Die Kunst des Mittagsschlafs (Steidl Pocket) - Thierry Paquot - E-Book

Die Kunst des Mittagsschlafs (Steidl Pocket) E-Book

Thierry Paquot

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Beschreibung

Die Siesta ist mehr als ein heiteres Dämmern – sie ist ein Moment der Ruhe, der Wollust und ein Akt des Widerstands, gefeiert in Kunst und Literatur. Wer mittags schläft, entzieht sich der Fremdbestimmung, widersetzt sich den Rhythmen der Arbeitswelt und der Produktivitätsmoral. Siesta ist Individualität, Siesta ist Luxus. Thierry Paquot erzählt die Geschichte des Mittagsschlafs in verschiedenen Mythen und Kulturen. Er verfolgt seine Spur in der abendländischen Malerei und ruft auf zur Revolution: Mittagsschläfer aller Länder behauptet eure Einzigartigkeit und widersteht der globalen, der totalitären Zeit! Das ist nur der Anfang, die Siesta geht weiter!

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Thierry Paquot, geboren 1952, ist Philosoph, Professor und Herausgeber der Zeitschrift Urbanisme. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Stadtentwicklung, Architektur und über moderne Utopien. Paquot schreibt regelmäßig für u. a. Les Cahiers du Cinéma und Le Monde diplomatique.

Melanie Heusel hat Geschichte und Germanistik in Bremen studiert. Sie lektoriert Belletristik, Sach- und Fachbücher, übersetzt aus dem Französischen, textet für Unternehmen und Unternehmungen, moderiert Veranstaltungen und unterrichtet wissenschaftliches Schreiben an Hochschulen.

THIERRY PAQUOT

DIE KUNST DES MITTAGSSCHLAFS

Aus dem Französischen von Melanie Heusel und Sabine Dzuck

Steidl Pocket

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

I Einleitung

II Bilder einer Siesta

III Der Mittagsdämon

IV Die disziplinierte Zeit

V Eine Zeit für sich selbst

VI Mittagsschlaf als Widerstand

VII Kein letztes Wort

VIII Zehn Jahre danach – Nachwort zur Neuauflage

Impressum

I

Einleitung

Langsam erhebe ich mich von meinem Schreibtisch, schalte meinen Computer aus, gehe auf mein Bett zu, streife meine Schuhe und Socken ab, ziehe meine Hose aus, stelle das Telefon und mit Bedauern die Stereoanlage ab, aus der gerade noch »Recital für Harfe« von Martine Geliot zu hören war. Dann lege ich mich hin, senke die Lider und höre, wie ich mir selbst »Schlaf gut« wünsche, fast unhörbar in den leeren Raum gesprochen, ein zärtliches Murmeln nur. Wenige Sekunden später habe ich die Kontrolle völlig verloren, bin ganz »woanders«, im Land des Schlafes. Wie spät es ist? Fast halb zwei, früh am Nachmittag. Dieser so angenehme, kurze Moment, in dem die Siesta nach Ihnen ruft – und Sie nicht wissen, wie Sie antworten sollen. Schlafen? Aber es gibt doch so vieles zu erledigen! Schlafen? Aber das ist doch nicht ernsthaft möglich! Wenn das jemand erführe, es weitersagte, meinen Verwandten, meinen Studenten, meinen Kollegen, meinen Vorgesetzten… Nein, nein, stören Sie mich nicht, jetzt ist Ruhepause. Ich bin für niemanden zu sprechen: Ich schlafe! Was? Ja, ja, Thierry Paquot liegt in der Heia wie ein Kind! Schämen sollte er sich, alle sollten sich schämen, die dieser Gewohnheit aus einer anderen Zeit frönen, einer Gewohnheit, die man verurteilen sollte, verbieten, bestrafen! Tag ist Tag, der ist zum Arbeiten da, Menschenskind. Und was ist mit der Nacht … die Nacht? Da wird geschlafen. Punktum. Keine Diskussion. Kein Theater. Das ist ein hervorragender Rhythmus, klug, rational, funktionell und letztlich für alle Beteiligten rentabel. Er kommt allen zugute: dem Arbeitgeber wie dem Arbeitnehmer. Kurzum, es ist einfach nicht vernünftig, sich aus dem sozialen Leben zurückzuziehen, nur um ein Nickerchen zu machen, so als ob nichts wäre! Aber dennoch, trotz dieser Argumente aus dem Munde wichtiger Leute, bekenne ich, gestehe, erkläre: Die Siesta ist der Höhepunkt einer Lebenskunst – ja, einer Lebenskunst! –, die es verdient, verteidigt und unters Volk gebracht zu werden, die es verdient, gelebt zu werden, und zwar mit Überzeugung, Lust und Ernsthaftigkeit. Mittagsschläfer und Mittagsschläferinnen aller Generationen und Berufe, aller Breitengrade und Zeitzonen, behauptet eure Einzigartigkeit und widersetzt euch der planetaren, der satellitären, der totalitären Zeit! Das ist nur der Anfang, die Siesta geht weiter.

