Die kurze Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts - R. Keith Schoppa - E-Book

Die kurze Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts E-Book

R. Keith Schoppa

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Beschreibung

Geschichte ganz global: ein umfassender und doch kompakter Überblick Es waren ja nicht nur die großen Katastrophen, Revolutionen und Kriege, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. Ob Mobilität, Gleichberechtigung oder Dekolonisierung: Die Welt, wie sie den Besuchern der Weltausstellung in Paris 1900 noch vertraut war, wandelte sich schneller als in jedem anderen Jahrhundert zuvor. Der Geschichtsprofessor R. Keith Schoppa beschäftigte sich eingehend mit den großen und kleinen Ereignissen, die den Lauf der Geschichte beeinflussten. Neben den wichtigen Einschnitten in Kultur- und Sozialgeschichte stellte er dabei insbesondere Begebenheiten in den Fokus, die nicht in allen Geschichtsbüchern zu finden sind. - Das 20. Jahrhundert kompakt: eine Zeit voller Umbrüche und historischer Ereignisse - Alle Kontinente im Blick: Ein Weltgeschichte-Buch ohne eurozentrischen Fokus - Ein tolles Geschenk für Geschichtsinteressierte auf der Suche nach einem globalen Überblick - Der Mensch im Mittelpunkt: Welche Identitäten waren für jede Phase besonders bedeutsam? - Reichhaltig, zugänglich und prägnant: Eine großartige Leistung auf wenigen SeitenVon 1900 bis zur Gegenwart: Globaler Wandel auf individueller Ebene Wie erlebten Zeitzeugen die vielfältigen Veränderungen ihrer Lebenswelt? R. Keith Schoppa legt das Augenmerk auf individuelle und lokale Identität, nationalstaatliche Identität sowie die Identität globaler Gemeinschaften. In jedem Kapitel seines Weltgeschichte-Buchs geht er explizit auf fünf Männer und Frauen ein und untersucht ihre Wirkung auf Sozial- und Kulturgeschichte. Die meisten von ihnen waren keine bedeutenden Figuren der Zeitgeschichte, aber sie alle hinterließen weitreichende Spuren. Von einer Welt ohne Flugzeuge zum globalen Dorf, verbunden durch das Internet: Ein spannender Einblick in die Veränderungen des 20. Jahrhunderts!

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Seitenzahl: 367

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Die englische Originalausgabe ist 2021 bei Oxford University Press unter dem Titel The Twentieth Century: A World History erschienen.

© Oxford University Press 2021

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Madleine Prahs, Leipzig

Layout und Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Einbandabbildung: Skyline von Shanghai. © Adobe Stock/chungking. Askari (Kolonialsoldaten) bei militärischen Operationen in der Kyrenaika, Libyen, 25. Februar 1914. Rovereto, Castello Museo Storico Italiano Della Guerra. © akg-images/De Agostini Picture Lib./ A. Dagli Orti.

Einbandgestaltung: www.martinveicht.de

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4561-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4579-0

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4580-6

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Für euch, meine lieben Enkelkinder, Laurel, Noah, Luke und Eli.

Mein Wunsch für euch: Möget ihr einen Beitrag dazu leisten, den Geist eures Jahrhunderts – des einundzwanzigsten – so zu verändern, dass Einigkeit entsteht, die Vielfalt wertschätzt; und eine Welt, in der die Menschen vor allem anderen menschlich sind und die Natur als ein geschützter, harmonischer Raum geehrt wird, in dem ein produktives, gutes Leben möglich ist.

INHALT

Einleitung

Kapitel 1: Weltkrieg und sozialer Wandel (1900–1919)

Kapitel 2: Klaustrophobische Enge: Totalitarismus und Weltwirtschaftskrise (1920–1936)

Kapitel 3: Eine Welt geht in Trümmer (1937–1949)

Kapitel 4: Anbruch eines neuen Tages? Revolution, Kalter Krieg und Dekolonisierung (1950–1965)

Kapitel 5: Der Kampf um Gleichberechtigung, Freiheit und Frieden (1966–1979)

Kapitel 6: Licht und Schatten, Triumph und Unheil (1980–1991)

Kapitel 7: Auf den dunkelsten Seiten der Geschichte (1991–2000)

Dank

Chronologie

Anmerkungen

Literaturhinweise

Register

EINLEITUNG

Vor 1900 hat es kein Jahrhundert in der Menschheitsgeschichte gegeben, das es in Sachen Rasanz und Ausmaß eines immer heftigeren Wandels mit dem 20. Jahrhundert hätte aufnehmen können. Die revolutionären Entdeckungen, Erfindungen, politischen Neuordnungen und wissenschaftlichen Durchbrüche, die im 20. Jahrhundert erfolgt sind, brachten radikale Veränderungen in fast jedem Bereich des menschlichen Lebens. Das Jahr 1900 sah noch ganz anders aus als das Jahr 2000. Zu Beginn des Jahrhunderts gab es noch keine Antibiotika, nur wenige Häuser hatten elektrischen Strom; es gab keine Flugzeuge und kaum Autos. Die globale Lebenserwartung lag bei etwa 31 Jahren und die weltweite Alphabetisierungsrate bei unter 30 Prozent. Im Gegensatz dazu betrug die globale Lebenserwartung im Jahr 2000 schon 66,4 Jahre – in einigen Ländern sogar über 80 Jahre – und die Alphabetisierungsrate war auf 81,9 Prozent gestiegen. Zwar werden in jeder Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts die vielfältigen Triumphe von Technologie und Raumfahrt oder die Wunder des medizinischen Fortschritts hervorgehoben; aber letztlich ist jede solche historische Darstellung doch vor allem die Geschichte von Männern und Frauen, als Individuen wie als Massenwesen, die schöpferisch kreativ sind und etwas aufbauen, arbeiten und spielen; planen und zerstören, und die ihre Identitäten aufgrund ihrer Lebenserfahrungen entwerfen und immer wieder neu gestalten. Jedes Individuum hat seine oder ihre eigene Identität gewählt und verkörpert, hat aber im Gegenzug auch eine Identität von anderen zugewiesen bekommen.

Tatsächlich besitzt ein Individuum viele verschiedene Identitäten: eine biologische, eine räumliche, eine soziale und gesellschaftliche, eine politische, eine ökonomische, eine relationale, eine berufliche, eine habituelle und noch andere mehr. Der Identität kann man sich mit der Frage nähern: Was macht eine Person wesentlich aus, was definiert sie? Das bedeutet: Welche Werte, Überzeugungen, sozialen Beziehungen und kulturellen Streitfragen sind dieser Person am wichtigsten? Im Verlauf eines Lebens kommt es durchaus vor, dass Identitäten nicht gleich bleiben; vielmehr können sie sich verschieben und verändern, in Abhängigkeit von neuen Erfahrungen, Interessen oder Schwerpunktsetzungen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, welche Identitäten einer Person von anderen zugeschrieben wurden und wie ähnlich oder unähnlich diese Zuschreibungen einander sind. Dieses Buch widmet sich Fragen der Identität unter besonderer Berücksichtigung dreier persönlich-politischer Identitäten, die in der sich wandelnden Welt des 20. Jahrhunderts besondere Bedeutung hatten: individuelle und lokale Identität, nationalstaatliche Identität sowie die Identität globaler Gemeinschaften. Die große Bandbreite an Identitäten, die in spezifischen historischen Zusammenhängen und Situationen zum Tragen kamen, hat nicht selten zu einem „Clash der Identitäten“ geführt. Ein solcher Zusammenprall wurde oft zum entscheidenden Faktor und Motivator in historischen Wandlungsprozessen. In jedem der folgenden Kapitel werden grundsätzlich fünf Männer und Frauen besonders hervorgehoben. Einige von ihnen waren bedeutende Figuren auf der Weltbühne ihrer Zeit; die meisten waren dies jedoch nicht. Ganz unabhängig von ihrem jeweiligen politischen, sozialen und ökonomischen Status haben letztlich alle diese genauer vorgestellten 40 Individuen aus 23 Ländern auf der ganzen Welt durch ihre je eigene Identität gehandelt und gewirkt, um einen bedeutenden Beitrag zu ihrer Welt zu leisten.

