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Sarah Born, von der Kadettin zum Captain auf einem Kreuzfahrtschiff. Kommen Sie mit ihr auf eine große Reise über die Weltmeere und durch ihr Herz. Eingebettet in eine turbulente Familiengeschichte erlebt Sarah viele Überraschungen und innere Kämpfe, bis sie endlich am Ziel ist. Nur, was ist das Ziel? Und wer gewinnt ihr Herz? Die Liebe? Das Meer?
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Impressum
© Text: Judith Cramer
Cover: epubli & Judith Cramer
1. Auflage September 2019
Judith Cramer
c/o AutorenServices.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
Mail: [email protected]
Druck und E-Book-Veröffentlichung:
Neopubli GmbH
Köpenicker Straße 154a10997 Berlin
Über mich
… meeres- und schiffsverrückt aus dem Jahrgang 1982. Studierte Politikwissenschaftlerin, doch es kam anders. Aufgewachsen in Paderborn, gefühlt auch in Cuxhaven. „Schiffe gucken“ – stundenlang, die Elbmündung rauf und runter, mit der Hermann Helms groß geworden. Seenotkreuzer und Reisen sind meine Leidenschaften.
„Die Liebe: Das Meer“ ist mein Erstlingswerk. Während des Schreibens/ der Überarbeitung habe ich sehr viel über mich erfahren, die eine oder andere Erkenntnis war dabei durchaus eine Überraschung ;-)
Ich schreibe was mein Herz mir diktiert, immer mit dem Bewusstsein:
Ohne das Meer geht es nicht, weder in meinen Werken noch im echten Leben.
Zack ahoi.
Judith Cramer
Foto: privat
Foto: privat
Danksagung
Liebe Leserin, lieber Leser!
Die Liebe: Das Meer
Bereits 2014/2015 ist dieses Buch aus meinem Herzen entstanden, bevor es viele Jahre in den digitalen Untiefen versank. Seine erneute Erweckung folgte Ende 2018/Anfang 2019 mit meinem Entschluss, mich nicht länger gegen meinen Traum zu stellen.
„Die Liebe: Das Meer“ ist daher ein großer Schritt für mich. Ein besonderes Dankeschön gilt meinen Eltern, die mich immer unterstützt haben, egal welche Irrungen & Wirrungen gerade auftauchten. Mein Freundeskreis hat schon eine Menge mit mir mitgemacht, verrückter ging irgendwie immer. Daher gilt mein herzlicher Dank: (ab jetzt in alphabetischer Reihenfolge) Anastassija, Annerose, Christina, Kathrin, Maria, Mark, Nadine, die immer an meinen Traum geglaubt haben. Jeder von euch hat mich auf ganz eigene Art und Weise unterstützt und mir dabei geholfen, meinen Weg zu finden und ihn endlich auch zu gehen. Die Methoden waren dabei allerdings so unterschiedlich wie die Küsten der Weltmeere. Ohne euch hätte ich nie den Mut aufgebracht, diesen Weg zu beschreiten. Danke.
„Die Liebe: das Meer“, eine Familiengeschichte, eingebettet in die Kreuzfahrtbranche. Kommen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nun mit auf Sarah Borns Reise über die Weltmeere und durch ihr Herz.
Wie immer gilt:
Für alle Fehler bin ich selbst verantwortlich, Übereinstimmungen mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, die Realität der Kreuzfahrtbranche eins zu eins wiederzugeben.
Viel Spaß beim Lesen
Judith Cramer
PS
Während der Überarbeitung 2019 wurde mir bewusst, dass mein „heimlicher Lieblingscharakter“ deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient. Simon Thornton, Du wirst sie bekommen.
Zack ahoi.
Judith Cramer
Die Liebe: Das Meer
1. Kapitel
Sarah Born staunte nicht schlecht, am Kreuzfahrtterminal in Hamburg-Altona lag die MS Poseidon live und in Farbe vor ihr. Ein Kreuzfahrtschiff, welches eine humane Anzahl an Passagieren aufnehmen konnte, aber sicher nicht zu den größten Schiffen in der Branche zählte. Dafür war es viel zu klein, gemütlich und familiär, genau das war der Grund, weshalb sich Sarah so freute, nun als Deckkadettin auf der Poseidon anfangen zu dürfen. „Endlich kommt nun richtige Praxiserfahrung zum erfolgreich abgeschlossenen Studium hinzu.“ Vor lauter Freude hüpfte sie ein paar Mal in die Luft, klatschte ihre Hände zusammen und grinste breit. Endlich konnte sie loslegen, hier und jetzt in Hamburg. „Hallo Welt, ich komme“, rief eine innere Stimme in ihr. Natürlich wusste sie, dass nicht nur Highlights in Warteposition lagen, sondern vor allem mächtig viel Arbeit, eine anstrengende Zeit, Zwei-Personen-Kabine, Brückenwache im 8-Stunden-Rhythmus für vier Stunden, Anlege-, Ablegemanöver, zumindest in der ersten Zeit sicherlich auch Frauchen für alles, da sie nun mal eben neu und frisch von der Uni war. Aber sie war immer auf und am Meer, das entschädigte für alles, vielleicht schaffte sie es ja noch, so quasi nebenbei etwas von der Welt zu sehen, jedenfalls hatte sie sich das ganz fest vorgenommen. Schon zu Beginn ihres Studiums war ihr klar, entweder in die Kreuzfahrtbranche oder aktiv in die Seenotrettung, wobei sie für beide Branchen ihre Schwächen hatte.
