Notizzettel - Hektor Haarkötter - E-Book

Notizzettel E-Book

Hektor Haarkötter

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Beschreibung

»Ohne die Zettel, also allein durch Nachdenken, würde ich auf solche Ideen nicht kommen.« Niklas Luhmann Der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Hektor Haarkötter hat die erste Kulturgeschichte des Notizzettels geschrieben und gleichzeitig eine Philosophie dieses unscheinbaren Mediums verfasst. Denn Notizzettel – Einkaufszettel, Spickzettel, Schmierzettel, Skizzen, Entwürfe, Karteikarten, Haftnotizen, Wandkritzeleien – sind der erste Haltepunkt vom Gedanken zum Geschriebenen: Ich denke, also notiere ich. Wer den Menschen beim Notieren zusieht, der kann ihnen beim Denken zusehen. Erstmals erzählt Hektor Haarkötter die Kulturgeschichte des Notizzettels von den dunklen Anfängen bis in die unklare Zukunft und formuliert gleichzeitig dessen Theorie. Ob als Knochengerüst der Literatur, als Laborbuch der Naturwissenschaften oder als handgeschriebene Notiz im zeitgeistigen Notizbuch: Der Notizzettel ist Hard- und Software in einem, nicht nur ein Medium des Denkens, sondern vielleicht das Denken selbst. »Notizzettel« schließt eine Lücke, die bisher überhaupt noch niemand vermisst hat, und geht zwei so spektakulären wie spekulativen Hypothesen nach: Medien sind nicht zum Kommunizieren da, und Medien sind auch nicht zum Erinnern da! Mit auf die Reise durch die schillernde Welt der Notizzettel gehen Lionardo da Vinci, Ludwig Wittgenstein, Astrid Lindgren, Robert Walser, Hans Heberle, Georg Christoph Lichtenberg, Arno Schmidt, Herta Müller, Niklas Luhmann uvm. Die Wahrheit hinter »Zettel's Traum« wird ebenso erzählt wie die Geschichte der Graffiti als »Notizen an der Wand«: Der erste »Sprayer« war übrigens ein Österreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dessen Name heute weitgehend vergessen ist, obwohl er ihn manisch an Wände, Felsen und Mobiliar geschrieben hat. Die Entwicklung des Zettelkastens wird ebenso geschildert wie seine Bedeutung für den Büroalltag des 20. Jahrhunderts. Vor allem geht »Notizzettel« aber der Frage nach, wie sich die Praxis des Notierens und des Schreibens im Übergang zum digitalen Zeitalter verändert hat und welche Auswirkungen das auf das Denken und die Kommunikation hat. Die Bedeutung des Notizzettels für die Kulturgeschichte des Denkens ist nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr zu unterschätzen. »Hätte ich als Juror die Gelegenheit gehabt, den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 für das beste Sachbuch der Saison zu vergeben, so hätte ich Hektor Haarkötter für sein fulminantes Buch ›Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert‹ (S. Fischer) ausgezeichnet.«   Hanns-Josef Ortheil 

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Seitenzahl: 738

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Hektor Haarkötter

Notizzettel

Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert

FISCHER E-Books

Inhalt

Am Anfang notiertDie Erfindung des NotizzettelsSchreiben Drucken VeröffentlichenRenaissance-Mensch UniversalgenieLionardo als Erfinder des Notizzettels?Erfindung des ÜberblicksNotieren Erinnern Vergessen (Theorie des Notizzettels I)Geist Körper Zettel (Theorie des Notizzettels II)»Das kann man noch gebrauchen«Verzettelt denkenLudwig Wittgenstein bittet zum DiktatNotizen Manuskripte TyposkripteDie Geburt des Zettels aus dem Geiste des Fußballs (Theorie des Notizzettels III)Im Kino mit Wittgenstein (Theorie des Notizzettels IV)Privatheit Veröffentlichkeit WahnsinnLetzte ZettelDas handgeschriebene BuchMeditation und MaulwurfsfellHand Schrift SelbstImmer dieser Michel: Haushalts-, Schmier- und SudelbücherBarocke SelbstschreibungenEselei Faselei Hudelei Klügelei Sudelei WitzeleiVon der Liste zum Buch (Theorie des Notizzettels V)Am Buch laborierenDas leere NotizbuchDer Zettel im KastenZettel’s AlbtraumZettel Kisten ExzerpteVon der Lesetechnik zur VerwaltungstechnikWilde Formen des VerzettelnsDatei löschenNotizen an der WandGraffiti Wände HändeExkurs: Philosophie des Hip-HopAch, wie gut, dass niemand weiß … (Theorie des Notizzettels VI)Wiener-Hof-Write-Schule oder Fifteen minutes of publicity»Stoß langsam!« Antike KritzeleienNachrichten auf der Wand: Acta DiurnaSprechende StatuenBegehbare NotizzettelGeheimnisse unter den DielenHohentwielKeller Zelle WandDas Atelier des Francis BaconDas Leben notierenDer Fluss der KommunikationEin Einbruch in eine BankNotieren im digitalen ZeitalterDie Kommunikation im FlussAbbildungsverzeichnisLiteraturverzeichnisIndex

Am Anfang notiert

»Das müsste man mal eben notieren.« Vermutlich ist dies der am häufigsten gedachte Gedanke, wenn es um unsere ganz alltägliche Schreib- und Medienpraxis geht. Ein kleiner Zettel ist schnell zur Hand, einen Stift kann man womöglich auch in unseren digitalen Zeiten immer noch irgendwo auftreiben. Manche Notizzettel können gar medizinisch indiziert sein. Auf den Zettel zurückgeworfen fand sich der, dessen ärztliche Diagnose so lautete:

»Krebsige Zerstörung des Kehlkopfes mit sekundärer Erkrankung einer größeren Lymphdrüse am Halse links unten und aus einem kutanen Knoten rechts neben der Wunde. Speiseröhre unversehrt. Brandige Zerstörung des oberen Teils der Luftröhre und der Nachbarschaft. Zahlreiche Bronchiektasien mit putridem Inhalt. In ihrer Nähe bronchopneumonische abszedierende, gagräneszierende Herde«.[1]

Dem es hier so dreckig geht, ist Friedrich III., der »99-Tage-Kaiser«. Er war bei seiner Thronbesteigung im Jahr 1888 schon so schwer an Kehlkopfkrebs erkrankt, dass er sich nur noch vermittels Notizzetteln mit der Außenwelt verständigen konnte. »Es dürfte kaum eine zweite Krankengeschichte der Weltliteratur geben, die zu einer ähnlich umfangreichen Literatur geführt hat«, schreibt der Medizinhistoriker Georg Dhom.[2] Die Einschätzungen der deutschen Ärzte, zu denen immerhin auch Rudolf Virchow zählte, waren ein Politikum, und so waren es auch die quasi ärztlich verordneten Notizzettel – das letzte Medium, mit dem der Regent mit seinem Staatsvolk, seinen Untertanen, kommunizieren konnte.[3]

Der Kaiser überlebte seine Zettelwirtschaft nicht lange: Schreiben hält nicht zweifelsfrei am Leben. Das Schicksal, krankheitsbedingt auf Notizzettel angewiesen zu sein, teilte der deutsche Kaiser ironischerweise mit einem Antipoden im Geiste. Auch Friedrich Engels war am Ende seines Lebens so schwer an dem tückischen Krebs erkrankt, dass er, Autor von Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft und neben Karl Marx Mitverfasser des Kommunistischen Manifests, am Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn nicht mehr voluminöse Bücher, sondern nur noch Notizzettel schrieb, wenn er etwas mitzuteilen hatte.[4] Notizzettel können also, das scheinen die beiden historischen Beispiele zu lehren, der letzte Anker sein, um menschliche Kommunikation aufrechtzuerhalten.

Aber halt! Genau um solche Notizzettel soll es in diesem Buch nicht gehen: um Zettel, die anderen tatsächlich etwas mitteilen, Zettel, die der Mit- und Umwelt etwas zu sagen haben, Zettel, die im Spiel der menschlichen Kommunikation, des gesellschaftlichen Austauschs eine Rolle spielen. Nein, die Zettel, um die es in diesem Buch geht, sind von einer anderen, verwegeneren Art: Es gibt nämlich Zettel, die gerade nicht geschrieben, gekritzelt, gesudelt oder gehudelt werden, um anderen Menschen etwas zu kommunizieren, sondern die scheinbar nur für einen selbst da sind.

Ludwig van Beethoven notierte seine genialen musikalischen Einfälle beim Spazierengehen auf seine Manschetten. »Was ich auf dem Herzen habe, muss heraus, und darum schreibe ich«, soll Beethoven gesagt haben.[5] Es handelt sich dabei um einen musikhistorischen oder kunsthistorischen Topos, wenn man so will: einen Notiertopos, denn nicht nur von Beethoven wird die Manschettenanekdote kolportiert. Antonin Dvořák soll bei Angelausflügen mit der Familie seine Kompositionsideen schneller auf die Manschette seines Hemds skizziert haben, als seine Söhne Fische fingen. Carl Nielsen soll die Idee für das Hauptthema seiner zweiten Symphonie bei einer Straßenbahnfahrt gekommen sein, so dass er es in Ermangelung von Notenpapier auf die Manschette notierte.

Aber nicht nur die großen Herzensangelegenheiten und nicht nur die hehren Werke der Weltliteratur und der Weltmusik haben ihre Anfänge im Zettel. Auch das Trivialste und Alltäglichste ist dem Zettel nicht fremd, die Bedürfnisse des Magens etwa oder noch Liederlicheres. Zum Beispiel als Einkaufszettel: Der teuerste Notizzettel der Welt ist ein ebensolcher. Es handelt sich um einen Einkaufszettel des gerade erwähnten Ludwig van Beethoven. Auf einem schlichten Zettel notierte der Schöpfer der Schicksalssymphonie, was die Erfordernisse des Komponistenhaushalts seien, die aus der »Bognergasse« zu besorgen wären: »MäuseFall, 3 Barbiermesser, Waschseife« und auch eine ominöse »Büchermaschin«, unter der womöglich eine Art Setzkasten zu verstehen ist, um seinem geliebten Neffen das Lesen beizubringen.