Eröffnen möchte ich die Darstellung mit einer historischen Vignette aus dem südwestlichen Afrika – genauer gesagt: dem heutigen Namibia – vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Zugleich sollen so die Leitmotive dieses Buches weiter eingeführt werden: Identität und ihre Bedeutung, ihre Macht und diversen (Rollen-)Funktionen; Gewalt in verschiedenen physischen und psychologischen Ausprägungen; soziale und kulturelle Wandlungsprozesse und Trends; sowie das Aufeinandertreffen von Rasse, Ethnizität, Nationalismus und Globalisierung.

Samuel Maharero aus dem Hirtenvolk der Herero und Hendrik Witbooi, der den Nama angehörte, waren in Namibia zwei sehr mächtige Männer. Als Maharero seinem Vater als Anführer der Herero nachfolgte, hielten ihn selbst seine Untergebenen für eine Art Witzfigur, denn er kam ihnen vor wie ein charakterloser, unselbstständiger Versager. Er war ein schwerer Trinker, wenn nicht gar alkoholkrank; seinen Rum bekam er von den Methodistenmissionaren, vor denen er buckelte. Witbooi dagegen war ein Kaptein (Anführer) der Nama, der selbstbewusst und unabhängig auftrat, höchst intelligent war, mehrere Sprachen fließend beherrschte und Gedichte verfasste. Seine Gefolgsleute sahen in ihm einen charismatischen Anführer und erfahrenen Guerillakrieger. Er zog den Zorn der deutschen Kolonisatoren Südwestafrikas auf sich, indem er den „Schutz“ – und das hieß: die Herrschaft – des deutschen Militärs ablehnte. Schon als alle anderen Stammesführer der Umgebung (einschließlich Mahareros) sich den Deutschen unterworfen hatten, blieb Witbooi noch unbeugsam. In seinem Tagebuch schrieb er: „Ich habe meine Unabhängigkeit nicht aufgegeben, denn ich allein habe ein Recht auf das Meinige, um es jemand, der mich darum bittet, zu geben oder nicht zu geben, wie ich will.“1 Am Ende begann er einen Aufstand gegen die deutsche Kolonialmacht, den er jedoch nach kurzer Zeit verlor und nach dem auch er vor den Europäern ganz pragmatisch kapitulierte.

Beide Männer wurden Opfer des ersten schrecklichen Völkermords im 20. Jahrhundert, der von den deutschen Kolonisatoren bei der Niederschlagung der Aufstände von Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1907 geplant und verübt wurde. Das Kunstwort „Genozid“ ist zwar erst 1944 gebildet worden – aus dem griechischen genos, „Volk“, und dem lateinischen Suffix -cidere für „töten“ –, aber man hat es richtigerweise auch rückwirkend angewandt, auf den namibischen Albtraum genauso wie auf die türkischen Gräuel gegen die Armenier im Jahrzehnt darauf.

Zu dem Genozid in Namibia kam es folgendermaßen: Von etwa 1800 bis 1907 führten Herero und Nama fast ununterbrochen Krieg um die Vorherrschaft in der Region. Erst 1892 schlossen ihre Anführer Maharero und Witbooi einen Frieden. Durch eine Ironie der Geschichte war 1892 auch das Jahr, in dem die ersten deutschen Kolonisten nach Südwestafrika kamen, um sich dort als Farmer niederzulassen – obwohl das Deutsche Reich den Kolonisierungsprozess schon länger begonnen hatte, mit Missionaren (in den 1840er-Jahren), Kaufleuten (ab Beginn der 1880er-Jahre) und Soldaten (ab 1888). Im Jahr 1902 betrug die Gesamtbevölkerung der Kolonie Deutsch-Südwestafrika etwa 200 000 Menschen, davon 97,8 Prozent indigene Afrikaner und nur 1,3 Prozent deutsche Kolonisten, Soldaten und Beamte.

Die dreißig Jahre unter der deutschen Kolonialverwaltung von 1885 bis 1915 waren für die Herero ein wahrer Albtraum. Die deutschen Kolonisten brauchten und verlangten zwei Dinge für ihren Lebensunterhalt – Land und Vieh –, und wie sich zeigen sollte, waren sie zu allem bereit, um beides zu bekommen. Zu dem großen Territorium der Herrero gehörte auch ein Teil des besten Farmlandes der Kolonie; zudem besaßen sie die größten Viehherden, rund 200 000 Rinder nach einer Schätzung von 1890. Tatsächlich könnte man sagen, dass das ganze Leben und die gesamte Kultur der Herero auf die Rinderhaltung ausgerichtet waren. Das Lebensziel eines jeden Hereromannes war es, seine Herde zu beschützen und zu vergrößern. Und was in kultureller Hinsicht noch bedeutsamer war: Seine Identität, seine Werte und seine ganze Lebensweise waren geprägt vom Rind. Im Otjiherero, der Sprache der Herero, gab es mehr als 1000 Wörter zur Bezeichnung verschiedener Merkmale oder Farbtöne von Rindern.2 Wenn ein Hererobaby seinen Namen erhielt, musste es den Kopf eines Kalbes berühren, welches das traditionelle Geburtsgeschenk der Gemeinschaft war. Starb ein Herero, so wurde die Leichendecke aus der Haut seines Lieblingsochsen angefertigt; der von der Sonne gebleichte Schädel des Tieres wurde dann in einem Baum nahe dem Grab angebracht. Unter keinen Umständen wurden Rinder geschlachtet, nur um sie zu essen; das Töten eines Rindes, sofern es nicht aus religiösen oder festlichen Anlässen geschah, war für die Herero ein Sakrileg. In den Jahren 1889 bis 1897 verheerte eine schwere Rinderpest den afrikanischen Kontinent. Die Seuche traf alle Arten von Huftieren (auch Antilopen, Giraffen und Büffel), die binnen Tagen nach der Infektion verendeten. Bei manchen Rinderherden der Herero gingen 90 Prozent der Tiere verloren, und insgesamt blieben gerade einmal 90 000 Stück Vieh übrig – ein gewaltiger wirtschaftlicher und kulturell-mythischer Verlust.