Oben auf der Nock konnte sich Captain Tobias Born ein Lachen nicht verkneifen, er hatte seine neue Deckkadettin bereits auf der Aussichtsplattform über dem Cruise Center Altona entdeckt und schmunzelte als er ihre Luftsprünge sah. Das Gleiche galt für seinen 2. nautischen Offizier Lars. „Sieht nach einer ordentlichen Portion Action aus, es wird, denke ich, eine Kunst werden, sie ruhiger zu bekommen, mal sehen, wie lange wir dafür brauchen“, meinte Captain Tobias zu seinem 2. Offizier. Dieser nickte und lachte. „Frisch von der Uni … Wer ist da kein Wirbelwind, neugierig und irgendwie total verrückt?“ Recht hatte er, Tobias Born kannte von dieser Sorte allerdings nur einen einzigen Mann, er selbst hatte ganz sicher nicht mit dazugehört. Nein, auch er war nach der Uni ganz sicher noch nicht so ruhig und erfahren, wie er es heute war, aber das war nur natürlich. Bei seinem 2. Offizier war inzwischen immerhin schon mehr Ruhe eingekehrt, manchmal aber brauste die Ungestümtheit allerdings doch noch voll mit durch. Da hatte er noch einiges zu lernen auf seinem langfristigen Weg zum Captain in der Jupiter-Reederei. „Ich gehe jetzt runter und nehme Kadettin Sarah in Empfang. Das Schiff kennt sie ja noch von ihrem Praktikum.“ Verblüfft blickte Lars seinen Chef an: „Sarah ist schon mal bei uns gefahren?“ Nun lag es an Tobias, verblüfft zu sein. Überrascht hielt er inne, blickte seinen 2. Offizier ernst an. „Woher kennt ihr euch?“ Lars musste nicht lange überlegen. „Nach meinem Studium und kurz vor Beginn ihres Studiums waren wir beide für 14 Tage auf dem Seenotkreuzer auf Helgoland. Danach sind wir uns nicht mehr begegnet.“ „Aha“, nickte Tobias. „Weiß sie, dass du hier inzwischen 2. Offizier bist?“ Mit einer Antwort zögerte Lars nicht lange, während er seinen Chef zur Brückentür begleitete. „Die Frage kann ich nicht beantworten, von mir weiß sie es jedenfalls nicht, ob sie aus anderen Quellen die Info bekommen hat, vermag ich nicht zu sagen, ich denke, die Frage kann Sarah am ehesten beantworten.“ Alles klar auch, Tobias hatte nicht vor, Sarah danach zu fragen, nein, im Gegenteil, er wollte vielmehr ihr Gesicht sehen, wenn sie Lars erblickte, davon versprach er sich deutlich mehr.
Tief durchatmend ahnte Lars, da kommt nicht nur ein Wirbelwind auf die Poseidon zu, nein, auch er hatte mit diesem Wirbelwind doch deutlich mehr zu tun gehabt, als er gerade gegenüber seinem Vorgesetzten erwähnt hatte. Sicher war sicher, fest stand nur, die nächste Zeit versprach äußerst spannend zu werden, es war unklar, wie Sarah damit umgehen würde, dass auch er mit auf der Poseidon fuhr.
Stolz wie Oskar betrat Sarah die Gangway und begab sich direkt zum Crew-Eingang. Crew-Mitglied war sie ja nun endlich. Sofort konnte sie das Schiff betreten, die Formulare stimmten. Keine fünf Minuten später kam ihr auch schon Captain Tobias Born entgegen. „Hallo, Kadettin Sarah, herzlich willkommen zurück und Glückwunsch zum Uniabschluss!“ Sarah freute sich, den Captain zu sehen. Ihn hatte sie schon während eines Praktikums als Captain kennengelernt und hatte somit zumindest das Gefühl, etwa zu wissen, was auf sie zukäme, wie sein Arbeitsstil war. „Danke, Captain, ich freue mich sehr, wieder an Bord zu sein und nun endlich hier anfangen zu können. Das war die Schinderei der letzten Wochen echt wert.“ Tobias schmunzelte, er hatte schon gehört, Sarah hatte am Ende der Prüfungsvorbereitungszeit das Wort Mathematik nicht mehr ausstehen können. Und dennoch hatte sie es geschafft. „Check erst einmal deine Formalia hier beim Crew Purser und dann sehe ich dich in einer Stunde auf der Brücke. Richtig los mit den Schichten geht es für dich erst morgen, aber heute kannst du schon mal mit hoch, auch in Uniform, und natürlich das erste Ablegen von der Nock aus verfolgen. Gewöhn dich dran, denn ab morgen wird es stressiger für dich, das kann ich dir jetzt schon versprechen.“ „Danke, Captain“, und sah ihm nach. Plötzlich blieb er stehen, drehte sich im Gang noch mal zu Sarah um: „Eines noch: Wenn du auf der Nock stehst, versuch den Freudenschrei und den Luftsprung so zu gestalten, dass dabei keiner verletzt wird, ja?“ Sarah grinste, der Captain hatte also gesehen, wie sie eben unten vor lauter Freude losgejubelt hatte und in die Luft gesprungen war. Das konnte ja heiter werden. Nachdem alles geklärt war, brachte sie schnell ihre Sachen auf die Kabine, zog sich um. Bisher hatte sie Glück, der Plan war, dass sie zunächst sechs Wochen die Kabine für sich hatte, zum Eingewöhnen nicht schlecht, andererseits graute ihr aber auch davor, erst sechs Wochen eine Kabine für sich zu haben und danach dann mit einer anderen. „Egal, werde auch das überleben.“
In korrekter Uniform machte sie sich auf zur Brücke. Seit ihrem Praktikum hatte sich etwas geändert. Etwas ganz Gewaltiges sogar, zum Glück. Die Jupiter-Reederei hatte sich inzwischen entschlossen, eine Regel aufzustellen, die besagte, dass Frauen, die auf der Brücke arbeiteten, nur dann in Röcken und Blusen aufkreuzen mussten, wenn Galauniform verpflichtend war, im Alltag durften sie inzwischen auch Hose und Hemd oder Shirt tragen. Pulli und Jacke waren eh nie das Problem gewesen. Als Sarah von dieser Regeländerung Wind bekam, war sie außer sich vor Freude, denn nichts hasste sie mehr als Röcke und Blusen, darauf konnte sie getrost verzichten. In schwarzer Hose, schwarzen Schuhen und einem weißen Shirt machte sie sich nun auf zur Brücke. Happy ohne Ende, aber komplett nervös. Sie staunte nicht schlecht, als ausgerechnet Lars die Tür öffnete, ihn hatte sie vor zig Jahren bei den Seenotrettern getroffen. „Lars! Du bist also auch hier gelandet, klasse!“ Lars nickte und führte Sarah zum Captain. Tobias Born sah auf den ersten Blick, Sarah hatte nicht gewusst, dass Lars ebenfalls bei der Jupiter-Reederei gelandet war. Das kam ihm sehr gelegen. „Kadettin Sarah, noch mal herzlich willkommen auf der Brücke der Poseidon. Willkommen im Team, alles Gute und uns immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel“, sprach er und gab ihr die Hand. Sarah schüttelte sie und bemerkte erst später, dass der Captain und Lars lachen mussten. „Oh, Verzeihung, Captain!