recherche ist also fürwahr nicht unbedingt die am meisten geschätzte und ausgeübte Tätigkeit von Journalisten. Der Journalismusforscher Martin Welker mutmaßt gar, dass »für viele Journalisten – insbesondere in regionalen und lokalen Medien – Begriff und Vorgang [der Recherche] noch immer eine Blackbox sind« (Welker 2012: 17). Von der »Mangelware Recherche« spricht Sven Preger (Preger 2004). Andererseits hat sich gute Recherche zum Markenzeichen von »Qualitätsmedien« entwickelt. Viele Verlage und Medienunternehmen haben in den letzten Jahren Recherchepools und Investigativabteilungen gegründet und stellen eine erkleckliche Anzahl von Redakteuren frei, die sich nicht um das Kleinklein des journalistischen Tagesgeschäfts kümmern müssen, sondern Zeit für Geschichten, Zeit für Informationsbeschaffung und -organisation, Zeit für Gespräche und Telefonate, für Datenbanken und Networking, sprich: Zeit für Recherche haben. Recherche scheint der Unterschied geworden zu sein, der den Unterschied macht. Das Magazin STERN und die Tageszeitung WAZ, der NORDDEUTSCHE RUNDFUNK und die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, sie alle haben mittlerweile eigens Rechercheabteilungen gegründet.

Tipp: Recherchepools deutscher Redaktionen

Das WAZ-Rechercheteam:

http://www.derwesten-recherche.org

Der Recherche-Blog der TAGESZEITUNG (taz):

http://blogs.taz.de/rechercheblog

Das Team Investigative Recherche des STERN:

http://blogs.stern.de/der-investigativ-blog

Das WELT-Investigativteam:

http://investigativ.welt.de

Das SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Projekt »Die Recherche«:

http://www.sueddeutsche.de/thema/Die_Recherche

Das Netzwerk Recherche, erst im Jahr 2001 von einer Journalistengruppe gegründet, hat sich dem Ziel der »Qualitätssteigerung der Medienberichterstattung mittels professioneller Recherche« verschrieben ( Netzwerk Recherche 2012). Das Netzwerk ist innerhalb kurzer Zeit zu einer der größten und einflussreichsten Journalistenorganisationen in Europa geworden. Bei den Jahrestagungen in Hamburg kommen regelmäßig hunderte Journalisten aus Deutschland und Europa zusammen, um sich über die neuesten Recherchetrends zu informieren, das Handwerkszeug zu erweitern und allgemein über die gesellschaftliche Relevanz von Recherchejournalismus zu diskutieren. Auch international tut sich etwas in Sachen Recherche. Es gibt Vereinigungen investigativer Reporter in Großbritannien (Centre for Investigative Journalism, CIJ), auf dem Balkan (Balkan Investigative Reporting Network, BIRN), in den arabischsprachigen Ländern (Arab Reporters for Investigative Journalism, ARIJ), auf dem afrikanischen Kontinent (Forum for African Investigative Reporters, FAIR) und vor allem in den USA, wo die schon 1975 gegründete Organisation IRE (Investigative Reporters and Editors) nicht nur Schulungen abhält und einen renommierten Journalistenpreis vergibt, sondern mit der Unterorganisation National Institute for Computer-Assisted Reporting (NICAR) auch viele Ressourcen für die journalistische Datenanalyse zur Verfügung stellt.

Tipp: Internationale Recherche-Organisationen

Netzwerk Recherche e. V. (nr):

http://www.netzwerkrecherche.de

Das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) fördert grenzübergreifende Recherchen:

http://www.icij.org

Die US-amerikanischen Investigative Reporters and Editors (IRE):

http://www.ire.org

Das National Institute for computer-assisted reporting (NICAR):

http://www.ire.org/nicar

Das britische The Centre for Investigative Journalism (TCIJ):

http://www.tcij.org

Das Swiss Investigative Reporters’ Network:

http://www.swissinvestigation.net/en/home/

Die holländisch-belgische Vereiniging van Onderzoeksjournalisten (VVOJ):

http://www.vvoj.nl

Das Global Investigative Journalism Network (GIJN):