Die Deutschen verstanden die Kultur und Verhaltensweisen der Stammesangehörigen von Anfang an falsch – oder besser gesagt: Sie gaben sich erst gar keine Mühe, diese zu verstehen. Für die deutschen Siedler und Soldaten waren die Herero schlicht „schwarze Wilde“, „Affen“, „blutrünstig“, und die einzelnen Stammesgruppen wurden als „Räuberbanden“ diffamiert. Dabei legte man auf deutscher Seite mindestens zwei Arten von Rassismus an den Tag. Bei der einen handelte es sich um eine grundlegende, aber offen gezeigte Irritation über, ja regelrechte Verurteilung von genuin afrikanischen Handlungsweisen – ein verbittertes Gejammer mit dem Tenor „Warum können die nicht ein bisschen mehr so sein wie wir?“ Ein Hauptmann Bayer im Stab des deutschen Kommandeurs Lothar von Trotha beklagte sich: „Was uns die Hereros so unsympathisch macht, ist der Umstand, daß sie eine ganz andere Denkweise haben als wir. Der Weg ihrer Logik ist nicht der unsere. … Wie wollen wir uns mit Menschen verständigen, in deren Sprachschatz sich nicht einmal Worte befinden für Begriffe wie ‚Dankbarkeit‘, ‚Ergebenheit‘, ‚Vaterlandsliebe‘, ‚Anhänglichkeit‘, ‚Treue‘?“ Eine in Deutschland verbreitete Einstellung gegenüber den Schwarzafrikanern spricht aus den rassistischen Worten des Generals Trotha: „Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, daß sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik.“3

Der Rassismus der zweiten Ebene äußerte sich als physischer und psychologischer Missbrauch – Taten, in denen die deutsche Überzeugung von der Nicht-Menschlichkeit (und letztlichen Wertlosigkeit) der indigenen Afrikaner Bestätigung zu finden schien. Die Deutschen zwangen einen ortsansässigen Stammesangehörigen namens John Cloete (der aber weder Herero noch Nama war), ihnen als Führer zu dienen. Unterwegs machten sie Halt an einer Wasserstelle. Cloete gab später unter Eid zu Protokoll, was als Nächstes geschah:

„Während unseres Aufenthalts an diesem Ort fand ein deutscher Soldat einen kleinen Hereroknaben von vielleicht neun Monaten, der im Busch abgelegt war. […] Die Soldaten stellten sich im Kreis auf und fingen an, sich das Kind gegenseitig zuzuwerfen, als wenn es ein Ball wäre. Das Kind hatte schreckliche Angst, wurde verletzt und weinte laut. […] Nach einer Weile wurden sie ihres Spiels überdrüssig und einer der Soldaten pflanzte sein Bajonett auf und sagte, nun wolle er den Säugling fangen. Dieser wurde ihm im hohen Bogen zugeworfen, und im Fallen spießte er den Knaben auf und durchbohrte ihn mit seinem Bajonett. Das Kind starb einige Minuten später, und der ganze Vorfall wurde von den Deutschen mit brüllendem Gelächter begleitet, weil es ihnen ein großer Spaß zu sein schien. Ich aber fühlte mich ganz elend dabei und wandte mich angewidert ab, weil ich zwar wusste, dass [die Soldaten] den Befehl hatten, niemanden am Leben zu lassen; aber ich hätte doch erwartet, dass sie Mitleid mit einem Kind haben würden. Ich beschloss, keinen weiteren Schritt mehr mit diesen Deutschen zu gehen.“4

Psychischer Missbrauch trübte die meisten Alltagsbeziehungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten ein. Die Deutschen gaben sich keine Mühe, ihre Verachtung für die indigene Bevölkerung zu verbergen und ließen ihr auf der Straße, in Geschäften oder bei ihren sonstigen Tätigkeiten ebenso freien wie harschen Lauf. Für die einzelnen Betroffenen brachten die Auspeitschungen, die der deutschen Kolonialmacht als die hauptsächliche Form von „leichter“ Strafe dienten, neben körperlichem Schmerz auch seelische Verletzungen. Der Umstand, dass jeder Deutsche aus einer Laune heraus jeden beliebigen Schwarzen beinahe totpeitschen konnte, ohne dazu auch nur eine offizielle Erlaubnis einholen zu müssen, vermittelte den Herero und den Nama, dass ihr Leben jederzeit in den Händen der unberechenbaren Weißen lag. Nichts hob die Marginalisierung und Machtlosigkeit der indigenen Bevölkerung stärker hervor als das Auspeitschen. Für die Weißen signalisierte die Peitsche ihre Überlegenheit und Macht. Für die Schwarzen bedeutete sie ihre Unterwerfung als vermeintlich „niedere Rasse“. Es waren die Weißen, die entschieden, dass die Rassenfrage immer ein Nullsummenspiel bleiben sollte: „Milde gegen den Farbigen ist Grausamkeit gegen den Weißen“, meinte der Geografieprofessor Karl Dove, der als Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft und zweiter Vorsitzender von deren Kolonialwirtschaftlichem Komitee eine prominente Rolle in der deutschen Kolonialpolitik spielte.5 Während des letzten Jahrzehnts der deutschen Herrschaft über Südwestafrika (1905–1914) hielten viele Deutsche, aber auch ausländische Beobachter Dove für den führenden Experten in Sachen Namibia.

Was die auf deutscher Seite grassierende Respektlosigkeit gegenüber dem Wertesystem der indigenen Bevölkerung betrifft, mögen zwei eindrückliche Beispiele genügen; in beiden Fällen geht es um den innersten Kern dessen, was den Herero heilig war. Auch diese beiden Schilderungen entnehme ich beeideten Aussagen, diesmal von Hosea Mungunda, dem Anführer der Herero von Windhoek:

„[Wir betrachteten unsere] Grabstätten […] als heiligen Boden. Wir wählten grüne Bäume aus, um [auf diesen Friedhöfen] Haine zu pflanzen […] All diese Bäume waren heilig und geweiht. Kein Herero hätte es gewagt, einen dieser Bäume zu beschädigen oder gar zu fällen. Unsere zwei größten Anführer wurden in der Nähe von Okahandja unter herrlichen grünen Bäumen am Flußufer begraben. Das war für alle Herero der heiligste Ort im ganzen Land […]

[Als] die Deutschen kamen, holzten sie all die prächtigen Bäume ab und machten die heilige Grabstätte zu einem Gemüsegarten. Sie rissen diesen Ort als privaten Besitz an sich, und kein Herero durfte mehr dorthin gehen, sonst wäre er als ein unerlaubter Eindringling verfolgt worden. Wir waren furchtbar aufgebracht wegen dieser Sache und protestierten gegen dieses von uns so empfundene Sakrileg.

Unsere Anführer legten Beschwerde bei den Behörden ein, doch sie wurden ignoriert.“6

Mungundas zweites Beispiel für das, was er als einen „kulturellen Genozid“ bezeichnete (als ein Handeln, durch welches das kulturelle Erbe und die Traditionen einer Gemeinschaft vernichtet werden), betraf den Umgang der Deutschen mit dem Vieh der Einheimischen. In den 1890er-Jahren gerieten die Viehbestände der Herero ins Visier deutscher Siedler und Kaufleute.

Durch diverse Arten halsabschneiderischer Kredite – oder schlicht durch Diebstahl – wurden die Herden der Herero ausgedünnt. Da die meisten Herero kein oder nur sehr wenig Bargeld hatten, forderten die Siedler und Kaufleute, wenn sie ihnen eine bestimmte Summe geliehen hatten, die Rückzahlung des Kredits in Form von Vieh. Mit den Worten eines arroganten deutschen Kolonisten: „Die Eingeborenen müssen sehen, daß es nicht geht, wie sie wollen.“7 Der Gouverneur Theodor Leutwein ließ sich einen gerissenen Plan zum Viehdiebstahl einfallen. Er schlug vor, Demarkationslinien zu definieren (die es zuvor nie gegeben hatte), um die südliche „Grenze“ des Hererolands festzulegen. Alles Vieh, das die neue, offene Grenze überschritt, sollte beschlagnahmt werden; aber anstatt die Rinder den Herero anschließend zurückzugeben, ließ die Kolonialregierung sie verkaufen und teilte sich den Erlös mit dem obersten Stammesführer der Herero.8

Das kulturelle „Verbrechen“ der deutschen Kolonisatoren in diesem Zusammenhang bestand darin, dass sie die traditionelle Unterscheidung der Herero zwischen „heiligem“ und „profanem“ Vieh vollkommen ignorierten. Viehbestände, die als heilig galten, wurden in väterlicher Linie vererbt, vom älteren Bruder an den jüngeren und von diesem dann an seinen Sohn weitergegeben. Dieses Vieh betrachteten die Herero als ein „Erbgeschenk“ der Ahnen an alle Nachkommen. Das „profane“ Vieh hingegen wurde in mütterlicher Linie vom Bruder der Mutter an den Sohn ihrer Schwester vererbt.9 Der besondere Status des heiligen Viehs machte es nötig, dass diese Tiere als eine Herde für sich abgesondert blieben und sich nicht mit dem anderen Vieh vermischten.