“ Lachend führte er seine neue Kadettin über die Brücke, die sie zwar schon kannte, aber dennoch, einige Änderungen gab es immer. Nach der Mini-Führung und den ersten Statements ging Sarah gleich auf die Nock. Herrlich, herrlich, daran würde sie sich schnell gewöhnen müssen, nicht jedes Mal positiv erschlagen zu sein, wenn sie hier oben draußen stand. Heute, hier in Hamburg, klappte das allerdings gar nicht. Ganz im Gegenteil. Sarah fiel fast das Kinn herunter, als sie auf der einen Seite die Elbe sah und gut in den großen Hamburger Hafen Richtung Landungsbrücken und Elbphilharmonie blicken konnte und vom Heck aus auf der anderen Seite einen guten Blick in Richtung Finkenwerder auf das Airbuswerk hatte. Es war atemberaubend, ein Gefühl, welches auch dem Captain und Lars nicht entging. Sarah konnte sich kaum sattsehen, hörte aber ihre innere Stimme „Dienst“ sagen und von einer Sekunde auf die andere war ihr Blick ein anderer, sie checkte nun professionell die Nock, die Lage des Schiffes. Ja, genau, die Lage des Schiffes, die Poseidon lag nämlich noch nicht in Fahrtrichtung, sondern musste erst noch auf der Elbe gedreht werden. Ein weiteres Highlight stand ihr da bevor, ja, irgendwann würde es Routine sein, ein Schiff zu drehen, auch mitten im Hafen oder auf der Elbe, aber heute war noch alles neu, alles irre, alles aufregend. Im Stillen fragte sich Sarah, wie viele Schlepper sie für das Drehen benötigten, denn inzwischen war zwar noch kein Sturm, aber schon ein guter Wind aufgekommen. Bis zum Ablegen waren es allerdings noch vier Stunden, da konnte sich noch einiges ändern. Ohne dass sie es bemerkte, war Lars inzwischen neben sie auf die Nock getreten. „Die Schlepperanzahl steht noch nicht ganz fest, zwei sicher, der Rest wird wetterabhängig sein, wird 30 Minuten vorher endgültig entschieden, je nachdem, wie das mit dem Wetter weitergeht.“ Sarah starrte ihn an. „Bisher hatte ich gedacht, Gedankenlesen sei eine hohe Kunst, aber das ist wohl ein Irrtum.“ Lars lachte, Unrecht hatte Sarah damit nicht, aber abgesehen von ihren positiven Gedanken eben, es war offensichtlich, was und woran sie dachte. „Aktueller Stand der Dinge, der Sturm wird zunehmen. Jetzt haben wir erst ein ,laues Lüftchen‘, mehr nicht. Elbabwärts wird also kein Zuckerschlecken werden.“ „Für wen?“, wollte Sarah sofort neugierig wissen, denn sie wusste, zwischen dem, was Passagiere unter Sturm verstanden und was Nautiker als Sturm bezeichneten, lagen Welten. „Auf dem Weg in Richtung Amsterdam werden wir es in Höhe der Ostfriesischen Inseln wohl mit Windstärke sieben bis acht zu tun haben, dazu Schauer, und mit Pech rollt auch noch eine Gewitterfront auf uns zu.“ Sarah riss ihre Augen sperrangelweit auf, allerdings sah Lars ein großes Glitzern in ihnen. „Verrate es den Passagieren lieber nicht, weder, was die Windstärke angeht, noch, dass du es gar nicht abwarten kannst, bis es so weit ist!“ Leicht zerknirscht schüttelte Sarah den Kopf, während die ersten Tropfen bereits auf die Nock und die Decks fielen. „So deutlich?“ Lars entschloss sich, dazu nichts zu sagen, und wollte sich auf den Weg hinein machen. In dem Moment riss eine Wolke auf und ein absoluter Wolkenbruch brach über sie herein, ohne Vorwarnung, aber mit einer Intensität, dass es nur so krachte. „Eimer“, schrie Sarah ihn an. Binnen Sekunden standen sie bis fast zu den Knien auf der Nock im Wasser und waren bereits dabei, das Wasser mithilfe von Eimern in die Elbe zu schütten! Auf der anderen Seite der Nock waren zwei andere Offiziere ebenfalls damit beschäftigt, die gleichen Arbeiten vorzunehmen. Sie alle mussten verhindern, dass die Wassermassen zur Brücke liefen. So schnell konnte nämlich das Wasser von der Nock gar nicht an der Seite herunterlaufen. Es war kein Spaß, selbst Captain Tobias hatte solche Regenfälle nur selten gesehen, er war froh, dass Sarah mit eingriff und nun Wasser von der Nock runterschippte, und zwar so, dass es auf keinem anderen Deck landete, sondern direkt in der Elbe. Nach 30 Minuten hörte der Wolkenbruch endlich fürs Erste auf, Sarah und Lars schippten immer noch das Wasser in den Eimern von der Nock, hatten aber eine Überflutung der Brücke verhindern können. Die Technik der Nock hatten sie sofort wasserfest gemacht, über den Steuerinstrumenten befand sich ohnehin ein Aluminiumkasten, der jederzeit geöffnet und geschlossen werden konnte. In diesem Falle hatten sie sogar noch eine zusätzliche Plane drübergelegt, sicher war sicher. Uff, das war knapp gewesen, jetzt war es nur noch normaler Regen ohne Überschwemmungsgefahr.
Klitscheklatsche nass betraten sie die Brücke, wollten sich aufwärmen und weitermachen. Doch da machte der Captain allen vier Nockhelfern einen Strich durch die Rechnung. „Duschen alle, sofort, dann zurück auf die Brücke, sofort raus aus den nassen Kleidern!“ Und warf ihnen Handtücher zu. Alle wussten, was zu tun war, und alle wussten, es kann um Sekunden gehen, also suchte sich jeder ein halbwegs geschütztes Plätzchen auf der Brücke, schälte sich aus der Uniform, umwickelte sich mit einem Handtuch und wrang die Uniform zunächst über einem weiteren Eimer aus. Nur in einem Logo-Handtuch der Reederei eingewickelt und mit der anderen Hand die nasse Uniform festhaltend, ging es so zu den Crew-Bereichen, zu den Kabinen, leider mussten sie von der Brücke zum Crew-Treppenhaus zumindest für einen kurzen Abschnitt durch den Passagierbereich. Einige Passagiere der Poseidon staunten nicht schlecht, als auf einmal vier Crewmitglieder von der Brücke im Handtuch daherkamen und es klar war, dass diese eine Überschwemmung der Brücke verhindert hatten. Kurioserweise brandete schnell und kurz ein Applaus auf. Sarah nickte nur, war heilfroh, als sie in der Kabine war, warf ihre nassen Sachen ins Waschbecken und sprang unter die Dusche.