Abb. 1: Ludwig van Beethovens Einkaufszettel

In der Leserlichkeit zeigt Beethovens Notizzettel schon eine Verwandtschaft zu seinen handschriftlichen Kompositionen: kaum zu entziffern. Da wird geschmiert und durchgestrichen, übereinandergeschrieben und wieder radiert. Mitteilsam ist das nicht, oder nur unter Schwierigkeiten. Ist die europäische Symphonie als Musikgattung das vielleicht am besten geordnete und organisierte Kunstwerk der Menschheit, so ist ihr Zustandekommen, ihr verzetteltes Chaos häufig das gerade Gegenteil und belegt eine vielleicht nicht zufällige etymologische Verwandtschaft der Noten zu den Notizen. »Musik ist das Geräusch, das denkt«: Das Bonmot des französischen Schriftstellers Victor Hugo ist auch hier einschlägig.[6] Der Notizzettel vereinigt Rauschen und Denken, das Irdische und das Überirdische. Astronomisch auch der Preis für Beethovens Notizzettel: Für 60000 Euro wurde das schlichte Blatt im Jahr 2011 vom Kölner Auktionshaus Venator & Hanstein versteigert. Beethoven, der sich als einer der ersten freien Künstler in ständiger Geldnot wähnte, hätte diese Summe vermutlich gut gebrauchen können. Denn auch der Künstler selbst begründet das Überirdische mit dem Allzuirdischen: »Alle meine Noten bringen mich nicht aus den Nöten, und ich schreibe Noten überhaupt nur aus Nöten.«[7]

Es scheint auf den ersten Blick keine sehr gute Idee zu sein, das Wertvollste, was wir haben, unsere Gedanken, dem flüchtigsten Medium anzuvertrauen, das es seit Menschengedenken gibt, dem Notizzettel. Der Notizzettel ist so vergänglich wie die Gedanken selbst. So schnell, wie er zur Hand ist, so schnell ist er auch wieder fort. Wo habe ich mir das noch mal aufgeschrieben? Der Notizzettel hat viele Orte, die alles eines gemein haben: aus dem Auge, aus dem Sinn. Er teilt damit den Friedhof alles Überflüssigen und alles Unangenehmen: das Vergessen – was, nebenbei bemerkt, ein denkbarer Beleg dafür ist, dass alles Unangenehme überflüssig ist. Notizzettel auf Kühlschranktüren, Notizzettel an Toilettenspiegeln, Notizzettel auf Landkarten, Einsatzplanungswänden und Spindtüren, Notizzettel mit Klebestreifen, gelocht und beringt, Notizzettel auf Blöcken, in losen Blättern, in Karteikästen oder in ihrer edelsten Form: als Notizbuch, das für seinen Besitzer einen so enormen Wert haben kann, dass etwa der Schriftsteller Bruce Chatwin im Verlustfall einen gigantischen Finderlohn auslobte. Was macht die besondere Geltung von etwas vorderhand so Unscheinbarem wie dem Notizzettel aus? Warum hat das Notieren die Geschichte des Menschen nahezu von seinen Anfängen an begleitet, alle historischen und medialen Wechselfälle schadlos überstanden? Wenn der Notizzettel der erste Container unserer Gedanken ist, dann ist es vielleicht gerade diese Nähe zum Gedanken, zum spontanen und wilden, zum ungeordneten und zufälligen Gedanken, die die Frage stellen lässt, wie es um die Nähe zum Denken bestellt ist: Liegt die Zettelwirtschaft, liegt die Ablage in kleine und kleinste Gedankensplitter uns deswegen so nahe, weil unser Denken selbst genauso ist: wild und spontan, ungeordnet und zufällig? Der Notizzettel bildet dann womöglich nahezu ideal die Art und Weise ab, wie wir denken. Unsere mentalen Vorgänge – das wird die Mediengeschichte des Notizzettels lehren, die darum auch eine Geistes- oder Mentalgeschichte ist – spielen sich folglich nicht in Form großer Abhandlungen, gelehrter Traktate oder ausufernder Romane ab, sondern im Kleinklein der Notizen und Zettel. Unser Hirn: ein Zettelkasten, und unser Denken: Zettels Traum.

 

Um hier den Nachweis zu erbringen, führe ich ein Begriffspaar ein, das sich an die Terminologie der strukturalistischen Linguistik anlehnt. Deren Begründer, Ferdinand de Saussure, unterschied die Sprache nach der »langue« als dem Sprachsystem, ihrem Potenzial oder ihrem Regelwerk einerseits und der »parole« als der tatsächlichen Manifestation oder Performanz der Sprache im gesprochenen oder geschriebenen Wort andererseits. Diese Unterscheidung erwies sich als ausgesprochen produktiv und führte zu weiteren Differenzierungen zum Beispiel auf der Bedeutungsebene, wo der Signifikant als das Bezeichnende oder Meinende vom Signifikat als dem Bezeichneten oder Gemeinten unterschieden wird. In der vorliegenden Untersuchung, die sich als medien- und kommunikationswissenschaftliche versteht und darum die Frage einerseits nach der Kommunikation oder der Kommunikabilität, andererseits nach der Medialität von Kommunikation in den Vordergrund rückt, wird ganz analog der Unterschied von Kommunikat und Kommunikant gemacht. Der Kommunikant ist die mitteilende Äußerung, während das Kommunikat das Mitgeteilte und Geäußerte darstellt. Der Kommunikant stellt eine Mitteilung, einen Inhalt zur Verfügung, aber erst wenn daraus ein Kommunikat wird, kommt Kommunikation zustande und kann Kommunikation gelingen. Dass diese beiden Sphären zu differenzieren sind, zeigt gerade der Notizzettel. Denn der Notizzettel, das ist die nächste Hypothese dieses Buches, stellt einen Kommunikanten ohne Kommunikat dar: Was auf dem Zettel als Notiz geäußert, festgehalten, niedergelegt ist, sieht nur wie ein Kommunikat aus, ist aber keins, weil ihm die Mitteilungsabsicht abgeht. Seine mediale und auch kommunikative Funktion ist eine andere, als sich anderen mitzuteilen. Das wird noch zu zeigen sein.

Der Notizzettel und seine große Schwester, das Notizbuch, unterscheiden sich vom Tagebuch, das als literarische Gattung ebenso wie der Brief längst etabliert und beschrieben ist, dadurch, dass sie keine Regelmäßigkeit und kein Ordnungssystem dergestalt kennen, dass etwa kalendarisch Einträge sortiert werden müssten. Indes können manche Tagebücher durchaus die Form von Notizbüchern einnehmen, und manches Notizbuch kann sich auch zum Tagebuch entwickeln. Der Notizzettel bietet Raum für den spontanen Geistesblitz, das Ungeplante, aber so, dass seine Möglichkeit doch vorgesehen und darum ein Zettel, ein Büchlein, ein Block und ein Schreibwerkzeug zuhanden, um es etwas heideggerisch auszudrücken und damit zu sagen: geplant sind. Die Hand, die Handschrift, auch das Handwerkliche werden beim Notizzettel auch noch eine Rolle spielen.

Der Notizzettel als »Aufschreibesystem« beschreibt zugleich seine Form und seinen Inhalt, er ist Hardware und Software. Wenn von der Nähe des Zettels zum auf ihm formulierten Gedanken auf die prinzipielle Nähe zum menschlichen Denken geschlossen wird, so ist damit offenkundig seine softwaremäßige Erscheinungsform gemeint, die Notiz selbst. Das lateinische Verb notare reicht mit seinem Bedeutungsspektrum von anmerken und aufschreiben bis zu wahrnehmen und beobachten und verweist damit schon auf die weite Funktionalität des Zettels und seinen wesenhaften Zusammenhang mit den Kernbereichen des menschlichen Denkens.

Was sich in all diesen Alla-breve-Formen des Schriftlichen andeutet, ist vielleicht jenem medientechnischen Apriori zu danken, für das insbesondere der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler sich stark gemacht hat. Dem Nietzsche-Diktum nachdenkend, das besagt: »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«,[9] hat Kittler viel Forscherfleiß in den Nachweis investiert, dass sprachliche und in Sonderheit literarische Inhalte in starker Abhängigkeit vom gewählten Medium stünden. Die Art des Notizzettels als Medium würde demnach jenen kurzen und kürzesten Formen sprachlichen und gedanklichen Ausdrucks die Formatierung und womöglich sogar den Inhalt vorgeben. Weil ein Zettel zuhanden ist, findet sich auch die Notiz, wird die Form geschaffen, wird eine Gattung kreiert. Im Gang der Untersuchung werden wir uns noch mit der Frage beschäftigen, ob das wirklich gilt. Jedenfalls lenkt diese Annahme den Blick auf den Notizzettel nicht so sehr als Inhalt, sondern als Container, als Material.