Die Deutschen hatten selbstverständlich keine solche Kategorisierung des Viehs als „heilig“ oder „profan“. Wenn sie den Herero Rinder stahlen, konnten sie an diesen keinerlei Unterschiede feststellen. Bei dem Plan des Gouverneurs Leutwein für seine Südgrenze war überhaupt nicht klar, ob diese neue, unmarkierte Grenze nun im Einzelfall heilige oder profane Rinder überquerten. Die Deutschen hatten überhaupt keine Ahnung, dass es ein solches religiöses Raster für die Viehbestände der Herero überhaupt gab, und die Herero ahnten wohl noch nicht einmal, dass die Deutschen in diesem Punkt so ahnungslos waren. In seiner Aussage legte Hosea Mungunda zunächst dar, dass manche Rinder eben heilig seien, und bezeichnete die Behandlung heiliger Rinder als profane Objekte durch die Deutschen als ein Sakrileg. Wörtlich sagte er:

„Die Deutschen nahmen heiliges Vieh und vermischten es mit privatem Vieh, ohne jede Rücksicht auf unsere Bräuche und Organisation. Wir protestierten und beschwerten uns heftig, aber die Deutschen nahmen davon keine Notiz. Manchmal konnten wir sie dazu bringen, unser heiliges Vieh zurückzugeben, doch dann mussten wir ihnen für jedes Tier drei oder vier Stück profanes Vieh als Lösegeld zahlen […] so wurden unsere Herden immer kleiner.“10

Dieses Vorgehen der deutschen Kolonialregierung hatte zwei zumindest bedauerliche, wenn nicht sogar verhängnisvolle Auswirkungen auf die Herero-Kultur. Erstens veränderte die neu geschaffene Grenze die ganze räumliche Vorstellungswelt der Herero, vermittelte ihnen ein neues Gefühl von „Be-Grenztheit“ und damit eine neue, weniger expansive Identität. Für den reichsten Volksstamm in der ganzen Region war das eine geografische und psychologische Herabstufung, die nur schwer zu tolerieren war. Zweitens schuf Leutweins Plan einen Mechanismus, durch den immer mehr Vieh der Herero verschwand; und dieser schleichende Prozess zerstörte die Verbindung vieler Herero zu ihren Ahnen und damit eine fundamentale Stütze ihrer ganzen kulturellen Tradition.

Die Landfrage war für die deutschen Kolonisatoren von entscheidender Bedeutung – sogar noch wichtiger als die Größe ihrer Viehherden. Nach den Gepflogenheiten der indigenen Bevölkerung befand sich Land stets im gemeinschaftlichen Besitz: Niemand konnte das Land der Herero als Einzelperson erwerben. Angehörige der Herero-Gemeinschaft konnten zwar das „Nutzungsrecht“ an einem bestimmten Stück Land veräußern, nicht jedoch das Land selbst. Die Deutschen spotteten angesichts einer derart traditionsverhafteten Vorstellung von Grundbesitz und verlangten schlicht und unmissverständlich, man solle ihnen dieses Land überschreiben. Bis 1885 hatten die Stammesführer der Nama auf das Verlangen der Deutschen hin das gesamte Land an der Atlantikküste zwischen dem Fluss Oranje im Süden und dem Fluss Kunene im Norden veräußert (das entspricht den Grenzen des heutigen Namibia). Von Anfang an führten die Deutschen ihre indigenen Geschäftspartner dabei hinters Licht. In den Verträgen war davon die Rede, dass die Kolonisten einen „20 Meilen“ breiten Streifen Land entlang der Küste erhalten sollten. Die Anführer der Nama, die vor der Ankunft der Deutschen schon einige Erfahrung mit den Briten gemacht hatten, gingen in diesem Zusammenhang von der international geläufigen „englischen Meile“ aus, die etwa 1,6 Kilometer misst. Der abgetretene Gebietsstreifen, meinten die Nama, müsse also gut 30 Kilometer tief sein. Allerdings beriefen sich die Deutschen auf die „deutsche Meile“ oder die „geografische Meile“ (die jeweils etwa 7,5 Kilometer lang ist). Nach den Berechnungen der deutschen Kolonialverwaltung sollte es also bei dem 20-Meilen-Streifen um ein Gebiet gehen, das 148 Kilometer tief war – gut 90 britische Meilen!11 Durch ein bewusstes Täuschungsmanöver der Deutschen gaben die Nama unwissentlich den Löwenanteil ihres Territoriums aus der Hand.

Wenn sich Afrikaner um Rechtsschutz gegen den deutschen Landraub bemühten, stießen sie auf unkooperative, untätige Kolonialbeamte, wohingegen einem Ansinnen der Siedler sofort mit der ganzen Härte des Gesetzes nachgegangen wurde, ganz egal, worum es sich handelte. Für die indigene Bevölkerung gab es also keinerlei Rechtsweg, um sich gegen erlittenes Unrecht zur Wehr zu setzen. Ein objektives Recht gab es in der Rechtsprechung der Kolonie ohnehin so gut wie gar nicht: Recht war, was die Deutschen sagten; ihr Wort war Gesetz. Da es in Deutsch-Südwestafrika bis 1903 keinerlei ordentliche Gerichtsbarkeit gab, war der Chef der deutschen Landespolizei zugleich auch der alleinige Vertreter der Justiz: Auf seinen Befehl wurden Menschen verhaftet, dann ließ er sie einsperren und saß anschließend auch noch über sie zu Gericht. Das Strafmaß hing ganz von der Hautfarbe ab: Wenn ein schwarzer Afrikaner einen Mord begangen hatte, wurde er unweigerlich zum Tode verurteilt. Deutsche Siedler hingegen, die einen Eingeborenen getötet hatten, wurden bisweilen freigesprochen oder sie erhielten eine Gefängnisstrafe von wenigen Monaten; nur in seltenen Fällen drohte ihnen die Höchststrafe, 3 bis 5 Jahre Gefängnis.12

Kleinere Akte der Rebellion seitens der indigenen Bevölkerung führten stets zu weiterem Landraub und Viehdiebstahl durch die deutsche Kolonialmacht; der größte und schlimmste Raub an den Herero war jedoch der Raub ihrer Identität. Im April wurde im Amtsblatt des Reichskolonialamtes eine „Allerhöchste Verordnung, betreffend die Schaffung von Eingeborenen-Reservaten in dem südwestafrikanischen Schutzgebiete“ veröffentlicht. Auf diesen kleinen Landstücken konnten die Einheimischen gleichsam eingesperrt und besser überwacht werden. Die Deutschen beanspruchten Land für sich, damit deutsche Farmer dort siedeln konnten; genauso wichtig war bei dieser Landnahme jedoch, dass sie „hierdurch schwarzen Namibiern den Zugang zu demselben Land und damit zur kommerziellen landwirtschaftlichen Produktion verwehrten und sie auf diese Weise in die Lohnarbeit zwangen“.13 Ihr Ziel: die Identität und Kultur der Herero vollkommen umzustürzen, indem sie ein zuvor reiches Volk arm machten und unabhängige, selbstbestimmte Menschen in eine totale, sklavische Abhängigkeit von den fremden Siedlern, ihren neuen Lohnherren, brachten.