Super, erst ein paar Stunden an Bord und schon die erste Uniform vollkommen nass, gut, dass sie genügend dabeihatte und im Notfall auch auf dem Schiff noch Ersatz besorgen konnte. Dennoch, happy war sie nicht damit, erster Tag und gleich so ein Einstieg, na bravo. Frisch geduscht, wieder aufgewärmt, in neuer, trockener Uniform, schleppte sie diesmal gleich ihre Regenkombi mit zur Brücke, sicher war sicher, man konnte nie wissen, was noch so kam. Diese Idee hatte offenbar auch Lars und sie mussten beide darüber schmunzeln. Auf der Brücke war inzwischen die kontrollierte Hölle los, erneut ging es mit den Sintfluten wieder von vorn los, ein Blick genügte, Sarah sprang sofort wieder in die Regenklamotten, zum Glück alles wasserdicht, und machte da weiter, wo sie vorhin aufgehört hatte: Wasser von der Nock zu schippen. Inzwischen hatte der Sturm noch zugenommen, drei Schlepper waren nun angefordert, Gefahr bestand aktuell aber keine, zum Glück. Von der Panorama-Ausfahrt und dem Drehen im Hamburger Hafenbecken bekam Sarah nichts mit. Sie war die ganze Zeit damit beschäftigt, Wasser von der Nock zu schippen, damit zumindest fürs Erste der Captain, sein Staff samt Lotsen von da aus halbwegs trocken und ohne nasse Füße agieren konnte. Zumindest beim Ablegen und Drehen noch von der Nock aus, danach wären zumindest die schon mal im Trockenen auf der Brücke. Lars war im Trockenen geblieben, Sarah war allerdings sofort klar, nun hier draußen, das war ihre Aufgabe, sie war die Neuste und Jüngste und diejenige mit der niedrigsten Position in der Rangordnung, von daher hatte sie gleich losgelegt, gar keinen Zweifel gelassen, dass ihr das bewusst war. Bedingt durch den Sturm konnten sie ohnehin nicht schnell fahren und jetzt schon war klar, pünktlich in Amsterdam anzukommen, da bestand keine Chance mehr. Ab Stade spürten sie immer mehr, dass die offene Nordsee quasi vor der Tür lag. Noch immer schippte Sarah Wasser von der Nock, merkte aber, die Wassermassen ließen nach und jetzt stand quasi „nur noch“ das Thema Wind auf der Tagesordnung. Oder auf der Nachtordnung, denn es war inzwischen nach 3 Uhr morgens. Zum Anfang hatte sie erst mal die Schicht von 8 bis 12 Uhr erhalten, da sie aber erst um 4:30 Uhr die Nock so weit hatte, dass sie technisch überlebt hatte und die Brücke nichts abbekam, war sie fix und alle, meldete sich ab und war um 7:45 Uhr wieder zur Übergabe auf der Brücke. Es war erneut chaotisch, diesmal wegen des Sturms, da ihnen ein halber Seetag bevorstand. Der Sturm war schon in guter Fahrt, das Schiff schaukelte nicht schlecht, für Sarah war es zwar human, sie wusste aber, die Hälfte der Passagiere sah dies inzwischen anders. Sie liebte jede Form und Farbe der Wellen, vielen Passagieren erging es dabei durchaus anders, am besten spiegelglatte See mit minimalen Bewegungen, bloß keine Bewegungen, die zu irgendwelchen Einschränkungen an Bord führen könnten. Deshalb war sie auch nicht verblüfft, dass der Captain angespannter als sonst war. Sturm machte ihm zwar nichts aus, aber er musste halt die Kommentare der Passagiere abfangen und aushalten. „Sarah, Amsterdam wird nicht planmäßig erreicht, wie es aussieht, gibt es für die Passagiere jetzt nur vier Stunden da vor Ort statt acht. Schuld ist der Sturm. Die Reiseleiter basteln zurzeit an einem neuen, abgespeckten Programm für Amsterdam. Ich brauche sofort daher jetzt auf der Stelle wen, der heute um 9 Uhr und 11 Uhr einen Vortrag zum Thema ,Sturm, was läuft im Hintergrund ab‘ hält. Lars brauche ich zwingend auf der Brücke, er hat die Folien und den Vortrag. Tut mir leid, da musst du jetzt ran. Sturmerfahrung hast du ja schon einige gesammelt, nicht nur gestern.“ Sarah nickte, erstarrte aber innerlich. Zwei Tage an Bord, halt der erste richtige Tag und gleich zu den Passagieren sprechen, na bravo. Andererseits, damit konnte sie ihrem Team mehr helfen als aktuell auf der Brücke, sie wusste es genau. „In Ordnung, Captain.“ Eine Ahnung, wie sie das anstellen sollte, hatte sie noch keine, sie benötigte nur sofort die Folien von Lars. Damit zog sie sich in den Raum zurück, checkte die Folien, bereitete sich auf ihren Ad-hoc-Vortrag vor.