Die Siesta ist ein Imperativ. Sie bittet nicht, sie zwingt sich auf. Sie ist einfach da, verführerisch, aufreizend, zärtlich, mit einem Wort: unwiderstehlich. Sie umgibt Sie mit Wärme, liebkost, streichelt Sie. Und Sie folgen ihr blind. Gegen Ihren Willen schließen Sie die Augen, nach und nach entspannen Sie sich. Ihr Körper, der Sie eben noch beengte, scheint leicht, unsichtbar, unwirklich. Das Glück – eine Form des Glücks – überkommt Sie. Sie lassen es geschehen, lassen sich gehen und geben sich zu Ihrem eigenen Erstaunen hin. Wem? Einem neuen Herrn? Einer Liebhaberin? Sie kleiner Geheimniskrämer… Verstecken Sie eine verbotene Liaison? Ja, es ist eine Beziehung – verurteilt von der Produktivitätsmoral –, eine Beziehung mit der Nacht am helllichten Tag, mit Hypnos… Siesta bedeutet, am helllichten Tage mit dem Schlaf gemeinsame Sache zu machen, ihm Ehre zu erweisen, indem man in seiner Begleitung eine Pause einlegt und auf weitere Gesellschaft wartet – der Träumerei… Mittagsschlaf ist Wohltat.

Das Kind ist unruhig. Es weint, brüllt, rollt sich auf dem Boden herum, stößt alles um, was ihm in die Quere kommt. Es weigert sich, schlafen zu gehen – zu bedrohlich erscheint ihm dieser Vorschlag, zu sehr wie eine Bestrafung. Um es zu beruhigen, müssen Sie es in Ihre Arme nehmen, es in Ihre Zärtlichkeit betten, es in den Schlaf begleiten und in seine Angst Ihre Freude an der Schlafenszeit mischen. Die Schlafenszeit folgt der Mahlzeit, sei diese nun karg oder üppig gewesen. Beim Erwachen wird das Kind wieder Appetit haben auf die Welt und sie mit unstillbarer Neugierde erforschen. Der Mittagsschlaf ist wie eine Atempause, ein notwendiger Moment des Innehaltens, um Körper und Geist wieder aufzutanken. Auch das Baby und das Kleinkind nähren sich von dieser einzigartigen, wertvollen Zeit. Schlafend ist ein Kind am schönsten. Schauen Sie es sich an. Es sieht so friedlich aus wie eine ruhige, strahlende Landschaft. Eine verschneite Landschaft, die alle Geräusche dämpft und von der Stille singt. Eine sonnige Landschaft, die die Muskeln des Körpers erwärmt und träumen lässt. Mehr als nur ein Maler hat die Landschaft in Kunst verwandelt, sie »verkünstlicht«, wie es bei Montaigne heißt. Tatsächlich hilft uns das Gemälde einer Landschaft, »Natur« genauer zu sehen und wertzuschätzen. Gleiches gilt auch für den Kunst gewordenen Schlaf, der uns an seinem Atem, seiner Gelassenheit, seinem Zauber im Halbdunkel teilhaben lässt. Möge uns der Schlaf aus der Finsternis führen und uns in heitere oder auch stürmische, in jedem Fall aber in erleuchtete Gefilde geleiten…

II

Bilder einer Siesta

Sehen Sie sich das Jesuskind auf dem Bild Die Stille von Domenico Zampieri, genannt »il Domenichino«, genau an. (Abb. Seite 12) Jesus liegt dort in einer Haltung, die dem Schlaf nicht besonders zuträglich sein dürfte, und dennoch geht von ihm eine ansteckende Ruhe aus. Seine Mutter hält ihren rechten Zeigefinger an die Lippen und fordert alle Umstehenden dazu auf, keinen Lärm zu machen. »Still«, raunt sie, »still, still, weil’s Kindchen schlafen will…«