Auch durch den Bau von Eisenbahnen in der Region wurden indigene Volksgruppen um ihr angestammtes Land gebracht. Bei den beiden Bahnlinien, die im Norden Namibias gebaut wurden, galt in einem Korridor von 20 Kilometern zu beiden Seiten der Strecke ein Verbot der landwirtschaftlichen Nutzung. Eine dieser beiden Linien traf die Lebensgrundlage der Herero ins Herz. Über 380 Kilometer verlief die Eisenbahnstrecke durch den Kernbereich der Herero-Landwirtschaft, wodurch den Hirten ein 40 Kilometer breiter Streifen besten Weidelandes verloren ging, den sie nun nicht mehr bewirtschaften durften. Darüber hinaus fielen auch sämtliche Wassernutzungsrechte in diesem Bereich an die Eisenbahn, da Wasser zum Betrieb der Dampflokomotiven benötigt wurde. Der Bau dieser Bahnstrecke war schließlich der Auslöser für den Herero-Aufstand von Januar bis August 1904; das Bauprojekt sollte 27 Prozent des gesamten Herero-Territoriums verschlingen – 3,5 Millionen von insgesamt 13 Millionen Hektar.14 Die Nama ließen hierauf von Oktober 1904 bis November 1905 ihren eigenen Aufstand folgen. Beide Aufstände wurden von der deutschen Kolonialmacht gewaltsam niedergeschlagen, und am Ende lieferte dieser Krieg den Deutschen einen Vorwand, alles Land in der Kolonie an sich zu reißen.

Die ersten Gefechte im Deutsch-Herero-Krieg konnten die Herero für sich entscheiden, doch setzte die überlegene Militärmacht der Deutschen dieser anfänglichen Siegessträhne bald ein Ende. Gouverneur Leutwein hoffte zwar, den Krieg durch Verhandlungen beenden zu können, wurde für diese „allzu milde“ Auffassung von seinen Berliner Vorgesetzten aber scharf gerügt. Im Juni 1904 ersetzte man ihn durch Lothar von Trotha, einen kriegslüsternen Rassisten. Dessen geradezu zwanghaftes Ziel war es, die Herero nicht einfach zu besiegen, sondern sie buchstäblich vom Angesicht der Erde zu tilgen. Dem neuen Gouverneur erschien sein Kampf als ein „Rassenkrieg, der nicht auf die Kapitulation der Herero abzielte, sondern auf die Zerstörung des sozialen Kerns ihrer Existenz“.15 Verhandlungen mit den Herero lehnte von Trotha kategorisch ab und befahl seinen Truppen, „keine männlichen Gefangenen mehr zu machen“.

Von Trothas Völkermord-Strategie beruhte auf drei verschiedenen Methoden, deren Ziel stets dasselbe war: alle Herero zu töten. Die erste Methode war die einer militärischen Ausrottung. Bei der entscheidenden Schlacht des Krieges am 11. August 1904 triumphierten tatsächlich die Deutschen. Aber nicht alle Herero waren getötet worden und insbesondere gab es noch mehrere Tausend Herero-Krieger, die noch nicht geschlagen waren. Die zweite Strategie war deshalb, die verbliebenen Herero tief in die Wüste hineinzutreiben, wo sie verhungern oder, eher noch, verdursten sollten. Was viele auch taten. Der 1909 entstandene offizielle Bericht des britischen Foreign Office über dieses Geschehen kam denn in seiner prägnanten Analyse auch zu dem Schluss, dass der unter General von Trotha geführte Krieg der Deutschen gegen die Herero ein Vernichtungskrieg gewesen war; Hunderte – Männer, Frauen und Kinder – seien in die Wüste getrieben worden, wo sie qualvoll hätten verdursten müssen.16

Von Juni bis September fällt auf dem „Sandveld“ der namibischen Omaheke-Wüste in der Regel gar kein Regen; noch bis Januar regnet es nur sehr wenig. Die Durchschnittstemperatur im September beträgt 30 °C, im Oktober 32 °C und im November 33 °C. Die monatelange Hitze nach monatelanger Trockenheit sorgte dafür, dass Tausende der in die Wüste geschickten Menschen dort starben. Dennoch empfand von Trotha offenbar keinerlei Mitgefühl für die Herero. Am 13. September 1904 meldete er, dass Herero-Frauen und -Kinder in großer Zahl einträfen und um Wasser bettelten. Der Gouverneur gab Order, sie unverzüglich und mit Gewalt in die Einöde zurückzujagen.

Die Soldaten der deutschen Schutztruppe blockierten nach Möglichkeit die Wasserlöcher, damit die Herero nicht aus ihnen trinken konnten. Auch vergifteten sie diese Wasserstellen, als sie bei ihrem Vormarsch in die Wüste die Herero vor sich hertrieben. Wer von den Unglücklichen sich auf den Rückweg begab, fand dort kein trinkbares Wasser mehr. Wie einer seiner deutschen Untertanen in einem Brief an Kaiser Wilhelm II. ausführte: „Unsere […] Soldaten [müssen ihnen] die Trinkstellen gehörig vergiften. Denn wir kämpfen nicht mit ehrlichen Feinden, sondern mit halben Menschen.“17 Am 2. Oktober 1904 erteilte von Trotha in einer Proklamation seinen „Vernichtungsbefehl“, der es zu trauriger Berühmtheit gebracht hat: „Das Volk der Herero muss […] das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr [d. h. mit Kanonen] dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen.“18

Die Endlösung für die verbliebenen Herero war, dass sie in Konzentrations- und Todeslager gebracht wurden, die wegen der dort herrschenden, unerträglichen Brutalität schon bald berüchtigt waren. In der historischen Forschung hat man hierin, ob nun zu Recht oder Unrecht, Vorbilder für die nationalsozialistischen Vernichtungslager gesehen, die dreißig Jahre später eingerichtet wurden. Im nördlichen Inland von Namibia gab es zwei solcher Lager – bei der Hauptstadt Windhoek und in Okahandja, welches der bevorzugte Stammsitz der Herero war. Das Konzentrationslager Windhoek hatte 5000 Insassen, deren tägliche Essensration aus einer Handvoll ungekochtem Reis bestand, dazu etwas Salz und Wasser. Aber die beiden Lager in Küstenorten am Atlantik waren noch viel schlimmer, was das Ausmaß der Zwangsarbeit, fehlende Lebensmittel und medizinische Versorgung sowie die unmenschliche Grausamkeit der Aufseher und Wachen anging. Im Lager der Hafenstadt Swakopmund beispielsweise starben im Zeitraum von Februar bis Mai 1905 nicht weniger als 40 Prozent der Gefangenen.