Wenn von der Mediengeschichte des Notizzettels die Rede ist, impliziert die Formulierung, dass es sich bei dem besagten Zettel überhaupt um ein Medium handle, dass er nicht nur Software, sondern eben auch ein Stück Hardware bildet, einen Untergrund, eine Unterlage, einen Stoff. Der Notizzettel besteht eben nicht nur aus der Notiz, sondern auch aus dem Zettel. Walter Porstmann, einer der Pioniere der Karteikunde in Deutschland, hat schon in den 1920er Jahren kritisch angemerkt, dass zwar das »Wesen der Schrift« sowie der »Entwicklung der Schreibwerkzeuge« medienhistorisch aufgearbeitet worden ist:

»Aber noch nirgends haben wir zusammenfassende Darstellungen, die das dritte Element des Schreibens behandeln, nämlich die Schreibfläche, und noch weniger kennen wir schließlich planmäßige Ordnung der Schreibfläche.«[10]

Hier hat sich wissenschaftshistorisch allerdings seit Porstmanns Zeiten allerhand getan. Der Materialität von Aufzeichnungssystemen hat die Medien- und Kommunikationswissenschaft seit geraumer Zeit einige Aufmerksamkeit gewidmet. Abraham A. Moles hatte bereits in den 1950er Jahren auf die Materialität von Kommunikation hingewiesen.[11] In den 1980er Jahren haben Hans Ulrich Gumbrecht und andere einen Schule machenden Sammelband zur Materialität der Kommunikation vorgelegt.[12] Friedrich Kittlers These von den Aufschreibesystemen sowie seine Studie über Grammophon, Film, Typewriter[13] haben ebenso wie Paul Virilios Krieg und Kino[14] und einige andere medienhistorische Arbeiten im Gefolge poststrukturalistischer Medientheorien die materielle Seite der Sinnproduktion offengelegt. Elizabeth Eisenstein hat in ihren Arbeiten zur »printing Revolution« gezeigt, wie der Buchdruck die schriftliche Kommunikation in der Gesellschaft verändert hat.[15] Markus Krajewski hat mit seiner Studie Zettelwirtschaft nicht weniger als die »Geburt der Kartei aus dem Geist der Bibliothek« herausarbeiten wollen.[16] Und neuere Arbeiten wie Till A. Heilmanns Textverarbeitung[17] oder Matthew G. Kirschenbaums Track changes: A literary history of word processing[18] haben einen Beitrag zur Theorie des Schreibens unter digitalen Bedingungen erbracht. Nur der Notizzettel, wiewohl das universellste aller Universalmedien, wurde einer medien- und kommunikationswissenschaftlichen Untersuchung bisher noch nicht unterzogen. Auch Werner Faulstich musste feststellen, dass das »Medium Blatt […] das mit Abstand am meisten vernachlässigte Kommunikationsmedium unserer Zeit« ist.[19] Und was ist ein Notizzettel anderes als ein unbeschriebenes Blatt oder gar nur ein Teil davon, eine Karte, ein Fetzen, ein Ausriss oder ein Schnipsel?

Dabei beweist die Tätigkeit des Notierens eine bemerkenswerte historische Konstanz. Das macht, wenn man so will, einen Teil ihrer subversiven Kraft aus: sich als der kleine mediale David nicht von den datenverarbeitenden Goliaths unterkriegen zu lassen. Die Mediengeschichte wird zeigen, dass das Notieren das menschliche Denken und Schreiben von Anbeginn an begleitet hat. Unser Schreiben hat sich aus unserem Notieren entwickelt. Allerdings wird meine Untersuchung ergeben, dass der Notizzettel als terminus und auch als apparatus technicus erst in einer ganz bestimmten historischen und medialen Konstellation auftauchen, wahrnehmbar werden konnte. Wir werden also den Nullpunkt des Schreibens auf Notizzetteln aufspüren müssen, um dem Zusammenhang von Schreiben und Denken auf den Grund zu gehen.

Der Notizzettel ist ein in seinen Inhalten zwar manchmal unzuverlässiger, in seiner Verfügbarkeit aber äußerst zuverlässiger Begleiter, was Datenbe- und -verarbeitung angeht. Das zeigt sich noch in den neuesten und aktuellen medientechnischen Volten, nämlich der Umkrempelung des Büroalltags. »Büros modernisieren«, behauptete zwar Friedrich Kittler, »heißt nur mehr: sie computergerecht umbauen und netzgerecht verschalten, also Chiparchitektur auf Innenarchitektur abbilden. Damit allerdings tritt die Herrschaft der Schreibtische in ihr Endstadium.«[20] In der etwas tristeren Bürorealität äußert sich dagegen die Subversion eher im Festhalten an analoger Dinglichkeit. So stellt Uta Brandes in ihrem Aufsatz über die »Digitalisierung des Büros« fest:

»Je nomadischer, ortsunabhängiger, gleichzeitiger und zeichenhafter die ehemaligen Büros werden, desto heftiger und beharrlicher wird die vom Verschwinden bedrohte oder bedroht gewähnte Dingwelt von den Arbeitenden rekonstruiert.«[21]

Diese Dingwelt kann auch beim Namen genannt werden:

»Vier Gegenstände, die das Büro herkömmlicher Art inkarnieren und es zugleich symbolisieren: der Schreibtisch – der Computer – die Topfpflanze – die Urlaubspostkarte.«

Hier wurde eine wesentliche, wenn nicht sogar die wichtigste Ingredienz ausgelassen: der meist quadratische und oft bunte Block für die Notizzettel oder das Abreißpäckchen mit den Post-its. Sie wurden schlicht vergessen, und das ist eine der typischen Eigenschaften des Notizzettels. Es muss sich bei diesem Vergessen um eine Form der Vernachlässigung durch Überanwesenheit handeln. Wenn ein Medium sich als Universalmedium bezeichnen darf, dann ist es der Notizzettel. Er ist überall. Alle Anwürfe eines »papierlosen Büros« und einer vollständigen Digitalisierung hat er überlebt. Wenn er dennoch in einer Beschreibung des Büroalltags keine Erwähnung findet, liegt das gerade an einer seiner wichtigsten Eigenschaften, die wir hier bereits konstatieren können und die eine weitere Hypothese dieses Buches darstellt: Medien sind zum Vergessen da.

Als die Softwareentwickler der Firma Microsoft für ihre bekannte digitale Officesuite ein Bürohilfsprogramm entwickelten, ließen sie Tausende von Schreibtischen fotografieren und bildeten dann ein Notizenprogramm als digitales Werkzeug nach jenem papiernen Überlebenden des analogen Zeitalters, der aus dem Büro und vom Schreibtisch offenbar nicht zu vertreiben war. Nach ihm wurde die Software, hinter der sich eine mächtige Datenbankanwendung verbirgt, auch benannt: OneNote. PC-Monitore, deren Ränder hinter Endlosketten von schlechthaftenden Haftnotizen verschwinden, belegen, dass noch in der Bürorealität des 21. Jahrhunderts die wirklich wichtigen Notizen lieber analog einem aus minderwertigem Klebstoff hergestellten Post-it und damit der potenziellen Löschung als der digitalen Speicherung anvertraut werden. Wobei, vielleicht ist das Speichern von Information die viel effektivere Form der Löschung?! Auch dies werde ich im Gang der Untersuchung zeigen: Nicht nur die Hardware, der Zettel selbst wird gerne und schnell vergessen, sondern auch und gerade das, was wir auf ihm notieren. Wir schreiben nicht etwas auf Notizzettel, um uns daran zu erinnern – wir schreiben es auf, um es zu vergessen. Medien sind nicht zum Erinnern da, Medien sind zum Vergessen da. Je universeller das Medium, umso universeller auch das Vergessen. So gesehen ist der Notizzettel für die größten und intensivsten Löschaktionen des kulturellen Gedächtnisses mitverantwortlich. Wo habe ich das noch mal aufgeschrieben?

Der Notizzettel passt vielleicht einfach in keine Schublade? Das ist vermutlich ebenso falsch. Nichts passt besser in Schubladen als Notizzettel. Schubladen sind einer der bevorzugten Aufenthaltsorte von Notizzetteln neben Schuhkartons, Zigarrenkisten, Archivbehältern oder Umzugskartons. Wenn man so will, ist die vorliegende Studie eine Übung in Schubladendenken. Es handelt sich allerdings um jene Schublade, in die all das Vermischte und Verstreute, all die Parerga und Paralipomena, die Schnipsel und Übrigbleibsel landen, die sich der Einsortierung in irgendeine andere wohlbeschriftete und wohlorganisierte Schublade entziehen.

Apropos Schreiben: Hier schreibt einer, der selbst viele Jahre als Journalist gearbeitet hat und dem es deswegen durchaus darum zu tun ist, seine Ansichten und Argumente anschaulich zu vermitteln. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum Teile dieser Abhandlung narrativ daherkommen. Geschichten sprechen (bzw. schreiben) nämlich nicht nur von Tatsachen und Ereignissen, sondern sie zeigen sie. Und das ist der große Vorteil der narrativen Methode. Der Moralphilosoph Bernard Williams ist in ganz anderem Zusammenhang und auf vermutlich klügere Art ähnlich vorgegangen. In seinem Buch Wahrheit und Wahrhaftigkeit nennt er dies »genealogische Methode« und beruft sich geradewegs auf Friedrich Nietzsche (was Denkerinnen[1] der analytischen Schule der Philosophie sonst nicht so häufig tun). Diese Methode verzichte auf die üblichen »Vermeidungstaktiken«, die jeden Anschein unterbinden wollen, »hier habe ein Autor einem Leser eine Behauptung mitteilen wollen«.[22] Auch ich möchte meine Gedanken über das Schreiben und Denken aus Geschichten heraus entwickeln und dabei bestimmte Phänomene rund um das Notieren zeigen. Dabei handelt es sich um faktuale Geschichten, die ich nach bestem Wissen und Gewissen aus Quellen geschöpft habe. Da dieses Buch bei aller Narrativität einen wissenschaftlichen Anspruch hat, kann es nicht immer nur erzählerisch zugehen. Einige Abschnitte sind darum mit dem Vermerk »Theorie des Notizzettels« versehen, und hier geht es, nomen est omen, etwas theoretischer zu. Aber vielleicht ist Theorie ja auch nur eine spezifische Form, eine Geschichte zu erzählen, und vielleicht weist die narrative Methode ja sogar über dieses Buch hinaus: Charles Taylor formuliert die Ansicht, wir müssten »das eigene Leben unbedingt in narrativer Form – als ›Suche‹ – begreifen«. Wenn wir unsere eigene Existenz am Guten ausrichten und in moralischer Hinsicht deuten wollten, könnten wir gar nicht anders, als »unser Leben als Geschichte sehen«.[23] Die Geschichten der anderen wären dann wie ein Spiegel, dessen Reflexionen auch das eigene Leben erhellen. Das mag auch für die Geschichte des Notizzettels gelten, die ja vor allem eine Geschichte von Menschen ist, die etwas zu notieren hatten.