Domenichinos Zeitgenosse Giorgione (1477–1550) malte eine Schlummernde Venus, die er nicht vollenden konnte – die Pest von Venedig hatte ihrerseits den Maler vorzeitig in eine ewige Siesta entführt. (Abb. Seite 19) Tizian, der die Schlummernde Venus fertigstellte, fügte der Landschaft sicherlich einige Details hinzu und arbeitete auch am Himmel. Die junge nackte Frau jedoch rührte er nicht an, deren linke Hand zärtlich zwischen ihren Schenkeln ruht. Löst sich in ihr gerade die köstliche Spannung der Masturbation? Das zerwühlte Laken, auf dem sie ausgestreckt liegt, scheint von vergangenem Aufruhr zu sprechen… Zur selben Zeit, gleich zu Beginn des 16. Jahrhunderts, malte auch Piero di Cosimo sein Bild Venus, Mars und Armor. Darin ist es Mars, der nackt und ausgestreckt mitten in einer heiteren, von Tieren und Engelchen bevölkerten Landschaft einen Mittagsschlaf hält. (Abb. Seite 44)

Die Stille (1605) Domenico Zampieri (Domenichino)

Auch Caravaggio hat im Gemälde Ruhe auf der Flucht nach Ägypten wunderbar die für den Mittagsschlaf typische Entspannung veranschaulicht. Die Madonna und ihr Kind schlafen, während Joseph einem jünglingshaften Engel die Noten hält, der auf der Geige spielt. Die Musik trägt zur Beruhigung und zur Erleichterung bei. Hier, während dieser kurzen Atempause, gibt es keine Angst. Die Gründe für die Flucht und die Gefahren der Reise sind für einen Moment vergessen. Gelassenheit liegt wie ein unsichtbares, schützendes Tuch über den Figuren. Das Kind fürchtet nichts. Was sollte es auch fürchten, gewiegt vom sanften Atem seiner Mutter?

Orazio Gentileschi taucht wiederum Joseph in einen tiefen Schlaf. In seiner Vision von einer Rast der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten kämpft Maria dagegen an, dass ihr die Augen zufallen, während Jesus gierig an ihrer Brust trinkt. (Abb. Seite 30) Dem Betrachter gibt das Kind mit abwehrendem Blick zu verstehen, dass es in dieser angenehmen Zweisamkeit, während dieses genüsslichen Saugens, auf keinen Fall gestört werden will.

Pieter Brueghel der Ältere zeigt uns auf seinen Bildern Kornernte (1565) und Das Schlaraffenland (1567) ruhende Männer. Sie schlafen lang hingestreckt mit gespreizten Beinen, ungeniert und in offensichtlichem Behagen, die einen nach getaner Arbeit, die anderen nach einem opulenten Mahl. (Abb. Seite 39) Das Schlaraffenland gibt es nicht, nichts führt dorthin, außer der Phantasie. Der Historiker Jean Delumeau, der mehr als ein Schlaraffenland besucht hat – von Boccaccio bis Rabelais –, weiß zu berichten, dass in all diesen Ländern Flüsse aus Honig fließen, Brunnen voll Wein stehen und Bäume, deren Früchte sofort nachwachsen, wenn man sie pflückt. Ferner regnen dort saftige Keulen vom Himmel, ragen Gebirge aus geriebenem Parmesan hoch hinauf und Schweine drehen sich am Spieß, in denen schon das Messer zum Tranchieren steckt. Kurzum: Länder, in denen es sich gut leben lässt, Zufluchtsorte für all diejenigen, die Mangel leiden, die mehr schlecht als recht durchs Leben kommen in einer von Kriegen gegeißelten Welt, zerrissen von sozialer Ungleichheit und voller Ungerechtigkeiten jeglicher Art… Angesichts der immer größeren Bürden, angesichts des Unglücks, das auf ihn einstürmt, flüchtet sich der Bauer, der arme Schlucker, in die Vorstellung von einer besseren Welt – in die Beschreibung eines Schlaraffenlandes.

Brueghels Gemälde heißt auf Niederländisch Luilekkerland, was wörtlich übersetzt so viel bedeutet wie »Land der Leckereien«. Es überrascht also nicht, dort Pasteten, Torten, gegrilltes Geflügel und Ähnliches mehr abgebildet zu sehen. Der Traum vom Überfluss, von Ruhe und Müßiggang ist die Antwort auf die Hungersnöte, die immer drohend über diesen Landschaften schweben. Eben diesen Traum erzählt uns das berühmte Gemälde von Brueghel dem Älteren – mit seinen Farben, den Posen und der Mimik seiner Figuren. Brueghel bietet ein Stück Trost, einen Hoffnungsschimmer an. Der Soldat, der Bauer und der Student mit seinem Buch neben sich haben nicht nur dieses eine Mal wirklich gut gegessen, ihr Anblick ist vielmehr ein Gegenmittel gegen das herrschende Unglück, die Krankheiten und die Leiden des Krieges.

An manchen Tagen, wenn ich beim aufmerksamen Betrachten der Kornernte