http://gijn.org

Es existiert ein einfacher Grund, warum investigativer Journalismus nach wie vor seine Berechtigung hat und warum gerade er vielleicht zum Ausweis besonderer journalistischer Qualität dient: Es gibt noch Geheimnisse. Und das ist in westlichen Demokratien, in denen die Staatsaffären prinzipiell auf der öffentlichen Bühne stattzufinden haben, gar nicht selbstverständlich und sorgt zwangsläufig für gesellschaftliches Konfliktpotenzial. Zwar gibt es, wie der Politikwissenschaftler Jörn Knobloch schreibt, »auch legitime Geheimnisse in der Demokratie, die jedoch einer besonderen Rechtfertigung bedürfen« (Knobloch 2011: 5). Sehr häufig – und das belegen gerade von Journalisten aufgedeckte Skandale – dienen Staatsoder Firmengeheimnisse aber dazu, das öffentliche Recht auf Information einzig aus dem Grund der Vertuschung, des Machterhalts oder der Bereicherung auszuhebeln. Hier setzt investigative Recherche an und gewinnt der Recherchejournalismus seine wichtigste Funktion. »Durch ihn werden Missstände und Machenschaften entlarvt. Er beabsichtigt, den Staat respektive die Gesellschaft zu verbessern«, schreibt die Medienrechtlerin Julia Eichhoff (2010: 1 f.).

Neben solchen, manchmal allzu pathetisch vorgetragenen Bekundungen darf auch nicht aus dem Blick verloren werden, dass journalistisches Recherchieren auch Grenzen kennen muss. Nicht alles, was herausgefunden werden kann, darf auch herausgefunden beziehungsweise publiziert werden. Ebenso heiligt nicht in jedem Fall der Zweck die journalistischen Mittel. Es sind häufig gerade fragwürdige Recherchemethoden, die zum manchmal schlechten Image des Journalistenberufs etwa in der Allensbacher Berufsprestigeskala beitragen (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2013) und ihm den Ruf eingebracht haben, eine »Meute« zu sein (Koelbl 2001).

Buntegate

Im Jahr 2010 kam heraus, dass die Illustrierte BUNTE jahrelang das Privatleben Berliner Spitzenpolitiker hat ausforschen lassen – und das mit Recherchemethoden, die eher an James-Bond-Filme als an saubere journalistische Arbeit denken lassen. CSU-Chef Horst Seehofer, Franz Müntefering von der SPD, Oskar Lafontaine von den Linken und auch EU-Kommissar Günter Verheugen ließ die BUNTE von einer Berliner Fotoagentur mit Namen CMK nachsteigen, und zwar nicht, um politische Fragen zu klären, sondern einzig mit dem Ziel, herauszufinden, mit wem die Betreffenden das Bett teilen. Dabei sollen auch Briefkästen manipuliert und Observationswohnungen angemietet worden sein. Die Überwachungsprotokolle der Firma CMK belegen außerdem nach Recherchen des STERN, dass geplant gewesen sei, eine Kamera zu installieren, die auf das Berliner Wohnzimmer von Oskar Lafontaine gerichtet sein sollte. Hinzu kamen persönliche Observationen im Alltag, auf Reisen und während Flitterwochen. Die Chefredakteurin der BUNTEN, Patricia Riekel, rechtfertigte diese Recherchen mit den Worten: »Zu unserer journalistischen Aufgabe gehört, durch Berichte über Politiker zur Meinungsbildung beizutragen, dazu gehört auch die Aufdeckung von Diskrepanzen zwischen dem gewünschten Image eines Politikers und seinem tatsächlichen Verhalten.« Im Übrigen wahre die BUNTE die Intimsphäre von Politikern. Diese erfasse aber nur den »innersten Bereich«: »Trennung und Scheidung mögen privat sein, aber zur Intimsphäre gehören sie […] nicht«, so Riekel. Diese Auffassung von Presserecht teilen allerdings nur die wenigsten. Journalismusforscher Michael Haller nennt die Recherchepraktiken von CMK »berufsethisch eindeutig unzulässig«. Während die BUNTE-Chefredakteurin einerseits die Methoden rechtfertigte, lehnte sie andererseits die Verantwortung dafür ab. Sie habe von den Methoden der Firma CMK nichts gewusst – anderslautende Behauptungen ließ der Burda-Verlag, der die BUNTE herausgibt, gerichtlich untersagen. Dass die CMK im Auftrag der BUNTEN handelte, ist wiederum unstrittig: 240.000 Euro hat das Blatt allein im Jahr 2008 an die Agentur bezahlt. Und was die Verantwortung ihrer Chefredaktion angeht, konnte die BUNTE ein Jahr später nicht mehr auf Nichtwissen bauen. Da musste das Blatt nämlich den Politikchef Tobias Lobe als Mitglied der Chefredaktion fristlos entlassen, weil er in ganz ähnlicher Manier wie zuvor CMK Berliner Politikern nachspioniert hat. Dass überhaupt eine Redaktion das Kerngeschäft der Recherche an eine externe Firma auslagert, hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen treffend als »Outsourcing der Drecksarbeit« bezeichnet ( Tillack 2011: 98; Röhrig u. a. 2010: 44–47; FFR/DDP 2010; Raab 2010).