Bücher schreiben sich ja nie alleine. Ich muss darum einigen Personen pflichtschuldigen Dank entrichten, ohne die dieses Buch so nie zustande gekommen wäre: Zuerst danke ich allen Autoren, die ich in diesem Buch zitieren durfte – und mehr vielleicht noch jenen, die ich nicht wörtlich zitiert habe, die mir aber mit ihren Büchern, Studien und Untersuchungen auf die Sprünge geholfen haben. Ich habe im laufenden Text fast ausschließlich wörtliche Zitate in den Fußnoten kenntlich gemacht und alle weiteren Bezugnahmen, Verweise und Relationen fast nie explizit ausgewiesen. Ziel war es, einen möglichst lesbaren Text herzustellen, der sich nicht nur an Fachwissenschaftlerinnen wendet. Und all diese exuberanten Fußnoten- und Verweissysteme in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, was sind sie häufig anderes als Kommunikanten ohne Kommunikat? In diesem Sinne habe ich auch die meisten fremdsprachigen Zitate stillschweigend ins Deutsche übersetzt, sofern nicht ohnehin deutsche Übersetzungen vorlagen, sowie einige ältere Quellen sprachlich behutsam modernisiert.

Wo mehrere Zitate aus derselben Quelle aufeinanderfolgen, habe ich nur den ersten Verweis kenntlich gemacht und mir die restlichen gespart.

Sodann danke ich Olaf E. Müller von der Humboldt-Universität zu Berlin, der dieses Buch bei Rotwein und Gugelhupf mit auf den Weg gebracht hat, Thorsten Lorenz von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg als Erstleser und wichtigem Ratgeber, Anreger, Kritiker und Freund, Thomas Schmid, Heike Gfrereis, Janet Dilger und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach, die mir bei Recherchen und Scans geholfen haben, Bernd Rauschenbach für die Privatführung durchs Arno-Schmidt-Haus in Bargfeld und einige Insiderinformationen zu Schmidts Zettelkästen, Hans Medick aus Göttingen danke ich für die Anregungen zu Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten, Johannes Schmidt von der Uni Bielefeld für Hinweise zu Luhmanns Zettelkasten und die Scans einiger wichtiger Karteikarten, Gert Scobel für seine Notizbücher, auch wenn ich mich mit ihnen nicht mehr näher auseinandersetzen konnte, Hartmut Ihne als Präsidenten der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg für freundschaftlich-kollegiale Unterstützung und die eine oder andere philosophische Anregungen, allen meinen Kolleginnen und Kollegen an meiner aktuellen und den früheren Hochschulen, an denen ich tätig war, für vielfältige Anregungen, Tipps und Kritik, außerdem danke ich auch allen anderen Bildgebern und Rechteüberlassern sowie allen, die ich jetzt vergessen habe namentlich zu erwähnen und die mich mit Notizzetteln und Hinweisen jeder Art versorgt haben. Filiz Kalmuk und Marlene Nunnendorf von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg danke ich für ihre Hilfe bei der Manuskripterstellung und den Bildrecherchen, meinem wunderbaren Lektor Alexander Roesler für die guten Nerven, die guten Gespräche und das ein oder andere Wiener Schnitzel. Einen besonderen Dank möchte ich jener Buchhändlerin im Souvenirladen in Vinci direkt gegenüber dem Lionardo-Museum entrichten, die mir eine alte Ausgabe der Märchen und Anekdoten Lionardos einfach schenkte, weil ich der Einzige gewesen sei, der sich in den letzten dreißig Jahren dafür interessiert habe. Schließlich danke ich Christel und Fridolin für ihre unfassbare Geduld mit einem kauzigen Autor, der mit dem Schreiben nie fertig wird.

Köln im Juni 2020

Die Erfindung des Notizzettels

Die meisten Probleme entstehen bei ihrer Lösung.

(Lionardo da Vinci)

Was für ein Jahr, dieses Jahr 1452! Johannes Gensfleisch zu Gutenberg druckte in Mainz seine 42-zeilige Bibelausgabe und damit das erste, mit beweglichen Lettern hergestellte Buch, mit Friedrich III. wurde der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reichs vom Papst in Rom gekrönt (der dann allerdings von der Nachwelt als »Reichsschlafmütze« bezeichnet wurde), der portugiesische Seefahrer Diogo de Teive entdeckte die zu den Azoren gehörenden Inseln Flores und Corves, Papst Nikolaus V. erlaubte die Versklavung dunkelhäutiger Menschen, der osmanische Sultan Mehmed II. begann die Eroberung Konstantinopels, in dem kleinen toscanischen Dörfchen Vinci wird der uneheliche Sohn des Florentiner Notars Ser Piero namens Lionardo geboren und, schließlich, der Notizzettel erfunden.

Die beiden letztgenannten Ereignisse hängen umständehalber miteinander zusammen. Und beide haben mit dem erstgenannten historischen Faktum, der Erfindung des Buchdrucks, zu tun. Womöglich hängen ja alle Ereignisse irgendwie miteinander zusammen, auf offenkundige oder auf geheime Art und Weise. Womöglich ist dies aber auch nur ein Gedanke, der selbst tief im Gutenberg-Zeitalter der Bezüge, Verweise, Knoten, Links und Relationen steckt. Man kann jedenfalls Lionardo (so schrieb er sich selbst, und unter diesem Namen wurde seine Geburt von seinem Großvater vermerkt, und zwar wo? Natürlich auf dem Rücken eines alten Notizbuches) da Vinci mit Fug und Recht als den Erfinder und den frühen Meister des Notizzettels bezeichnen. Heute ist Lionardo als Künstler und Maler, als Erfinder und Konstrukteur berühmt. Allerdings war er als öffentlicher Künstler nicht sehr produktiv. Nur etwa fünfzehn Gemälde, die nachweislich von ihm selbst geschaffen wurden, sind erhalten, einige davon in sehr schlechtem oder nie vollendetem Zustand. Von all seinen wirklichen und angeblichen Erfindungen hat er nahezu nichts selbst realisiert. Im heutigen Mailand ist im Stadtteil Brera nahe der Kirche San Marco der Überrest einer Schleuse aus dem 15. Jahrhundert zu besichtigen, die auf Lionardo zurückgehen soll. Es handelt sich mutmaßlich um »die einzige Erfindung des Meisters […], die bis in unsere Zeit überdauert hat«.[24]

Wenn Lionardo da Vinci etwas war, dann war er ein Schreiber. Über 10000 Blätter, Bögen, Entwürfe, Fetzen, Schnipsel, Skizzen, Papiere, Seiten und Zettel hat er hinterlassen. Und das ist nur der Teil seiner vielen Aufzeichnungen, der uns erhalten ist. Von anderen Kladden, Notizbüchern und Codices mit seinen Papieren wissen wir; sie sind aber verschwunden, zerstreut, auseinandergerissen, verscherbelt oder schlicht im Laufe der Zeit auf die ein oder andere Art vernichtet worden. Wie groß die Zahl jener Lionardo’schen Aufzeichnungen ist, von denen wir keine, na ja: Notiz haben, ist unabschätzbar.

Zeit seines Lebens hat Lionardo Aufzeichnungen gemacht. Und er hat alles beschrieben, was man nur irgendwie als Notizzettel verwenden kann. Im Herbst 1517 besucht Kardinal Luigi von Aragon, ein Enkel des Königs von Neapel, mit seinem Gefolge den gealterten Lionardo in seinem Schlösschen an der französischen Loire. Sein Kaplan und Sekretär Antonio de Beatis hat über diesen Besuch ein, wie Lionardo-Biograph Charles Nicholl notiert, etwas »geschwätziges Reisetagebuch« verfasst, in dem er sich auch über Lionardos Notizensammlung äußert:

»Dieser Edelmann hat viel über Anatomie geschrieben, mit zahlreichen Abbildungen von Körperteilen wie den Muskeln, Nerven, Adern und den Windungen der Eingeweide, so dass es möglich ist, den Körper des Mannes und der Frau in einer Weise zu verstehen, wie es noch niemand zuvor getan hat. All das sahen wir mit unseren eigenen Augen, und er sagte uns, er habe schon mehr als dreißig Leichen seziert, Männer und Frauen jeglichen Alters. Er hat auch, wie er selbst sagte, eine unendliche Menge von Bänden über die Natur des Wassers, über diverse Maschinen und andere Dinge geschrieben, alle in der Volkssprache, und wenn man sie ans Licht brächte, wären sie nicht nur eine nützliche, sondern auch eine vergnügliche Lektüre.«[25]

»Oculatamente« – mit eigenen Augen: Mit dieser Formulierung hat Antonio de Beatis unabsichtlich ein Verfahren beim Namen genannt, das wahrhaft lionardesk ist und auf das beginnende neue Zeitalter hinweist. Der eigene Augenschein, die empirische Weltwahrnehmung wird zu einer eigenen Instanz. Was man selbst gesehen hat, »mit eigenen Augen«, beglaubigt die Tatsachen, die die Welt ausmachen. Lionardos Notizen, die er selbst nie veröffentlicht hat, aber offensichtlich dennoch öffentlich machte (wenn auch nur einer sehr begrenzten, oder darf man sagen: »privaten« Öffentlichkeit), werden durch sein eigenes Verfahren beglaubigt. Für den dahintersteckenden schrägen Öffentlichkeitsbegriff hat Jakob Jünger jüngst den Ausdruck »unklare Öffentlichkeit« geschaffen, für den er die paradoxe Umschreibung fand: »Nicht alles, was öffentlich ist, ist öffentlich.«[26] Jünger hebt damit auf aktuelle Erscheinungen der Onlinekommunikation ab. Mir scheint, er habe damit auch ganz gut eine Metapher für den Öffentlichkeitsstatus von Notizzetteln geschaffen.

Lionardo bastelte sich aber nicht nur Notizbücher. Er beschrieb alles, was sich irgendwie beschreiben ließ. Bei seinem künstlerisch und wirtschaftlich erfolglosen Romaufenthalt von 1513 bis 1515 trifft er seinen Halbbruder Giuliano. Dieser hatte von seiner Frau Alessandra, die mit ihrem Kind in Florenz verblieben war, einen rührenden Brief erhalten, in dem sie auch Grüße an den »eccellentissimo e singularissimo«, den herausragenden und einzigartigen Schwager ausrichten lässt. Offenbar hat Giuliano dieser Grüße wegen den Brief an Lionardo übergeben, und so landete dieser zwischen dessen Papieren. Für Lionardo war der Brief aber nicht als nostalgisches Souvenir an seinen Bruder aufhebenswert, sondern weil er den freien Raum am Ende des Briefs für eigene Notizen zur Geometrie nutzte. Auf der Rückseite des Briefes vermerkt er sogar noch, dass er ein anderes seiner Notizbücher dem Messer Battista dell’Aquila, dem privaten Kämmerer des Papstes, geliehen hatte.