Das schlimmste Schicksal erwartete jedoch alle, die man nach Lüderitzbucht im äußersten Südwesten des Landes brachte; dort starben 80 Prozent der Gefangenen. Ein Augenzeugenbericht lässt erkennen, wie schrecklich der Alltag auf der „Haifischinsel“, einer Halbinsel in der Lüderitzbucht, damals war. Sein Verfasser war Samuel Kariko, ein Herero-Lehrer, dessen Vater Daniel Kariko ein wichtiger Herero-Anführer gewesen war:

„Ich ging nach Okambahe, in die Nähe meiner alten Heimat, und ergab mich. Wir hatten gar kein Vieh mehr, und weit mehr als drei Viertel unseres Volks war tot. Es gab nur noch einige wenige Tausend von uns, und wir waren wandelnde Skelette ohne Fleisch, nur Haut und Knochen. […] Ich wurde mit anderen auf eine Insel weit im Süden, in die Lüderitzbucht, geschickt. Dort auf dieser Insel waren Tausende von Herero und Hottentotten [Nama] Gefangene. Wir mussten dort leben. Männer, Frauen und Kinder waren alle zusammengekauert. Wir hatten keine richtige Kleidung, keine Decken und die Nächte dort draußen waren bitterkalt. Der nasse Seenebel hat uns durchnässt und unsere Zähne klappern lassen. Die Menschen starben dort wie Fliegen, die man vergiftet hatte. Die große Mehrheit starb dort. Zuerst starben die kleinen Kinder und die alten Leute, dann die Frauen und die schwächeren Männer. Kein Tag verging ohne viele Tote.“19

In diesem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts wurden 81 Prozent der Herero umgebracht – auf dem Schlachtfeld, in der Wüste, in den Todeslagern. In zwei anderen größeren Volksgruppen Namibias betrug die Todesrate 51 Prozent beziehungsweise 57 Prozent. Die Gesamtzahl der indigenen Todesopfer bei diesen drei örtlich beschränkten Völkermorden betrug mehr als 92 000. Und als einen geradezu teuflisch-sadistischen und rachsüchtigen K.-o.-Schlag für die traditionelle Identität und Kultur der Herero verboten die Deutschen ihnen für die Zukunft jeglichen Vieh- oder Landbesitz.

Von den dreifach gestuften Identitäten – der lokalen, der nationalen und der globalen – ist die lokale hier die einschlägige, vor allem bei den Herero, die weder eine nationale noch eine globale Identität besaßen, sondern deren Identität ganz auf ihre ethnische Gemeinschaft ausgerichtet war. Sie hatten aber auch regionale Beziehungen nach Südafrika. Den Deutschen war es natürlich wichtig, sich mit ihrem noch relativ jungen – 1871 gegründeten – Nationalstaat zu identifizieren und dessen Ziele zu verfolgen. Das Deutsche Reich war im Wettstreit der Kolonialmächte ein Nachzügler und wollte desto mehr als Weltmacht wahrgenommen werden. Das deutsche Auftreten in Südwestafrika war deshalb wichtig für das „Image“ des Deutschen Reiches – seine Identität – in den Augen der Weltöffentlichkeit. Das war auch der Grund, aus dem der Kaiser schließlich einschritt und von Trothas Genozid beendete.

Die übergeordnete Erzählung in der Geschichte der Herero und des deutschen „Schutzgebiets“ in Südwestafrika handelt davon, wie sich das Deutsche Reich – in imperialistischer Manier – daranmachte, die Identität der Herero zu vernichten. Im Normalfall verändern sich Identitäten langsam, im Laufe der Zeit. Die Deutschen aber nahmen sich als Erstes die stark traditionell verankerte Identität der Herero- und Nama-Stammesführer auf ihren verschiedenen Hierarchieebenen vor, die sie schmälerten und schließlich ganz zerstörten, indem sie die meisten von ihnen im Kampf besiegten. Dann brachten sie durch Manipulation, List und regelrechte Gaunereien die Quelle, aus der sowohl Herero als auch Nama ihren Lebensunterhalt bezogen, in ihre Hand – nämlich die Rinderzucht –, und mit den Rindern wurden gewissermaßen auch die traditionellen Identitäten dieser beiden Gruppen abgeschlachtet. Durch den erheblichen Druck, der diesen Prozess begleitete, schufen die Deutschen für die indigenen Völker Namibias eine neue, „weißenfreundlichere“ Identität: Ihre einzige Rolle war nun die von unterwürfigen Dienern für die Weißen aus Europa; rechtlos waren sie und konnten sich weder durch die Rinderhaltung noch den Ackerbau mehr selbst ernähren, waren zudem jederzeit der „väterlichen Züchtigung“ (wie es über die Auspeitschungen verharmlosend hieß) durch die deutsche Kolonialgewalt ausgesetzt und erhielten nur einen kargen, völlig unangemessenen Lohn.

Die vielleicht wichtigste der drei persönlichen politischen Identitäten war die individuelle, deren örtliche Verwurzelung in der Epoche der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts besonders in den Blick geriet. Durch dieses besondere Augenmerk wurden positive Aspekte des Individualismus überhöht, welcher als „die Angewohnheit oder das Prinzip, unabhängig und selbstständig sein zu wollen“ definiert wurde, aber auch als „die Behauptung persönlicher Handlungsfreiheit gegenüber kollektiver oder staatlicher Kontrolle“.20 Diese Charakterisierung hätte offenbar sowohl auf Hendrik Witbooi als auch auf Lothar von Trotha zugetroffen. Die Prämisse des Individualismus ist ja, dass die Interessen des Individuums einen ethischen Vorrang vor denen anderer Gesellschaftsmitglieder besitzen (oder zumindest besitzen sollten) und dass Individuen dem Gemeinwohl dann am besten dienen, wenn sie ihre eigenen, persönlichen Interessen verfolgen. Dies war die Leitperspektive der deutschen Kolonisatoren: Sie konnten ihr Verhältnis zu den ihnen untergebenen Herero ganz individuell bestimmen, konnten etwa entscheiden, ob (und wenn ja, wie) sie deren Rinder rauben sollten, wann sie Einzelne von ihnen auspeitschen lassen sollten und wie weit sie sie anschließend in die Wüste treiben wollten. Für Herero und Nama brachte der Individualismus – von Witboois früherem Eigensinn ganz abgesehen – nichts als unerwünschte Aufmerksamkeit in den Augen des Feindes; für die Unterworfenen der Kolonialgesellschaft war der Individualismus deshalb wohl nicht die Strategie der Wahl. Ein ungezügelter Individualismus konnte einen stark schädlichen Effekt auf eine Gesellschaft oder Nation haben, indem er den harmonischen Zusammenhalt von Familien, Gruppen und des ganzen Nationalstaats bedrohte und untergrub. Der Individualismus vermochte starke Spannungen hervorzurufen und das Verhältnis zwischen Individuum und Staat (oder der Individuen untereinander) auf komplexe Weise zu beeinflussen. Die Identifikation eines Individuums mit einer bestimmten Rasse oder Ethnie oder mit gewissen Zielen und Perspektiven schuf einen fruchtbaren Boden, auf dem Konflikte zwischen indigenen Gruppen und der deutschen Kolonialmacht keimen konnten.

Eine zweite signifikante Identitätsform im 20. Jahrhundert war die Nation – als jene politisch-sozial-kulturelle Einheit, durch deren Linse viele Menschen ihre Rollen in der Gesellschaft und der Welt begriffen, und zugleich als die Gebietseinheit, die sie als ihr Heimatland definierten. Der Nationalstaat ist nämlich nicht immer das „Standardmodell“ für eine politisch-territoriale Einheit gewesen; vor dem 16. und dem 17. Jahrhundert gab es Stadtstaaten, dynastische Staaten, Stammesstaaten und multiethnische Großreiche. Doch im 19. und 20. Jahrhundert etablierte sich überall auf der Welt der Nationalstaat als die grundlegende politisch-geografische Einheit. Wie zuvor lokale Machtbasen oder dynastische Hausmacht, so konnte auch der Nationalismus ins Negative umschlagen und schlimme Folgen nach sich ziehen. Nicht selten provozierten Nationen internationale Spannungen und Ängste, immer wieder waren sie es, die Kriege anzettelten und führten. Oft traten Nationen wie selbstsüchtige Rüpel auf, die andere, kleinere Nationen demütigten und keine Gelegenheit ausließen, das Leben ihrer Staatsbürger für Geld, Macht und Prestige aufs Spiel zu setzen.