Aber nicht nur die Investigativ-Abteilungen der Medienhäuser und Rundfunkanstalten recherchieren. Auch Verbraucherjournalisten und Lokalreporter, Wirtschaftsredaktionen und Sportressorts, trotz aller Unkenrufe auch die Reise- und Motorjournalisten stecken viel Zeit in Recherche: Die richtigen Zahlen, die besten Tests, die aktuellen Aktienkurse und Firmennachrichten, die korrekten Sportergebnisse, sie alle sind im besten Fall das Ergebnis fleißiger Recherche. Mit all diesen Beispielen ist das Feld der professionellen Rechercheure bei Weitem noch nicht abgedeckt. Denn recherchiert wird auch in vielen anderen Berufen.

2.3 Andere Rechercheberufe

Einer der bekanntesten Rechercheberufe neben dem Journalismus ist vermutlich der des Polizisten. Die Kriminalpolizei »recherchiert« allerdings nicht, sie »ermittelt«. Polizeiliche Ermittlungen finden im engen Korsett gesetzlicher Bestimmungen statt. Entgegen dem Bild, das insbesondere Kriminalromane und -filme von polizeilichen Befugnissen vermitteln, haben Polizisten in der Regel nur Jedermannsrechte, d. h., sie dürfen auch nicht mehr als jeder andere Staatsbürger. Der Polizei stehen allerdings mit der Kriminaltechnik Rechercheinstrumente zur Verfügung, auf die Journalisten und andere Rechercheure in der Regel keinen Zugriff haben (Schwind 2011: 27). Zu den weitergehenden Möglichkeiten, die Polizisten in engen gesetzlichen Grenzen nutzen können, zählen Bild- und Tonaufnahmen, verdeckte Ermittlungen oder der Zugriff auf »informationstechnische Systeme«, also fremde Computer und Festplatten (Branahl 2009: 54).

Abhörskandal

Polizisten dürfen mit richterlicher Genehmigung Telefone abhören. Journalisten dürfen das nicht, tun es aber doch manchmal. Zu einem internationalen Skandal wuchs sich die Abhöraffäre um das britische Boulevardblatt NEWS OF THE WORLD aus. Nach der Entführung und Ermordung der 13-jährigen Milly Dowler verschafften sich Reporter dieser Zeitung illegal Zugang zur Handy-Mailbox des Mädchens, um in Erfahrung zu bringen, mit wem Milly Kontakt hatte und was ihre Eltern zu sagen oder auch nur zu schluchzen hatten. Die Journalisten löschten sogar Nachrichten, um wieder Platz auf der Mailbox zu schaffen, was die Eltern der längst ermordeten Milly im Glauben ließ, ihre Tochter sei noch am Leben. Nachdem Reporter des GUARDIAN diese Abhöraktion aufdeckten, kam nach und nach ans Licht, dass Reporter der NEWS OF THE WORLD Tausende von Telefongesprächen und Mailboxnachrichten abgehört sowie Polizisten bestochen hatten. Nicht nur Politiker, Prominente und Mitglieder der Königsfamilie sowie Bedienstete des Königshauses waren Opfer dieser Attacke, sondern auch Verbrechensopfer, Angehörige gefallener britischer Soldaten und Hinterbliebene von Opfern der Londoner Terroranschläge vom 7. Juli 2005. Das Erdbeben, das diese Enthüllungen auslöste, führte zum Rücktritt des britischen Regierungssprechers Andy Coulson, der in der fraglichen Zeit Herausgeber des Blattes war, zur Verhaftung der Chefredakteurin, zum Selbstmord eines Reporters sowie zur Einstellung der NEWS OF THE WORLD, immerhin eine der ältesten und auflagenstärksten Zeitungen Großbritanniens. Der Skandal ist ein Lehrstück dafür, was Recherche nicht darf, und zwar nicht nur aus rechtlichen, sondern auch aus ethischen Gründen. Hier haben Journalisten aus Gewinnsucht mit den Mitteln illegaler Recherche erheblich in private und intime Lebensbereiche von Menschen eingegriffen. Und dazu sollte Recherche niemals dienen ( Leyendecker/Riehl 2011).