Völlig überrascht war sie, als sie bemerkte, dass die Passagiere ihr den Raum einrannten, zumindest diejenigen, denen nicht schlecht war. Erwartungen und Neugier spiegelten sich in den Gesichtern der Passagiere, es schien, als ob zumindest diese hier durchaus ernsthaft interessiert waren an einem Blick hinter die Kulissen in einer etwas anderen Situation. „Hallo, herzlich willkommen, mein Name ist Sarah Born, ich bin Deckkadettin auf der Poseidon und ja, wie einige von Ihnen bereits herausgefunden haben, es ist mein erster Job nach der Uni. Ich bin seit gestern an Bord.“ Sarah hatte sich entschlossen, das gleich von Anfang an klarzustellen und ihnen allen Wind aus den Segeln zu nehmen. „Was Sie gestern und auch heute bereits erlebt haben, nennt sich Sturm. Ich bin mir sicher, dass sich Ihre Definition von Sturm gewaltig von der nautischen Sturmdefinition unterscheidet. Darf ich Sie zunächst einmal fragen, wie definieren Sie als Passagiere Sturm?“ Da sie null Erfahrung mit Vorträgen auf einem Kreuzfahrtschiff hatte, beschloss sie, die Passagiere mit einzubinden, entweder es klappte oder es klappte eben nicht, das war ohnehin völlig offen. Andererseits, es musste klappen, kein Zweifel. Einige Passagierhände erschienen und Sarah erhielt einen bunten Strauß an Antworten. „Hoher Wellengang, starker Wind, Regenmassen, schaukelndes Schiff, Seekrankheit.“ „Ich danke Ihnen, ja, all das sind Elemente vom Sturm und Faktoren, die dazugehören. Sie sehen, Sturm ist nicht einfach nur ganz viel Wind, hinter Sturm steckt viel mehr. So auch für die Arbeiten während des Sturms auf einem Kreuzfahrtschiff.“ Nach und nach berichtete Sarah nun, was Sturm für die einzelnen Abteilungen auf dem Schiff hieß, was die Konsequenzen und Folgen waren. Über das Anbinden und Verstauen diverser Gegenstände in der Küche, die Festigkeitsprüfungen an Deck etc., etc. Sie hoffte, dass sie damit den Passagieren erneut den Wind aus den Segeln nahm. Entweder würde es Lobeshymnen beim Captain danach geben oder eine massive Standpauke, was dazwischen gab es nicht. Nach 60 Minuten war ihr Vortrag vorbei, sie erhielt einen ordentlichen Applaus und hatte sich im Geiste bereits Notizen für den zweiten Vortrag gemacht, es gab ein paar Punkte, an denen sie noch schrauben wollte. Als sie von ihren Unterlagen aufblickte, sah sie Captain Tobias Born auf sich zukommen. Ups, den hatte sie eben ja gar nicht bemerkt, sie hoffte nur, dass er nicht dabei gewesen war bei dem Vortrag, sie hatte genügend Punkte gefunden, an denen sie noch für die zweite Runde schrauben musste, die Manöverkritik konnte ruhig bis danach warten. „Glückwunsch, bisher nur Lob von den Passagieren bekommen, aber bitte in der nächsten Runde etwas diplomatischer sein und nicht ganz so sehr alles um die Ohren hauen, ja?“ Sarah nickte. Okay, das war also eher weniger gut gelaufen, sie war also zu aggressiv und zu dominant aufgetreten. Gut zu wissen, na ja, eine Chance hatte sie heute ja noch, und die wollte sie auf keinen Fall vermasseln, jetzt erst Recht nicht. Sie war verblüfft, als sie gegen Ende des zweiten Vortrages Lars unter den Passagieren entdeckte, zufrieden war sie überhaupt nicht mit sich. Sie wusste, dass sie quasi von einem Extrem ins nächste Extrem gedriftet war, von zu wenig Diplomatie und Distanz genau zum Gegenteil. Na bravo.
Als alles vorbei war, atmete sie einmal durch: „Gib mir bitte fünf Minuten, um wieder runterzukommen“, bat sie Lars. „Leider nein, in 60 Minuten legen wir in Ijmuiden an, der Captain will dich dabei auf der Brücke haben, auch wenn du gerade keine Schicht hast, An- und Ablegen gehört für dich im Moment automatisch mit dazu, egal ob es in deiner Schicht ist oder nicht.“ Sarah nickte. „Alles klar, wollte mir das sowieso nicht entgehen lassen, wenn ich gerade keinen Dienst habe, bin unterwegs.“ Respekt, sie hatten Sarah gestern und heute einiges zugemutet, es war aber auch nicht anders gegangen in Anbetracht des Sturms. Verblüfft war Lars schon, wie sich Sarah sofort einfügte und nun offenbar mit sich rang wegen der Vorträge. „Sarah, einen Moment. Der erste Vortrag war super, richtig gut sogar, du solltest nur ein kleines bisschen Dampf rausnehmen, das hätte gereicht. Beim zweiten hast du auf extreme Diplomatie umgeschaltet, was du nur tust, wenn du stocksauer bist. Also vergiss den zweiten Vortrag und nimm den ersten mit zur Optimierung, okay?“ Ja, okay. Ja, was denn nun? Irgendwie verstand Sarah gerade gar nichts mehr, sie würde sich später hinsetzen und noch mal den ersten Vortrag in Ruhe durchgehen, zum Glück konnte sie sich noch ganz gut dran erinnern. Das Anlegen in Ijmuiden war eine hohe Kunst, zum Glück waren sie heute das einzige Kreuzfahrtschiff hier. Vier Stunden blieben den Passagieren bis zum Ablegen, anders war es leider nicht machbar. Sarah beschloss, für 60 Minuten rauszugehen, an den Strand, der mehr oder weniger um die Ecke vom aktuellen Liegeplatz lag. Einmal ums Terminal herum und nach rechts abbiegen, schon war sie an einem weitläufigen Strand, an den die Wellen peitschten. Stürmisch war es hier immer noch, aber zumindest trocken. Schnell zog sie sich um und marschierte dick eingemummelt zum Strand, zum Meer, sie war zwar die ganze Zeit auf dem Meer gewesen und hatte sich sicher gefühlt, kurz zur Ruhe kam sie aber erst hier und jetzt. Sie staunte nicht schlecht, als sie den Captain auf sich zukommen sah. „Hallo, Sarah, sorry, dass ich noch keine Gelegenheit hatte, mit dir zu sprechen. Erst einmal danke für den großen Einsatz gestern, das war nicht selbstverständlich. Was die Vorträge heute angeht, ich fürchte, ich habe mich nach dem ersten etwas unglücklich ausgedrückt, denn der erste war in der Tat richtig gut. An manchen Stellen allerdings etwas zu dominant, nach dem Motto, verdammt, es ist Sturm, also haltet bloß eure Klappe. Inhaltlich zwar völlig richtig von der Intention her, nur muss man das eben etwas diplomatischer rüberbringen.