Wenn ich im Angesicht von Lionardos Notizuniversum von der Arbitrarität der Beschreibstoffe spreche, hebe ich damit auf eine historische Aufzeichnungspraxis ab, die, im Übergang von der Manuskriptzeit, die man auch Manuzän nennen könnte, zur Typoskriptzeit und zur Gutenberg-Galaxis, dem Typozän, für das alltägliche Schreiben noch keine Regeln und Vorkehrungen kannte, keine Industrien und keine Produkte. Aus der antiken Tradition hatten schon die mittelalterlichen Schreiber die Wachstäfelchen übernommen. Diese tabulae ceratae oder griechisch hypomnêmata waren Holzschindeln, die einseitig oder auch beidseitig mit einer Mischung aus Bienenwachs, Kiefernharz und Ruß beschichtet waren und mit einem Griffel (lat. stilus) beschrieben wurden, indem mit der Spitze ins weiche Wachs gekratzt wurde. Mit einem Spachtel ließ sich die Oberfläche wieder glätten und die Beschriftung löschen. Auf diese Weise waren die Wachstafeln multipel verwendbar. Aus der Antike ist beispielsweise von Cicero, Seneca oder Augustinus überliefert, dass auf solchen Tafeln Briefe überbracht wurden, die vom Empfänger wieder gelöscht wurden, um sogleich als Antwortmedium herzuhalten. Mehrere Tafeln ließen sich mittels Kordeln oder Scharnieren auch zu Klappbüchern zusammenbinden. Ein Buch aus zwei Tafeln war ein Diptychon, eines aus dreien ein Triptychon und ein vielteiliges ein Polyptychon. Ein solches gebundenes Buch nannte sich Codex im Unterschied zum Volumen, also der Buchrolle, in der längere Schriften aufgezeichnet und auch gespeichert wurden. In der Spätantike löste dann der Codex die Schriftrolle als typisches Buchmedium ab, die Gestalt des Notizbuchs hat sich also medienhistorisch gegen den älteren Buchtypus durchgesetzt. Wenn heute Schauspielerinnen eine »Rolle« lernen oder wenn, vor allem im englischen Sprachraum, mehrbändige Schriften als »volumes« bezeichnet werden, rekurrieren wir noch auf den antiken Mediengebrauch.

So wie die Aufzeichnungen auf den tabulae ceratae flüchtig sind, dienen sie auch nur dem flüchtigen Schreiben, sie sind ein Verkehrs-, aber kein Speichermedium. Die Botschaften Lionardos waren aber nicht ausschließlich flüchtiger Natur. Darum schuf er sich seine eigenen Medien. Als Beschreibstoff nahm er alles her, was sich überhaupt beschreiben ließ. Die Herstellung von Tinten und Farben besorgte er als Handwerker und Künstler professionell selbst, und er band auch seine Aufzeichnungen selbst zu kleinen oder größeren Codices, Libretti, libricini (Büchelchen) oder taccuini (Heftchen). Dazu schlug Lionardo die Papiere in Pergament oder Leder ein und fixierte diesen Umschlag mit kleinen hölzernen Keilen, die durch die Schleifen einer Kordel gezogen wurden. Die Formate reichten vom verbreiteten Oktavformat bis hin zu miniaturisierten Taschenbuchformaten, die nicht größer als ein Kartenspiel waren. Der Künstler folgte damit gängiger Medienpraxis. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert war es vor der Industrialisierung auch des Druckwesens durchaus üblich, von der Offizin die beschriebenen oder gedruckten Bögen ungebunden zu erhalten und selbst für einen Einband zu sorgen. Deswegen finden sich in älteren Bibliotheksbeständen auch äußerst disparate Schriften zwischen den Buchdeckeln: Gebunden wurde auch, was nicht zusammengehörte.

Abb. 2: Lionardos Codex Forster

Lionardo trug offenbar praktisch immer ein Notizbuch bei sich, das er für schriftliche Aufzeichnungen oder für Skizzen nutzen konnte, häufig für beides zugleich. Ein Augenzeuge berichtet aus Lionardos Mailänder Zeit von einem »kleinen Buch, das stets an seinem Gürtel hing«.[27] Als er 1502 durch das Städtchen Cesena läuft, hat Lionardo offenbar ein solches Büchelchen bei sich, denn rasch wirft er eine kleine Skizze einer Alltagsbeobachtung auf Papier und gibt ihr eine Überschrift, die mittelbar auch über das Zustandekommen der Aufzeichnung Auskunft gibt: »So tragen sie in Cesena Trauben.« Man sehe ihn praktisch »wie einen Reporter« durch die Gassen schlendern, fügt Charles Nicholl an und findet damit die Formel für den spezifischen Empirismus Lionardos, seine Lehre vom eigenen Augenschein.[28] Ein Künstler solle, führt Lionardo andernorts aus, stets gewahr und in der Lage sein, schnell eine Skizze anzufertigen, »wie es die Umstände erlauben«. Hierbei geht es mehr um das Tempo als um die Qualität der Ausführung, und Lionardo gibt auch noch eine Anweisung für das Skizzieren, das mehr wie das Tutorial eines Comicstrips oder einer Clipart als wie das einer Studie erscheint:

»Man muß sie [die Menschen] auf den Straßen und Plätzen und auf freiem Feld beobachten und sie sich in knappen Umrissen aufzeichnen, das heißt, statt eines Kopfes mache ein O und statt eines Armes eine gerade oder gekrümmte Linie, und dasselbe gilt für Beine und Rumpf; und wenn man nach Hause kommt, führe man diese Aufzeichnungen in vollendeter Form aus.«[29]

Auch Vasari, der erste und zeitgenössische Biograph des großen Renaissancekünstlers, weiß von Lionardos Schreibwütigkeit, seiner jederzeitigen Schreibbereitschaft und täglichen Schreib-, Mal- und Kritzeltätigkeit zu berichten. Für die Existenz der Notizsammlungen kann Vasari eigene Augenzeugenschaft für sich reklamieren, und auch die völlige Disparatheit der Sujets, die Lionardo beschäftigten und die er in Vasaris Augen offenbar total inkohärent zu Papier brachte, bemerkte er. Vielleicht fühlte der Biograph aber auch nur die eigene intellektuelle Unterlegenheit angesichts des so immensen wie ingeniösen Ausflusses an Gedankenblitzen:

»Täglich verfertigte er Modelle und Zeichnungen, wie man mit Leichtigkeit Berge abtragen und durchbrechen könne, um von einer Ebne zur andern zu gelangen; wie mit Winden, Haspen und Schrauben große Lasten aufzuziehen wären, in welcher Weise man Seehäfen reinigen, und durch Pumpen Wasser aus tiefen Gegenden heraufholen könne. Solchen schwierigen Dingen sann er ohne Unterlaß nach, und es finden sich von diesen Gedanken und Bemühungen eine Menge Zeichnungen, deren ich viele gesehen habe.«[30]

Lionardo starb im Jahr 1519 im Château du Cloux (heute Clos Lucé) in Amboise, das ihm der französische König Franz I. überlassen hatte. Seinen gesamten schriftlichen Nachlass hinterließ er laut Testament seinem Schüler Franceso Melzi. In einer Holzkiste, die so schwer war, dass sie von zwei Männern getragen werden musste, ließ der Mailänder Patriziersohn Melzi den schriftlichen Nachlass seines Meisters zum Familienlandsitz in Vaprio d’Adda am Fuße der lombardischen Alpen tragen. Die Villa Melzi war auch zu Lebzeiten Lionardos schon einmal Aufbewahrungsort seiner Notizen. In der Zeit zwischen 1511 und 1513, in den Wirren der oberitalienischen Kriege, zog der maestro sich mit seinem Schüler hierher zurück. Genau in dem Turm, in dem Lionardo bei seinem Aufenthalt residierte, richtete Melzi nach seiner Wiederkehr sein Lionardo-Archiv ein, das ein Gedenkort war, vielleicht ein Denkmal, womöglich sogar ein Lionardo-Tempel oder, wie Stefan Klein schreibt, das »Allerheiligste«.[31] Er beschäftigte zwei Sekretäre, mit denen zusammen er Ordnung in die schier unüberschaubare Menge an Zetteln und Notaten bringen wollte und denen Melzi wenigstens einen Bruchteil von Lionardos Ideen zu diktieren versuchte. Eine Umschrift von Lionardos Aufzeichnungen war auch deswegen dringend geboten, weil der maestro seine Notizen in einer Geheimschrift verfasst hatte: Lionardo schrieb spiegelverkehrt von rechts nach links und band seine Notizbücher, so er sie überhaupt gebunden hat, von hinten nach vorne. Einer spontanen und flüchtigen Lektüre verwehrten sich die handschriftlichen Notizen darum von vornherein. Melzi empfing auch großzügig und bereitwillig Besucher, denen er seinen Lionardo-Schatz vorführte, was den Ruf dieser Aufzeichnungen, jedenfalls in den Kreisen der Eingeweihten und Kennerinnen, merklich erhöhte.