Die andere territoriale „Einheit“, die zunehmend wichtiger wurde, war die globale. In den Weltreichen verschiedener westeuropäischer Mächte entstand im 17. und 18. Jahrhundert die Globalisierung, die sich dann in dem immer weiter ausgreifenden, weltweiten Handels- und Austauschnetz des 19. Jahrhunderts fortentwickelte. Das Bewusstsein der Menschen für die unterschiedlichen Kontexte ihres Lebens wuchs im 20. Jahrhundert merklich, was teils an der wachsenden Alphabetisierung lag, teils aber auch an der revolutionären Beschleunigung von Kommunikation und Transport. Sie verstanden jetzt immer besser, wie ihr eigenes Leben sich in die Gesellschaft einfügte (oder eben nicht einfügte), in welchen Wechselbeziehungen sie zum Sein und Handeln ihrer Mitmenschen standen und in welchem Ausmaß sich bestimmte Aspekte der Globalisierung auch auf sie auswirkten.21

Die norwegische Medizinerin Gro Harlem Brundtland amtierte ab dem späten 20. Jahrhundert als Ministerpräsidentin ihres Landes (1981, 1986–89, 1990–96), Vorsitzende der UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung („Brundtland-Kommission“), Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UN-Sonderbeauftragte für den Klimawandel. Immer wieder hat sie sich über die zentrale Bedeutung der Globalisierung für die Gegenwart und die Zukunft geäußert: „Wenn die Globalisierung ihr Potenzial als eine positive Kraft realisieren und das Gute bewirken soll, müssen wir einen genaueren Blick auf die Mittel werfen, mit denen wir unsere wachsende Verflechtung handhaben. Wir haben keine Weltregierung, aber wir haben ein immer komplexeres Netzwerk von Institutionen, die mit politischer Steuerung und Koordination auf der globalen Ebene befasst sind. Diese Institutionen sind von zentraler Bedeutung für unsere Zukunft und für die internationale Menschenrechtspolitik.“22

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat man den Eindruck, dass diese drei politischen Loyalitäten – die individuell-lokale, die nationale und die globale – in einem ständigen Tauziehen miteinander wetteifern, wobei jede der drei Ebenen den anderen mehr Macht und Einfluss abgewinnen will. Ist das ein Echo dessen, was die ganze Welt im 20. Jahrhundert erlebt hat? Oder waren die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts lediglich ein struktureller Auftakt oder ein thematisches „Aufwärmen“ für entscheidende Entwicklungen, die uns im 21. Jahrhundert noch bevorstehen? Letztlich stellt sich die Frage: Welche der Rollen, die das 20. Jahrhundert gespielt hat, haben am stärksten dazu beigetragen, das 21. Jahrhundert auf seinen eigenen Weg zu setzen?

KAPITEL 1: WELTKRIEG UND SOZIALER WANDEL (1900–1919)

Die mehr als 50 Millionen Besucher, die zur Weltausstellung 1900 in Paris kamen, erreichten das Ausstellungsgelände zu Fuß oder in Pferdekutschen. Aber wie der Zeitreisende aus H. G. Wells’ 1895 erschienenem Roman Die Zeitmaschine betraten sie ein unerwartetes Universum aus Röntgenmaschinen, Funktelegrafen, Tonfilmen, Dieselmotoren und riesigen Stromaggregaten. Diese Generatoren versorgten den atemberaubenden „Palast der Elektrizität“ mit seinem Lebenssaft: 5000 farbige Glühlampen und acht gewaltige Suchscheinwerfer verlangten nach Strom. Die Besucher konnten das Ausstellungsgelände auf der „Straße der Zukunft“ erkunden, einem 3,5 Kilometer langen Laufband (mit drei Geschwindigkeitsstufen), wenn sie nicht gerade eine der Rolltreppen benutzten. Der amerikanische Historiker Henry Adams zeigte sich derart beeindruckt von dieser neuen Technik, dass er schrieb, sein „Genick als Historiker“ sei „durch den plötzlichen Einbruch von völlig neuen Kräften gebrochen“ worden.1

Für die sich in atemberaubender Geschwindigkeit industrialisierenden Gesellschaften West- und Mitteleuropas sowie der Vereinigten Staaten brachten die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts das Hochgefühl revolutionärer Fortschritte in Wissenschaft und Technik; aber sie brachten auch die Angst vor ihren noch unbekannten Folgen. Manch einer zeigte sich besonders besorgt darüber, dass neue Technologien auf die gewohnten Lebensweisen und Weltbilder einwirken und diese mit Kraft verändern könnten. Wie Adams erkannte hatte, vermochten die Werte der modernen Zivilisation durchaus, traditionelle Moralvorstellungen infrage zu stellen – und die gesellschaftlichen und kulturellen Wegweiser, an denen sich die meisten Lebenswege bislang ausgerichtet hatten, noch dazu. Was die große Masse der Bevölkerung betraf, waren die unmittelbar wichtigsten neuen Erfindungen das Radio, das Kino, das Grammofon sowie der Verbrennungsmotor. Die auch langfristig folgenreichsten wissenschaftlichen Entdeckungen jener Zeit hingegen sollten erst um die Mitte des Jahrhunderts ihre volle Wirkung entfalten: die Entdeckung des Elektrons (1897), die Entwicklung der Quantentheorie (1900) und die Spezielle Relativitätstheorie (1905).

Im Lauf der vorangegangenen sechs Jahrzehnte hatten die Nationen Nordwesteuropas der Industrialisierung den Weg gebahnt und Weltreiche geschaffen, aus denen sie Rohstoffe importieren und in die sie Fertigerzeugnisse exportieren und verkaufen konnten. Inmitten der technologischen und demografischen Wandlungsprozesse, die mit dieser Industrialisierung einhergingen, veränderten sich auch die soziale und die politische Szenerie Europas rasant: Indem Bauern aus der Landbevölkerung in die Städte strömten, entstand in diesen Zentren der Industrialisierung eine zunehmend selbstbewusste Arbeiterschaft. Zugleich blickten die grundbesitzenden Eliten des ländlichen Raums voller Sorge in die Zukunft. In Nordamerika schritt die Industrialisierung zwar rasch voran, doch exportiert wurden weiterhin größtenteils Agrarprodukte und Rohstoffe. Asien, Lateinamerika, Afrika und Ozeanien betrieben fast ausschließlich Landwirtschaft, exportierten jedoch ein breites Spektrum an tierischen, agrarischen und mineralischen Rohstoffen: Kautschuk, Zuckerrohr, Kokosnüsse und Palmfett, Guano, Robbentran und Leder, Salz, Tee, Reis, Weizen, Baumwolle und Leinen, um nur einige zu nennen. Durch seine „Globalisierung“ verband der Handel die verschiedenen Weltgegenden immer enger, schuf in zunehmendem Maß gegenseitige Abhängigkeiten auf wirtschaftlicher und wachsende Verflechtungen auf politischer Ebene, was wiederum zu einem immer breiter gefächerten kulturellen Austausch führte. Studien haben gezeigt, dass bei den wichtigsten imperialistischen Mächten auf der globalen Bühne (Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Großbritannien, Spanien und die Vereinigten Staaten) im Zeitraum von 1870 bis 1913 der Export von Handelswaren – betrachtet als prozentualer Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts – ein immer größeres Stück ihrer wirtschaftlichen Gesamtleistung ausmacht.2 Hieran lässt sich deutlich ablesen, dass die wirtschaftlich weit fortgeschrittenen Länder damals moderne Erzeugnisse zum Kauf anboten, mit deren Herstellung sie in der industriellen Revolution begonnen hatten, und die Welt damit in einen einzigen, globalen Handelsplatz verwandelten.

Die Globalisierungsepoche von 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs könnte man somit als das erste Zeitalter der Globalisierung in der modernen Welt bezeichnen.

Abbildung 1: Die „Straße der Zukunft“ war eine der Hauptattraktionen bei der Weltausstellung 1900 in Paris. Der 3,5 Kilometer lange Fahrsteig verlief in einem Rundkurs über das Ausstellungsgelände und bot zwei parallele Laufbänder, von denen eines mit voller Geschwindigkeit (8 km/h), das andere mit halber Geschwindigkeit lief. (Brown Digital Repository, Brown University Library)

Auch die massiven Bevölkerungsverschiebungen durch Migration, die sich im Zeitraum von 1860 bis 1914 abspielten, ließen das Voranschreiten der Globalisierung deutlich erkennen. Die meisten Migranten konnten sich damals relativ frei bewegen und Grenzen problemlos überqueren, zum Teil, weil die staatliche Kontrolle und Regulierung noch lange nicht ihr späteres Ausmaß erreicht hatte. Wer sich damals zur Migration entschloss, tat dies aus einem Bündel verschiedener Hoffnungen heraus: Man erhoffte sich Landbesitz und einen besserenVerdienst; politische, religiöse oder soziale Selbstbestimmung; Freiheit von Wehrdienst, erdrückender Steuerlast oder einem starren, repressiven Gesellschaftssystem. Die Arbeitsmärkte fremder Länder hatten eine enorme Sogkraft und lockten gewaltige Menschenströme, beispielsweise, über den Atlantik: 52 Millionen Emigranten verließen damals Europa mit Ziel Amerika, wobei 72 Prozent von ihnen (37 Millionen Menschen) nach Nord- und 21 Prozent (11 Millionen) nach Südamerika gingen. Verfolgung und Gewalt waren starke „Push-Faktoren“, die Menschen dazu brachten, ihre Heimat zu verlassen; so etwa bei den staatlich sanktionierten Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung im russischen Zarenreich: Zwischen 1899 und 1914 suchten 1,5 Millionen russische und polnische Juden Zuflucht in den Vereinigten Staaten.

Die Besucher der Weltausstellung von 1900 bekamen auch etwas von den Olympischen Spielen dieses Jahres mit, die gleichzeitig in Paris stattfanden. Die Liste der teilnehmenden Nationen unterschied sich bereits deutlich von derjenigen der Spiele 1896 in Athen; die Welt hatte sich inzwischen gewandelt. In Griechenland waren 85,7 Prozent der Teilnehmer Europäer gewesen, doch schon vier Jahre später waren es nur noch 58 Prozent. Langsam, aber unleugbar hatte das eurozentrische Weltbild begonnen, sich zu verändern. Stattdessen zeigte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch bei Olympia, dass die „imperialistischen Globalisten“ der westlichen Welt über koloniale Großreiche geboten, die sich in alle Winkel der Erde erstreckten. Zwei Teilnehmer der Olympiade von Paris waren Kolonien: Indien (von Großbritannien) und Kuba (der Vereinigten Staaten, wenn auch nur für kurze Zeit). Die Niederlande und Frankreich hoben ihre Kolonien in ihren jeweiligen Länderpavillons besonders hervor. Im niederländischen Pavillon konnte man das Modell eines buddhistischen Tempels aus Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) bewundern. Die Franzosen präsentierten einen „Menschenzoo“ von indigenen Afrikanern, die in Dioramen ausstaffiert das Ambiente ihrer Heimat simulieren sollten, die unter französischer Kolonialherrschaft stand. Den Kontext für diese Zurschaustellung der „Eingeborenen“ bildete die Vorstellungswelt des rassistischen Imperialismus: Die Afrikaner wurden als primitiv, minderwertig und exotisch dargestellt, als gehorsame Schüler ihrer weißen europäischen Lehrmeister.

Eine der spannungsreichsten Herausforderungen auf der Ebene des Individuums war die immer stärkere Sichtbarkeit und – durchaus auch fordernde – Selbstsicherheit von Frauen, die in Paris erstmals an den Olympischen Spielen teilnehmen durften. Auch ihre sich nun wandelnde Stellung in der Welt spiegelte im Wesentlichen ökonomische Veränderungen wider: In zumindest einigen westeuropäischen Staaten durften Frauen mittlerweile Grundeigentum besitzen und auch eigenen Lohn beziehen, über den sie frei verfügen konnten (wobei sie allerdings nur etwa die Hälfte von dem verdienten, was ein Mann in vergleichbarer Stellung bekam). Eine große Zahl von Frauen erhielt Zugang zu Bildung und Ausbildung; viele nichtkatholische Länder legalisierten die Ehescheidung; Gesetze wurden erlassen, um das Ausmaß von häuslicher Gewalt gegen Frauen zumindest „einzudämmen“. Manche Männer verübelten den Frauen diesen vermeintlichen „Machtgewinn“, da sie ihn als eine implizite Infragestellung der männlichen Vorherrschaft ansahen. Nach ihrer Auffassung hatte mit der Einführung des Frauenwahlrechts beispielsweise das letzte Stündlein der Zivilisation geschlagen.

Bei dieser Einführung des Frauenwahlrechts nahm Neuseeland 1893 eine Vorreiterrolle ein, gefolgt von Finnland (1906) und Norwegen (abgestuft von 1907 bis 1913). Im Zusammenhang des großen Ganzen sollte freilich bedacht werden, dass selbst das allgemeine Männerwahlrecht bei Weitem nicht überall galt. In Norwegen, Spanien, Belgien, Finnland, Österreich, Schweden und Portugal war es bis 1910 eingeführt. Doch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts waren es vor allem Frauenrechtsverbände, die Vortragsveranstaltungen und Kundgebungen organisierten, um lautstark ihr Wahlrecht einzufordern. Am Women’s Sunday, dem 21. Juni 1908, kamen geschätzt 250 000 Frauen (und Männer) in den Londoner Hyde Park; drei der fünf Redner waren Männer: der Dramatiker und spätere Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw; der schottische Gewerkschafter und Politiker Kier Hardy; und Israel Zangwill, ein populärer Autor und prominenter Vertreter der zionistischen Bewegung. Die Menge der Demonstranten ihrerseits forderte die britische Regierung auf, unverzüglich das Frauenwahlrecht einzuführen. Aber der Premierminister Herbert Asquith weigerte sich, einen solchen Gesetzesvorschlag auch nur zur Diskussion zu stellen. Auf weitere Proteste der „Suffragetten“ genannten Frauenrechtsaktivistinnen, die unter anderem Fenster in der Downing Street Nr. 10, dem Amtssitz des Premiers, einschlugen, folgten absolut überzogene Repressionsmaßnahmen der Polizei: Die Aktivistinnen wurden mit Knüppeln und mit Fäusten geschlagen, zu Boden geworfen und sexuell misshandelt. Als Antwort auf die Frage „Weshalb das Frauenwahlrecht?“ erklärte die Wortführerin der Suffragetten Emmeline Pankhurst: „Wir müssen die eine Hälfte der Menschheit – die Frauen – befreien, damit diese mithelfen können, die andere Hälfte zu befreien.“3 Allerdings sollte der Erste Weltkrieg die Suffragetten vorübergehend zum Schweigen bringen.