“ Sarah nickte und sah auf das wilde, tobende Meer. „Verstehe, aber nicht so diplomatisch, dass es nur diplomatisch ist, weil es stocksauer verbergen soll.“ „Ja, in der Tat, aber gut, im Laufe der Zeit wird es noch einige Vorträge geben, es war allerdings von mir nicht geplant, dass du gleich am zweiten Tag ranmusst, das ging leider nicht anders und musste improvisiert werden.“ „Schon okay, Captain, ich arbeite an mir.“ Tobias Born biss sich fast auf die Zunge, er war sich sicher, dass Sarah an sich arbeiten würde, aber er musste höllisch aufpassen, dass sie es damit jetzt nicht übertrieb. „Natürlich hätte auch jemand von den Reiseleitern den Vortrag machen können, ja. Aber in Anbetracht der Umstände war ich der Meinung, dass es deutlich besser rüberkommt, wenn gerade bei dem Thema jemand von der Brücke dazu spricht. Dort werden nämlich die Entscheidungen getroffen, die sich dann für den Rest des Schiffes auswirken.“ Aus diplomatischen Gründen und weil er Recht hatte, beschloss Sarah, nichts dazu zu sagen. „Bis zum Mittelmeer wird es abenteuerlich bleiben, danach kehrt wieder mehr Ruhe ein. Mir ist bewusst, dass es jetzt drunter und drüber geht, und ich weiß auch, dass du mehr auf der Brücke kannst als Wassereimer schleppen und Vorträge halten.“ Sarah sagte nichts dazu, sie hatte sich doch gar nicht beschwert, es war vollkommen natürlich, dass sie dies gemacht hatte, für sie gehörte es einfach mit dazu, unabhängig von der Position. „Alles gut, Captain, die ersten Tage waren extrem spannend und ich denke, es wird weiterhin spannend bleiben. Außerdem kann ich von all diesen Erfahrungen, die ich jetzt mache, sicher irgendwann profitieren, von daher, passt schon.“ Tobias lachte in sich hinein, er wusste genau, wen er da vor sich hatte und dass Sarah es auch völlig ernst meinte. „Sollen wir noch ein paar Schritte gehen, dann müssen wir langsam zurück, ablegen.“ Gemeinsam gingen sie schweigend eine Weile am Strand entlang und genossen die kurze Freiheit. „Morgen wird es spannend“, warf Sarah plötzlich aus heiterem Himmel in den Sand. Verblüfft blickte Tobias sie an. „Worauf willst du hinaus? Da gibt es jetzt so einige Möglichkeiten.“ „Stimmt, morgen soll es stürmisch bleiben, am Abend ist das große Galadinner, alle wollen dem Captain die Hand schütteln, haben Sektgläser in der Hand und werden sich nach Kräften bemühen, nichts zu verschütten, erst Recht nicht diejenigen, die am Captainstisch sitzen, sich aufgedonnert haben, Sie zu beeindrucken versuchen …“ Tobias räusperte sich, ups, da war sie wohl zu weit gegangen. „Sorry, Captain, kommt nicht wieder vor.“ Streng blickte er sie an. „Solche Aussagen bitte weder an Bord und erst recht nicht gegenüber unseren Passagieren, ist das klar?“ Sarah zermalmte ihre Lippe und zog sie kraus, natürlich hatte er damit Recht. „Alles klar, Captain.“ „Unabhängig davon aber hast du Recht, das wird zumindest für mich morgen Abend sehr lustig!“ Nun konnte sich Sarah ein Grinsen nicht verkneifen. Sie war gespannt, was der Captain und Lars berichten würden, denn Lars hatte erfahren, dass er mit ranmusste an den Captainstisch. Selten, aber es kam vor. Sarah war mehr als heilfroh, dass ihr das erspart blieb, denn sie hasste Röcke und Blusen nach wie vor, daran würde sich wohl ihr Leben lang nichts mehr ändern.
Zwei Tage später traf sie in San Sebastian Lars, der sie fragte, ob sie mit rauskommen wolle zwischen 13 und 17 Uhr. Klar wollte sie, San Sebastian kannte sie bereits, sie war schon zwei oder drei Mal da gewesen. Allerdings mit fünf und fünfzehn Jahren, also bereits vor einer gefühlten ganzen Ewigkeit, und das Ganze im Sommer. „Hat etwas, im Winter hier zu sein, es ist nicht viel los, die Altstadt irgendwie surreal, aber es passt, wenigstens kein Getrampel, das geht ja früh genug wieder los. Bilbao dürfte ein Kandidat dafür sein, da komme ich aber nicht raus, das ist jetzt schon sicher. Dafür darf ich mir Lissabon ansehen.“ Lars schmunzelte. „Du verstehst es schon jetzt, Kompromisse zu machen, und weißt, dass man nicht immer rauskommt. Respekt.“ „In Bilbao wollten der Captain und ich noch mal an das Thema Sturmvortrag Runde eins gehen, wenn du Zeit und vor allem Lust hast, bin ich auf deinen Senf auch gespannt. Ich kann nur profitieren von den Ratschlägen, die ihr mir gebt, weiß aber auch, dass ich mir eben langfristig meinen eigenen Weg basteln muss. Das wird bei dir nicht anders gewesen sein.