Im Wirtschaftsleben wird ebenfalls viel recherchiert: Marktbeobachtungen, Konkurrenzanalysen, Usability-Studien sind Bereiche, in denen auch mit klassischen und modernen Recherchemethoden gearbeitet wird. Spezielle Firmen, die sogenannten Wirtschaftsauskunfteien, haben sich darauf spezialisiert, für Banken und Dienstleister Informationen über Geschäftspartner oder Kunden zu ermitteln. Sie haben sehr große Datenbanken angelegt, mit deren Hilfe sie nicht nur auf die Wirtschaftskraft einzelner Personen oder Firmen schließen können, sondern auch auf die ganzer Stadtteile oder Bevölkerungsgruppen. Die Schufa Holding AG (früher: Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung e. V.) ist die bekannteste dieser Auskunfteien: Wer etwa einen Kredit aufnehmen will, kommt nicht umhin, der Bank das Recht auf eine »Schufa-Auskunft« einzuräumen. Auch die Creditreform AG oder die Schober Information Group GmbH sind solche Auskunfteien. Öffentlich und auch journalistisch stehen sie immer wieder in der Kritik, weil ihre Datensammelwut sehr intransparent ist, aber erhebliche Auswirkungen auf den Alltag von Otto Normalverbraucher haben kann. Die Firma Informa bekam im Jahr 2007 den »Big Brother Award« verliehen. Ein Zitat aus der Laudatio zeigt, mit welch umfangreichen Mitteln in diesem Bereich Recherchen betrieben werden:

»Die Informa schöpft für ihre Berechnungen aus einem umfangreichen Datenpool: soziodemographische Daten, Regional- und Statistikdaten, Markt- und Konsumdaten, Gebäudedaten der Schober Einzelhausbewertung, Daten der adressvermietenden Unternehmen (bekanntes Beispiel: Versandhäuser) über ihre Kunden und deren Kaufverhalten, Daten von externen Informationsanbietern, die als Auskunftei- oder als Marketingdaten angeboten werden[,] sowie sogenannte Lifestyle-Daten« ( Tangens 2007).

Auch Wissenschaftler recherchieren. Gerade sie. Im Englischen wird z. B. sprachlich gar kein Unterschied gemacht zwischen der Tätigkeit von Forschern und der von Journalisten: Das Wort »research« bezeichnet beide Tätigkeiten (Welker 2012: 140 f.). Die Methoden wissenschaftlicher Recherche hängen eng mit den Gebräuchen der Forschungsprozesse der jeweiligen Disziplinen zusammen und können sich darum massiv voneinander unterscheiden: Der Forschungsprozess eines Chemikers sieht anders aus als der eines Historikers, ein Mediziner recherchiert anders als ein Soziologe (Koch 2012: 45; Ellwein 2002: 15). Einiges haben sie aber doch zumeist gemein: Am Anfang jedes Forschungsprozesses steht die Literaturrecherche. Wissenschaftler tun zu Beginn der Arbeit das Gleiche, was auch Journalisten tun sollen: Sie lesen nach, was zu ihrem Thema schon veröffentlicht wurde. Das hat mehrere Gründe: Zum einen kann man sich Arbeit sparen, die andere schon gemacht haben; zum anderen kann man auf Vorarbeiten aufbauen und sie für das eigene Projekt nutzen. Was man nicht tun sollte, was aber leider immer wieder im Journalismus vorkommt, ist, die Texte anderer ungeprüft und, noch schlimmer: ungefragt zu übernehmen. Auch in der Wissenschaft kommt dies vor und hat in den vergangenen Jahren zu einigen Skandalen geführt, weil deutsche Spitzenpolitiker in ihren Doktorarbeiten schlicht und über Gebühr abgeschrieben hatten. Dass es ans Licht kam, war wiederum Ergebnis moderner Recherchemethoden, nämlich der Datenanalysen der Betreiber von Internetplattformen wie GUTTENPLAG oder VRONIPLAG.