Wenn Melzi an der selbstgestellten Aufgabe, aus den unzähligen Notizen Lionardo da Vincis druckbare Manuskripte und damit letzten Endes im Druck veröffentlichte Werke herzustellen, gescheitert ist, hat er als gelehriger Schüler nur das Scheitern seines Lehrers und des Autors der Notizzettel nachempfunden. Auch wenn einzelne Notizbücher und Passagen zusammenhängende, kohärente Texte darstellten, war das überwältigende Gros der Aufzeichnungen Lionardos ein disparates Textmonster, das sich der kohärenten Zusammenstellung und Drucklegung eindrucksvoll widersetzte. Aus heutiger Sicht, da wir hypertextuelle und in Schichten, Überschreibungen und Palimpsesten organisierte Textsysteme kennen und wenn schon nicht meistern, dann doch bearbeiten können, erscheinen uns Lionardos Notizen nicht mehr so fremd und unbeherrschbar, wie sie Francesco Melzi und seinen Zeitgenossinnen vorgekommen sein müssen, sondern in gewissem Maße aktuell und modern. Lionardos Notizen sind deswegen noch nicht die Vorläufer heutiger moderner, postmoderner und neomoderner oder modernistischer Aufschreibesysteme, denn dazu fehlt bei der verschlungenen und disruptiven Überlieferungsgeschichte dieser Notizblätter die klare Sukzession. Aber sie sind doch die Blaupause für die aktuellen und die zukünftigen Formen des Schreibens und Notierens, die in ihrer Komplexität die Ordnung einer modernen Welt und eines modernen Denkens nachzeichnen wollen, die selbst womöglich stetig an Komplexität zunehmen. Francesco Melzi schaffte es in jahrzehntelanger Beschäftigung mit den Notizsammlungen Lionardo da Vincis gerade mal, einen einzigen halbwegs kohärenten Text als Manuskript herzustellen, der später Basis für den 1651 erstmals in Paris im Druck veröffentlichten trattato della pittura (Traktat über die Malerei) darstellte. Als Melzi 1570 hochbetagt verschied, hinterließ er Lionardos Zettelwerk seinem Sohn Orazio, dem hingegen jedes Geschick und wohl auch jedes Verständnis für den Umgang damit abging. Orazio Melzi trägt die Verantwortung dafür, dass der Nachlass Lionardo da Vincis in alle Winde zerstreut wurde, und wer heute das schriftstellerische Werk des Florentiners mit eigenen Augen, »oculatamente«, inspizieren möchte, muss eine Weltreise antreten. Der Hauslehrer der Familie Melzi konnte 13 Bände von Lionardos Aufzeichnungen entwenden und an den Großherzog der Toscana verscherbeln. Ein weiteres großes Konvolut an Notizen Lionardos, insgesamt über 2500 Blätter, ging an den Bildhauer Pompeo Leoni, der ihnen mit Schere und Kleber auf den Leib rückte. Die Disparatheit der Zettel und ihrer Inhalte weder verstehend noch beherrschend, schnitt er vermeintlich Zusammengehöriges aus und klebte es auf frische Bögen, die er wiederum zu eigenen neuen Konvoluten zusammenband. Nach Leonis Tod im Jahr 1608 ging jener Teil von Lionardos schriftlichem Erbe, der sich zu diesem Zeitpunkt noch in seinem Besitz befand, an den Grafen Galeazzo Arconati, der ihn 1637 der Biblioteca Ambrosiana in Mailand überließ. Der heute noch dort vorhandene Teil der Notizen wird als Codex Atlanticus bezeichnet, umfasst 1119 Bögen und gilt als einer der wichtigsten Teile des Textnachlasses Lionardo da Vincis. Der Name des Codex leitet sich nicht von dem Ozean her, sondern vom sogenannten großen Atlasformat, da die Bögen eine Höhe von mehr als 60 cm haben, weswegen der Bibliothekar Baldassare Oltrocchi das Konvolut 1780 als »codice in forma atlantica« bezeichnete. Es enthält viele der heute berühmten Darstellungen von Flugmaschinen, Kriegsgerät und anderen technischen Erfindungen, die Lionardo auf dem Papier ersonnen hat.

Andere Teile aus Lionardos hinterlassenem Zettelkonvolut sind buchstäblich in alle Winde zerstreut und heute auf praktisch allen Erdteilen wiederzufinden. Wichtige Notizbücher Lionardo da Vincis landeten auf Windsor Castle und in der British Library, im Pariser Institut de France, im Vatikan oder in New York City.

Die Geschichten und Anekdoten von Verlust und stückweisem Wiederauffinden Lionardo’scher Manuskripte beleuchten drastisch den gewandelten Stellenwert von Notizsammlungen und handschriftlichen Aufzeichnungen und können darum als erster tentativer Beleg für eine der in diesem Buch vorgestellten Thesen dienen, dass nämlich Medien zum Vergessen da sind und nicht zum Erinnern. Dies mögen drei solcher Lost-and-Found-Geschichten illustrieren:

Der Codex Windsor wurde im 17. Jahrhundert von dem sammelwütigen englischen König Karl I. erworben. Er enthält vor allem die berühmten anatomischen Skizzen Lionardos. In den Wirren des englischen Bürgerkriegs wurde diese Handschrift in einer schweren Holzkiste verstaut, wo sie für über 100 Jahre schlicht vergessen wurde. Ähnlich erging es einer Sammlung rätselhafter Manuskripte, die heute als Codex Madrid bezeichnet werden. Wie diese Lionardo’schen Notizbücher in den Bestand der Biblioteca Nacional in Madrid gelangt sind, ist bis heute ungeklärt. Die mehr als 700 Bögen, die auf zwei Bände verteilt sind, waren seit dem Jahr 1866 im Madrider Bibliothekskatalog aufgeführt, aber nicht auffindbar. Erst der amerikanische Romanist Jules Piccus konnte sie 1967 durch einen glücklichen Zufall wieder aufspüren.

Dieses Vergessen ist symptomatisch und zeichnet eine wesentliche Medienfunktion nach, denn was aufgeschrieben ist, kann vergessen werden, und nichts ist vergesslicher und vergessenswerter als Notizzettel. Ergo: Medien sind nicht zum Erinnern da, Medien sind zum Vergessen da. Das Dingsymbol dieses Vergessens ist jene schlichte Holztruhe in Windsor Castle. Im konkreten texthistorischen Fall sprechen die vergessenen Lionardo’schen Notizzettel für das fehlende Bewusstsein des Werts von Autographen und Unikaten, das sich über die Jahrhunderte der modernen Mediengeschichte erst bilden musste und auch mit der Apotheose eines bestimmten Künstlertyps zu tun hat, an der Lionardo nicht ganz unbeteiligt war. Der Gebrauchswert dieser Notizen allein schien zu gering, so dass der Tauschwert und damit die Holzkiste mit den Zetteln in den Keller ging.

Ganz anders stellen sich Wert und Wirkung des Zettelnachlasses Lionardo da Vincis im Ausgang des 20. Jahrhunderts dar. Der Codex Leicester enthält 18 Bögen, die jeweils mittig gefaltet und beidseitig beschrieben sind, also ein Manuskript von 72 Seiten, das 1980 von einem amerikanischen Industriellen ersteigert wurde. 1994 landete Lionardos Zettelsammlung erneut beim Auktionshaus Christie’s und wurde für die Summe von 30,8 Millionen US-Dollar vom Gründer des Softwarehauses Microsoft, Bill Gates, erstanden, der noch heute der Eigentümer ist. Mit der Auktionssumme ist der Codex Leicester die teuerste jemals verkaufte Handschrift der Welt. Der Notizzettel als nichtiges und wertloses Medium? Davon kann wohl seitdem keine Rede mehr sein.

Viele Notizen Lionardos bereichern heute als Einzelblätter die Bibliotheken und Museen in aller Welt, weil Bibliophile, Büchernarren und Langfinger durch die Jahrhunderte die ursprünglichen Sammlungen gefleddert haben. Kaum abschätzbar ist, wie viele Notizzettel Lionardos komplett verschwunden sind. Martin Kemp schätzt in seinem Leonardo-Buch, dass zwischen 25 und 80 Prozent des Nachlasses Lionardo da Vincis verloren gegangen sind.[32] Lionardo da Vincis Notizzettel sind nicht nur als Werk ein disparates Konvolut verstreuter und zerstreuter Bemerkungen, sie institutionalisieren auch nach dem Ableben ihres Schöpfers ihr eigenes Schicksal, indem sie auseinandergerissen, fragmentiert und aufgelöst und schließlich in alle Winde zerstreut werden. Ihre Erinnerungsfunktion wird schon dadurch erheblich in Mitleidenschaft gezogen, dass diese Notizen als Ganzes nicht mehr erinnerlich sind, ein Angriff auf das kulturelle Gedächtnis.

Schreiben Drucken Veröffentlichen

Nichts von dem, was Lionardo notiert hat, hat er jemals veröffentlicht. Er tat sich ja schon schwer damit, seine Gemälde der Öffentlichkeit preiszugeben. Seine wichtigsten Bilder, unter anderem die Mona Lisa, befanden sich bei seinem Tod noch in seinem Besitz, er hat sie von Florenz querweltein bis nach Frankreich mitgeschleppt. Umso schwerer tat er sich mit seinen Notizbüchern und Zetteln. Für seinen Renaissance-Biographen Vasari war Lionardo darum der Inbegriff des vergeudeten Talents, des Schludrians, des Nicht-fertig-Bringers, des buchstäblich Unvollendeten und Unvollendenden. So hebt seine Lionardo-Vita mit der Bemerkung an, »daß er viele Dinge unternahm und, begonnen, wieder liegen ließ«. Später stellt er fest: »Lionardo unternahm vielerlei zum Verständnis der Kunst, beendete aber nichts«, um dann noch die intrikate Interpretation hinterherzuschieben: »es schien ihm, die Hand könne der Vollkommenheit, die er mit den Gedanken erfaßte, nichts mehr hinzufügen, sintemal er sich in der Idee einige feine, wunderbare Schwierigkeiten zu schaffen pflegte, welche die geschicktesten Hände nicht auszuführen vermocht hätten«.[33]

Gerade aber auch diese Worte in eine abschließende Gestalt zu bringen, tat Lionardo da Vinci sich lebenslänglich schwer. Wer in und mit Zetteln arbeitet, der will eben nicht finalisieren, sondern sich verzetteln. Abschlüsse und Enden sind das Gegenteil von Zetteln. Dabei war es durchaus nicht so, dass Lionardo sich nicht hin und wieder mit dem Gedanken beschäftigt hätte, seine Aufzeichnungen zu publizieren oder doch wenigstens aus der enormen Menge des Materials Auswahlen zu destillieren und in Buchform zu veröffentlichen:

»Ob ich all diese Eigenschaften [die ein Erforscher des Körpers braucht] besessen habe oder nicht, werden die 120 Bücher, die ich verfasst habe, mit einem klaren ›Ja‹ oder ›Nein‹ entscheiden. Ich bin dabei weder durch Gewinnsucht noch durch Nachlässigkeit behindert worden, sondern nur durch Zeitmangel. Lebe wohl!«[34]

Auf einem anderen Notizzettel wird deutlich, dass Lionardo sich Mühe gab, Ordnung in seine Aufzeichnungen zu bringen, sich Rubriken überlegte und Einzelblätter zu Sammlungen binden lassen wollte:

»Das Buch über die Wissenschaft von den Maschinen geht dem Buch ›Von den Nutzanwendungen‹ voraus. Laß deine Anatomiebücher binden!«[35]

Im Codex Windsor findet sich eine Anmerkung zu seinen anatomischen Studien, die darauf hindeutet, dass er speziell diese Arbeiten als Buch gedruckt sehen wollte, und seinen Nachlassverwaltern auftrug: »Ich markiere hier, wie die Zeichnungen ordnungsgemäß nachgedruckt werden sollen, und bitte Euch Nachfolger, dass der Druck nicht aus Knausrigkeit …«[36] Hier bricht die Notiz mitten im Satz ab.