“ Lars nickte und dachte nach, wo hatte Sarah in der Zwischenzeit nur diese Portion Charme, Weisheit und überschwängliche Freude aufgetrieben, zwischen denen sie binnen Sekunden scheinbar mühelos wechseln konnte? In seiner Erinnerung auf dem Seenotkreuzer hatte er sie etwas anders kennengelernt. Damals war es ihr noch schwerer gefallen, binnen Sekunden von einer Situation auf die nächste umzuswitchen. Offenbar ahnte Sarah, in welche Richtung seine Gedanken gingen. „Drei Seenotretter, die ausfielen, nur noch der Vormann und der Maschinist waren einsetzbar und an Bord eine junge Frau, die ein Baby bekam, und ein junger Vater, der zusätzlich fast verrückt wurde. Und wir. Nein, diese Nacht habe ich nicht vergessen und werde sie auch nie vergessen, in dieser Nacht lag alles beieinander, es konnte in alle Richtungen gehen, ich war einfach nur froh, als das Baby da war und wir Cuxhaven erreichten.“ „Ging mir ähnlich, es ging drunter und drüber, aber als ich den ersten Schrei der jungen Dame hörte, da wusste ich, das alles war es wert, es war ein Moment für die Ewigkeit, nicht jeder hat das Glück, so einen extremen Moment zu erleben.“ Stimmt, extrem war es wirklich gewesen, nicht nur, dass sie bei einer Geburt geholfen hatten, sie steckten auf einem Seenotkreuzer, die Hälfte der Mannschaft lag flach und es war Sturm. „Hast du noch Kontakt zu der Family?“, wollte Sarah wissen, während sie über die weltberühmte Promenade schlenderten. „Nein, zunächst hatte ich das, aber der Vater hat mir nach knapp zwei Jahren nahegelegt, dass er nicht wünsche, dass wir weiteren Kontakt haben, da er sich angegriffen fühlte, da er damals kaum mitgemacht hatte und seine Frau oder Freundin, was auch immer, ihm das wohl noch regelmäßig unter die Nase reibt. Also habe ich den Kontakt abgebrochen, auch wenn mir das nicht leicht gefallen ist und mir besonders für die Kleine leidtut. Vergessen werde ich die Kleine aber nie“, stellte Lars fest. „Geht mir genauso. Ich habe allerdings noch Kontakt zu Lisa und ihrer Mutter. Den Vater hat sie inzwischen zum Glück zum Teufel gejagt, das ging gar nicht, was der ihr alles vorgehalten hatte. Dass er dir dann gesagt hat, du sollst den Kontakt einstellen, das hat das Fass zum Überlaufen gebracht, daraufhin hat sie ihn rausgeschmissen und sich von ihm getrennt.“ Völlig verdutzt sah Lars Sarah an. „Du hast davon gewusst?“ „Ja, klar, sie ging sehr offen damit um und freute sich total, dass wir beide noch mit ihr und der kleinen Lisa in Kontakt standen. Jetzt geht es ihr soweit gut, ist aber nicht ohne als alleinerziehende Mutter, das Sorgerecht hat sie ihm auch nicht gelassen, so sauer war sie.“ Lars konnte sich das ziemlich gut vorstellen, denn er hatte sie während der Geburt erlebt und schon damals geahnt, das gibt nichts zwischen den beiden außer Krach und wer die Hosen anhatte, war ihm auf hoher See sofort klar geworden. Fast fünf Jahre war das nun her, eine ganze Weile also schon. „Wieso bist du ausgerechnet bei der Jupiter-Reederei gelandet, Sarah?“ Die Frage lag ihm schon seit Sarahs Ankunft in Hamburg auf der Zunge. „Gute kleine Reederei, gute Größe der Schiffe. Schiffe à la Sealove-Reederei und anderen in der Liga sind nicht so ganz mein Ding, zu groß, zu unpersönlich sowohl zum Arbeiten als auch für Passagiere.“ Lars konnte das ganz gut nachvollziehen, ihm war es ähnlich ergangen, auch er hatte zunächst ein Praktikum während der Unizeit in der Jupiter-Reederei gemacht und konnte dann nach dem Studium glücklicherweise gleich dort anfangen. Von daher wusste er ziemlich genau, was Sarah nun alles für Gedanken in den Kopf schossen und was in den ersten Wochen und Monaten nun so alles auf dem Plan stand. Neben Häfen, Brückenwache, Rettungsübungen usw.
In Bilbao hatte Sarah keine Chance, von Bord zu gehen, für sie stand die erste gemeinsame wöchentliche Crew-Rettungsübung auf dem Programm. Für die Passagiere gab es jedes Mal zu Beginn einer Kreuzfahrt eine neue Übung, die jedes Mal wieder geplant werden musste, auch wenn sie inhaltlich immer gleich ablief, eine gewisse Grundanspannung herrschte dennoch vor. Die Ausnahme bildeten spezielle Rettungsübungen für Taubstumme, die sich hin und wieder auch an Bord befinden konnten. Ebenso galt dies für die Crew-Rettungsübungen. Eine ganze Reihe dieser Übungen war exakt vorgeschrieben, von den Fällen und vom Ablauf her. Tobias Born hatte aber unmittelbar nach seiner Kommandoübernahme unangekündigte und zusätzliche Teilcrew-Rettungsübungen eingeführt. Zu tun hatten sie mehr als genug und Tobias war der Meinung, Drill in Sachen Rettungsübungen kann nicht schaden, denn im Ernstfall ist noch Chaos genug, da muss bei der Crew jeder Handgriff sitzen, und das aus dem Effeff. Natürlich hoffte er, dass er nie eine solche Übung in den Ernstfall umsetzen musste, aber alle, seine Crew mit eingeschlossen, mussten jederzeit in der Lage sein, den Ernstfall zu bewältigen, es hatte in den letzten Jahren genügend Schiffsunglücke gegeben, alle hatten gemeinsam, dass das Thema Rettung vorne bis hinten nicht geklappt hatte. Sei es die Costa Concordia oder die Adria-Fähre gewesen, etliche Tote hätten sich problemlos vermeiden lassen können. Doch bisher war zum Glück alles gut gegangen und Tobias dankte inoffiziell jeden Tag dem Meeresgott dafür, dass dies auch so blieb. Klar, Können war eine Sache, eine gehörige Portion Glück war aber in so einem Falle auch immer mit sehr wichtig, ob sie sich das nun eingestehen wollten oder nicht, es gehörte mehr als nur Können dazu.
