Die letzten Geheimnisse des Orients - Daniel Gerlach - E-Book
SONDERANGEBOT

Die letzten Geheimnisse des Orients E-Book

Daniel Gerlach

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Roadtrip in die faszinierend verwobene Geschichte von Morgen- und Abendland

Wer war Jesus, und wenn ja, wie viele? Wie konnte ein künstlerisch begabter Hippie eine Weltreligion begründen? Was hat »Der Exorzist« mit dem »IS« zu tun? Und warum schweigt man auf den Golan-Höhen lieber, wenn man Schnurrbartträger ist?

Kaum eine Weltregion übt stärkere Faszination auf die Menschen im Abendland aus, als der Orient, die Wiege der drei großen monotheistischen Weltreligionen. Doch überschatten heute Nachrichten von Krieg und Terror zu oft das reiche kulturelle Erbe, das die Region über Jahrhunderte lang zum Paradebeispiel für Vielfalt und Toleranz machte. Es ist an der Zeit, diese wenig beleuchtete Seite der faszinierenden Geschichte des Orients zu erzählen. Auf einer spannenden Entdeckungsreise zwischen Persischem Golf und Bosporus spürt Daniel Gerlach dem kulturellen Reichtum des Orients nach, dessen Erbe unsere Welt bis heute prägt, und lädt uns dazu ein, die großen Gemeinsamkeiten von Orient und Okzident wiederzuentdecken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 490

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein Roadtrip in die faszinierend verwobene Geschichte von Morgen- und Abendland

Wer war Jesus, und wenn ja, wie viele? Wie konnte ein künstlerisch begabter Hippie eine Weltreligion begründen? Was hat Der Exorzist mit dem »IS« zu tun? Und warum schweigt man auf den Golanhöhen lieber, wenn man Schnurrbartträger ist?

Kaum eine Weltregion übt stärkere Faszination auf die Menschen im Abendland aus, als der Orient, die Wiege der drei großen monotheistischen Weltreligionen. Doch überschatten heute Nachrichten von Krieg und Terror zu oft das reiche kulturelle Erbe, das die Region über Jahrhunderte lang zum Paradebeispiel für Vielfalt und Toleranz machte. Es ist an der Zeit, diese wenig beleuchtete Seite der faszinierenden Geschichte des Orients zu erzählen. Auf einer spannenden Entdeckungsreise zwischen Persischem Golf und Bosporus spürt Daniel Gerlach dem kulturellen Reichtum des Orients nach, dessen Erbe unsere Welt bis heute prägt, und lädt uns dazu ein, die großen Gemeinsamkeiten von Orient und Okzident wiederzuentdecken.

Daniel Gerlach (geb. 1977) studierte Geschichte und Orientalistik an den Universitäten Hamburg und Paris IV Sorbonne. Er ist Autor und Herausgeber mehrere Sachbücher zu Geschichte und Gegenwart der arabisch-islamischen Welt und tritt regelmäßig als Nahost-Experte in deutschen und internationalen Medien auf. Gerlach ist Mitgründer und Chefredakteur des Nahost-Magazins zenith und Direktor des Thinktanks Candid Foundation in Berlin. Zudem ist er derzeit beratend an Dialogrunden und Friedensinitiativen in Syrien und dem Irak beteiligt.

»Einer der führenden deutschen Experten für den Nahen Osten.«   Claus Kleber

»Daniel Gerlach schafft es, die Widersprüchlichkeit, aber auch die Vielfalt, Dynamik und Kreativität der Region und ihrer Bewohner lebendig zu beschreiben.«   SZ, René Wildangel über »Der Nahe Osten geht nicht unter«

www.cbertelsmann.de

DANIEL GERLACH

Die letzten

Geheimnisse

des Orients

Meine Entdeckungsreise

zu den Wurzeln unserer Kultur

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 C. Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Karte: Peter Palm, Berlin

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Coverfoto: © Mahmut Koyaş

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29254-6V002

www.cbertelsmann.de

Inhalt

1  Tataouine

2  Philae

3  Kairo

4  Chaibar

5  Mada’in Salih

6  Petra

7  Jerusalem

8  Hattin

9  Baalbek

10  Babylon

11  Seleukia-Ktesiphon

12  Amara

13  Sulaimaniyya

14  Hatra

15  Harran

16  Samandağ

17  Antakya

18  Ephesus

19  Istanbul

Anmerkungen

Bildteil

Vorsatz

Garder un secret consiste à ne le répéter qu'à une seule personne à la fois.

Ein Geheimnis zu bewahren bedeutet, dass man es niemals mehr als einer Person zugleich weiter erzählt.

MICHELAUDIARD

Les trois Mousquetaires (Film, 1953)

1

Tataouine

CHRISTEN, MUSLIME, HÄRESIEN

Eine galaktische Schlacht zwischen Gut und Böse, die man am besten verschläft.

Ich überquere den Damm über den Großen Salzsee, den Schott el-Dscherid, vor mir liegen die »Tore der Wüste«. Hier verlief einst die südliche Grenze der römischen Provinz Africa. Eine gedachte Verbindungslinie zwischen Oasen und kleinen Wehrkastellen: der Limes tripolitanus. Die schon tief stehende, aber heiße Septembersonne bringt die Luft über dem Schott zum Flirren. Ein ockerfarbenes Netz aus Millionen Schuppen säumt den Damm auf beiden Seiten, als bleiche hier die abgestreifte Haut einer urzeitlichen Riesenschlange vor sich hin. Wer lange genug am Schott el-Dscherid verweilt, kann eine Luftspiegelung beobachten, eine Fata Morgana. Das Wort mag orientalisch klingen, ist aber die italienische Bezeichnung für eine keltische Sagengestalt, der Fee Morgana oder Morgan le Fay.

Nach etwa einer Stunde südwärts verändert sich die Landschaft. Links und rechts der kargen Ebene türmen sich nach und nach Gesteinsformationen auf. Für Geologen muss diese Gegend ein Abenteuerspielplatz sein; die verschiedenen Erdzeitalter treten hier deutlich zutage. Und auch die Paläontologen kommen auf ihre Kosten. 2002 fanden sie hier den Unterkiefer eines Spinosaurus, des größten Fleischfressers, der je auf diesem Planeten sein Wesen trieb. Auf den Rückenwirbeln seines 18 Meter langen Echsenleibs schleppte er ein gigantisches Segel mit sich herum. Solche Fossilien müssen es gewesen sein, die seit alters her nicht nur den Mythos der Drachen am Leben hielten, sondern auch die Überzeugung, diese Landschaft sei nicht von dieser Welt.

Dieser Ort wirkte unwirtlich, noch lange bevor man mit Teleskopen und Sonden den Planeten Mars erforschte und feststellte, dass dessen Oberfläche mit der Gegend im Süden Tunesiens eine gewisse Ähnlichkeit aufweist. Den Namen des Ortes aber kennen heute Millionen Menschen auf der Welt, er hallt immer wieder fort von den Leinwänden und Bildschirmen. »Tatooine« heißt der Heimatplanet eines galaktischen Helden. Hier eröffnete George Lucas sein Weltraumabenteuer Star Wars (Krieg der Sterne). Und im südlichen tunesischen Gouvernorat Tataouine begannen auch die Dreharbeiten. Am 26. März 1976. »Amerika brachte einen Krieg von intergalaktischem Ausmaß nach Tunesien«, urteilte die Nachwelt.1 Und Hollywood nahm es mit mächtigen Gegnern auf: Sandstürmen, plötzlichen Regengüssen, die in diesem für seine Trockenheit berüchtigten Gebiet schnell zu Sturzfluten ausarten, Streit am Set und einem Autounfall des jugendlichen Hauptdarstellers Mark Hamill (Luke Skywalker). Die Produktion auf dem Wüstenplaneten stand unter keinem guten Stern.2 Ein monströses, laut Konstruktionsplan 40 Meter langes und 20 Meter hohes Kettenfahrzeug, schürte das Misstrauen gegenüber den Amerikanern und rief militärische Spannungen hervor. Brachte man hier, so nahe an der libysch-tunesischen Grenze, eine geheime, bewegliche Raketenabschussrampe der US-Streitkräfte in Stellung?

Oberst Muammar al-Gaddafi, der damalige Herrscher über Libyen, entsandte Späher nach Tataouine, die dämlich geschaut haben dürften, als sie feststellten, was in dem gigantischen »Sandcrawler« tatsächlich steckte: »Jawas«, kleine fleißige Humanoide, die auf dem fiktiven Planeten Rohstoffe abbauten, ihre zwergenhaften Leiber dabei aber in die braune »Qashabiya« hüllten, einen im realen Tataouine traditionellen Kamelhaarmantel mit Kapuze.

Die Sets in der Wüste blieben auch weit später noch der Stolz der tunesischen Filmindustrie. Als ich im Jahr 2009 als Autor und Regisseur von Fernsehdokumentationen in Tunesien unterwegs war, um einen geeigneten lokalen Produktionspartner zu suchen, landete ich im Büro eines jovialen Herrn, der Zigarren rauchte. Als ich ihn höflich fragte, ob er mir Referenzen nennen könne, grinste er mich durch eine blaue Wolke an, hielt einen Moment lang inne und antworte: »Schon mal von Star Wars gehört?« Die Sets stehen heute noch dort, etwa der Ksar Haddada, ein mehrgeschossiger Lehmbau. In einer Episodeliegt hier das Quartier eines berüchtigten Sklavenhalters.

Ein privater Verein aus Freiwilligen kümmert sich um seine Instandhaltung. Gelegentlich kommen Touristen vorbei. Sie sollen Tataouine als Hollywood-Set in Erinnerung behalten und nicht, wie die Stadt in jüngster Zeit in der deutschen Presse genannt wurde, als Terroristennest oder »Hochburg der Gotteskrieger«.3 Aus der armen Stadt Tataouine hatten sich einige junge Männer dem »IS«, dem sogenannten »Islamischen Staat« angeschlossen. Auch Anis Amri, der vermeintliche Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, wurde in dieser Stadt geboren. Aber in gewisser Weise schließt sich hier der Kreis dieser Geschichte.

Die Dschihadisten des IS nämlich glaubten, die finale Schlacht um Gut und Böse habe begonnen und allein sie selbst stünden auf der richtigen Seite. Auch die Handlung im Krieg der Sterne ist eingebettet in einen ewigen Kampf zwischen den Mächten des Lichts und jenen der Finsternis. Die Rebellen um den zum charismatischen Führer erwachten Luke Skywalker nehmen es darin mit einem übermächtigen Gegner auf. Sie dringen in einem Himmelfahrtskommando vor in das Herz des Todessterns. Viele Märtyrer bleiben zurück auf dem Schlachtfeld der Galaxie. Skywalker und seine Getreuen aber führen einen Kampf, der größer ist als sie. Auf Arabisch würde man ihn wahrscheinlich als »Dschihad« bezeichnen.

Wie passt nun der verlassene Drehort von Krieg der Sterne in die Religionsgeschichte? Alles ist ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkel, zwischen unauflösbaren Gegensätzen. Die »Macht« hat eine dunkle und eine helle Seite. Und am Ende erfahren wir, dass der Gute und der Böse Sohn und Vater sind. Der Erlöser ist gekommen. Und er muss der Versuchung durch die dunkle Seite der Macht widerstehen. Wer durch die Religionsgeschichte reist, wird immer wieder feststellen: Ein guter Held muss denjenigen überwinden, aus dem er hervorgegangen ist. Man denkt, nun herrsche Frieden auf Erden. Bis das Böse wieder einsickert wie Wasser in ein leckes Schiff. Und der Kampf von vorne beginnt.

Dieses Weltbild prägt die populäre Kultur unserer Zeit. Und es ist wohl eine der großen Ironien der Geschichte, dass es uns direkt in das frühe Christentum zurückführt, das sich vom 1. bis zum 5. Jahrhundert im Mittelmeerraum entfaltete. Es ist das Weltbild einer großen Häresie: »Gnosis«, was das griechische Wort für (geheimes) Wissen ist. Eine Bewegung, die sich selbst so nannte, gab es allerdings nie. Nichtsdestotrotz fasst man – in Ermangelung eines anderen, passenderen Begriffs – darunter die Vielfalt an religiösen Ideen zusammen, die zum einen aus dem »neuen Weg« des Christentums hervorgingen, und zum anderen in das christliche Spektrum von außen hineinmäanderten.

Die Gemeinsamkeit all jener Strömungen ist, dass sie sich mit der Offenbarung der Bibel und des Evangeliums nicht zufrieden geben wollten und hofften, dass das Wissen über die Geheimnisse des Kosmos’ zur Erlösung führt. Und dass man so die Misere des materiellen, irdischen Lebens überwinden kann. Generationen von christlichen Autoren haben sich am Gnostizismus abgearbeitet. Und liest man die frühen Werke der Christen, hat man oft den Eindruck, dass der Kampf gegen die Häresien die eigene Identität deutlicher prägte als der Glaube selbst.

Tatsächlich führt sogar eine Spur aus der Spätantike von den verfolgten Gnostikern hin zu Star Wars. Regisseur und Autor George Lucas las die Schriften des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung, der sich für die Gnosis begeisterte. In einem Interview erklärte Lucas einmal, dass auch ihn diese Schriften sehr geprägt hätten.4 Das Hollywood des 20. Jahrhunderts war schließlich nicht nur eine Traumfabrik, sondern auch durchdrungen von der Sehnsucht nach Erlösung: esoterische Zirkel, Scientologen und andere neue gnostische Bewegungen stießen dort auf empfindliche Seelen. Und bis heute predigen Kirchenleute gegen die Häresie der Gnosis an – etwa der Weihbischof der Erzdiözese von Los Angeles, der als solcher für Hollywood zuständig ist.5

Die Gnosis war der Schatten des Christentums, dessen unbotmäßiger Begleiter, der im Laufe der Geschichte immer wieder auftaucht, um alsbald wieder verjagt zu werden. Und wenn man die Geschichte der Moderne anhand ihrer Gegenbewegungen erzählen kann, so gilt dies ganz gewiss auch für das Christentum, wie wir es heute kennen. Diese Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können.

*

Das Reich Gottes beginnt mit einem Senfkorn. Zunächst winzig klein, unscheinbar und notorisch unterschätzt, wächst daraus eine prächtige Pflanze. Dieses berühmte Gleichnis aus den synoptischen Evangelien hat das Selbstbild des Christentums nachhaltig geprägt. Eine neue Religion des Friedens musste sich in einer brutalen Welt behaupten und dafür zahllose Opfer bringen. Aber auch kräftig austeilen. Schon früh behauptete sich, was Martin Luther später wie folgt zum Ausdruck brachte: »Ein Mensch, sonderlich ein Christ, muß ein Kriegsmann sein und mit den Feinden in Haaren liegen.«6 Während dreier Jahrhunderte nach der Geburt das Heilands sahen sich die Christen immer wieder Verfolgungen ausgesetzt. Kaum aber hatte Kaiser Theodosius I. 380 den orientalisch-christlichen Mysterienkult zur römischen Staatsreligion gemacht, ging es an die Verfolgung anderer Gemeinschaften. Ein christlicher Mob stürmte 391 das Serapeum von Alexandria, ein hellenistisch-orientalisches Heiligtum, und erschlug darin die heidnischen Priester und Gelehrten. Dann, um 415, wurde an der berühmten neuplatonischen Philosophin Hypatia ein Exempel statuiert: Man lynchte sie und riss ihren Leichnam buchstäblich in Stücke. (Der Rädelsführer dieser Bluttat war Bischof Kyrill von Alexandria – ein Mann, dem wir auf dieser Reise noch begegnen werden.) Und der große Augustinus von Hippo wäre wohl niemals ein Kirchenvater geworden, wenn die Politik des christlichen Imperiums ihn nicht gezwungen hätte, seinem vorherigen Glauben abzuschwören. Denn ursprünglich war Augustinus Manichäer, hing also einer orientalischen Erweckungsbewegung an, die im christlichen Rom ebenso tatkräftig verfolgt wurde wie im heidnischen.

Die frühen Christen zankten sich über alles Mögliche: etwa um die Lehre des frühen Bischofs Arius von Alexandria, der die »Wesensgleichheit« von Jesus und Gott mit der – nachvollziehbaren – Begründung ablehnte, sie widerspreche der Lehre vom einen und einzigen Gott (zwar sollte sie ihren Widerhall später im Islam finden, in den frühen Jahrhunderten des Christentums aber wurde sie als Häresie geächtet). Dann stand der nächste Streit ins Haus: Was, wenn ein Christ aus Angst vor Repression oder gar der Todesstrafe dem Christentum erst abschwor, nachher aber wieder in die Gemeinde aufgenommen werden wollte? Konnte so einer abermals die Taufe empfangen?

Man wollte schließlich vermeiden, dass die Christen je nach Großwetterlage ein- und austraten wie andere in einen Fitnessclub. Eine nach dem Bischof Donatus von Karthago benannte Gruppe behauptete, dass die Sakramente von der Heiligkeit der Person abhingen, die sie spendete: Hatte jemand die Taufe von einem Priester empfangen, der sich später vom Christentum abwandte, war diese ihnen zufolge null und nichtig. (Stellen Sie sich vor, Ihre Versicherung kündigt Ihnen von heute auf morgen sämtliche Policen mit der Begründung, Ihr Versicherungsberater, der sie Ihnen verkauft hat, habe zur Konkurrenz gewechselt.) Dennoch fanden die sogenannten Donatisten vor allem in Nordafrika zahlreiche Anhänger, was darauf schließen lässt, dass es eigentlich mehr um Machtkämpfe und Posten ging. Die Donatisten jedenfalls wurden als innerchristliche Sekte verfolgt.

Ohne das römische Nordafrika gäbe es vielleicht gar kein Christentum. Die großen Dogmatiker der Kirche wirkten hier. Sie waren sämtlich damit beschäftigt, Fundamente des Glaubens herausarbeiten, vor allem aber, Häresien zu bekämpfen. Der Theologe Origines (185–254) stammte aus Alexandria, wo es eine große jüdische Gemeinde gab. Er lernte Hebräisch, bereiste Syrien und Palästina und starb mutmaßlich im Libanon. 700 Schriften gehen auf ihn zurück. Ebenso das spätere christliche Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Der Tunesier Tertullian (150–220) aus Karthago wiederum schrieb als erster auf »Kirchenlateinisch«. Die Vorstellung der ewigen Verdammnis, in welcher die Sünder für immer schmoren, stammt aus seiner Feder. Die Idee, dass der Glaube eine Gnade Gottes ist, die dem Menschen die Erlösung bringt, führte Cyprian von Karthago ein (200–258). Andere bedeutende Autoren kamen aus Caesarea, Antiochia und Anatolien. Nicht nur der christliche Glaube entstand im Nahen Osten, auch die christliche Lehre ist daher wohl vor allem ein Produkt orientalischer und nordafrikanischer Kultur.

Nur aber, weil das Christentum in der Welt war, hörten heidnische Philosophen und orientalische Mysten (Eingeweihte) nicht auf zu versuchen, sich einen Reim auf das zu machen, was zwischen Himmel und Erde liegt. Besonders ein im 3. Jahrhundert wirkender, aus Ägypten stammender Philosoph namens Plotin beeinflusste das Denken der spätantiken Zeit. Plotin, einer der herausragenden und zugleich untypischen Vertreter der »neuplatonischen Philosophie«, war ein origineller Geist mit einer Neigung zu Depressionen, die er mit einem asketischen Leben ganz gut in den Griff bekam. Als junger Mann hatte er sich einem Feldzug Roms gegen die persischen Sassaniden anschließen wollen – allerdings nicht um zu kämpfen, sondern um die Gelegenheit zu nutzen, sich mit den Philosophien des Orients vertraut zu machen. Wer hätte damals gedacht, dass es eines Tages umgekehrt sein würde und Plotins Ideen eine solche Wirkung auf die Religionen des Orients entfalten würden? Wir werden ihm auf dieser Reise noch oft begegnen – bis in die heutige Zeit.

Plotin lehnte das irdische, materielle Dasein ab und entwarf eine umfassende Kosmologie des Geistigen, um dem Jammertal des Lebens auf Erden zu entfliehen. Für ihn gab es, aufbauend auf der Ideenlehre seines großen Idols Platon, eine höhere, rein geistige Welt und eine niedrige, die der Mensch mit seinen Sinnen wahrnehmen konnte. Das Materielle ist demnach schlecht, wenn auch nicht böse in dem Sinn, dass ihm eine schlechte Absicht innewohnt. Es fehlt ihm einfach an dem einzigen und ewigen Guten.7

Die Seelen entstammen laut Plotin zwar der geistigen Welt, sie können aber hinabsteigen und mit den Körpern Verbindungen eingehen. Und hin und wieder kann die Seele die Materie so formen, dass daraus auch etwas Schönes entsteht. Interessant ist auch Plotins Gottesbild: Es ist nicht das eines alttestamentarischen Schöpfers, der redet und mit den Menschen interagiert, sondern das einer allumfassenden, nicht zeitlich oder räumlich begrenzten Macht. Sie wirkt auf den Geist (nous), und dieser wiederum ist die Energie, die die Weltseele in Bewegung setzt.

Wenn die Existenz des Bösen aber ein Fakt war, wie kam es dann in die Welt? Wie konnte Gott, der Allmächtige, das Böse zulassen? Es ist letztendlich diese Frage, die über die Jahrhunderte die Menschen an ihrem Glauben scheitern ließ.

Die Gnostiker, die sich ebenso wie andere Christen vom neuplatonischen Denken inspirieren ließen, propagierten skandalöse Meinungen dazu: Gott war selbst der Urheber des Bösen. Er war nicht perfekt und hatte bei der Erschaffung der Welt geschlampt. Ein früher gnostischer Denker des 2. Jahrhunderts war Marcion aus Pontus am Schwarzen Meer. Er hatte es als Reedereibesitzer zu beträchtlichem Wohlstand gebracht und Reisen nach Persien und Ägypten unternommen, wo er mit den Glaubenswelten des Orients in Kontakt gekommen war. Marcion stiftete für sich und seine Gefolgsleute eine Akademie, an der er lehrte, dass es nicht einen, sondern zwei Götter geben müsse: den einen, gütigen Gott des Neuen Testaments und den anderen, schlechten, rachsüchtigen Schöpfergott des Alten Testaments. Marcion nannte ihn den »Demiurgen«.

Eine andere Gruppe, die in den kämpferischen Schriften der Kirchenväter buchstäblich herumgeistert, waren die Anhänger des vor allem in Ägypten und Syrien wirkenden Valentinus: Er lehrte – soweit man es aus den Schriften seiner Gegner extrahieren kann –, dass es zugleich einen einzigen Gott der Christen und mehrere Götter gab, die sich in ihm vereinten: in Form von Äonen (»Ewigkeiten«). Die Valentinianer, die sich wohl selbst zu den Christen zählten, ließen sich von persischen und mesopotamischen Ideen inspirieren. Besonders verhasst waren den Kirchenvätern offenbar jene Gruppen, die orientalische und hellenistische Mysterienkulte mit dem christlichen Gottesdienst vermengten: die »Ophiten« etwa sollen während der Zusammenkünfte Schlangen von Hand zu Hand gereicht und verehrt haben. Das Reptil (Ophis) stand bei ihnen für die Weisheit, den Logos und den Christus. Ein mythisches Wesen, das sich aufgrund seiner Beschaffenheit zwischen den Sphären des Göttlichen und des Irdischen hin und her bewegen kann. Aber verkörperte die Schlange nicht auch Sünde, Tod und Teufel?

Wo sich der Satan breitmacht, geht es früher oder später auch um Sex. Die Valentinianer sollen eine »Heilige Hochzeit« (Hieros gamos) praktiziert haben: ritueller Beischlaf während des Gottesdienstes. Und wenn sich die Kirchenväter schon darüber empörten, was sollten sie dann erst zu den sogenannten Basileiden und Barbelognostikern sagen? Die vollzogen angeblich den »Spermakult« und zelebrierten während ihres Hochamtes den Saft, aus dem das Leben entsteht, um sich mit dem Schöpfer und dem Kosmos zu vereinigen.

»Sie gaben sich für die Vollkommenen aus, niemand könne ihnen an Größe der Erkenntnis gleichkommen, kein Paulus und kein Petrus und keiner von den andern Aposteln; sie wüssten mehr als alle und sie allein hätten die große, unsagbare Gnosis getrunken«, schimpfte über die Gnostiker der Kirchenvater Irenäus von Lyon (135–200), der eigentlich aus Smyrna (Izmir) in Kleinasien stammte.8 So sehr hätten die Gnostiker »der Verrücktheit die Zügel schießen lassen, dass sie behaupten, es stehe ihnen frei, jede beliebige irreligiöse und gottlose Handlung zu begehen; denn nur das menschliche Urteil unterscheide zwischen guten und bösen Handlungen.«9

Wie bedeutend diese Häresien tatsächlich auch waren – es scheint, dass das Christentum immer schon große Konkurrenz hatte. Besonders seitens derer, die sich ihm zugehörig fühlten. Man kämpfte gegen die Wiederkehr der alten Kultur und gegen die Verunreinigung des wahren Glaubens durch die Beigabe heidnischer Traditionen.

Als besonders häretisch empfand man offenbar die Vorstellung, dass Wissen, nicht Glauben zur Erlösung führt: »Unsere Propheten, Jesus und seine Apostel, haben sich einer solchen Lehrart bedient, daß sie nicht allein Wahrheit, sondern diese auch so vorgetragen haben, dass der gemeinste Mann sie erkennen kann.« So verteidigte Origines den christlichen Glauben gegen gleich zwei Feinde: Die Heiden, die die Lehren des Evangeliums unterkomplex und sogar albern fanden. Und diejenigen, die hinter der biblischen noch eine zweite, eine geheime Offenbarung wähnten.10

Das griechische Wort für Offenbarung ist »apokalypsis«, und in diesem Sinne kam mit dem Islam im 7. und 8. Jahrhundert eine »apokalyptische« Bewegung der Religion hinzu. Der ging es nicht anders als dem Christentum. Aus politischen Krisen und Katastrophen war nicht nur der Glaube an das nahende Ende der Welt wieder erwachsen, sondern auch das Bedürfnis nach Erlösung neu entflammt. Die alten religiösen Systeme hatten abgewirtschaftet und waren nicht mehr in der Lage, diese Sehnsucht zu erfüllen. Aber anstelle einer vereinenden Religion, die diese Aufgabe übernahm, entstand schon in früher Zeit eine Vielfalt von »Islamen«.

Und während die christlichen Patriarchen sich an den Gnostikern und heidnischem Gedankengut abarbeiteten, kämpften – Jahrhunderte später – die Vertreter des vermeintlich wahren Islam mit ihren eigenen Häresien. Obwohl sie den Dualismus der Häretiker – die Welt als Schauplatz eines ewigen Kampfes zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse – ablehnten, so praktizierten sie ihn doch in gewisser Weise selbst: Die Frage nach der richtigen und falschen Lehrmeinung wurde eine von Glaube und Sünde, von Schwarz und Weiß. Und je kleiner die Abweichungen, desto heftiger die Auseinandersetzungen.

Muslime taten es in gewisser Weise ihren christlichen und – letztendlich auch den jüdischen – Vorläufern gleich: Sie verbreiteten die Legende von einer rechtgläubigen Urgemeinde, die leider nach und nach von Häretikern gespalten worden war. Und die Gott – oder ein Messias – irgendwann wieder zusammenführe, indem er Spreu vom Weizen trennen würde. Heilsgeschichtlich mag das Sinn ergeben. Historisch nicht. Vielfalt und widerstreitente Interpretationen waren in der Sache selbst angelegt. Sie waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Und wenn sich die Geschichte des frühen Christentums anhand ihrer Widersprüche erzählen lässt, trifft das auch auf den Islam zu.

Was aber das Dogma und der Anspruch auf die Wahrheit trennt, fügen Mythen wieder zusammen. Sie sind unendlich variabel und reproduzierbar: Niemand kann sie für sich allein beanspruchen. Sie brauchen weder Ort noch Zeit.

*

In meinem Rückspiegel verschwinden die Kulissen vom Krieg der Sterne. Was bleibt, ist die Mondlandschaft und der Eindruck, ich betrete einen anderen Planeten. Von Tataouine geht es weiter nach Süden. Auf einer Serpentinenstraße passiere ich schließlich Chennini, ein verfallenes Berberdorf, das mit seinen Höhlenwohnungen und Getreidespeichern aussieht wie ein verlassener Bienenstock.

In diese Gegend zogen sich nach und nach christliche Berber zurück, als Tunesien von muslimischen Herrschern erobert wurde. Nicht weit von hier entfernt, in Tozeur, lag eines der südlichsten Bistümer der römischen Kurie, das erst im 12. Jahrhundert seinen Betrieb einstellte.

Am Ende der Straße liegt ein verfallener, kleiner Friedhof mit einer unscheinbaren, weiß getünchten Moschee, über der sich ein eigentümlich schiefes Minarett erhebt. Dort erwartet mich Anis, ein etwa 30-jähriger, fideler Mann aus Chennini mit einem indigoblauen offenen Tagelmust, dem traditionellen Turban der Berber, auf dem Kopf. An seinem Gürtel hängt ein mächtiger Schlüssel. Von Beruf ist Anis eigentlich Steuerfachgehilfe, seine Berufung aber ist die des Wächters über dieses Heiligtum. Auf dem von einem Wall aus Natursteinen eingehegten Areal liegen mächtige Grabmäler. Hier müssen Riesen bestattet worden sein. Ich schreite eines der Gräber ab – es misst über fünf Meter. »Sechs«, ruft Anis lachend, während er zu mir hinüberklettert. Ich sei schließlich viel zu groß und meine Schritte mäßen mehr als einen Meter.

Der arabische Name dieses Ortes ist Saba’a Ruqud (»Siebenschläfer«). Und von denjenigen, die hier begraben liegen sollen, erzählt eine der wohl berühmtesten – und zugleich rätselhaftesten – Legenden im Koran: In alter Zeit flieht eine Gruppe frommer junger Männer vor Verfolgung. Auf dem Weg schließt sich ein Hund den Gefährten an. Mit letzter Kraft retten sie sich in eine Höhle, die sich hinter ihnen auf wundersame Weise verschließt; die Häscher sind düpiert. Aber wie können die Bewohner der Höhle nun ohne Nahrung überleben? Der Allmächtige hat auch dafür einen Plan: Er versetzt sie in einen langen Schlaf, der mehrere Jahrhunderte andauert. Sogar dafür, dass sie sich nicht wundliegen, hat Gott gesorgt: »Und wir wenden sie nach rechts und links. Ihr Hund liegt, seine Vorderpfoten am Eingang ausgestreckt«, so heißt es im Koran (Sure 18, Vers 18). Als die Gefährten der Höhle wieder erwachen und sich hinaus trauen, stellen sie fest, dass die Welt um sie herum den wahren Glauben angenommen hat. Den Seinen gibt es der Herr im Schlaf! Die 18. Sure, in der die Legende vorkommt, trägt den Titel Al-Kahf (»Die Höhle«).

Die christliche Tradition kennt sie als die Geschichte der »Sieben Heiligen von Ephesus«. Christliche Autoren, wie der große Gregor von Tours (538 – 594), überlieferten sie. Mit der Legenda Aurea (»Goldene Legende«) des Mittelalters hat sie Einzug ins Herz der abendländischen Literatur gefunden. Auch der Dichter Goethe erfreute sich an ihr.

Die Legende liegt in spätantiken griechischen Texten vor. Womöglich gibt es ein älteres syrisch-aramäisches Original, das aber verschollen ist. Manche Forscher erkennen in ihr sogar jüdische Motive aus dem Buch Daniel des Alten Testaments wieder. Der christlichen Erzählung zufolge lebten die Sieben Heiligen zur Zeit der Christenverfolgung durch den römischen Kaiser Decius (201–251): Als sie wieder aus dem Schlaf erwachen, ist die Höhle offen. Einer wagt sich in die Stadt, um Proviant zu besorgen. Als er bezahlen will, schauen die Händler verwundert zu ihrem merkwürdigen Kunden auf: Die Münzen sind seit Jahrhunderten nicht mehr im Umlauf. Und so wird das Wunder öffentlich.

In Europa gedenkt man der Gefährten an einem Tag, dem bis heute eine magische Bedeutung zugemessen wird: dem 27. Juni, dem Siebenschläfertag. An diesem Datum soll sich das Schicksal des bevorstehenden Sommers entscheiden; ob die Ernte gut ausfallen wird oder ob Sturm und Hagel sie zunichtemachen werden: »Ist der Siebenschläfer nass, regnet’s ohne Unterlass.«

Beiderseits des Mittelmeeres findet man die Namen der Sieben Heiligen noch bis ins 19. Jahrhundert auf Amuletten, Zauber- und Beschwörungsformeln: Sie schützen vor Brand oder schreienden Kindern. Wer nachts nicht schlafen konnte, legte ein Papier mit den Namen der Sieben unter das Kopfkissen.

Liest man die Koransure von der Höhle jeden Freitag, wird sie für den Rest der Woche Segen spenden. Muslimische Autoren haben sie verschiedentlich interpretiert: So soll sie die Gläubigen mahnen, standhaft zu bleiben, insbesondere in Zeiten, da die Welt von Zweifeln und Unglauben heimgesucht wird. Islamistische Denker sehen in der Geschichte von der Höhle einen Beweis dafür, dass man nur lange genug ausharren müsse, um selbst den mächtigsten Feind zu besiegen: Immerhin versteckte sich auch der Al-Qaida-Chef Osama Bin Laden über Jahre in Afghanistan in einer Höhle. Und im Irak treibt sich seit einigen Jahren eine schiitische Untergrundorganisation herum, die sich Ashab al Kahf (»Gefährten der Höhle«) nennt und Anschläge gegen amerikanische Truppen für sich reklamiert.

Sufis, die islamischen Mystiker, rezitieren die Sure von der Höhle, um sich in einen Meditationsmodus zu versetzen. Für die aus dem Kreis der Schia kommenden Ismailiten stehen die Sieben Schläfer für die Sieben Imame. Die »Geheimreligionen« der Drusen und Alawiten haben wiederum Gefallen an dem treuen Hund gefunden – als Allegorie auf einen himmlischen Tröster, eine Figur namens Chidr, der wir auf dieser Reise noch begegnen werden. Es scheint also, dass die Geschichte der Sieben Schläfer für jeden etwas bereithält.

*

Es war tatsächlich in einer schlaflosen Nacht, als ich den Plan fasste, nach Tataouine zu kommen. Die Geschichte von den Sieben Schläfern erinnerte mich an einen alten Menschheitstraum von großer Aktualität. Klimawandel, Kriege, Covid, Massen auf der Flucht, religiöser Fanatismus, das drohende Ende des Planeten. Heute, im Jahr 2022 scheint mir die Stimmung allenthalben ebenso »apokalyptisch«, wie zu jenen Zeiten, als das Christentum und der Islam entstanden. Wer hat sich nicht schon ausgemalt, wie es wäre, sich einfrieren zu lassen und in ein paar hundert Jahren in einer anderen, hoffentlich besseren Welt wieder zu erwachen? (Der Glaube an das baldige Ende der Welt ist ein evergreen – er wird auf unserer Reise durch die Jahrhunderte immer wieder vorkommen.)

Eine Frage sollten wir indes auf sich beruhen lassen: Ob sich die Geschichte der Sieben Schläfer tatsächlich hier, im Süden von Tunesien, zugetragen habe, und damit nicht in Ephesus, wie es in der christlichen Legende heißt? Anis, der Wächter der Moschee der Sieben Schläfer, lächelt mich wissend an und weist mich auf einen Umstand hin: Die Gräber seien nicht, wie in der muslimischen Tradition üblich, in der Gebetsrichtung nach Mekka ausgerichtet. Stammt dieser heilige Ort also bereits aus vorislamischer Epoche? Warum die Gräber so gigantisch groß seien, will ich wissen. »Die Gefährten sind während ihres Schlafes immer weiter gewachsen«, lautet die Antwort. Und wenn der Name der Moschee schon den Namen der christlichen Legende »Sieben Schläfer« trägt, warum gibt es dann nicht mehr als sieben Gräber? »Ihre Anzahl kennt Allah am Besten«, antwortet Anis mit einem Vers aus der Sure von der Höhle. Und lacht.

So treten wir ein in das kleine Gotteshaus über dem Friedhof, in dessen Inneren wir eine dunkle Kammer finden. Sie muss unmittelbar unter dem schiefen Minarett der Sieben Schläfer liegen. Die Wände der Kammer sind notdürftig mit Zement bestrichen. Anis entzündet eine Kerze und leuchtet in die Ecken. Dann klopft er gegen eine Wand, hinter der ein Hohlraum liegen muss. Er klopft noch einmal. Dann folge ich seinem Beispiel. Für einen Moment harren wir still aus und warten, ob jemand das Signal erwidern wird.

2

Philae

DENKMALDEREWIGENLEIDENSCHAFT

Ein dramatischer Mordfall und die Geschichte von Isis und Osiris, die zwar einen Penis verloren, dafür aber ein Herz wiederfanden.

Kurz nach Sonnenaufgang erreichen wir das Ufer des Stausees hinter dem alten Assuandamm. Der Juli ist kein Monat für Reisegruppen; zu dieser Jahreszeit vergeht kaum ein Tag, ohne dass das Thermometer auf über 40 Grad im Schatten steigt. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch. Aber in diesem Jahr kommt die Covid-Pandemie hinzu.

Es ist menschenleer und trotzdem haben einige Souvenirhändler am Anleger schon ihr volles Sortiment ausgebreitet. Die meisten davon mehr oder weniger originalgetreue Miniaturrepliken von Statuen ägyptischer Gottheiten in ihrer jeweiligen tierischen Gestalt. Bastet, die aufrecht sitzende Katze, Sobek, das Krokodil, Taweret, das Nilpferd, die Schutzgöttin der Schwangeren, und hin und wieder Isis, die schlanke und schöne Frauengestalt mit ausgebreiteten Flügeln.

»Wenn wir zurückkommen, werde ich eine davon kaufen«, sagt Hourig Sourouzian, bevor sie nach meiner ausgestreckten Hand greift und an Bord eines alten Motorbootes steigt. Ich lächle sie etwas verwundert an. Dass eine Ägyptologin, die seit Jahrzehnten am Nil archäologische Ausgrabungen betreibt, noch immer Touristensouvenirs einkauft, scheint mir alles andere als selbstverständlich. Für sie ist es das. Dahinter steht weniger die Begeisterung für Kunsthandwerk und die mythologischen Figuren. Vielmehr weiß sie, dass in Ägypten fast jeder ums Überleben kämpft. Etwas muss abfallen für die Seeanrainer. Nicht durch Almosen, sondern durch ein anständiges Geschäft.

Im Laufe der Jahre habe ich einige Ägyptenarchäologinnen und -archäologen kennengelernt. Es ist eine Welt der Aufopferung, Widerstände und großer Leidenschaft. Und so kommt es, dass man dort menschliche Extreme trifft: Gentlemen und Gentlewomen, aber auch Misanthropinnen und Misanthropen. Solche, die tagtäglich dankbar dafür sind, dass sich die Welt für die Faszination Ägyptens interessiert und ihrem Berufsstand durch allwöchentliche Fernsehdokumentationen mit zweifelhaften Titeln wie Der Fluch des Pharao größte Aufmerksamkeit und manchmal sogar Starstatus beschert. Und solche, die jeden Journalisten, geschweige denn Studienreisenden, als Störer ihrer Kreise wahrnehmen und kein Hehl aus ihrer Verachtung für sie machen. In der Archäologie, besonders der ägyptologischen, so scheint es mir, trifft man die vornehmsten, aber auch die am schwersten zu ertragenden Gelehrten überhaupt.

Hourig Sourouzian gehört der ersten Gruppe an. Sie schätzt sich glücklich für das Privileg, ihren Traum leben zu können. Hourig leitet eine der spektakulärsten Grabungsstätten in Ägypten, die sehr oft, wenn auch teilweise unbeabsichtigt, auf Touristenfotos im Hintergrund auftaucht. Es sind die sogenannten Memnonkolosse am Weg zum Tal der Könige bei Luxor und das dahinter liegende, gigantische Ruinenfeld, auf dem einst der Tempel des Pharaos Amenophis III. stand.

In Assuan forscht sie nicht. Dennoch verbindet sie mit dieser Gegend eine besondere Erinnerung. Denn Hourigs Familiengeschichte ist selbst ein kleines Orientabenteuer. Sie wurde in Bagdad als Tochter armenischer Eltern geboren. Die ältere Generation war im Völkermord, den das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten verübte, umgekommen. Kurz nach Hourigs Geburt wanderte die Familie nach Beirut aus, wo der Vater jedoch nach wenigen Jahren starb. Zum Studium gelangte Hourig an die Ecole du Louvre, die weltberühmte Schule für Kunst, Archäologie und Epigraphik in Paris. Später studierte sie Ägyptologie und kam erstmalig an jene Granitbarriere, die den Nil bei Assuan zur Stromschnelle macht und die wir heute gemeinsam besuchen. Damals, so erzählt sie mir bei der Überfahrt, war sie allein mit einem Bootsmann, der sie zu dem Heiligtum übersetzte, das zu einer lebenslangen Faszination werden sollte.

Wie zu jener Zeit ist der See an diesem Morgen klar und spiegelglatt, sodass man die Blasen, welche die Pflanzen oder die Nilhechte gelegentlich ablassen, an der Oberfläche sehen kann. Vor uns liegt ein Schauplatz aus Tausendundeiner Nacht.11 In den Märchen ist von einem wundersamen Palast die Rede – und von einem jungen Mann, der seine Liebste sucht. Die aber wurde von ihrem Vater, einem Wesir, auf einer einsamen Insel in einen goldenen Käfig gesperrt und muss befreit werden. Es ist ein Ort, der wie kaum ein anderer von Aufopferung, Liebe und der Sehnsucht nach Unsterblichkeit erzählt: Philae.

Als Hourig Sourouzian zum ersten Mal diesen Ort besuchte, war das Heiligtum jedoch bis zu den Kapitellen der Säulen im Innenhof überschwemmt. Vorsichtig ruderte damals der Bootsmann entlang der Architraven über dem beidseitigen Säulengang, die wie Kaimauern aus dem Wasser ragten und den Weg zum Allerheiligsten einhegten. Am ersten Pylon, dem Tor zum Innenhof des Isis-Tempels, stand das Wasser so hoch, dass das Boot nicht hindurchpasste. Der Bootsmann staunte nicht schlecht, als die Studentin Hourig sich Hals über Kopf in den See stürzte und die letzten Meter ins Innere des Heiligtums schwamm.

Nun war sie umgeben von papyrusförmigen Kapitellen und aus jedem Winkel starrten sie die Augen einer Göttin an. Aus deren ehernem Gesicht wuchsen Kuhohren: Hathor, die »ferne Göttin«, die alljährlich besänftigt nach Ägypten zurückkehrte und mit sich die Nilschwemme brachte. Argwöhnisch bewacht sie den Eingang zum Tempel der Isis.

»Ich habe die Präsenz der Götter damals gespürt«, sagt mir Hourig, als ich mit ihr an diesem Tag gemeinsam das Heiligtum von Philae betrete. Dass dies heute ganzjährig trockenen Fußes möglich ist, verdanken wir einem Meisterwerk der Ingenieurskunst. Um den Tempel vor den Fluten des Stausees zu beschützen und als Kulturerbe zu erhalten, wurden die Sakralbauten der Insel Philae zwischen 1972 und 1980 abgebaut und auf der etwas höher gelegenen Nachbarinsel Agilkia wiedererrichtet. Die Heiligtümer von Philae liegen folglich gar nicht mehr auf Philae, also dort, wo Isis das Herz ihres Göttergemahls Osiris fand, sondern an einem anderen Ort.

Während wir in das Innere des Tempels vordringen, sprechen Hourig und ich über eine der größten Kriminalgeschichten der ägyptischen Mythologie. Währenddessen unterbricht sie sich immer wieder und weist mich auf Besonderheiten in den Reliefs dieser bedeutenden ptolemäischen Anlage hin: Etwa auf die Kartuschen der ptolemäischen Könige, aus denen die berühmte Kleopatra hervorgegangen ist und die sich an den Mauern der Tempel verewigten. Oder die Darstellung des Gottes Bes, einer mit Straußenfedern geschmückten, bulligen und zwergenhaften Gestalt, die den Haushalt beschützt. Auf manchen Reliefs schlägt Bes vergnügt die Trommel oder spielt auf Zimbeln. An anderer Stelle entdecken wir eine der letzten hieroglyphischen Inschriften aus der Spätantike. Dann finden wir auf den Reliefs die Inkarnation des Nils, der sich wie eine Schlange um die Granitfelsen der Insel Philae wickelt, auf denen das Heiligtum der Isis in Miniaturausgabe ruht. Es ist ein so detailreich dekorierter Ort, dass man an jeder Ecke verweilen möchte.

Im Inneren des Tempels eröffnet sich die ganze Geschichte von Isis und Osiris in Reliefs. Und die Bilder erzählen, wie bereits gesagt, eine Story, die an Dramatik und Tragikomik kaum zu überbieten ist.

Osiris heißt darin der König des ägyptischen Pantheons, die unangefochtene Nummer Eins. Die schöne Isis ist seine Schwester, die ihm zugleich als Gemahlin auserkoren ist. Aber wie alle vom Glück beschenkten, die an das Gute im Menschen – bzw. in den Göttern – glauben, unterschätzt Osiris die Gefahren, die im nächsten, familiären Umfeld lauern: Neid!

Seth, der Bruder des Götterkönigs, will Osiris anstelle des Osiris werden. Der Missgünstige spielt nun also den großen Schurken in diesem sich rapide zuspitzenden Götterdrama. Als Osiris sich in Nubien aufhält – im alten Ägypten mussten auch Götter gelegentlich verreisen, um sich ein Bild von der Lage im Reich zu machen – schmiedet Seth ein teuflisches Komplott, bei dem ihm 72 Männer sekundieren. Er lässt einen prächtigen Sarg anfertigen, der zunächst nichts weiter sein soll als ein Partygag.

Denn kaum ist Osiris zurückgekehrt, wird ein Bankett gefeiert und Seth, den man zwar zwielichtig findet, der mit seinem kurzweiligen Humor und seinen originellen Einfällen aber immer eine Traube aus Gästen um sich scharen kann, lässt den Sarg vorführen. Nach und nach sollen sich die Götter hineinlegen. Wem das Totenbett am besten passt, der hat das Spiel gewonnen. So will auch der vermutlich von der Reise müde, aber gutmütige Osiris kein Spielverderber sein. Nur ahnt er nicht, dass er der Sieger sein wird. Sein Bruder nämlich, der Osiris’ Körpermaße genau kennt, hat den Sarg eigens für ihn anfertigen lassen. Bevor Osiris jubelnd die Arme in die Höhe recken, unter dem Applaus der heiteren Gesellschaft wieder dem Sarg entsteigen und das Dinnerjackett überziehen kann, wird es dunkel über ihm. Seth hat Osiris dort, wo er ihn immer haben wollte. Er lässt den Sarg geschwind mit Blei versiegeln – und ab dafür. Der Sarg landet im Nil und wird bis an die Küste des Libanon gespült.

Mit einem hat der triumphierende Seth allerdings nicht gerechnet: der Macht der Liebe. Die Gemahlin und Schwester des Gemeuchelten macht den Leichnam des Osiris ausfindig und lässt ihn zurückholen. Dabei ist ihr ausgerechnet ihre Schwester Nephthys, die Verlobte des Fieslings Seth, behilflich. Mit ihr soll Osiris vor seinem Tod im Bett gewesen sein, was zumindest aus einem Zauberspruch hervorgeht, den man später im Inneren einer Pyramide fand.12 Auch der griechische Autor Plutarch weiß davon zu berichten, dass »Isis erfuhr, dass unbewusst Osiris ihrer Schwester, als wäre es Isis selbst, in Liebe beigewohnt habe«.13 (Glücklicherweise war der Ehebruch also nur ein Versehen.)

Isis wünscht sich einen Nachkommen von Osiris und muss über ihren Schatten springen. Seth wiederum erfährt von der dramatischen Rückholaktion und will nun kein Risiko mehr eingehen: Er bemächtigt sich des königlichen Leichnams, zerstückelt ihn und wirft die Glieder abermals in den Fluss. Da es 42 an der Zahl gewesen sein sollen, wird man später entlang des Nils einige Dutzend Osiris-Heiligtümer finden. Das Herz des Gottes wird der Nil auf Philae anspülen.

Nun aber ist Isis am Zug. Sie und ihre Schwester Nephthys fliegen womöglich sogar im Falkenkostüm nilabwärts, um den Verbleib der Gliedmaßen aufzuklären. Und sie holen sich fachmännische Hilfe, unter anderem bei Thot, dem ibisköpfigen Mondgott, der als besonders weise, gebildet und zudem als Meister der Magie gilt. Und bei Anubis, dem Gott der Mumifizierung, der sich als Experte für die Wiederherstellungschirurgie erweist. Die Teile werden wieder eingesammelt und der Körper mit einer Art Ganzkörperverband wieder zusammengesetzt: So wird Osiris zur ersten Mumie in der ägyptischen Geschichte (und wir wissen endlich, warum Mumien so aussehen, wie sie aussehen). Kaum ist das Wunder vollbracht, stellt sich die nächste Katastrophe ein, denn man stellt fest, dass ein entscheidendes Körperteil fehlt. Hier kommen die Nilhechte ins Spiel, die uns am Morgen bei der Überfahrt nach Philae schon begegnet sind. Ein solcher hat nämlich den Penis des Osiris verschluckt, was im Übrigen dazu führt, dass an Osiris-Heiligtümer aus Pietät in der Regel keine Darstellung von Fischen angebracht wurden. Der Übeltäter ist sogar namentlich überliefert: Oxyrhynchus. Er ist damit sozusagen der Stammvater der Mormyrhidae, auch »Elefantenfische« genannt. Das Andenken des Osirisglieds tragen sie seither als Rüssel im Gesicht, was ihnen ein unvorteilhaftes Äußeres verleiht. Strafe muss sein.

Isis fertigt sich nun einen hohlen, hölzernen Ersatz an, um die Empfängnis einzuleiten. Sie nimmt ein weiteres Mal die Gestalt eines Falken an, setzt sich auf die Lenden des wieder zusammengesetzten Osiris und fängt an, mit den Flügeln zu schlagen wie ein Greif im Rüttelflug. Dadurch haucht sie dem Toten neuen Odem ein. Ein Relief in einer Dachkammer des Isis-Heiligtums von Philae zeigt lebendig, wie dieser für einen Moment erwacht und sich vom Licht geblendet die Hand über die Augen hält. Ehe er aber in den Genuss des neuen Lebens kommt, hat Isis seinen Samen schon empfangen. Osiris hat seine Aufgabe erfüllt und kann getrost ins Totenreich zurückkehren, das er seitdem beherrscht.

Für einen Moment ist Isis gelungen, was die ägyptische Kultur über Jahrtausende mit großer Anstrengung versuchte: dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Der Auferstehungsmythos ist perfekt. Aus der künstlichen Befruchtung entsteht der falkenköpfige Sonnengott Horus, der sogleich an eine Spitzenstelle im Pantheon vorrückt.

Die Reliefs im Inneren des Isis-Tempels erzählen diese Geschichte. Wer allerdings hofft, dass sich die Szenen dort wie in einem Comic aneinanderreihen, wird enttäuscht. Man muss sie sich unter der fachkundigen Anleitung von Ägyptologen wie Hourig Sourouzian zusammensuchen, was im Übrigen auch für den Text gilt: Die Elemente dieser fabelhaften Story finden sich verstreut in Pyramidentexten, Zaubersprüchen und späteren griechischen Quellen, die vom Alten Reich (ca. 2700 bis 2200 v. Chr.) bis in die Römische Antike reichen, besonders zum Autor Plutarch, der selbst als Priester am Orakel von Delphi wirkte und sich einigermaßen intensiv mit Isis beschäftigt haben dürfte. Denn der Mythos von Isis und Osiris machte eine beachtliche Karriere über die ägyptische Kultur hinaus.

Dass der Osiriskult über die Jahrhunderte immer populärer wurde, mag an diesem einprägsamen Mythos liegen, aber auch daran, dass er sich allmählich allen öffnete: Osiris wurde sozusagen ein »Gott des Volkes«.14 Im ganzen Land entstanden Osiris-Heiligtümer, zu denen man pilgern und den Gott rituell betrauern und verehren konnte, auch wenn man keinen Zugang zu den Tempeln der Priester und Pharaonen oder deren Höfen hatte. Ein Zentrum des Kultes wurde Philaes Nachbarinsel Biggae, wo Isis ihren Gemahl nach vollzogener Befruchtung ordentlich bestattet hatte. Die Insel ist heute für Besucher geschlossen. Osiris liegt darauf im Schatten seiner Gattin, auf deren Insel Kaiser Trajan einen hübschen »Kiosk« errichten ließ, als Schuppen für die rituelle Barke, also die Niljacht der Isis, mit der sie nach Biggae übersetzen konnte. Der Mythos von Isis und Osiris ist heute in Ägypten noch lebendig, wenn etwa Sufis, die muslimischen Mystiker, zu traditionellen Prozessionsfesten ein Schiffsmodell herumtragen.

Mit Isis und Osiris hatte die Bevölkerung am Auferstehungserlebnis Anteil. Vielleicht konnte sie damit sogar Hoffnung auf etwas empfinden, das lange nur den Herrschenden vorbehalten war: ein ewiges Leben. Ein Hinweis darauf mag die Tatsache sein, dass seit dem Mittleren Reich (2137 bis 1781 v. Chr.) auch nichtkönigliche Gräber verdienter Persönlichkeiten mit Details des Osirismythos’ ausgeschmückt waren.

Mit der Zeit nahm Osiris die Gestalt eines Richters an, dessen Urteil jeder und jede bei der Reise durch das Totenreich über sich ergehen lassen musste. Dem Verstorbenen wurden gute und schlechte Taten bilanziert. Osiris selbst war gewissermaßen die Referenz für ein tadelloses Leben (das Gerücht von seinem angeblichen Seitensprung mit Nephthys wurde nicht weiter thematisiert). Hier findet sich der Gedanke, dass nicht allein edle Herkunft, sondern auch ethisches Handeln über das Seelenheil entscheiden.

Vermutlich verehrte man Osiris ursprünglich als eine Vegetationsgottheit, die für Fruchtbarkeit und die lebensspendende alljährliche Nilschwemme zuständig war. Im Frühling, wenn ein warmer Wind aufkam, wusste man, dass nilaufwärts, in den Bergen im Inneren des afrikanischen Kontinents, die Regenfälle zugenommen hatten. Nun war es Zeit, die erste Ernte einzufahren, bevor die nächste Flut die Äcker überschwemmte und erneut fruchtbar machte. Die Ägypter begleiteten den Zyklus von Ernte und Schwemme, von Flut und Trockenheit, mit rituellen Festen. Denn die Jahreszeiten waren nicht nur ein willkommener Vorwand für eine Party – man musste sie religiös begleiten, da sie sonst womöglich gar nicht eingetreten wären.

Laut dem im alten Ägypten offenbar verbreiteten Weltbild musste der Kosmos durch Rituale in Bewegung gehalten werden, da sonst einfach alles Bewegliche zum Erliegen kommen würde. Einschließlich des Lebens selbst. »Wenn die ägyptischen Spezialisten unablässig den Himmel beobachten«, schreibt der Ägyptologe Jan Assmann, taten sie dies nicht, um die Zukunft vorauszusagen, sondern, um die Zeit als solche in Gang zu halten.15 Und Osiris übernimmt hier die Rolle dessen, der die Zeiger auf der Uhr weiterlaufen lässt. Die Ägypter unterschieden zwischen zwei zeitlichen Dimensionen – einer zyklischen, in der alles wiederkehrt und sich alles erneuert, und einer unveränderlichen, ewigen, für die Osiris zuständig war. Die Vorstellung, dass Zeit nicht nur linear abläuft, sondern auch zyklisch, und dass alles wiederkehrt und schon einmal dagewesen ist, sollte sich in den Weltbildern späterer Religionen niederschlagen. Sogar in christlichen und islamischen Kulturen.

Bis in die heutige Zeit ist das Shemufest ein bedeutender Termin im Kalender Ägyptens, den auch die Muslime begehen. Es werden hart gekochte Eier bemalt – solche »Ostereier« kannten die alten Ägypter bereits als Grabbeigaben – und wer es sich leisten kann, für ein paar Tage die Arbeit niederzulegen, vergnügt sich beim Picknick mit Freunden und Verwandten. Sham Ennessim, was gemeinhin mit »die aufkommende Brise riechen« übersetzt wird, fällt zusammen mit dem koptischen Osterfest, an dem die Christen Ägyptens die Auferstehung feiern. Zwar nicht die des Osiris, doch sind die Parallelen augenfällig. Das gilt auch für die eigentliche Heldin des Isis- und Osirismythos’.

Sie bringt den Horusknaben im Schilfland des Nils zur Welt und setzt ihn aus, um ihn vor der Rache Seths zu schützen. Im Alten Testament treibt der Knabe Moses auf dem Schilf und wird von einer ägyptischen Prinzessin gefunden und im Palast erzogen. Griechische und römische Quellen berichten später, dass die Ägypter den Geburtstag des Sonnengottes Horus, das »Siegesfest«, am Tag der Wintersonnenwende begehen, nach julianischem Kalender am 25. Dezember. Sein Gegenspieler Seth wiederum gilt seit dem ersten vorchristlichen Jahrtausend als Inbegriff des Bösen. Manche Autoren haben versucht, einen etymologischen Zusammenhang zwischen »Seth« und »Satan« herzustellen. Die Theorie mag abenteuerlich sein, aber im Volksglauben war der Weg vom einen zum anderen gewiss nicht weit.

Isis, die leidenschaftliche und sich aufopfernde Göttin, begegnet uns in der Antike mal als schlanke, aufrecht stehende Frau mit Sonnenscheibe, mal als Mutter mit dem Horusknaben an der Brust. Das spätantike Christentum kennt diese Figur als Maria lactans, die stillende Gottesmutter. In Gestalt ägyptischer Statuetten taucht sogar eine Heilige Familie auf: Osiris, Isis und der kleine Horus. Man fühlt sich unwillkürlich an Josef, Maria und den Jesusknaben erinnert, wobei Osiris und Josef zu Nebendarstellern degradiert werden. Der eine als bloßer Samenspender, der andere als Pflegevater eines Kindes, das in Wahrheit der Heilige Geist zeugte.

*

Als Ptolemaios I., ein General des Makedonen Alexander, im Ägypten des 4. Jahrhunderts v. Chr. ein neues Königreich errichtete, war der Kult von Isis und Osiris längst über die Grenzen Ägyptens hinaus bekannt. Die Ptolemäer, die sich gern wie ägyptische Pharaonen inszenierten, verhalfen Isis zu besonderer Prominenz. Höchstwahrscheinlich sah man die Göttin als eine integrative Gestalt, an der sich Alt- und Neuägypter gleichermaßen erfreuen konnten. War Isis früher eine von vielen Gottheiten in einem hochkomplexen Pantheon gewesen, stieg sie nun rasant die Karriereleiter hinauf. Mit dem Isiskult verhält es sich daher ein bisschen wie mit dem – ebenfalls aus der Ptolemäerzeit stammenden – Heiligtum von Philae. Was ein Laie für »typisch ägyptisch« halten mag, ist in Wahrheit »neo-ägyptisch«, also ptolemäisch. Insofern ist vieles am Isiskult, was wir heute als ägyptisch ansehen, so reinrassig wie eine orientalische Gewürzmischung. Isis wurde mal zur Tochter des Prometheus erklärt, mal zur »weißen Io«, einer sterblichen Geliebten des Zeus. Im Laufe ihrer Karriere vermengte Isis sich mit der Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin Aphrodite oder der mesopotamischen Ischtar, weshalb deren Eigenschaften rückwirkend auch Isis zugeschrieben wurden.

So kam es wohl, dass manche mit Isis Wollust und Erotik verbinden, während andere sie im Zuge der feministischen Bewegung für den Inbegriff der selbstbestimmten Frau hielten. Als Göttin der Magie konnte sie zwar buchstäblich zaubern. Dabei ist sie alles in allem doch eher eine Hausfrau, die sich für die Herren der Schöpfung aufopfert. Und, so weiß man aus ägyptischen Beschwörungsformeln, auch eine entschiedene Abtreibungsgegnerin.

Von Alexandria brachten ägyptische Kaufleute den Isiskult auf die griechischen Inseln: Sie flehten Isis als Schützerin der Seefahrer an (als Besitzerin einer berühmten rituellen Nilbarke dürfte Isis sich in der Nautik ausgekannt haben; der Fluss mit seinen Sandbänken ist nicht leicht zu befahren). Um das Jahr 80 v. Chr. traf die Göttin in Rom ein, wo der Senat den Isiskult so unbehaglich fand, dass er den Bau von Isis-Heiligtümern mit allen Mitteln der Bürokratie sabotierte. Die römischen Senatoren hassten in Isis wohl insgeheim Königin Kleopatra, die das Imperium Romanum vom ägyptischen Alexandria aus piesackte und sich regelmäßig zu feierlichen Anlässen im Isis-Kostüm präsentierte. Sie hielt sich offenbar für die Inkarnation der Göttin. Aber wie die römischen Potentaten Cäsar und Antonius dem Charme der Ägypterin Kleopatra verfielen, so verfiel Rom dem Einfluss ägyptischer Kultur. Oktavian, der sich 27. v. Chr. nach einem blutigen Machtkampf zum ersten römischen Kaiser ausrufen ließ, besiegte Kleopatra. Letztere kam der Erniedrigung, als Gefangene in einem Triumphzug durch Rom geschleppt zu werden, durch einen spektakulären Selbstmord per Schlangenbiss zuvor. Oktavian und einige seiner Nachfolger versuchten nun, auch dem Isiskult Einhalt zu gebieten und ließen einige Isispriester im Imperium hinrichten. Vergeblich.

Die Verehrung der ägyptischen Muttergöttin war längst ein beliebter Mysterienkult, den man, wie später das Christentum, auch im halbwegs Privaten zelebrieren konnte.

Kaiser Caligula (37–41 n. Chr.) ließ dem Isiskult staatliche Subventionen angedeihen. Auf dem Marsfeld wurde ein Tempelkomplex errichtet, wo man der Gattin des Osiris gemeinsam mit Serapis, einer anderen hellenistisch-ägyptischen Gottheit, huldigte. Unter Caracalla hielten die Isisrituale 215 n. Chr. Einzug in den Kalender der offiziellen Feiertage. Im Tempel der Isis bot sich dann ein mystisches Spektakel: Zum Gottesdienst öffneten kahlköpfige, in weiß gekleidete Priester den Schrein der Isis-Statue und weckten sie mit Feuer und Wasser zum Leben. Isis wurde in prunkvolle Gewänder gekleidet, Kultgefäße wie ein »Kelch im Gottesdienst der katholischen Kirche« den Gläubigen präsentiert.16 Im Herbst beweinten dann die Anhänger der Isis den ermordeten Osiris, bis dieser »am dritten Tage« auferstand und ein rauschendes Freudenfest ausbrauch.

Angeblich hatte Isis aber auch eine besondere Anziehungskraft auf Frauen, was wiederum die männlichen Eliten in ihrer lustvollen Verachtung für Isis bestärkte. Der römische Satiriker Juvenal machte sich darüber lustig, dass Isis-Anhängerinnen zur Hysterie neigten und im Winter in den zugefrorenen Tiber stiegen, um für die Göttin eine rituelle Reinigung vorzunehmen und hernach auf blutenden Knien zum Iseum zu schlurfen.17 Für Ovid war das Heiligtum der »Kuh von Memphis« der geeignete Ort, um leichtgläubige Frauen abzuschleppen. »Viele Frauen macht sie zu dem, was selbst für Jupiter sie einst gewesen«, erklärt Ovid in Anspielung auf die Legende, der zufolge Isis die Mätresse des Zeus alias Jupiter gewesen sei.18 Der Dichter Martial wiederum kolportiert die Geschichte eines Mannes, der um das Isis-Heiligtum einen große Bogen machte, weil er an Erektionsproblemen litt – wohl eine Anspielung auf die kursierende Behauptung, die Römerinnen nutzten den Zauber der Isis als heimliches Potenzmittel für ihre gestressten Männer.19

Aber auch darüber hinaus warfen Kritiker den Isis-Anhängern vor, sie praktizierten Magie, um anderen zu schaden. Auch in Zeiten, in denen der Isiskult weithin akzeptiert war und nicht mehr verfolgt wurde, galt das als ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand. So musste sich ein aus Madauros im heutigen Algerien stammender Gelehrter namens Apuleius gegen den Vorwurf der schwarzen Magie verteidigen. Apuleius gab freimütig zu, Isis zu verehren, konnte weitere Missverständnisse aber zu seinen Gunsten aufklären. Mit seinen Metamorphosen hinterließ Apuleius eines der kuriosesten Werke der antiken Literatur: einen autobiografischen Schelmenroman à la Till Eulenspiegel, in dem er durch einen missglückten Zaubertrick in ein Grautier verwandelt wird, Isis ihn aber – der Göttin sei Dank – aus seiner Eselei befreit. Man muss nicht allzu tief eintauchen, um zu erahnen, dass sich Apuleius über seine engstirnigen Zeitgenossen mit dieser Allegorie lustig machte.

Wie der Isiskult, so startete auch das Christentum als orientalischer Mysterienkult. Dass es damit nicht weit her sein konnte, schlossen römische Autoren schon aus der Tatsache, dass die Geschichte vom Heiland doch eher Frauensache sei – etwa der Philosoph Kelsos, der Ende des 2. Jahrhunderts lebte. Besonders albern kam ihm die Geschichte von der Jungfrauengeburt Mariens vor. Die Mutter Jesu sei in Wahrheit von einem römischen Soldaten namens Panthera geschwängert worden; den Heiligen Geist habe man als Verursacher der unbefleckten Empfängnis hinzugedichtet, um die Sache zu vertuschen.20 Eine ähnliche Polemik hatte sich Isis anhören müssen und Kelsos dürfte sie gekannt haben: Demnach war die Geschichte mit dem Holzpenis und der Erweckung des Osiris Unsinn, um die leichtgläubigen Ägypter irrezuführen. In Wahrheit habe Seth den Horus gezeugt, weil er sich an Osiris habe rächen wollen. Der Erlösergott wäre demnach ebenfalls unehelich. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie sehr sich manche Menschen an Stoffen abarbeiten, die sie eigentlich für gar nicht der Rede wert erachten.

Das Christentum jedenfalls wurde ungeachtet dieser Schmähungen Ende des 4. Jahrhunderts reichsweit zur Staatsreligion. Marketing-Experten dürften sich bis heute darüber wundern, dass ihm dieser Erfolg trotz eines großen Defizits gelang: Von drei Seinsformen (Hypostasen) der Gottheit waren drei männlich und zwei ziemlich abstrakt. Zu einer guten antiken Göttertrias gehörte in der Regel aber eine weibliche Figur. Somit hatte das Christentum ein Genderproblem. Wie sollte es auf Dauer gegen Isis ankommen, die sinnlich erfahrbar war und schon deshalb bei einem Großteil der Bevölkerung einen Pluspunkt hatte? Das Dritte Ökumenische Konzil von Ephesus schuf im Jahr 431 schließlich dadurch Abhilfe, dass es Maria zur Gottgebärerin (Theotokos) aufwertete. Eine Entscheidung, die, wie wir noch sehen werden, nicht gerade unumstritten war und weitreichende Folgen hatte. Vermutlich gibt es in der christlichen Kultur bis heute mehr Abbildungen von Maria als von ihrem Gottessohn. Und auch wenn sie sie streng genommen nicht anbeten, wenden sich ihr nach wie vor Millionen von Christen – die Protestanten mal ausgenommen –, mit den folgenden Worten zu: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.« Ein wenig erinnert der Duktus schon an jene Hymnen, die ein Isispriester namens Isidor in der ptolemäischen Zeit verfasste und dergestalt sich etliche auch in Philae finden: »Todesferne Retterin, mächtige Isis mit den vielen Namen, Du rettest uns vor Krieg, Städte und ihre Bewohner, Männer, ihre Frauen, ihren Besitz und ihre Kinder … erhöre meine Gebete, Du, deren Name große Macht besitzt, sei gnädig und rette mich von aller Not.«21

Was aus dem Isis-Heiligtum von Philae wurde? Lange Zeit nahm man an, dass der dortige Isiskult mit der Herrschaft Justinians sein Ende fand.22 In den Jahren 535–37 soll der fromme Kaiser ein Heer nach Oberägpyten entsandt haben, um dem heidnischen Zauber den Garaus zu machen und in Philae eine Kirche zu errichten, die man dem Heiligen Stephanus, dem ersten christlichen Märtyrer, weihte. Das Heiligtum der Isis sei »abgerissen« worden, die Priesterschaft verbannt, und das alles im Zuge eines regelrechten Religionskrieges gegen den heidnischen Stamm der Blemmyer, die aus der östlichen Wüste gekommen und sich in Philae niedergelassen hätten. Der erste Bischof von Philae, ein gewisser Macedonius, soll, so berichten koptische Quellen, sogar den Tempel betreten haben, um einem heiligen Falken, der dort in einem Käfig gehalten wurde und wohl den Gott Horus repräsentierte, eigenhändig den Hals umzudrehen.

Wer sich heute das Vergnügen gönnt, bei Dunkelheit eine Sound and Light Show auf der Insel Philae zu buchen, bekommt Teile dieser Geschichte ebenfalls erzählt: Die prüden Christen, so heißt es dort, hätten den Tempel zerstört und die für ihre Freizügigkeit und erotische Anmut berühmten Isis-Abbilder am Heiligtum zertrümmert. Damit sei der Kult der Göttin ein für alle Mal beendet worden.

An dieser Darstellung sind in jüngster Zeit Zweifel aufgekommen; vielleicht ist so mancher Historiker hier ein wenig der byzantinischen Propaganda aufgesessen. Denn ein Papyrus aus der Sammlung des französischen Ägyptologen Jean Maspero im Katalog des Ägyptischen Museums in Kairo könnte ihrer Deutung widersprechen. Das Dokument, das wohl aus der Feder des Dichters und Hofbeamten Dioskoros von Aphrodito stammt, enthält eine Art Petitionsschreiben an den Dux, den Gouverneur von Theben.23 In der für die Spätantike oft typischen blumigen und literarischen Weise beklagt es Plünderungen, die sich hier um das Jahr 567 zugetragen haben sollen. Dioskoros erwähnt Stämme, die zu seiner Zeit noch regelmäßig zu einem Heiligtum pilgern und dort einer hölzernen Statue der Göttin Isis huldigen. Vieles spricht dafür, dass es sich um den Isiskult in Philae handelte, wo man zu dieser Zeit bereits eine Kirche errichtet hatte.

Philae war also für einige Jahrzehnte parallel eine Kultstätte des Christentums – »das Kreuz hat gesiegt und wird immer siegen«, so heißt es in einer Inschrift – und der ägyptischen Gottheit. Wer heute die wundervolle Tempelanlage betritt, wird feststellen, dass an vielen Stellen Kreuze in den Stein gemeißelt sind: Ein magisches Symbol, das böse Geister fernhält und den christlich geweihten Raum markiert. Es fällt allerdings auf, dass die Götterbilder, die ja mit dem Kreuz in Konkurrenz standen, nicht so systematisch verschandelt wurden, wie man es erwarten könnte. In der hinteren Kammer blieben die Reliefs großenteils intakt. Das könnte darauf hindeuten, dass man vor allem diejenigen Bereiche der Tempelanlage malträtierte, die fortan als christliche Kirche dienen sollten.

Und wer weiß, vielleicht setzte sich der Kult noch lange nach der Christianisierung fort? Als ich schließlich gemeinsam mit der Ägyptologin Hourig Sourouzian die letzte Kammer des Heiligtums mit den Isis-Reliefs betrete, halte ich jäh inne. Am Boden kauert eine junge Frau mit langem schwarzen Haar und legerer, eleganter Kleidung. Beinahe wäre ich über sie gestolpert, wovon sie jedoch keinerlei Notiz zu nehmen scheint. Sie hat die Hände andächtig erhoben und flüstert etwas vor sich hin. Ich murmele leise ein »pardon«; Hourig bedeutet mir mit einem Kopfnicken, dass wir uns zurückziehen und unser Gespräch in einem anderen Raum des Tempels fortsetzen sollten. Dann tritt ein junger Mann zu uns, begrüßt uns höflich und dankt uns für die Geduld. Seine Partnerin sei mit ihrem Gebet gleich fertig.

3

Kairo

INDIESERSTADTWIRDJEDERIRGENDWANNVERRÜCKT

Wie eine seltsame Dynastie eine Weltstadt gründete, die Mysterien des Universums entschlüsselte und damit ihren Untergang einläutete.

»Heimat ist nicht dort, wo Du geboren bist. Heimat ist dort, wo Du aufhörst, vor etwas davonzulaufen.« Dieser Satz wird dem wohl berühmtesten arabischen Romancier des 20. Jahrhunderts zugeschrieben: dem Ägypter Naguib Mahfouz, der 1988 als erster arabischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhielt und 2006 im stolzen Alter von 94 Jahren starb.24 Ob das Bonmot tatsächlich von Mahfouz stammt, ist umstritten. Jedenfalls versuchte der große Ägypter niemals wirklich, seiner Geburtsstadt Kairo zu entfliehen. Wer Kairo kennt, mag das ebenso erstaunlich finden, wie die Tatsache, dass man in einer derart lauten und mit Stress und Spannung aufgeladenen Metropole überhaupt ein solches Lebensalter erreicht.