Mit der Orts- und Zeitangabe »Begonnen in Florenz, im Haus von Piero di Braccio Martelli, am 22. März 1508« gibt Lionardo einen Hinweis auf seine redaktionelle Tätigkeit, mit der er des Wusts der Notate Herr werden wollte. Allerdings scheint er in dieser späteren Lebensphase die Hoffnung auf inhaltliche Kohärenz schon aufgegeben zu haben und schreibt, leicht resignativ, von einer »Sammlung ohne Ordnung«:

»Dies soll eine Sammlung ohne Ordnung sein, ein Auszug aus vielen Schriften, die ich abgeschrieben habe in der Hoffnung, sie später an den gegebenen Stellen einzuordnen, je nach den Stoffen, die sie behandeln.«[37]

Lionardo hatte also durchaus Publikationsabsichten. Wenn es doch nicht dazu kam, kann man davon ausgehen, dass eine Strategie dahintersteckte. Man könnte Lionardo mit dieser Nicht-, Anti- oder Depublikationsstrategie in eine Reihe mit einigen anderen großen Menschheitsgestalten stellen. Auch ein Sokrates oder ein Jesus haben nichts Publiziertes hinterlassen. Doch das führt gerade aus medialen und medienwissenschaftlichen Gründen in die Irre: In Zeiten der Manuskriptkultur war der Vorgang des Veröffentlichens etwas ganz anderes als im zu Lionardos Zeiten anbrechenden Typozän. Es gehört auf einmal in den Möglichkeitsraum eines schöpferischen Menschen um 1500, überhaupt ein Buch drucken zu lassen und über die Möglichkeit einer Veröffentlichung nachzudenken, die auch eine nennenswerte Verbreitung findet. In der mediengeschichtlichen Epoche davor hieß Veröffentlichung nicht automatisch Verbreitung, und der Kreis derjenigen Menschen, die eine Öffentlichkeit als Adressatin der Ver-Öffentlichung ausmachten, war recht überschaubar. Schon das ist ein Epochenunterschied des Typozäns im Vergleich zum Manuzän.

Lionardo hat seine Notizen nicht nur nicht veröffentlicht, er hat auch einiges unternommen, um sie vor fremden Augen zu schützen. Seine Handschrift ist, wie gesagt, nicht rechts-, sondern linksläufig, das heißt, er hat spiegelverkehrt von rechts nach links geschrieben. Man kann immer wieder lesen, das habe damit dazu tun gehabt, dass Lionardo Linkshänder und die ungewöhnliche Schreibrichtung für ihn darum organischer gewesen sei. Doch recht zufriedenstellend ist diese Erklärung nicht. Mir ist kein anderer Linkshänder bekannt, der aufgrund seiner Linkshändigkeit linksläufig schreiben würde, genauso wenig wie ich je von einem Arabischschreiber gehört hätte, der das linksläufige Arabisch wegen seiner Linkshändigkeit rechtsläufig geschrieben hätte. Auch in seinem zeichnerischen und malerischen Werk scheint Lionardo, soweit man das beurteilen kann, nicht spiegelverkehrt gearbeitet zu haben. Im Gegenteil, er rät Malern

»beim Malen einen Planspiegel zu benutzen und darin dein ganzes Werk oft zu betrachten. Es wird dort umgekehrt erscheinen und so aussehen, als sei es von eines andern Meisters Hand, und darum wirst du die Fehler besser beurteilen können als sonst.«[38]

Welchen Sinn sollte eine solche Vorgehensweise haben, wenn Lionardo ohnehin spiegelverkehrt gemalt hätte, da doch das Betrachten des Kunstwerks im Spiegel dann nur das Objekt oder Modell in seiner realen Ausrichtung gezeigt hätte? Es scheint sich also bei Lionardos Schreibrichtung in seinen Notizen um eine bewusste Codierung zu handeln. Zwar ist der Schlüssel zur Decodierung von Lionardos Notizen nicht sonderlich schwierig zu verstehen. Aber wer überhaupt schon einmal versucht hat, eine fremde Handschrift in größerem Umfang zu entziffern, kann sich vorstellen, wie schwierig das im Falle einer solchen Verschlüsselung ist. Außerdem hat Lionardo nahezu sein komplettes Leben lang diese Codierung verwendet, während sich seine Handschrift wie die jedes Menschen stark verändert hat. In seinen frühen Florentiner Jahren schrieb Lionardo ausladend und ornamental, später eher eng und konzis, was erheblich zur Datierung der Manuskripte beiträgt. Manche Notizen sind flüchtig und mit schneller Hand dahingeworfen, andere geruhsam und mit Überlegung ausgeführt und entsprechend kalligraphischer. Kurzum, der Unbefugten, Nicht-Eingeweihten oder der flüchtigen zufälligen Leserin erschließen sich die handschriftlichen Notizen Lionardo da Vincis nicht oder auf jeden Fall nicht unmittelbar. »Seine Schrift ist schwierig, fremd und (nach Ansicht vieler) ›finster‹«, bemerkt Charles Nicholl.[39]

Die eigenartige Handschrift ist nicht die einzige Form der Verschlüsselung von Lionardos Notizen. Lionardo liebte es, sich in Rätseln, verrätselten Prophezeiungen und allegorischen Vexierspielen auszudrücken. Solche Rätsel, oft auch in Form von Scherzgedichten, waren eine beliebte Form der Unterhaltung in Hofkreisen und der »besseren Gesellschaft«, die große Zahl solcher Texte in seinen Aufzeichnungen deutet aber darauf hin, dass sie nicht ausschließlich zu solchen praktischen Zwecken verfasst wurden:

»Da wird ein grosser Teil der Menschen, die noch am Leben sind, die aufbewahrten Lebensmittel aus den Häusern werfen und sie den Vögeln und Tieren der Erde zur Beute überlassen, ohne sich irgendwie darum zu kümmern [vom Säen].

Viele werden sich ein Haus aus Därmen bauen und sogar in ihren eigenen Därmen wohnen [von den Würsten in den Därmen].

Seelenlose Körper werden uns durch ihre Sprüche lehren, wie man im Guten stirbt [von den Büchern, die uns Lehren verkünden].«[40]

So wortreich Lionardo auch die Welt beschreibt, er selbst kommt in seinen Aufzeichnungen nahezu nicht vor, er machte sich als Person unkenntlich. Stefan Klein nennt ihn einen »Meister des Versteckens«, indem er »statt Menschen Tiere auftreten ließ und selbst die Rolle eines Fabelwesens einnahm« – auch das eine Form der Codierung.[41]

Es finden sich auch Notizen, die über die rechtsläufige Handschrift hinaus einen höheren Grad der Verschlüsselung aufweisen. Aus dem Jahr 1499 hat sich im Codex Atlanticus ein Blatt erhalten, das scheinbar in komplettem Kauderwelsch geschrieben ist: »Suche Ingil, sag ihm, dass du ihn Amorra erwartest und ihn Ilopanna begleitest.«[42] Es war die Zeit der Kriegswirren in Oberitalien, und Lionardo musste sich nach der Vertreibung seines Dienstherren Ludovico Sforza aus Mailand einen neuen Arbeitgeber suchen. Offenbar wollte er sich heimlich dem Söldnerführer Ligny anschließen, der auf dem Weg von Rom nach Neapel war. Die Schlüsselwörter hat Lionardo in Palindrome verwandelt, man muss sie also von hinten nach vorne lesen und erfährt, dass »Ingil« Ligny ist, Amorra für »a Roma« und Ilopanna für »a Napoli« steht.

Lionardo da Vincis Notizzettel und Notizbücher sind das Protobeispiel für Kommunikanten ohne Kommunikate: Sie kommen wie Mitteilungen daher, teilen sich aber nicht mit, sondern tun alles, um den Mitteilungscharakter der Notizen zu desavouieren. Lionardos Art des Notierens ist offenkundig eine Medienpraxis, aber eine, die nicht der Kommunikation dient. Es handelt sich bei diesen Medien also um unkommunikative Medien.