Als Neuling war Sarah schon vorher klar gewesen, dass sie nun erst einmal ein paar Rollen bei einigen Crew-Übungen spielen musste, bevor sie selbst mit auf der Brücke dabeistehen durfte. Heute hatte sie die Aufgabe, eine Hotelarbeiterin zu simulieren, die sich die Finger verbrüht und zudem mit dem Fuß umgeknickt war sowie mit Atemprobleme kämpfte. Gleich das volle Programm. Vom Kunst-Department wurde sie für ihren Auftritt präpariert, Tobias wusste Bescheid, dass es Sarah darstellerisch getroffen hatte, der Rest der Crew tappte bis zuletzt im Dunkeln, so hielt es Tobias immer, es war ihm wichtig, den Überraschungseffekt zu simulieren, da sich viele Crewmitglieder untereinander kannten. Sarahs Finger wurden übel präpariert, ebenso ihr Fuß. Für das Thema Atmung sollte sie einfach schauspielern. Natürlich hatte sie nicht ihre Brückenuniform an, sondern die Uniform der Hotelmitarbeiterinnen, also Rock und Bluse, mit Blut verschmiert. Mit allen Teilen dieser Übung konnte sie gut leben, aber Rock und Bluse machten aus dieser Übung einen echten Horror für sie. Nachdem der Notruf losging, raste das Ärzteteam zu ihr hin, ebenso waren zwei von der Brücke abgestellt worden, sie sollten vor Ort sein und Bericht erstatten. Lars traute seinen Augen nicht, im ersten Moment erkannte er Sarah nicht, im zweiten Moment stand er unter Schock und im dritten Moment realisierte er, es ist eine Übung und genau diese Reaktion war eingeplanter Teil der Übung. Tobias wollte unbedingt eine Reaktion provozieren. Sarah gab alles, biss die Zähne zusammen, atmete unregelmäßig, simulierte große Schmerzen auf dem Hotelboden und versuchte doch ruhig zu bleiben, was aber nicht klappte. Ihre Verletzungen wurden vom Doc als sehr heftig eingestuft und da sie gerade in der Theorie bereits abgelegt hatten und auf See waren, musste der Staff-Captain dazukommen für weitere Schritte, denn es war klar, das schafft das Bordkrankenhaus nicht alleine, Unterstützung muss her. Natürlich hatten Tobias und sein Staff im Vorfeld mit der spanischen Küstenrettung alles abgesprochen, und die waren bereits per Hubschrauber unterwegs. Davon ahnte Sarah allerdings noch nichts, sie war reichlich baff, als der Captain ihr per Funk mitteilte. „Du wirst per Heli von Bord gebracht, er ist bereits im Anflug.“ Ehe sie sich versah, hatten zwei Crewmitglieder sie gepackt, stützten sie und brachten sie zum Heli-Deck, dort kamen die Männer der spanischen Luftrettung mit einer Liege zu ihr herunter auf die Poseidon, legten Sarah auf die Liege, es war mal wieder sehr windig, auch hier im Hafen von Bilbao, deshalb kam ihnen der gesamte Teil der Übung auch sehr gelegen, zurrten Sarah fest und zogen die Liege mit nach oben in den Heli. Oben angekommen, gaben sie Entwarnung nach unten, machten Sarah wieder los, die natürlich nur mit Attrappen unterwegs war, grinsten sie an: „So, dann werden wir Sie jetzt mal wieder runterlassen, gut mitgespielt übrigens!“ Inzwischen kam sich Sarah vor, als ob sie unfreiwillig bei einem SEK gelandet war, sie musste ja wieder herunter vom Heli, und zwar mit einem Seil aus der Luft, da hatte der Captain sich aber echt was einfallen lassen. Sie legte sich ins Geschirr, ließ sich langsam vom Heli herunter und war heilfroh, als sie wieder „festen“ Boden unter den Füßen hatte. Der Rest der Mannschaft grinste nur. „Abenteuer ohne Ende …“ Oh ja, und wie, nickte Sarah im Inneren, zu Lars wollte sie erst einmal nicht sehen, von der Liege aus hatte sie sich noch schnell einen heimlichen Blick in seine Richtung gegönnt und dabei festgestellt, dass dieser enorm ins Schwitzen geraten war. Der Captain dagegen war ruhig wie immer, aber innerlich zum Schmunzeln aufgelegt, auch wenn er heilfroh war, Sarah heil wieder an Bord zu haben. „Wir gehen sofort alle in den Besprechungsraum, Manöverkritik von allen Seiten und danke dir fürs Simulieren. Das konnten wir einer normalen Hotelmitarbeiterin nicht antun, nicht, nachdem klar war, dass auch die Küstenrettung mit Hubschrauber involviert sein würde.“ „Wer wusste davon?“, wollte Sarah sofort wissen. „Nur der Staff und ich, mit Absicht halten wir so etwas im Normalfall Recht klein, scheint ja auch funktioniert zu haben.“ Zehn Minuten später saß das Team im Besprechungsraum und ging die einzelnen Punkte der Übung durch, was hatte geklappt, was nicht? Was saß, was musste unter anderen Umständen wiederholt werden? Lars ergriff Recht früh das Wort. „Die temporäre Mini-Absperrung für Passagiere muss besser klappen, Schaulustige sind in so einer Situation nicht erwünscht.“ Da stimmte Sarah ihm zu, auch ihr waren einige Schaulustige aufgefallen, die zwar aufgeklärt wurden, aber dennoch im Weg standen. „Gut, aufgenommen, was noch? Sarah?“ „Der Überraschungseffekt muss anders laufen, es darf nicht sein, dass Sanis im ersten Moment trotz der Simulation in Gelächter ausbrechen, nach dem Motto, oh, dich hat es erwischt.“ „Die Sanis haben gelacht?“, wollte Lars angespannt wissen. Sarah nickte: „Nicht laut, aber innerlich und am Gesicht klar erkennbar, sorry. Banal, aber niemand, der da liegt, will im Ernstfall ausgelacht werden.“ Sarah hatte damit natürlich Recht und der Doc wollte deshalb noch mal ein ernstes Wörtchen mit den beiden Sanitätern reden. „Was mir und dem Staff noch aufgefallen ist, der Informationsfluss zur Brücke setzte zu spät ein, dann zwar gut, aber es war zu spät.“ Lars wusste ganz genau, auch wenn der Captain gerade nicht seinen Namen genannt hatte, dieser Vorwurf ging an ihn, und zwar nicht unbeRechtigt, denn er hatte echt zu lange bis zur ersten Meldung zur Brücke gebraucht, und das nur, weil er kurz unter Schock stand, bis ihm klar wurde, es war nur eine Übung. Noch so einen Fauxpas konnte er sich nicht leisten und er wusste es. Deshalb gab er auch eine allgemeine Antwort. „Korrekt, in Zukunft erste Brückeninfo, sobald seitens der Brücke das Eintreffen vor Ort ist, nicht erst, wenn Ergebnisse vorliegen oder Behandlung ansetzt.“ Tobias nickte ihm zu, er wusste, dass sein zweiter Offizier das verstanden hatte und dass sie da gleich noch mal unter vier Augen drüber sprechen mussten, aber sicher nicht vor der Mannschaft, das war eisernes Prinzip und eiserne Regel. