Herrschaft über Syrien - Daniel Gerlach - E-Book

Herrschaft über Syrien E-Book

Daniel Gerlach

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Beschreibung

Auch nach Jahren der Tyrannei und des Krieges hält sich das syrische Regime noch immer an der Macht. Aber wer und was ist eigentlich dieses Regime? Welche Kräfte und Narrative halten es im Inneren zusammen? Der Journalist und Orientalist Daniel Gerlach entwirrt die Hintergründe einer Logik der Gewalt und Manipulation, der sich die Herrschenden auch selbst unterworfen haben. Was 2011 als Aufbegehren gegen ein politisch und moralisch bankrottes System begann, eskaliert immer weiter, beschleunigt noch durch die Exzesse des »Islamischen Staates«. Ratlos schaut die Welt zu, kann oder will nicht helfen - zu verworren scheinen die Konfliktlinien, zu groß ist die Sorge, die »falsche Seite« zu unterstützen. Daniel Gerlach beleuchtet das schizophrene Verhältnis der Religionen und Konfessionen in Syrien, das Wirken sichtbarer und unsichtbarer Mächte, die diesen Konflikt so unerbittlich machen. Er beschreibt die Geister der Vergangenheit, erzählt von traumatischen Erfahrungen und ihrer Wirkung auf das heutige Syrien. Klar wendet sich Gerlach gegen die Behauptung, das Regime sei der Garant für Stabilität und den Erhalt eines Staates, den es womöglich längst nicht mehr gibt. Die Lage ist undurchsichtig - auf ihrer Unwissenheit ausruhen können sich die internationalen Mächte nun allerdings nicht mehr.

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Inhaltsverzeichnis
Syrien im Dämmerlicht. Eine Einleitung
1. Reflexe des Regimes – Der Aufstand in Deraa und seine Folgen
2. Der Feind meines Feindes: das »Kalifat«
3. Die Geister von Tadmor
4. Rückkehr nach Hama
5. Ein Augenarzt als Feldherr: Baschar al-Assad und die Streitkräfte
6. Das Sterben der Paladine
7. Geheimnisse der Alawiten
8. Zainabs Brigaden: das Regime und die Schiiten
9. Der Schwur des Hassan Nasrallah
10. Das iranische Prinzip
11. Von Bären und Löwen
12. Das Dilemma der Drusen
13. Lügen und Gebete
14. »Tashbih« oder: Was ist das syrische Regime?
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Über den Autor
Impressum

Hinweis zur Transkription: Es kursieren Dutzende Arten und Weisen, arabische Namen in lateinische Buchstaben zu transkribieren: Allein für den Namen Muammar al-Gaddafi hat man in der internationalen Presse schon über 100 Varianten gezählt. Das vorliegende Buch verwendet keine wissenschaftliche Umschrift, sondern eine, die es ermöglichen soll, die jeweiligen Personen rasch wiederzufinden: ob in Registern von Sachbüchern, im Internet oder auch auf den Sanktionslisten der Europäischen Union. Die Umschrift orientiert sich an einer geläufigen angelsächsischen Schreibweise oder daran, wie diese Personen ihren eigenen Namen üblicherweise transkribieren – zum Beispiel auf ihrer Visitenkarte. Ob sie vor ihren Familiennamen einen Artikel (al-) setzen oder nicht, ist dabei oft eine Frage des Klangs oder auch einfach Gewohnheitssache. Ein »j« wie in »Jamil« steht für ein weiches, stimmhaftes »dsch«, ein »q« klingt wie ein helvetisch-kehlig ausgesprochenes »k«. Arabische Begriffe, die inzwischen in den deutschen Sprachgebrauch übergegangen sind, werden entsprechend geschrieben, also z.B. Koran (nicht Qur’an) oder Dschihad.

»Les murs de cette pièce ne suffiraient pas à graver le nom de tous les assassins qui ont soi-disant découvert le corps de leur victime. Ce qui à bien réfléchir est normal, puisque ce sont eux les premiers informés.«

Lino Ventura in »Garde à vue«

Syrien im DämmerlichtEine Einleitung

Alle freien Gesellschaften gleichen einander, jede unfreie ist auf ihre eigene Weise unfrei.

Als Europäer, die das Privileg von Meinungsfreiheit und verhältnismäßiger Rechtssicherheit genießen, neigen wir wohl zu der Annahme, dass repressive Regime mit den Attributen »autoritär« oder »totalitär« ausreichend beschrieben seien. Die einen agieren tyrannisch, interessieren sich aber nicht weiter für das, was ihre Untertanen treiben, sofern es ihren Machterhalt nicht empfindlich stört. Die anderen wollen die Gesellschaft mit einer Ideologie durchdringen, den Menschen verändern. Sie richten sich vortrefflich ein in den Widersprüchen, die aus einem wie auch immer gearteten Interesse am Fortschritt der Allgemeinheit und dem eigenen Zugewinn an Macht und Vermögen resultieren – allerdings um den Preis, dass sie mit der Zeit paranoid werden.

Aber sind dies denn die einzigen Wesenszüge, die ein unterdrückerisches Regime vom anderen unterscheiden? Es lohnt sich, die Herrschaftstechniken immer auch im jeweiligen kulturellen, historischen und politischen Kontext zu betrachten.

In Syrien tobt seit nunmehr vier Jahren ein Krieg. Im August 2014 sprachen die Vereinten Nationen von der »größten humanitären Krise unseres Zeitalters«. Syrien kollabiert, auf seinen Trümmern zeigt sich die hässliche Karikatur eines anderen Staates, der sich »islamisch« nennt. Die Mächte, die von außen in diesen Krieg eingriffen, taten dies mit der gleichlautenden Begründung wie diejenigen, die sich heraushielten: Man müsse Schlimmeres verhindern, nämlich, dass es noch mehr Todesopfer gäbe. Mit dem Fortschreiten der Zeit mehrte sich auch die Anzahl der verpassten Chancen, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Große und kleine Möglichkeiten boten sich nicht nur den Weltmächten, sondern auch der Bundesrepublik. Sie blieben ungenutzt – aus Überzeugung, Zweifeln oder Trägheit.

Und allenthalben, auch von ausgewiesenen Nahost-Experten, war zu hören, die Lage in Syrien sei einfach zu verzwickt. Einige verstiegen sich sogar in die zynische Conclusio, man müsse den Konflikt »ausbluten lassen«.

Als ein Journalist des Boston Review 2014 dem aus der syrischen Stadt Rakka stammenden Intellektuellen Yassin Haj Saleh sagte, der Westen finde die Situation in Syrien »verwirrend«, konterte dieser, er finde es »verwirrend, dass der Westen unsere Situation in Syrien verwirrend findet«.

Haben wir also vier Jahre lang berichtet, analysiert, uns den Kopf zerbrochen und internationale Konferenzen abgehalten, um nun, 200.000 Tote später, zu dem Schluss zu kommen, dass das alles »viel zu kompliziert« sei? Sind wir so müde, dass wir gar nicht mehr verstehen wollen, was in Syrien geschieht? Und gibt es nicht ohnehin immer so viele Wahrheiten in Kriegen, dass man am Ende gar nichts glauben kann? Für die Politik und diejenigen, die sie beraten, ist das eine denkbar schlechte Ausrede. Und obendrein stimmt es nicht einmal. Nicht alles ist relativ und zur schieren Ansichtssache degradierbar.

Natürlich existieren sehr unterschiedliche Narrative – nicht nur, weil sie zum Zwecke politischer Propaganda fabriziert werden, sondern auch, weil die Menschen im Krieg sehr unterschiedliche Erfahrungen machen. Das gilt ebenso für das politische System dieser »Arabischen Republik«. Oft schien es, als könne man von jeder Aussage, die über Syrien gemacht wurde, auch immer das Gegenteil belegen: Syrien war eine Diktatur mit brutalem Sicherheitsapparat? – Ja. Dennoch konnte man in diesem Land Gerichtsprozesse gegen Verwandte des Herrscherclans führen – und sie sogar gewinnen.

Syrien war ein Staat mit einer fast beispiellosen Vielfalt an Religionsgemeinschaften, die friedlich miteinander lebten? – Vordergründig ja, aber hintergründig zehrte das Regime von Hass und Misstrauen zwischen den Konfessionen.

Es handelt sich um einen Volksaufstand gegen eine Diktatur? – Ja, aber Syrien ist ein Land vieler Völker, die sich diesem Aufstand nicht sämtlich angeschlossen haben.

Wir müssen feststellen, dass diese landläufigen Thesen zutreffen und sich – obwohl sie in der Diskussion meist gegeneinander ins Feld geführt werden – nicht notwendigerweise widersprechen.

Die Syrer waren und sind Meister darin, grausame Wahrheiten schlichtweg auszublenden, was das Leben in ihrem Land wohl oft viel angenehmer machte: eine zur Mentalität gewordene Überlebensstrategie.

Viele Syrer können glaubhaft versichern, dass es ihnen immer einerlei gewesen sei, ob ihr Arbeitskollege Sunnit, Druse oder Alawit war. Andere richteten sich in Hass und Ressentiments ein und vererbten diese an spätere Generationen weiter. Die Erfahrungsmöglichkeiten in einem diktatorischen Regime scheinen manchmal ungleich individueller, variabler und persönlicher als die in einer Demokratie. Das syrische System konnte für manche Menschen ein erfülltes Leben bereithalten, für andere aber nichts weniger als die Vorstufe zur Hölle: Die einen sangen in Kirchenchören, turnten in Sportvereinen, küssten ihre erste Liebe unter Kirschbäumen und im Schatten malerischer Burgen. Die anderen verbrachten ihre halbe Jugend im Militärgefängnis von Tadmor, weil ihr Bruder oder Vater bei den Muslimbrüdern war.

Man kann diese Vielfalt der Narrative nicht vereinheitlichen. Aber wenn eine Macht sie aus politischen Interessen gegeneinander ausspielt, empfiehlt es sich, genauer hinzusehen, um ihr nicht auf den Leim zu gehen.

Zweifel, Konfusion und das Unausgesprochene, das Implizite, bilden, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, den Nährboden, auf dem sich das syrische Regime zu jener monströsen Gestalt auswuchs, die heute noch vor uns steht. Womöglich entstand aus einem solchen Amalgam sogar sein eigentliches Wesen.

Dieses Buch ist ein Versuch, die Techniken und Methoden der Herrschaft über Syrien zu beschreiben. Es sind Techniken, denen sich die Herrschenden, die sie gebrauchen, auch selbst unterworfen haben. Dabei gilt es vor allem, eine Frage nicht aus dem Blick zu verlieren, von deren Beantwortung auch in Zukunft noch viel abhängen wird: Wer oder was ist eigentlich das syrische Regime?

Angesichts der Schrecken des »Islamischen Staates« mehren sich im Westen, insbesondere aber in Deutschland, jene Stimmen, die fordern, das Regime als Verbündeten im Kampf gegen die Dschihadisten aufzuwerten. Man kann so etwas zur Debatte stellen. Nur empfiehlt es sich, einen Schritt zurückzugehen und sich genau anzuschauen, mit wem man es dann zu tun bekäme.

Dieses Buch ist kein wissenschaftliches, es soll aber einer wissenschaftlichen Überprüfung der Quellen und Argumente standhalten können – sofern die Wissenschaft einmal Worte und Kriterien für das findet, was heute in Syrien geschieht. Manche Überlegungen darin sind schlechterdings nicht beweisbar. Man beurteilt die Mächte und Akteure ja gemeinhin nach der »Aktenlage«: nach dem, was sie sagen, schreiben und was von ihnen berichtet wird. Zu erfassen, was sie nicht verbalisieren, fällt schwer. Jeder Versuch, die mitunter verheerende Wirkung jenes Impliziten, Unausgesprochenen, Unsichtbaren zu beschreiben, das Teil der Konfliktdynamiken, vor allem aber der Methode der Macht dieses Regimes wurde, ist angreifbar und setzt sich dem Vorwurf der Spekulation aus.

Das soll uns aber nicht von diesem Versuch abhalten. Letztendlich müssen sich ja auch die Naturwissenschaften eingestehen, dass sie manche subatomaren Teilchen nie gesehen haben, man aber aus ihrer Wirkung schließen muss, dass es sie gibt.

Dieses Buch ist keine Chronik des Aufstandes, noch soll es lückenlos den Hergang der Ereignisse rekonstruieren und dabei alle Akteure gleichermaßen behandeln. Das Augenmerk liegt hier auf der Natur, den Verhaltensweisen und Erscheinungsformen des Regimes sowie jener Kräfte, die es bis heute fortbestehen lassen. Die Opposition, ob im Feld kämpfend oder im Ausland tagend, kommt nur am Rande vor. Ausländische Mächte wie die Türkei, Saudi-Arabien, Katar oder der Westen, die in den vergangenen Jahren mehr oder weniger entschlossen auf einen Sturz des Regimes hinwirkten, sind ebenfalls nicht Gegenstand – was nicht bedeuten soll, dass man ihre Rolle deshalb vernachlässigen könne.

Auch die Kurden kommen nicht vor. Die Geschichte dieser bemerkenswerten Minderheit und ihrer politisch-militärischen Organisationen, ihre symbolträchtigen Schlachten, ihr Autonomieprojekt und ihr ambivalentes Verhältnis zum Regime werden noch Thema für andere, berufene Autoren sein.

Die folgenden Kapitel sollen nicht nur ein Schlaglicht auf das aktuelle Geschehen werfen, sondern auch auf historische Erfahrungen, die nie aufgearbeitet wurden und deshalb bis heute die kollektive Psyche der Syrer heimsuchen – wenn man diesen nicht unumstrittenen Begriff gebrauchen will. Sie prägen die Gesellschaft, ihre Reflexe, Ängste und Erwartungshaltungen. Über sie gelangen wir aber auch auf die Spuren der Logik des Regimes: Denn sie lassen uns seine Entstehungsgeschichte und seine inneren Kohäsionskräfte verstehen.

Andere Autoren mögen zu anderen Schlüssen kommen. Und oft verdankt man ja gerade denen, die die eigene Analyse eher kritisch bewerten, ganz besonders viel. Da wären zunächst Ghiath Bilal und sein Team mit ihren erstklassigen Studien zu Syrien und dem Phänomen »Islamischer Staat«. Wer hätte gedacht, dass es so eine Freude sein kann, mit einem studierten Ingenieur zu arbeiten!

Für Erkenntnisse zum regionalen Kontext danke ich Walter Posch von der Landesverteidigungsakademie in Wien. Was seine Forschungsgebiete Iran, die Kurden und die Türkei betrifft, so können ihm wohl nur wenige das Wasser reichen.

Aktham Suliman danke ich für offene Worte: Er bekomme »jedes Mal die Krise, wenn Europäer über Sunniten, Christen und Alawiten im Orient reden«. Sie sind mir als mahnendes Korrektiv beim Schreiben stets im Ohr geblieben.

Besonderer Dank gilt meiner Lektorin Kerstin Schulz für ihre Geduld, ihre Anregungen und die Idee, dieses Buch überhaupt zu schreiben.

Christian-Peter Hanelt danke ich für die zahlreichen Ideen, Gespräche und Kontakte. Helmut Mejcher dafür, dass er in mir vor über 15 Jahren die Begeisterung für Themen weckte, mit denen man es an deutschen Universitäten sonst eher seltener zu tun bekommt: wilhelminische Orient-Politik oder die Geschichte des Erdöls. Seine Seminare waren eine veritable Kaderschmiede für spätere Journalisten mit dem Arbeitsschwerpunkt Naher Osten.

Gleiches gilt für den leider bereits 2010 verstorbenen Gernot Rotter, der seine Studenten nach Syrien, in den Libanon und in das Reich der Umayyaden führte. Im Gegensatz zu jenen, die sich heute mit derartigen Titeln schmücken, wusste er genau, wie sich ein anständiger Kalif benimmt.

Gilles Kepel gebührt Dank für die Idee, die Schriften des Soziologen Michel Seurat unter dem Titel Syrie. L’état de Barbarie neu herauszubringen. Er hat damit einen verschollenen Schatz gehoben und mir ermöglicht, an Gedanken anzuknüpfen, die Seurat selbst nicht weiterdenken konnte. Weil er 1986 als Geisel in Beirut mit gerade einmal 39 Jahren starb.

Hajo Funke danke ich für die Anregung, noch einmal den »Behemoth« zu lesen.

Meine Kollegen vom Magazin zenith und von der CANDID Foundation, insbesondere mein Freund und Kompagnon Jörg Schäffer, gaben mir den Freiraum, mich in mitunter stürmischen Zeiten mit diesem Buch zu beschäftigen.

Fabian Wagener hat mich mit einem für diese Arbeit sehr bedeutenden Menschen bekannt gemacht. Amir Musawy und Alaa al-Bahadli eröffneten mir das Zweistromland, ohne dessen Kenntnis man auch die Geschehnisse in Syrien nicht verstehen kann.

Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie mir – nicht ohne kritische Begleitung – ermöglichten zu tun, was mich begeistert und interessiert.

Marcel Mettelsiefen möchte ich erwähnen, der wie nur wenige Journalisten den Krieg in Syrien von Anfang an begleitet hat und dabei ebenso viel Mut wie Empathie, ebenso viel journalistische Sorgfalt wie künstlerische Fertigkeiten zeigt. Und mit dem gemeinsam ich im Frühjahr 2012 in eine Sperrzone der syrischen Armee geriet und mich – um eine Notlüge verlegen – in einen Russen verwandelte.

Großer Dank gilt einem Menschen, der hoffentlich in nächster Zeit mit seinem wahren Namen an die Öffentlichkeit gehen kann: Habib Abu Zarr gewährte mir Einblicke in eine verschlossene Gemeinschaft und in ein furchtbares System. Viele der hier vorgetragenen Gedanken gehen auf ihn zurück.

Dies gilt viel mehr noch für Naseef Naeem, meinen Freund, Gefährten und Mitgründer der Expertengruppe zenithCouncil, ohne den es dieses Buch überhaupt nicht geben würde. Er führte mich auf gemeinsamen Erkundungen im Dämmerlicht der nahöstlichen Politik und lehrte mich, dabei auch auf eine andere Art zu denken.

Alles andere verdanke ich L., der ich dieses Buch gern gewidmet hätte, ginge es darin nicht fortwährend um Gewalt, Missbrauch und Intrigen.

1. Reflexe des Regimes – Der Aufstand in Deraa und seine Folgen

Ganz Syrien ist in 14 Provinzen unterteilt. Zumindest war es das, bevor ein Krieg ausbrach, der die Verwaltungsordnung der Arabischen Republik Syrien zu einem theoretischen Begriff verkommen ließ. Diese Muhafazat variierten in ihrer Größe und Bevölkerungsdichte. Die Hauptstadt Damaskus – zu osmanischer Zeit »reichsunmittelbar«, also dem Sultan in Konstantinopel direkt unterstellt – bildete mit nur rund 1600 Quadratkilometern die kleinste, aber am dichtesten besiedelte Provinz, Homs mit über 42.000 Quadratkilometern die mit Abstand größte. Schon die Unterteilung der Muhafazat lässt erkennen, dass sie eher historischen Entwicklungen geschuldet ist als dem Streben nach einer straff organisierten, zentralstaatlichen Administration.

Das Wort Muhafaza wird manchmal mit dem Fremdwort »Gouvernorat« übersetzt, analog dazu der Muhafiz mit »Gouverneur«. Sein Amt und sein Berufungsprozess gleichen allerdings der Theorie nach am ehesten denen eines französischen Präfekten: Der Innenminister schlägt seine Ernennung vor, das Kabinett bestätigt sie, ein Präsidialdekret verleiht ihr Gültigkeit. Ein syrischer Gouverneur führt die Verwaltung einer Muhafaza. Er ist verantwortlich für das Gesundheitswesen, die öffentlichen Dienstleistungen, für Bildung und Erziehung, für den Straßenbau, den Personennahverkehr, die Beaufsichtigung von Handel, Industrie und Landwirtschaft, für Sicherheit, Recht und Ordnung sowie die Förderung des Tourismus.

Insgesamt 23 Ministerien können sich in seine Arbeit einmischen und von ihm Auskunft verlangen, darunter das Ministerium für Bewässerung oder das für »Umwelt und Lokalverwaltung«. Ein syrischer Gouverneur hat, wenn er seine Arbeit denn ernst nimmt, alle Hände voll zu tun, wobei ihm zwischen sechs und zehn Landräte sowie ein Provinzrat zur Seite stehen, dessen Mitglieder er zu einem Viertel selbst ernennen kann. Ihm unterstehen zwar die örtlichen Polizeikräfte, aber Militär, Geheim- und Sicherheitsdienste nehmen von ihm keine Weisungen entgegen, obwohl sie in seinem Herrschaftsbereich überaus aktiv sind: Schließlich gilt seit 1963 in Syrien ein Notstandsrecht, welches das Regime mit der Bedrohung durch Terrorismus und dem fortbestehenden Kriegszustand mit Israel begründete.

Faisal Kalthoum war – übrigens nicht nur für syrische Verhältnisse – ein ausgewiesener Experte, was seine Kompetenzen als Gouverneur der Provinz Deraa anbelangt. Schließlich hatte der ehemalige Professor für Verfassungsrecht an der juristischen Fakultät der Universität von Damaskus seinen Doktorgrad in Frankreich erlangt: 1987 an der Universität Montpellier 1 mit einer Arbeit zum »Vergleich der Organisation des Parlaments in Syrien und Algerien«. Ende Dezember 2005 trat Kalthoum erstmals in den internationalen Medien in Erscheinung: Als Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Recht und Verfassung äußerte er sich zu den Vorwürfen gegen das syrische Regime im Zusammenhang mit dem Attentat auf den libanesischen Ex-Ministerpräsidenten Rafiq Hariri. Kalthoum bezichtigte den im Exil lebenden syrischen Vizepräsidenten Abdelhalim Khaddam des Hochverrats, weil dieser Präsident Assad persönlich in einem TV-Interview verdächtigt hatte, Drahtzieher des Mordanschlags zu sein. Die Behauptung, Assad habe Hariri wenige Monate vor dessen Ermordung explizit gedroht, ihn zu vernichten, sei ein Angriff auf Syriens nationale Sicherheit, so erklärte Professor Kalthoum. Weshalb der Tatbestand des Hochverrats gegeben sei und das syrische Parlament das Justizministerium nun aufgefordert habe, den Fall zur Anklage zu bringen.

Kalthoum sprach damals als Experte, aber auch als ein persönlicher Vertrauter des Präsidenten. Zumindest hatte er unter Kollegen des Öfteren mit seinen Kontakten in den inneren Kreis des Regimes renommiert. Bereits vor Baschar al-Assads Vereidigung am 17. Juli 2000 soll Kalthoum persönlich mit ihm bekannt gewesen sein. Ehemalige Studenten beschreiben ihn als einen glanzlosen, eher unbeliebten Dozenten, der rasch urteilte, sowohl positiv als auch negativ. Kalthoum, ein Angehöriger der in Syrien für ihre besonders säkulare Grundhaltung bekannten ismailitischen Religionsgemeinschaft, interessierte sich vor allem für Posten. Er war zeitweilig Vorsitzender des Verbandes der Lehrkräfte an der Universität Damaskus, 2006 krönte er seine Beamtenlaufbahn als Gouverneur von Deraa. Unter seinesgleichen, das heißt im Orbit der Baath-Funktionäre, die um das Assad-Regime kreisten, galt Faisal Kalthoum vermutlich gar als Intellektueller.

Der deutsche Syrien-Experte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik Volker Perthes erinnert sich an eine Begegnung mit Kalthoum im Jahr 2006, als dieser ihm stolz vom Entwurf eines neuen Parteiengesetzes berichtete. Dies sehe vor, Parteien verschiedener Strömungen zuzulassen, werde allerdings nicht das in Artikel 8 der Verfassung verankerte Monopol der Baath-Partei grundsätzlich infrage stellen. Nicht einmal dazu konnte sich das syrische Regime durchringen. Kalthoum aber »hielt sich für einen Reformer«, schrieb Perthes 2011 in einem Beitrag für die New York Times.1

Verfassungsrechtler, Politiker und, zumindest in Ansätzen, auch ein Reformgeist – das klingt nicht schlecht. Doch im Lichte der Ereignisse in Deera kann man sich fragen, was für eine Auffassung von Staat eigentlich in Faisal Kalthoum wohnte. Wusste er überhaupt noch, worin die Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern bestehen?

Die Geschichte Syriens wird Deraa als »Wiege des Aufstandes« in Erinnerung behalten – Gouverneur Faisal Kalthoum aber scheint schon jetzt, im vierten Jahr des Krieges, vergessen. Es lohnt sich dennoch, an ihn zu erinnern – als eine jener individuell unbedeutenden, aber im Kollektiv umso verheerender wirkenden Figuren, die emblematisch für das Totalversagen des syrischen Staates stehen.

Am 16. Februar 2011 griffen einige Teenager in Deraa zu Sprühfarbe und schmückten die Wände ihrer Volksschule mit Parolen, die der Westwind des »Arabischen Frühlings« zu ihnen hinübergeweht hatte. Vier Tage zuvor war der ägyptische Präsident Hosni Mubarak nach fast 20 Jahren im Amt zurückgetreten. In Tunesien wiederum fragten sich die Menschen schon, wie es nun, nach der Revolution, weitergehen sollte. In Syrien hatten Aktivisten Anfang Februar zu Demonstrationen aufgerufen – zunächst ohne Erfolg. In der nordöstlichen Stadt Hasaka hatte sich Ende Januar sogar ein verzweifelter junger Mann ein Vorbild an dem tunesischen Gemüsehändler Mohammed Bouazizi genommen und sich selbst mit Benzin in Brand gesteckt, ohne dass dies zu Protestbewegungen geführt hätte.

Nun sprühten die Jugendlichen in Deraa in einem eher harmlos anmutenden Akt von kreativem Vandalismus den inzwischen berühmten Satz Al-shaab yurid isqat al-nizam (»Das Volk will den Sturz des Regimes«) an die trostlosen Wände. Womöglich war es Zufall, dass sie dafür ausgerechnet den Tag wählten, an dem die arabischen Satellitensender vom Beginn eines Aufstand gegen das Gaddafi-Regime in Libyen berichteten.

Dafür, dass die Jugendlichen keine konspirativen oder gar terroristischen Aktivitäten geplant hatten, mag sprechen, dass einige von ihnen sogar mit ihren Vornamen signierten. Einige Medien erinnerten später daran, dass Graffiti-Sprühereien an sich auch in Syrien nicht ungewöhnlich gewesen seien, weshalb man für den Erwerb von Sprühfarbe sogar seinen Personalausweis vorlegen musste. Die Botschaft schien die Behörden von Deraa allerdings zu alarmieren und setzte – wenn auch zeitverzögert – eine Kette unheilvoller Reaktionen in Gang.

Über den genauen zeitlichen Ablauf der Ereignisse in den ersten Wochen des Aufstands kursieren verschiedene Versionen. Viele davon geben übereinstimmend den Graffiti-Vorfall von Deraa als Zündfunken an – was sicher auch damit zu tun hat, dass ein Teenagerstreich, der eine Revolution in Gang bringt, eine gewisse dramaturgische Fallhöhe birgt. Selbst über den Zeitpunkt der anschließenden Verhaftung mehrerer Jugendlicher in Deraa gibt es unterschiedliche Angaben. Umstritten ist ferner, ob sie außer dem besagten Slogan auch eine direktere Botschaft an den gelernten Augenarzt Baschar al-Assad an der Wand verewigten: »Doktor, Du bist der Nächste!«

Am Donnerstag, dem 17. Februar, kamen am Rande der Damaszener Altstadt, zwischen dem berühmten Suq al-Hamidiyyeh und dem Märtyrerplatz, wo sich auch das Innenministerium befindet, einige Hundert Männer zusammen, um dort – offenbar nur für einige Minuten – politische Slogans zu skandieren. Einer dieser Slogans, in den die Menge besonders begeistert einstimmte, lautete: Al-shaab al-suri lan yudhal – »Das syrische Volk wird nicht erniedrigt«.

Im Gegensatz zu der Graffiti-Parole der Teenager von Deraa gab es hier noch einen Interpretationsspielraum: Demonstrationen in der Damaszener Innenstadt waren zwar ungewöhnlich und gewiss ein Ausdruck politischer Unzufriedenheit, die Wortwahl hätte aber auch aus dem Repertoire der Baathisten stammen können. Einigen Berichten zufolge mischten sich bald eifrige Männer unter die Demonstranten, die wesentlich eindeutigere Parolen skandierten und keinen Zweifel daran ließen, dass sie für Baschar al-Assad ihr Blut und Leben geben wollten. Innenminister Said Muhammad Sammour erschien angeblich wenig später persönlich mit seinem Sicherheitstross auf der Bildfläche, woraufhin die Versammlung schnell ein Ende fand. Später ließ das syrische Innenministerium verbreiten, dass der Flashmob von Hamidiyyeh als eine Solidaritätsbekundung für Assad gemeint gewesen sei.

Eine Woche später, am 23. Februar 2011, kam es dann im Parlament zu einer eher ungewöhnlichen Diskussion, in der ein Abgeordneter aus Aleppo namens Abdulkarim al-Sayyid vorschlug, die seit 1963 geltenden Notstandsverordnungen zu revidieren: Der 48. Jahrestag der Gründung der Baath-Partei stand Anfang März bevor, und dies, so Sayyid, sei doch ein passender Anlass. Niemand stimmte diesem Vorschlag zu, und im Nachhinein kann man sich des Eindrucks einer Inszenierung kaum erwehren: ein scheindemokratischer Akt und eine ebenso öffentliche wie zugleich verklausulierte Rückversicherung an den Apparat der Repression, dort, wo es nötig scheint, mit voller Härte durchzugreifen.

Im kleinen Reich des Gouverneurs von Deraa kam diese Botschaft offensichtlich an. Ende Februar oder Anfang März wurde ein Dutzend Jugendliche, darunter auch die mutmaßlichen Graffiti-Sprayer, verhaftet und zum Teil in Handschellen von der Schulbank weggeführt.

Ihr Fall fiel einerseits in die Zuständigkeit des Gouverneurs Kalthoum, der für »Recht und Ordnung« in der Provinz zu sorgen hatte und auch in der Stadt Deraa residierte. Andererseits handelte es sich womöglich um eine Angelegenheit von nationaler Sicherheit, und mit derartigen Vorkommnissen befasste sich in Deraa ein anderer, ungleich mächtigerer Statthalter des Regimes: Brigadegeneral Atef Najib, seit 2008 Direktor des »Amtes für politische Sicherheit« (Al-Amn al-Siyasi) in der Provinz Deraa. Dabei handelt es sich um einen Inlandsgeheimdienst mit dem Auftrag, nicht nur Oppositionelle, sondern auch die Medien zu überwachen, und der berechtigt ist, auch eigene Gefängnisse zu unterhalten. In der nahe an Israel und unmittelbar an der jordanischen Grenze gelegenen Stadt Deraa machte sich das »Amt« traditionell besonders wichtig, und Atef Najib war kein anderer als der Vetter von Präsident Assad – ein etwa gleichaltriger Sohn seiner Tante mütterlicherseits, Fatima Makhlouf.

Während sich Gouverneur Kalthoum etwas auf seinen Titel, seine Promotion im Ausland und seine Karriere in der Baath-Partei einbildete, schien sein Counterpart Najib eher auf die klassischen Tugenden und Fertigkeiten eines Kriminellen zu bauen. Angeblich war sein Vater ein Benzinhändler aus der Küstenstadt Jableh, ein Sunnit, der in den Alawitenclan Makhlouf zu einer Zeit hineingeheiratet hatte, als dieser weder besonders reich noch mächtig war. Der Reporter Phil Sands beschreibt Najib in einem etwas romanhaft anmutenden Porträt für die emiratische Zeitung The National als einen düsteren Zeitgenossen mit einer Vorliebe für Maßanzüge, handgefertigte italienische Schuhe und Goldketten sowie einem Fuhrpark mit Limousinen von Jaguar und BMW: ein generischer, zu Macht und Geld gekommener Prolet also.

Darüber hinaus sei Najib nicht nur brutal, sondern auch launisch und unzuverlässig, berichtete Sands, weshalb er im Jahr 1992 schon mal aus dem Geheimdienst geflogen und nur auf Bitten seiner Mutter wieder aufgenommen worden sei. Unter dem langjährigen Geheimdienstchef Ghazi Kanaan soll Najib keine Chance auf ein Fortkommen gehabt haben und in Führungskreisen nur als »das Tier« bezeichnet worden sein. Erst der rätselhafte Tod Kanaans 2005 habe dem düsteren Vetter Assads den Weg im Dienst geebnet.

Najib, so berichteten Bewohner Deraas, habe an fast jedem Geschäft in Deraa mitverdient und dort allmählich seine eigene »Grafschaft« errichtet. Nur eine ausgeprägte Paranoia schränkte ihn ein in seiner Lebensqualität: Angeblich ließ er sich sein Essen aus Damaskus kommen und bewegte sich in Begleitung einer Leibgarde, wie sie in anderen Ländern nur Staatsoberhäuptern zur Verfügung steht. Die Abneigung gegen Najib in der Bevölkerung war überdies konfessionsübergreifend: Sie beschränkte sich nicht nur auf die sunnitische Mehrheit, sondern wurde von Christen und Drusen in der Provinz einhellig geteilt.

Die Graffiti-Sprüher blieben verschwunden, sodass ihre Familien davon ausgehen mussten, dass der Politische Geheimdienst sie in Gewahrsam genommen hatte, um sie zu verhören. In Syrien funktionieren die weitverzweigten Informationsnetzwerke auch über familiäre und konfessionelle Grenzen hinweg, weshalb die Bestätigung nicht lange ausblieb. Und selbst in einem undurchsichtigen, repressiven Staat wie diesem gibt es eine Justiz und Wege, um Anwälte zu beauftragen und Zugang zu Gefangenen zu fordern – sobald sich ein Verdächtiger allerdings in Händen der Geheimdienste befindet, ist dies jedoch praktisch aussichtslos. Die Behörden konnten davon ausgehen, dass aus den Teenagern von Deraa nicht viel herauszupressen war, da ihre Tat weder auf Hintermänner noch auf ein kriminelles Netzwerk schließen ließ. Die mehrwöchige Haft diente also keineswegs etwaigen strafrechtlichen Ermittlungen, sondern einem ganz anderen Ziel: die Familien zu bestrafen, ihnen Angst zu machen und die Bevölkerung insgesamt einzuschüchtern.

Verwandte der Jugendlichen sprachen bei Gouverneur Kalthoum und bei dessen Mitregenten Najib vor, um Beschwerde einzulegen. Erfolglos. Die Antwort, die später in Deraa kursierte, wurde zu einem Fanal für die spätere Revolte: Sie sollten ihre Kinder vergessen und gefälligst neue machen. Wenn sie nicht wollten, werde man ihnen zeigen, wie das geht.

Die meisten Berichte führen Najib als Quelle des Zitates an. Einige wenige behaupten, es stamme von Gouverneur Kalthoum. Tatsächlich ist nicht einmal sicher verbürgt, dass diese Worte in jenem März 2011 in Deraa überhaupt gefallen sind. Aber sie spiegeln wohl sehr akkurat die Haltung wider, mit der die Mächtigen selbst jenen Familien begegneten, die wohlgemerkt nicht gerade zu den untersten Schichten der Gesellschaft Deraas gehörten: Gleichgültigkeit und Verachtung, vorgetragen in einem sexuell gefärbten und damit besonders erniedrigenden Jargon.

Diese Provokation erhitzte das Klima in Deraa weiter. Und sie war vermutlich der Zündfunke für eine Kette von Protesten und Gewaltausbrüchen, die in der Rückschau bereits eine Vielzahl der Konfliktebenen, aber auch der Reflexe des syrischen Regimes offenbaren. Die meisten ausländischen Beobachter scheinen bis heute der Ansicht zu sein, das Regime habe die Krise in Deraa schlecht gehandhabt und sie vor allem massiv unterschätzt. Das liegt vor allem an den scheinbar widersprüchlichen Signalen, die es aussandte: auf der einen Seite versöhnliche Worte sowie die angeblich nur durch einen persönlichen Gnadenerlass des Präsidenten ermöglichte Freilassung der Graffiti-Sprüher und ihrer Mitverdächtigen; auf der anderen Seite brutale Repressionsmaßnahmen mit Knüppeln, Tränengas, aber auch scharfer Munition.

Das Regime sei seinerseits, so berichteten mir später einige treue Anhänger Assads, von vielen Seiten irregeleitet worden: sowohl von den lokalen Behörden und Sicherheitskräften, die beteuerten, sie hätten die Lage im Griff, als auch von den Parolen und den vorgeblichen Zielen der Demonstranten. Diese veranstalteten am 18. März nach dem Freitagsgebet eine Kundgebung und riefen zu einem »Tag der Würde« auf. Im Verlauf der Proteste wurden mehrere Menschen erschossen. Ein Kreislauf von Beerdigungen und erneuten Protesten setzte sich in Gang, wie er für das erste Jahr des syrischen Aufstandes geradezu typisch wurde: Man trug die Toten zu Grabe, immer mehr Menschen schlossen sich den Leichenzügen an, und die Sicherheitskräfte warteten nur darauf, dass die Klagelaute in politische Parolen übergingen, um die Menge mit Wasserwerfern, Tränengas und Schusswaffen zu zerstreuen.

Man könnte argumentieren, dass die Todesopfer letztendlich auch das tragische Ergebnis behördlicher Unfähigkeit gewesen seien: Syrische Sicherheitskräfte hätten schlichtweg keine Erfahrung im Umgang mit ausufernden Protesten gehabt, die in anderen, zivilisierteren Systemen mit sogenannten nicht letalen Waffen aufgelöst werden. Der Griff zu Schusswaffen sei eine Verzweiflungstat gewesen. Diese Erklärung lässt aber schlechterdings außer Acht, dass staatlicherseits offensichtlich ganz unterschiedliche, nicht durchweg unerfahrene Kräfte im Einsatz waren: Polizei, Geheimdienste und vermutlich auch bereits Milizionäre, die als eine Art Reservisten in den grenznahen Provinzen wie Deraa bereitstanden und mitunter über die lokalen Baath-Büros einberufen wurden. Kurz gesagt: Gouverneur Kalthoum und Geheimdienstregent Najib schickten ihre Männer, die auf die ihnen jeweils antrainierte Art den Aufstand niederschlugen.

Die Anwesenheit der Agenten in Zivil, die zum Teil gezielt töteten, blieb in Deraa wohl niemandem verborgen. Anhänger des Regimes lieferten mir rund ein Jahr später in Damaskus eine ganz eigene Erklärung, die sich in Teilen mit der offiziellen Propaganda der Staatsmedien deckte: Ausländische Provokateure hätten sich unter die Menschen gemischt und zahlreiche »Zwischenfälle« initiiert. Über die Frage, ob es sich dabei um saudisch finanzierte Islamisten oder Agenten des israelischen Mossad gehandelt habe, gingen die Meinungen allerdings auseinander …

Wer das Narrativ vom kopflosen, überforderten Regime in Deraa nicht glauben mag, sollte sich fragen, ob nicht vielmehr eine Methode dahinterstand: kein widersprüchliches, sondern ein doppelgleisiges Vorgehen, das durch brutale Repression einschüchtert und zugleich die (vermeintlich gnädige) politische Führungsspitze von der Verantwortung freihält. Es handelt sich dabei, wie wir später noch sehen werden, sogar um ein eingeübtes und gängiges Muster der »impliziten Kommunikation«. Mit diesem Muster vermittelt das Regime der Bevölkerung im Grunde: »Wir wissen, dass unsere Sicherheitskräfte brutal sind. Und wir geben uns leidlich Mühe, sie im Zaum zu halten. Wenn ihr allerdings nicht folgsam seid, macht ihr es uns damit nicht gerade leicht.«

Dabei handelt es sich, wie wir an anderer Stelle sehen werden, um eine durchweg erpresserische Geste, die dadurch noch effizienter wird, dass sie nicht explizit ausgesprochen, in Syrien aber dennoch verstanden wird. Und man muss kein Fachmann für die Geschichte der Mafia sein, um zu verstehen, dass diese Methode wirkt. Die Toten von Deraa waren, um im Bild der organisierten Kriminalität zu bleiben, eine Botschaft des Paten: Sie waren wie die Finger an der Hand eines säumigen Schuldners, die ein paar grobschlächtige Eintreiber eigenmächtig gebrochen haben, um der Forderung noch etwas Nachdruck zu verleihen.

Diese zweigleisige Methode lässt sich auch an einigen anderen Vorfällen demonstrieren: Als die Graffiti-Sprüher und ihre Mitgefangenen Ende März freikamen – einige von ihnen hatte man zwischenzeitlich offenbar nach Damaskus verschleppt –, berichteten diese von Schlägen, Folter und anderen herabwürdigenden Erfahrungen in der Haft. Bezeichnend ist die Botschaft, die ein Offizier des Politischen Geheimdienstes den Jugendlichen mit auf den Weg gab und die wohl für ganz Deraa bestimmt war: Sie hätten ihre Freiheit allein der Gnade des Präsidenten zu verdanken. Galt dies im Umkehrschluss nicht auch für die Folter?

Der nächste Doppelschlag des Regimes folgte auf der politischen Führungsebene der Provinz: Gouverneur Kalthoum, der alte Freund des Präsidenten und Professor für Verfassungsrecht, wurde seines Amtes enthoben. Einige Tage später ging auch Atef Najib vom »Amt für politische Sicherheit« in Deraa in den einstweiligen Ruhestand. Mehrere arabische Zeitungen brachten die Meldung von der Absetzung Kalthoums am 23. März, allerdings ohne sich auf eine offizielle Erklärung berufen zu können. Es hieß, hochrangige Mitarbeiter der Regierung hätten die Nachricht unter der Bedingung, anonym zu bleiben, durchsickern lassen.

Später kursierten in Damaskus Berichte, wonach gegen Kalthoum und Najib ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei, um ihre Verantwortung im Zusammenhang mit den Toten von Deraa zu prüfen. Die Vereinten Nationen und mehrere Menschenrechtsgruppen hatten Gleichlautendes von der Regierung in Damaskus gefordert. Angeblich hatten Demonstranten in Deraa auch verlangt, Najib persönlich zur Verantwortung zu ziehen. Einige Aufgebrachte hatten sogar das Privathaus des Gouverneurs Kalthoum in Brand gesteckt.

Für das Regime wäre es ein Leichtes gewesen, sich öffentlich verbal von den beiden vermeintlichen Übeltätern zu distanzieren. Ebenso hätte man ohne großen Aufwand überprüfen können, wer geschossen, wer gefoltert und wer den Befehl dazu gegeben hatte. Denn bei aller systemeigenen Intransparenz mag es erstaunen, aber die Offiziere der Geheimdienste in Syrien führten tatsächlich Buch über ihre Machenschaften – schon um sich selbst intern abzusichern. Es scheint aber, als habe das Regime nicht das geringste Interesse an einer Aufklärung der Vorfälle gehabt: Schließlich hatten beide, der Bürokrat Kalthoum und der Geheimdienstmann Najib, im Sinne des Systems und damit absolut professionell gehandelt. Sie hatten getan, was das Regime von ihnen erwartete. Sie nun abzusetzen, kann nicht zuletzt als Teil einer Strategie verstanden werden, die Welt im Unklaren darüber zu lassen, wer eigentlich über wen befiehlt und wer wofür zur Verantwortung zu ziehen ist.

Die »anonymen Funktionäre«, die die Nachricht von der Absetzung Kalthoums und Najibs in Deraa in Umlauf brachten, spielten ihre Rolle ebenso wie zwei Delegierte Assads, die nun nach Deraa reisten: Vizeaußenminister Faisal Miqdad, der selbst aus einem Dorf in der Provinz Deraa stammt, und Tamer Fuad al-Hajjeh, Minister für Lokalverwaltung und Umwelt sowie ehemaliger Gouverneur von Aleppo. Die beiden – sunnitischen – Politiker richteten dem Stadtrat von Deraa aus, dass Asad um seine Bürger sehr besorgt sei und jeden zur Verantwortung ziehen wolle, der sich etwas habe zuschulden kommen lassen.

Auch Bouthaina Shaaban erschien nun auf der Bildfläche. Die heute 61-jährige Politikerin mit der Amtsbezeichnung »Beraterin des Präsidialamtes für Politik und Medien« stellte eine Reihe von Reformen in Aussicht, darunter eine niedrigere Einkommenssteuer und eine effizientere Korruptionsbekämpfung. In einer von verschiedenen TV-Sendern übertragenen Pressekonferenz übermittelte die ehemalige Professorin für Literatur mit dem Schwerpunkt »Dichtung der Romantik« den Familien der Opfer von Deraa das aufrichtige Beileid des Präsidenten: »Ich bestätige persönlich, dass Präsident Baschar al-Assad nicht bereit ist, auch nur einen einzigen Tropfen vergossenen Blutes hinzunehmen.«2 Sie selbst könne bezeugen, dass Assad Anweisung gegeben habe, nicht mit scharfer Munition zu schießen, obwohl es tödliche Angriffe auf die Sicherheitskräfte gegeben habe.

Shaaban, die in internationalen Medien immer wieder als »Regierungssprecherin« tituliert wird, obwohl sie offiziell nur als Beraterin tätig ist, gab ihrem Statement einen sehr persönlichen Anstrich. Die Forderungen der Menschen in Deraa und in ganz Syrien seien legitim und würden nun in aller Besonnenheit behandelt.

Ein beinahe notorisches Motiv der Rhetorik, das nicht nur in Bezug auf Deraa die Unaufrichtigkeit, um nicht zu sagen: Doppelzüngigkeit des Regimes bezeugte, war die Behauptung Shaabans, Syrien sei Ziel eines ausländischen Angriffes. Der letzte »Hort des Widerstandes« gegen Israel sehe sich nun einer Hetzkampagne westlicher und israelischer Medien ausgesetzt. Mit dieser Behauptung degradierte die Beraterin des Präsidenten jene Demonstranten zu willfährigen Instrumenten des Auslands, deren Forderungen sie zugleich als »legitim« bezeichnete.

Vor dem Hintergrund dieser vielfältig orchestrierten Reaktion des Regimes möchte ich eine Arbeitshypothese schon an dieser Stelle vorstellen: Man es kann nicht als gegeben betrachten, dass »das Regime« von Beginn der Krise an einen in sich kohärenten, perfide durchdachten Masterplan zur Anwendung brachte. Ebenso wenig möchte ich behaupten, dass sämtliche Widersprüche im Verhalten des Regimes nur scheinbar seien. Wir werden uns später eingehend mit der grundsätzlichen Frage beschäftigen, welche Akteure eigentlich gemeint sind, wenn vom »Regime« die Rede ist – was ja die Voraussetzung ist, um zu begreifen, wo ein Plan vorliegt und wo Spontaneität und Willkür walten. Vorab kann man aber schon sagen: Anstelle eines solchen Masterplans zu Machtausübung und -erhalt möchte ich die Aufmerksamkeit auf eine Reihe in sich geschlossener, bis zum Reflexhaften antrainierter, bewährter Verhaltensmuster lenken. Diese Muster beschränken sich natürlich nicht nur auf das Handeln im engeren Sinne. Sprechweisen, Gesten, implizit übermittelte und verstandene Botschaften gehören wesentlich dazu. Sie bestimmen meines Erachtens das Verhalten einer kritischen Masse von Personen und in erheblichem Maße auch ihr Verhältnis untereinander. Und sie bilden – gemeinsam mit der seit Jahrzehnten fortdauernden inneren Vorbereitung auf den Tag, an dem das Regime in seiner Existenz bedroht wird – dessen innere Kohäsionskräfte.

Dies vorangestellt, müssen wir uns der Frage zuwenden, ob das Regime die Forderungen der Protestbewegung in Deraa tatsächlich als legitim ansah – ober es sich nicht womöglich sogar unmittelbar von ihnen bedroht fühlte.

Dafür wäre es eigentlich notwendig, aus den Slogans, Parolen und Inhalten oppositioneller Webseiten einen Trend zu ermitteln – was nicht leichtfällt, da die Sprechchöre von Demonstranten ja anderen Regeln folgen als die zum Teil sehr detaillierten Ausführungen und Kommuniqués von Aktivisten im Netz.

Die Forderungen der Protestbewegung in Deraa differenzierten sich im Verlauf der ersten Wochen erheblich aus: Gerechtigkeit, Würde, ein »Ende der Angst« zählten zum allgemeinen Repertoire und überlagerten zwischenzeitlich die pauschale Forderung nach dem »Sturz des Regimes«. Sehr konkret ging es um die Freilassung der Jugendlichen sowie später darum, die Folterer und Todesschützen in der Stadt zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Reporterin Zeina Khodr berichtete Ende März aus Deraa für den – für seine besonders positive Darstellung der Aufstände häufig kritisierten – Nachrichtensender Aljazeera International und interviewte zahlreiche Demonstranten. Diese forderten ökonomische Gerechtigkeit und ein Ende der ausufernden Korruption, vor allem aber ein Ende der seit 1963 geltenden Notstandsverordnungen. Auf denen basierte unter anderem die Militär- und Geheimdienstjustiz in Syrien, also willkürliche Verhaftungen, Folter und die Autorität der gefürchteten Staatssicherheitsgerichte. Auf die Frage der Reporterin Zeina Khodr, ob es sich in Deraa um eine »Revolution gegen das Regime« handele, antwortete ein Aktivist: »Nein, wir wollen nur, dass einige Regeln geändert werden« – zum Beispiel durch die Abschaffung der Notstandsverordnungen. Man wolle keine Versprechungen Assads, sondern nun endlich Taten sehen.3

Während der Aktivist, ein Mann von über 40 Jahren mit passablen Englischkenntnissen, diese Worte sprach, machten sich vermutlich bereits jene Kräfte einsatzbereit, die allein dank der umstrittenen Notstandsverordnungen ihr Handwerk verrichten konnten: Spezialkräfte, Paramilitärs und motorisierte Einheiten der Armee.

Allerdings wurde auch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt des Aufstandes deutlich, dass das Narrativ einer ausschließlich friedfertigen Protestbewegung zumindest auf Deraa nicht zutrifft. Während das Regime und die Sicherheitskräfte mit verteilten Rollen einerseits besänftigten, andererseits brutal zuschlugen, konnte auf Seiten der Protestbewegung von einer konzertierten Aktion keine Rede sein. Einige stellten sehr zurückhaltende Forderungen, andere ließen ihrer Wut freien Lauf. Mehrere Polizisten kamen dabei ums Leben – die von den Staatsmedien kolportierte Zahl von 19 getöteten Sicherheitsbeamten und Soldaten Anfang April ist allerdings umstritten.

Ende März flammte auch erstmals eine Erinnerung an die gewalttätige Geschichte Syriens und die 1980er Jahre wieder auf (siehe Kapitel 3 und 4): Demonstranten – inzwischen konnte man wohl bereits von Aufständischen sprechen – suchten Zuflucht in der historischen Omari-Moschee. Das im 13. Jahrhundert von den Ayyubiden ausgebaute Gotteshaus ist nicht nur eine der wenigen Sehenswürdigkeiten in Deraa, es erinnert auch an eine Anekdote über Demut, Macht und Politik. Der frühislamische Kalif Omar soll auf der Reise von Damaskus nach Jerusalem in Deraa gerastet und seine protzig auftretenden Offiziere zu mehr Bescheidenheit ermahnt haben.

Die Sicherheitskräfte drangen auf das Areal der Moschee vor und erschossen nach Berichten von Aktivisten über 30 Menschen. Das historische Gebäude wurde dabei ebenfalls leicht beschädigt – blieb aber weitgehend intakt. Erst im April 2013, bei der zweiten Belagerung der Stadt, wurde das Minarett durch Artilleriebeschuss vor laufender Kamera pulverisiert.

Eine solche Vorgehensweise auf dem Gelände einer Moschee mischte der aufgeheizten Stimmung auch ein religiös-konfessionelles Element bei. Viele Sunniten in Deraa sahen darin auch eine Entweihung. Aufständische behaupteten später, sie seien damals von alawitischen Offizieren gedemütigt worden – unter anderem mit einer Verballhornung des islamischen Glaubensbekenntnisses, das man ihnen hinterhergeschrien habe: »Es gibt keinen Gott außer Baschar.« Wie wir später noch sehen werden, ist allerdings die Darstellung des Regimes und seiner Schergen als gottlos und götzendienerisch ein Topos im Diskurs sunnitischer Oppositioneller. Man kann aber natürlich nicht ausschließen, dass so etwas bereits im März 2011 in Deraa passiert ist. In die Logik der Sicherheitskräfte mit ihrem Wechselspiel von Schrecken und Provokation würde es allemal gut passen.

Dass das Regime die Zustände in Deraa für gefährlich hielt, zeigt nicht nur die Welle der Gewalt, die trotz anderslautender Beteuerungen über die Stadt hereinbrach: Straßenkämpfe, Verhaftungswellen, Einsatz von Scharfschützen. Auch die Auswahl der Ziele, an denen sich die Wut der Aufständischen entlud, provozierte das Regime: das Privathaus des Gouverneurs, ein Gerichtsgebäude, das regionale Hauptquartier der Baath-Partei. Aber warum ausgerechnet eine Niederlassung des Telefonanbieters Syriatel? Wollten die Demonstranten ihrem Ärger darüber Luft machen, dass man ihnen während der kritischen Tage das Mobilfunknetz abgeschaltet hatte?

Mitnichten: Syriatel war und ist nicht nur das wohl einträglichste private Unternehmen Syriens, sondern gehört auch dem berüchtigten Rami Makhlouf, dem mutmaßlich reichsten Mann des Landes und Cousin Assads. Darüber hinaus stammt er aus derselben Verwandtschaftslinie wie Atef Najib, jener geschasste Geheimdienstregent, der den Männern von Deraa angeblich beibringen wollte, wie man mit ihren Frauen schläft.

Man kann durchaus behaupten, dass die Ziele bei spontanen, in Gewalt ausartenden Protestkundgebungen auch zufällig gewählt sein können. Zudem bieten Menschenmassen und Volkserhebungen immer auch Kriminellen reichlich Gelegenheit zu Plünderung und Vandalismus. Dennoch verraten die Ziele viel über das Bild, das sich das Volk in Deraa vom syrischen Staat machte – und vom Regime.

Beide waren in den Jahrzehnten der Herrschaft von Baath-Partei und Assad nämlich in einer Art und Weise verschmolzen, dass man sagen kann: Der Staat als solcher hatte in Syrien im Grunde längst aufgehört zu existieren, ohne dass dies vielen Menschen aufgefallen wäre.

Diese Beobachtung verdanken wir unter anderem dem Juristen Naseef Naeem, der vor allem über Staats- und Verfassungsrecht und die Krise der Arabischen Republiken forscht. Naeem praktizierte als Anwalt in Syrien und ist Mitgründer unserer Nahost-Expertengruppe zenithCouncil. Die Tatsache, dass während der im Jahr 2011 auf das ganze Land übergreifenden Proteste öffentliche Einrichtungen, wie in einem Fall sogar ein Katasteramt, attackiert wurden, interpretiert Naeem als ein Symptom für den Verfall des Staatsbegriffes: Die Menschen in Syrien konnten zu einem Großteil nicht mehr zwischen dem »Staat« und dem »Regime« unterscheiden.

Ein Ausflug in die Begrifflichkeiten des Arabischen Frühlings mag diese These stützen: In dem geradezu panarabischen Slogan Al-shaab yurid isqat al-nizam (»Das Volk will den Sturz des Regimes«) findet sich das Wort Nizam, welches aus einer positiv besetzten Wortfamilie stammt. Es hat im weitesten Sinne mit Regeln, Ordnung, Disziplin zu tun. Als »Regime« in machtpolitischer Hinsicht war es lange Zeit nur verbunden mit dem Wort Hukm gebräuchlich, was sich insgesamt mit »Herrschaftsordnung« übersetzen lässt.

Wenn man den Slogan also ernst nimmt, muss man sich fragen: Wen oder was will das Volk stürzen? Die Ordnung, das System oder die Herrschaft jener Gruppe von Menschen, die das »Regime« ausmachen? Vielleicht kommt man einer Antwort näher, wenn man einen Vergleich aus der politischen Geschichte Europas hinzuzieht, zum Beispiel das von marxistischen und anarchistischen Geistern in westlichen Demokratien kultivierte Feindbild des »Systems«, das allumfassend, ausbeuterisch und in diesem Sinne totalitär sein soll. Vielleicht kommt diese Auffassung von Nizam der empfundenen Wirklichkeit der arabischen Protestbewegungen am nächsten. Was an und für sich recht unspezifisch klingt, wird also im Falle Syriens plötzlich sehr konkret: Denn dort finden wir al-Nizam als ein Amalgam aus herrschender Klasse und Staat, verbrämt und verflochten mit einer Partei, die die staatlichen Institutionen ebenso durchdrungen wie ausgehöhlt hat. Ein System, in dem nahezu jedes staatliche Organ von einer Parallelstruktur neutralisiert wird, die letztendlich auf das »Regime« zugeschnitten ist. Und die sichtbaren Emanationen dieses Systems können eben das Privatanwesen eines Statthalters, die Justiz des Machtapparates, aber auch das Unternehmen eines Menschen sein, der als natürliche – nicht als juristische – Person Teil des Regimes und deshalb Mitherrscher über Syrien ist.

Die Auswahl »legitimer« Ziele der Volkswut folgte gewiss nicht solchen theoretischen Überlegungen, sondern war eher instinktiv. Und während die Syrer, wie Naseef Naeem zutreffend feststellt, keinerlei Kenntnis mehr davon besaßen, was eigentlich ein »Staat« ist, so wussten sie instinktiv doch ziemlich gut, worin das »Regime« besteht. Zumindest gilt das für die ersten Wochen des Aufstandes, der damals in Deraa begann. In den folgenden Jahren zerfiel der Staat, während das Regime sich behauptete – und ganz neue, unheilvolle Formen von Gewaltherrscht entstanden.

2. Der Feind meines Feindes: das »Kalifat«

Bewusst werden nur wenige deutsche Leser vor dem Jahr 2013 schon einmal den Namen der Stadt Rakka vernommen haben. Und ohne die Töchter und Söhne dieser alten, aber glanzlosen Provinzstadt beleidigen zu wollen, muss man resümieren: Wer noch nie nach Rakka gekommen ist, der hat nicht übermäßig viel verpasst. Gewiss: Anhand der abbasidischen Ziegelmauern, eines Minaretts, des auch als »Mädchenpalast« bekannten Hofgemäuers oder des Bagdad-Tors lässt sich mit Sachverstand und Fantasie erahnen, wie die Stadt einmal in der Blütezeit des Islam ausgesehen haben könnte. Aber dieses prächtige Kulturerbe stellte sich zuletzt eher schäbig und vermüllt dar. Im Rahmen einer ZDF-Dokumentation über das Weltreich der Kalifen kam ich 2009 nach Rakka, nach einer Tagesfahrt durch die syrische Wüste. Ich wollte unbedingt das Bagdad-Tor abfilmen lassen, jenes einzigartige Relikt einer glorreichen Epoche, die leider hauptsächlich in Ziegeln und nicht in Sandstein oder Marmor baute. Mein ausgezeichneter, aber oft nicht zum Scherzen aufgelegter Kameramann Ralf Gemmecke tat seine Begeisterung über den Lohn der weiten Reise mit einem missmutigen Brummen kund. Er schwenkte einmal aufwärts, einmal abwärts und fragte dann: »Was jetzt?« Das ziegelbraune Tor mit seiner restaurierten Rundbastion schaffte es am Ende nicht einmal für ein paar Sekunden in die Hochglanzdokumentation. Das Motiv kam – wie eigentlich erwartet – nicht durch die Abnahme des Redakteurs, der, was man ihm nicht verübeln konnte, von Rakka noch nie etwas gehört hatte.

Inzwischen wird das anders sein, denn im Sommer 2013 übernahmen dort die Milizen des »Islamischen Staats in Irak und Großsyrien« (ISIS) die Kontrolle. Etwa ein Jahr später wurde Rakka zur ersten sogenannten Hauptstadt des »Islamischen Staats«, dessen arabisches Akronym Daish lautet (Al-Dawla al-Islamiyya fi-l-Iraq wa-l-Sham). Was das abbasidische Kulturerbe von Rakka betrifft, so lässt sich immerhin sagen: Die sonst eher kulturlosen Dschihadisten, die antike Stätten plündern und zerstören und die Artefakte verhökern, müssten auf das Bagdad-Tor und die Stadtmauer, die beide durch Granatbeschuss beschädigt wurden, wohl eher stolz gewesen sein. Denn sie zeugen von einem islamischen Kalifat, einem Reich in der Tradition der arabischen Eroberungen, und somit von der einzig gültigen kulturhistorischen Referenz für den »Islamischen Staat«. Die Frage, wie, oder vielmehr warum, ausgerechnet Rakka zu dessen Machtzentrum wurde, ist wohl gar nicht so schwer zu beantworten. Ob das von Anfang der Plan der Dschihadisten war, kann man allerdings bezweifeln, auch wenn sie darin heute die Erfüllung einer historischen Bestimmung sehen und dies auch für ihre Propaganda nutzen.

Rakka war, was zunächst wie ein Widerspruch klingen mag, im Syrien-Krieg strategisch zwar bedeutend, weil an einem geografischen Knotenpunkt gelegen, politisch aber für die Konfliktparteien von eher geringem Nutzen. Zu Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime und der daraus hervorgehenden Aufstandsbewegung verhielt sich Rakka eher unauffällig, auch wenn es durchaus eine politische Opposition gab. Die Zurückhaltung mochte nicht nur von einer besonderen, gemischten Bevölkerungsstruktur herrühren, sondern auch von dem Umstand, dass Agenten der Baath-Partei und verschiedene Geheimdienste dort überdurchschnittlich stark vertreten waren. Rakka galt als ein wahres Biotop der Sicherheitskräfte, die man in ihrer »zivilen« Uniform, bestehend aus Schnurrbärten und Lederjacken, überall in der Stadt sehen konnte. In Rakka gingen diese bei Verhaftungen und anderen tagtäglichen Nötigungen der Bevölkerung auch deutlich rabiater vor als etwa in Damaskus.

Vor den Toren der Stadt lag das Hauptquartier der 17. Division der Streitkräfte. In der nördlichen Provinz, in Ain Issa, saß die 93. Brigade, westlich von Rakka, am Kopfende des Assad-Stausees, die Luftwaffenbasis Tabqa.

Sogar im Sommer 2012, als in anderen Landesteilen bereits ein bewaffneter Konflikt tobte, verliefen in Rakka die Proteste gegen das Regime, so es sie denn gab, überaus friedlich. Im Juni 2012 stattete Präsident Assad der Stadt noch einen Besuch ab und ließ sich vom syrischen Staatsfernsehen beim Spaziergang durch die Straßen filmen. Dass ausgerechnet Rakka in die Hände der Milizen von Daish oder »ISIS« fiel, ist also nicht vordergründig damit zu erklären, dass die Bevölkerung besonders radikal-sunnitisch wäre. Bereits Anfang der 1980er Jahre, als sich Teile der sunnitischen Bevölkerung unter Führerschaft der Muslimbrüder gegen das Assad-Regime erhoben, war Rakka zurückhaltend geblieben.

Die schwedische Anthropologin Annika Rabo betrieb in den 1980er Jahren Feldforschung zum Thema »Glaube und Identität in Nordostsyrien« in Rakka und Umgebung. »Die Moscheen sind anscheinend voller geworden in den letzten zehn Jahren«, stellte sie fest, als sie 1992 wieder nach Rakka zurückkehrte.4 Das müsse aber nicht unbedingt mit einer wachsenden Religiosität der Bevölkerung zusammenhängen, sondern lasse sich vielmehr mit der demografischen Entwicklung erklären: Moscheebau habe da nun einmal keine Priorität. In einigen Aspekten sei Rakka sogar säkularer als andere Landesteile: Während man in manchen Stadtteilen von Damaskus beobachten könne, dass auch Schulmädchen zunehmend das Kopftuch tragen, stehe ganz Rakka noch zur alten, republikanischen Schuluniform.

Rabo beschreibt auch den Umgang der Geschlechter als eher ungezwungen. Laut ihren Interviews empfanden Männer es beispielsweise nicht als eine Entweihung, wenn sie nach ihrer rituellen Waschung versehentlich und flüchtig mit einer Frau in Berührung kamen – etwa beim Eintritt in die Moschee. Ein Detail ihrer Studie ist heute vor dem Hintergrund konfessioneller Spannungen besonders zu erwähnen: Auch die sunnitische Bevölkerung sang zu bestimmten feierlichen Anlässen Lieder mit eindeutig schiitischen Texten, die vom Leid der Imame Hassan und Hussein handeln. Solches Brauchtum, einschließlich der traditionellen Geburtstagsfeiern für Heilige, Patriarchen und Propheten (mawalid), gilt etwa in der heute von Daish propagierten Variante des Islam als Götzendienst.

Vor 2013 galt Rakka als eine ethnisch-religiös gemischte Stadt. Man kann sie deshalb als ebenso typisch für Syrien insgesamt wie wiederum als einzigartig in ihrer Zusammensetzung betrachten. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung waren den christlichen Konfessionen zuzurechnen, darunter die mit Rom unierten syrischen Maroniten und die Armenier. Auch ärmere Alawiten hatten sich seit den 1980er Jahren zunehmend dort angesiedelt – zum Teil, weil sie ihren Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst folgten, zum Teil, weil das Regime ihren Zuzug in diese Region gefördert hatte. Es gab zudem einige Tscherkessen und Turkmenen, zahlreiche arabische Stämme sowie sesshafte Beduinen.

Mit den ausländischen Dschihadisten, die 2013 in Rakka einfielen, kamen auch Tschetschenen. Wenig scheren sich diese Gotteskrieger um die Geschichte, und so werden sie kaum gewusst haben, dass die Stadt am Euphrat die Abkömmlinge ihres Volkes schon im 19. Jahrhundert aufgenommen hatte, als diese vor den russischen Eroberungen auf dem Kaukasus ins Osmanische Reich geflohen waren.