Tipp: Churnalism Tracker

Auch Journalisten, die plagiieren, soll auf die Schliche gekommen werden: Der »Churnalism Tracker« ist ein Onlineprogramm, das journalistische Texte mit Pressemitteilungen, WIKIPEDIA-Artikeln und anderen Quellen vergleicht. Das Kunstwort »churnalism« wurde im Jahr 2008 vom BBC-Reporter Waseem Zakir erfunden. »to churn« heißt wörtlich »rühren«. Der »churnalism« ist folglich einer, der nur altes Material wieder aufrührt oder aufwärmt.

http://www.churnalism.com

Wissenschaft und Journalismus unterscheiden sich auch in Sachen Recherche voneinander in unterschiedlichen Ansprüchen an Exaktheit, Korrektheit und Wahrheitsanspruch. Die Wissenschaft sucht nach Beweisen, wo es dem Journalismus eher um Evidenz, Plausibilität und Aktualität zu tun ist. Allerdings gibt es auch große Überschneidungen zwischen den Berufen. Die Methoden der empirischen Sozialforschung, insbesondere die Befragung, die Inhaltsanalyse und das Experiment, sind Arbeitsformen, die durchaus auch der Journalismus nutzt.

Es gibt Stimmen, und dazu zählen vor allem die Vertreter des Data Driven Journalism (DDJ), die fordern, der Journalismus müsse sich in seinen (Recherche-) Methoden den Sozialwissenschaften angleichen. Was seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Mediensystem als Datenjournalismus bezeichnet wird, ist schon etwas älter und hat seine Wurzeln in den 1960er-Jahren. Damals arbeitete ein Reporter namens Philip Meyer bei der DETROIT FREE PRESS bereits mit Computern. Rassenunruhen erschütterten in dieser Zeit die Großstädte in den USA. Auch in Detroit kam es zu Aufständen. Zeitungskommentatoren mutmaßten, es handle sich bei den Aufständischen um besonders unterprivilegierte Jugendliche, die nichts zu verlieren hätten. Philip Meyer recherchierte demografische Daten über die an den Aufständen Beteiligten und analysierte sie mit dem Computer. Sein überraschendes Ergebnis: Schulabgänger, High-School-Schüler und College-Studenten hielten sich bei den Unruhen ziemlich die Waage (Meyer 2002: 14). Meyer, der später noch für einige andere amerikanische Zeitungen Computeranalysen durchführte und dadurch immer wieder investigativ auf »Stories« stieß, war auch der erste, der bereits 1972 ein Lehrbuch über Computer Assisted Reporting schrieb: »Precision Journalism. A Reporter’s Introduction to Social Science Methods«. Darin forderte er, wie der Untertitel des Buches schon ankündigt, dass der Journalismus sich methodisch den Sozialwissenschaften anzunähern habe:

Churnalism Tracker

»Der neue Präzisionsjournalismus ist wissenschaftlicher Journalismus. […] Das bedeutet, Journalismus soll durchgeführt werden wie eine Wissenschaft, er muss wissenschaftliche Methoden adaptieren, wissenschaftliche Objektivität und Wissenschaftsideale, und zwar in der gesamten Breite der Massenkommunikation« (Meyer 2002: 5; Übers. H. H.).

Der Computer ist heute das Arbeitsgerät Nummer eins für Journalisten wie für alle anderen Rechercheberufe. Die Entwicklung nahm ihren Anfang in den 1970er-Jahren, als die Verlage vom Bleisatz zum Fotosatz wechselten und aus den Redaktionsschreibtischen Bildschirmarbeitsplätze wurden. Die Nachrichtenagenturen DPA und AP führten schon 1973 elektronische Redaktionssysteme ein (Wilke 2004: 87). Als der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, Johannes Binkowski, im Verbandsblatt DIE ZEITUNG wegen dieser Elektronisierung die Frage stellte, ob der Redakteur künftig ein »Redaktroniker« sei, war das dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL noch eine satirische Meldung in seiner Satirespalte »Hohlspiegel« wert ( Spiegel 1977). Mit der Einführung des Desktop Publishing 1984 und des ersten grafikfähigen Internetbrowsers »Mosaic« 1993 war die Entwicklung unumkehrbar. Nur die Veteranen des Journalismus wie der ehemalige ZDF-Journalist Wolf von Lojewski sehen durch die Computerisierung den Journalismus bedroht. Heute müssten Journalisten ständig twittern oder über Handy und Internet erreichbar sein, so dass es theoretisch sein könne, »dass der Journalist irgendwann keine Zeit mehr hat, seinen Platz am Computer zu verlassen«, bedauerte der Moderator ( von Lojewski 2012). Tatsache ist, dass sich Journalismus und insbesondere Recherche ganz überwiegend am Computer abspielt und eine vertiefte Kenntnis der wesentlichen Operationen und Möglichkeiten unabdingbar ist.

2.4 Kleine Typologie der Recherche

Wer ein gewisses historisches Interesse dafür hat, wie Recherche früher war, der muss nur den Hollywood-Film »All the President’s Men« (dt.: »Die Unbestechlichen«) mit Robert Redford und Dustin Hoffman ansehen. Es ist die Verfilmung des Watergate-Skandals, in dessen Verlauf die beiden amerikanischen Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein von der WASHINGTON POST den US-Präsidenten Richard Nixon zu Fall brachten.

Dieses Paradebeispiel für investigativen Journalismus zeichnet sich vor allem durch eines aus: Die beiden Journalisten kamen fast vollständig ohne moderne Informationstechnologie aus. Ihre Arbeitsgeräte waren Telefon und Schreibmaschine, alle erdenklichen Formen von Notizzetteln und -büchern mitsamt dazugehörigem Schreibgerät. So war der Beruf des Recherchejournalisten bis weit in die 1990er-Jahre hinein geprägt: Auf dem Schreibtisch waren ein Telefon, eine Schreibmaschine, später ein Computer, der vornehmlich für Textverarbeitung, später auch für Desktop Publishing genutzt wurde, in deutschen Redaktionen das »Taschenbuch des öffentlichen Lebens (Oeckl)« sowie nach Möglichkeit eine größere Anzahl an Telefonbüchern und Branchenverzeichnissen.

Bob Woodward und Carl Bernstein von der WASHINGTON POST enthüllten 1974 den Watergate-Skandal.

Watergate-Skandal

Ein Waterkantgate gab es, ein Kohlgate, sogar ein Nippelgate hat es schon gegeben: Wenn Journalisten heute von Skandalen berichten, dann hängen sie als Nachsilbe gerne ein -gate an. Das geht auf die Watergate- Affäre zurück, die Mutter aller Skandale, wenn man so will. Was war geschehen? Während des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs 1972 drangen fünf Einbrecher in die Zentrale der Demokratischen Partei im Watergate-Gebäudekomplex ein und versuchten dort, Wanzen zu installieren und Dokumente zu fotografieren. Die Auftraggeber stammten aus der unmittelbaren Umgebung von Präsident Richard Nixon. Das deckten in einer Serie von Publikationen in der WASHINGTON POST die beiden jungen Reporter Carl Bernstein und Bob Woodward auf. In diesem Zusammenhang wurden noch eine ganze Reihe von Amtsmissbräuchen und illegale Parteispenden aufgedeckt, was letztlich am 9. August 1974 zum Rücktritt Nixons führte. Es handelt sich also eigentlich nicht um nur einen Skandal, sondern ein ganzes Bündel von Affären, zu denen auch die Behinderung der Justiz, die Vertuschung der Hintergründe des Watergate-Einbruchs sowie Steuerhinterziehung zählten. Die beiden POST-Reporter hatten eine geheime Quelle, einen sogenannten Whistleblower, der das Pseudonym »Deep Throat« führte und sie fortwährend mit geheimen Informationen versorgte. Erst im Jahr 2005 deckte das Magazin VANITY FAIR auf, dass es sich bei »Deep Throat« um den ehemaligen Vizedirektor des FBI Mark Felt handelte (Woodward 2005: 221). Der investigative Journalismus erlebte durch die Arbeit von Bernstein und Woodward neuen Aufwind, viele kritische Journalisten auch in Europa eiferten den Kollegen von der WASHINGTON POST nach. Es gab allerdings auch Stimmen, die die Behauptung, Bernstein und Woodward hätten Watergate »aufgeklärt«, für stark übertrieben hielten ( Epstein 1974).

Der Unterscheid zwischen dem klassischen und dem heutigen Recherchejournalismus ist aber nicht nur einer, der im Wandel der Schreib- und Speichermaterialien begründet ist. Es ist vielmehr ein qualitativer: Reporter wie Bernstein und Woodward sammelten so viele Informationen wie möglich. Heute sammelt man eher so wenig wie möglich, aber dafür so gute Informationen wie nötig. Bernd Blöbaum bezeichnet die journalistische Recherche recht allgemein als eine »Arbeitstechnik zur eigenständigen Sammlung von Informationen« und folgert, dass »Recherchieren immer eine aktive Tätigkeit von Journalisten« sei (Blöbaum 1992: 35). Das ist in dieser Allgemeinheit nicht ganz unrichtig, legt aber nahe, Recherchieren sei eine Art fleißiger Hamstertätigkeit, bei der man alle Nüsse einsammelt, deren man habhaft werden kann. Das wäre aber kein sehr planmäßiges oder methodisches Vorgehen und würde in Zeiten des Information Overload zu ungünstig aufgeblähten Hamsterbacken führen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Ulrich Pätzold hat denn auch in seine Recherche-Definition Trennlinien eingezogen und bestimmt die Recherche als das

»Suchen, Sammeln und Dokumentieren konkret vorfindbarer, auf eingegrenzte Themen bezogener Fakten, Sachverhalte und Prozesse mit dem Ziel, das recherchierte Material in geordneter Form – z. B. in Nachrichten, Berichten, Analysen – darzustellen« (Pätzold 1982: 275).

Die Eingrenzung wird bei Pätzold aber ausdrücklich auf die Recherchethemen bezogen und nicht auf die Menge des zu recherchierenden Materials. Hier wie dort wird ein universeller Anspruch der Recherche formuliert, prinzipiell alles zum Rechercheobjekt nehmen zu können und grundsätzlich jedes Material in die Ergebnissammlung aufzunehmen. Auch Michael Hallers Definition spricht der Recherche prinzipiell den Zugriff auf die ganze Welt zu:

»Das Recherchieren ist im engeren Sinne ein Verfahren zur Beschaffung und Beurteilung von Aussagen über reales Geschehen, die ohne dieses Verfahren nicht preisgegeben, also nicht publik würden. Im weiteren Sinne ist es ein Verfahren zur Rekonstruktion erfahrbarer, d. h. sinnlich wahrgenommener Wirklichkeit mit den Mitteln der Sprache« (Haller 2008: 246).

Der zweite Teil der Haller’schen Definition deutet darauf hin, dass der Verfasser sich der eine Zeitlang in der Kommunikationswissenschaft und Journalistik modisch bemühten erkenntnistheoretischen und erkenntniskritischen Schule des Konstruktivismus verpflichtet fühlt (Haller 1994: 277). Ohne deren Lehren hier diskutieren zu wollen, ist doch fraglich, ob die »Rekonstruktion sinnlich wahrgenommener Wirklichkeit« wirklich die Hauptaufgabe oder überhaupt eine Aufgabe des Journalismus ist. In jedem Fall würde diese Einschränkung viele journalistische Themenfelder und damit auch Betätigungsfelder journalistischer Recherche von vornherein ausblenden, z. B. im Feuilleton, das sich vor allem mit geistigen und nicht mit »sinnlich wahrnehmbaren« Produkten beschäftigt. Auch eine zweite Einschränkung Hallers ist nicht leicht nachzuvollziehen: Die Behauptung, Recherche würde solche und nur solche Tatsachen ans Licht bringen, die »ohne dieses Verfahren nicht preisgegeben, also nicht publik würden«, gilt erst mal nur für investigative Recherchen. Es sind solche Formulierungen, die ein Indiz bilden für die auch in der Journalistik und Kommunikationswissenschaft beliebte Gleichsetzung von Journalismus mit politischer Berichterstattung. Auch das blendet aber unnötigerweise viele Berichtsgebiete und Ressorts aus, in denen Recherche ebenfalls eine enorme Bedeutung hat, deren Problem aber nicht so sehr die Aufdeckung von Geheimnissen, sondern die Auswertung und Filterung offen zu Tage liegender Daten ist. Wichtiger wäre eine definitorische Einschränkung im Bereich des Suchfelds. Denn eine professionelle und zielgerichtete journalistische Recherche wird nicht einfach überall nach allem suchen oder planlos stochern, kramen oder surfen, sondern von Anbeginn an den Fokus der Recherche thematisch verengen und auf das publizistische Ziel hin weiter einkreisen.

Die Schwierigkeiten, die eine zustimmungsfähige Definition für den Begriff der Recherche zu finden, mögen auch darin begründet sein, dass das Recherchieren nicht eine einzige Tätigkeit, sondern der Sammelbegriff für eine Vielzahl von Tätigkeiten und Verfahren ist, die nicht leicht über einen Kamm zu scheren sind. Der Kommunikationswissenschaftler Ulrich Saxer macht darüber hinaus eine interessante Feststellung, indem er kritisch nach dem Zusammenhang von journalistischer Recherche und Qualitätskontrollen fragt:

»Die Frage muß zumindest gestellt werden, ob im Zeitalter der proliferierenden Informationssysteme die Befreiung eines von ihnen von Qualitätskontrollen diesem wirklich langfristig das Überleben garantiert. Wenn jede Schreibe sich Journalismus nennen und als solcher in Aktion treten darf, dann wird die Diskussion auch einmal darüber anheben müssen, wie dieses Informationssystem gegenüber anderen Informationssystemen zu bestehen vermag, die strengeren institutionellen Normen bei ihrer Tätigkeit genügen müssen, insbesondere in der Recherche« (Saxer 1976: 225).