Die Gründe, warum Lionardo seine Kommunikate lieber nicht kommunizieren wollte, sind vielfältig und lassen sich, teils offenkundig, teils ihrerseits verschlüsselt, seinem Zetteluniversum entnehmen. Einige Notizen hat Lionardo offenbar trotz der bereits vorhandenen Codierung physisch zu eliminieren versucht. Im Codex Atlanticus findet sich ein Blatt, das ungefähr aus dem Jahr 1505 stammen soll, auf dem der maestro eine Notiz hinterließ, die er später mit Durchstreichung unkenntlich machen wollte. Gelungen ist ihm dies nicht, so dass man lesen kann: »Als ich den Christus-Knaben machte, habt ihr mich ins Gefängnis gesteckt, und wenn ich ihn jetzt als Erwachsenen zeige, werdet ihr mir noch Schlimmeres antun.«[43] Lionardo hatte einiges zu verbergen, und das kann einer der guten Gründe sein, seine Aufzeichnungen vor der Umwelt nach Möglichkeit geheim zu halten. Zu jenen Umständen, die einer Öffentlichkeit im ausgehenden 15. Jahrhundert nicht mitgeteilt werden sollten, zählt in jedem Fall Lionardos Sexualität. Seine Notiz von 1505 weist zurück auf eine äußerst unangenehme Episode aus Lionardos früher Phase, derentwegen er vermutlich sogar Florenz verlassen musste. Im Jahr 1474 wurde er bei den ufficiali di notte, den »Offizieren der Nacht«, die die Sittenwächter des Stadtstaats waren, denunziert, mit einer Gruppe anderer junger Florentiner Männer »Sodomie getrieben« zu haben, sprich: homosexuell zu sein und das auch ausgelebt zu haben. Im ausgehenden Mittelalter war homosexueller Verkehr als vitium contra naturam, als Sünde gegen die Natur, mit der Todesstrafe belegt, wenn auch im Florenz dieser Zeit die Strafe zumeist eher in einer Geldzahlung bestand. Immerhin reichte die denuncia, die Denunziationsanzeige des uns namentlich bekannten Denunzianten Giovanni Saltarelli bei den Nachtoffizieren (weswegen auch von einer »Saltarelli-Affäre« gesprochen wird), den Ruf des Künstlers nachhaltig und sogar durch die Jahrhunderte zu diskreditieren. Dessen Auftraggeber waren ja in der Regel Kirche und Klöster und deren bevorzugte Motive die Jungfrau Maria und andere Heilige. Nino Smiraglia Scognamiglio, der die denuncia erstmals 1896 publizierte, beeilte sich noch hinzuzufügen, Lionardo sei in dieser Angelegenheit »über jeden Verdacht erhaben«, da ihm »jede Form von Liebe, die gegen die Gesetze der Natur verstößt, fremd« gewesen sei.[44]

In ihrer verschlüsselten Form sprechen die Notizbücher Lionardos hier eine andere und vor allem sehr deutliche Sprache. Im Codex Arundel zum Beispiel findet sich eine wortreiche Liste von Varianten des italienischen Ausdrucks cazzo, der unflätigen Bezeichnung für den männlichen Penis. In den Forster-Notizbüchern gibt es eine Zeichnung, für die Carlo Pedretti die drastische Umschreibung »Il cazzo in corso« (der rennende Schwanz) gefunden hat. Und im Codex Atlanticus wurde kürzlich auf der Rückseite eines Fragments eine Illustration mit zwei Phalli auf Beinen gefunden, die, so Charles Nicholl, »wie Comicfiguren wirken«.[45] Eine dieser Phallusfiguren berührt einen Kreis oder ein Loch, über das der Name »Salai« gekritzelt ist – diese Kritzelei ist offenbar nicht von der Hand Lionardos (sie ist nicht spiegelverkehrt!) und kann als kleiner Seitenhieb oder Kommentar seiner Schüler oder Lehrlinge verstanden werden, denn Salai war der Spitzname von Lionardos Lieblingsschüler Giacomo Caprotti, der vermutlich sein Liebhaber war. Lionardo wird übrigens von allen Zeitgenossen selbst als ausnehmend gut aussehender Mann beschrieben. Für dieses Image tat er einiges: Anders als die anderen Künstler jener Zeit, die schlichte Handwerkerkleidung trugen, trat Lionardo mit einem knielangen, rosenfarbenen Mantel auf und trug mit Edelsteinen besetzte Ringe an seinen Fingern. Die Bildhauerei lehnte er für sich auch deswegen ab, weil man sich dabei schmutzig machte.

Auch in seinem malerischen Werk lässt sich Lionardos Homosexualität nur schwer verbergen. Charles Nicholl sieht eine »verhängnisvolle Nähe zwischen Homosexualität und Spiritualität in seiner Darstellung von Engeln und des jugendlichen Christus«, seine Modelle seien »sexuell begehrenswerte junge Männer« gewesen, und eine »gewisse Homoerotik strahlen alle seine Engel aus«.[46] Am berühmtesten in dieser Hinsicht ist vielleicht Lionardos Gemälde von Johannes dem Täufer mit dem zum Himmel weisenden ausgestreckten Zeigefinger. »Ja, da Vinci verspricht uns den Himmel: Schau auf diesen erhobenen Finger«, soll Pablo Picasso über das Bild gesagt haben.[47] Das Ölgemälde ist auch das beste Beispiel für den von Lionardo zur Meisterschaft gebrachten Stil des sfumato, bei dem durch farb- und deckungsarme Lasuren unzählige Schattenwerte entstehen, die die Übergänge zwischen hellen und dunklen Bildbereichen bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen lassen. Es gibt zu dem Gemälde eine so rätselhafte wie umstrittene kleine Studie auf blauem Papier, die in der gleichen Zeit wie Johannes der Täufer zwischen 1513 und 1515 in Rom entstanden sein muss: Auch hier sehen wir einen lockenköpfigen Jüngling mit nach oben gerecktem Finger. Der Jüngling (ein Engel?) legt allerdings ein recht süffisantes Lächeln an den Tag, im Bildzentrum sticht eine betont weibliche Brustwarze ins Auge und etwas tiefer unter dem nichts verhüllenden Schleier der Figur prangt ein mächtiger erigierter Penis. Die Zeichnung trägt heute den Titel Angelo incarnato, also der fleischgewordene Engel. Es gibt eine Lesart, nach der Lionardo damit auf eine wenn auch häretische, um nicht zu sagen, blasphemische Interpretation der biblischen Verkündigungsgeschichte anspielt, der zufolge die Gottesmutter vom Erzengel Gabriel nicht nur gesegnet, sondern sehr manifest geschwängert worden sein soll. Was der Engel der Jungfrau mitzuteilen hatte, war demnach eine fleischgewordene Botschaft. Im Laufe der Überlieferungsgeschichte dieser Zeichnung muss jemand versucht haben, den Penis auszuradieren, was aber nur den Erfolg einer graubraunen Verfärbung ergab, die das Gemächt eher noch stärker betont: Was der reale Kommunikator Lionardo in seinen nicht veröffentlichten Skizzen und Notizen an dem imaginierten Kommunikator (»Himmelsbote«) stehen gelassen hat, das will offenbar später ein keuscher Bibliothekar oder ein verklemmter Sammler zum Kommunikanten ohne Kommunikat machen.

Es soll hier nicht so getan werden, als ob Lionardos Einstellung zur Sexualität der einzige oder auch nur der wichtigste Grund dafür gewesen wäre, aus seinen Notizbüchern unkommunikative Medien zu machen. Seine ganze Arbeitsweise und sein empiristisches Programm setzten ihn auch nach eigenem Bekunden in einen im Falle der Publikation unheilvollen Gegensatz zur herrschenden Meinung, sprich: zur Meinung der Herrschenden: »Ja, ich würde noch viel mehr erzählen, wenn es mir gestattet wäre, die volle Wahrheit zu sagen.«[48] Zu jenem Programm zählten beispielsweise seine anatomischen Studien, die er an Leichen in verschiedenen Hospitalen vornahm. Da die Kirche von der leiblichen Auferstehung der Gläubigen ausging, war die Sektion eines Leichnams eine schwere Sünde und bei Strafe verboten. Jene Explosion in der Entwicklung der darstellenden Kunst in der Renaissance, deren Nutznießerin ja zuallererst die Kirche war, kam aber auch daher, dass die Künstler sich vermehrt mit Anatomie beschäftigten. Die anderen beließen es aber dabei, den Knochenbau zu studieren und daraus organische Körperhaltungen abzuleiten. Lionardo drang buchstäblich tiefer, er erforschte die Anatomie subkutan, bis auf die einzelne Faser, die Adern und Venen, ja, er führte Experimente mit Tierorganen durch, um auf die entsprechenden Funktionen im menschlichen Körper schließen zu können. Im trattato della pittura schreibt er:

»Damit ein Maler bei den Stellungen und Gesten, die man im Nackten darstellen kann, sich als ein guter Gliedmaßenmacher und -zusammenordner erweisen könne, so ist es etwas sehr Notwendiges für ihn, daß er die Anatomie der Nerven (oder Sehnen), Knochen, Kurz- und Langmuskeln kenne, damit er bei den verschiedenen Bewegungen und Kraftäußerungen wisse, welcher Nerv oder Muskel der Veranlasser der Bewegung sei, und nur diese deutlich und angeschwollen mache, nicht aber alle übrigen, wie viele tun, die, um als große Zeichner zu erscheinen, ihre nackten Körper hölzern und anmutlos machen, so daß dieselben mehr wie ein Sack voll Nüsse als wie ein menschliches Äußeres anzuschauen sind, oder eher wie ein Bündel Rettiche als wie muskulöse nackte Körper.«[49]

So intensiv seine Studien des menschlichen Körperbaus waren, mit denen Lionardo echte Pionierarbeit geleistet hat, so skrupulös war er doch, was die Sektionen anging. An verschiedenen Stellen in seinen Notizbüchern finden sich Reflexionen, in denen er sich vor sich selbst rechtfertigt. In einer Notiz geht er darauf ein, dass kirchlicherseits nur Sektionen an Gehenkten vorgenommen werden dürfen, da deren Seelen ohnehin als verloren galten:

»Und solltest du, o Mensch, während du in diesem meinem Werk (d.h. der Anatomie) die wunderbaren Schöpfungen der Natur betrachtest, der Ansicht sein, dass es ein Verbrechen ist, sie zu zerstören – nun, so bedenke, dass es ein noch viel grösseres Verbrechen ist, dem Menschen das Leben zu nehmen!«[50]

Was sich hier zeigt, ist nicht weniger als ein Parallelismus der Methoden: Lionardos Arbeitsweise mit toten Körpern und seine Schreibweise entsprechen sich in auffälliger Art. Die Sektion als Zerlegung des menschlichen Körpers und seine Notierweise als Zerlegung des eigenen Denkens gleichen sich. Würde man nach einer solchen Leichensektion die Organe und Glieder eines Körpers nebeneinanderlegen, würden sie vermutlich ähnlich inkonsistent und dysfunktional wirken wie die einzelnen Bemerkungen, die Lionardo in seinen Notizbüchern festgehalten hat. Nur eine ganzheitliche und organische Sichtweise kann Sinn in den (Text-)Körper bringen. Die Welt soll aus ihren Einzelteilen heraus verstanden werden, aber das funktioniert nur in der Zusammenschau.