Als Konkurrenzsysteme, die in Sachen qualitativ hochwertiger Recherche dem Journalismus womöglich den Rang ablaufen könnten, sieht Saxer vor allem die Wissenschaft, die zunehmende Zahl von Informationsdiensten und die Werbung. Heute müsste man vermutlich automatisierte und rein computerbasierte Rechercheinstrumente, wie sie beispielsweise im Börsenhandel Verwendung finden, dazu rechnen (Haas 1999: 286). Die Frage wäre also nicht nur nach dem Wesen der Recherche an sich zu stellen, sondern nach einer Definition der »guten« Recherche und ihrer Abgrenzung zu misslungenen und gescheiterten Recherchen (Leyendecker 2012: 9). Und daran schließt sich die, womöglich schon philosophische Frage an, ob nur mit diesen »guten« Recherchen ein »guter«, sprich: qualitativ hochwertiger Journalismus möglich ist. Martin Welker geht davon aus, dass »Recherche zu den wichtigsten Qualitätssicherungsinstrumenten im Journalismus gehört« (Welker 2012: 39). Allerdings verweist Klaus Arnold darauf, wie schwierig es ist, Recherchequalität zu messen (Arnold 2008: 503).

Wenn also eine eindeutige Recherchedefinition nicht möglich ist, kann man sich dem Gegenstand definitorisch immer noch auf die Weise nähern, die in der Wissenschaftstheorie als Familienähnlichkeit oder Cluster Definition bezeichnet wird (Wittgenstein 1993: § 67). Man sehe sich also verschiedene Typen von Recherchen an und vergleiche, was sie gemeinsam haben könnten. Benötigt wird also eine Typologie der Recherche. Man kann grundsätzlich verschiedene Typen von Recherchen unterscheiden nach

dem

Suchfeld,

also den verschiedenen Informationsträgern, nach denen recherchiert werden soll;

dem

Suchort,

also dem Bereich, innerhalb dessen recherchiert werden soll;

dem

Verfahren,

also der Handlungsart, mittels derer recherchiert werden soll oder

der

Funktion,

welche die Recherche ausübt.

Plan ausgedrückt, stehen hinter dieser Typologie die Fragen: Was suche ich? Wo suche ich? Wie suche ich? Und warum suche ich? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, kann man verschiedene Typen von Recherchen zur Übersicht so darstellen (siehe folgende Seite).

Zu jedem einzelnen Punkt dieser Typologie ließe sich eine Menge schreiben und vermutlich auch streiten. Da es an dieser Stelle erst einmal nur um eine grobe Übersicht geht, wollen wir es bei einigen Anmerkungen belassen.

Suchfeld:

Grundsätzlich kann man nach Aufzeichnungen aller Art, nach menschlichen Informationsquellen oder nach visuellen Informationen suchen. Dokumente und Daten werden in dem Schema unterschieden, obwohl logischerweise Datensätze den Rechercheur heute auch als Dokument irgendeines Typs erreicht. Der Unterschied ist, dass statistisches Datenmaterial heute in der Regel in einer Form gebraucht wird, die direkte Weiterverarbeitung möglich macht, was bei Dokumenten anderen Typs nicht unbedingt der Fall ist.

Suchort:

Hier steht die Onlinesuche an erster Stelle, weil zumeist damit begonnen wird. Die klassische Literaturrecherche soll davon unterschieden werden, weil nach wie vor große Informationsmengen nicht digital vorliegen. Ansonsten soll die Reihenfolge keine Gewichtung darstellen. Insbesondere der eigene Augenschein sowie das persönliche Gespräch sind Recherchequellen allererster Güte.

Verfahren:

Dieser Typologie eignet ein gewisses zeitliches Moment. Sinnigerweise steht in der Regel die Vor-Recherche am Anfang der Erschließung eines neuen Themas. Daran schließen sich Basis-, Überprüfungs- und Erweiterungsrecherche an. Was diese Recherchetypen im Einzelnen leisten und wie sie funktionieren, wird den größeren Teil des weiteren Verlaufs dieses Buches ausmachen. Die Test-Recherche liegt dazu etwas quer, ist aber ein im Verbraucherjournalismus häufig gebrauchtes Verfahren, um durch Experimente zur Informationsgewinnung beizutragen.

Funktion: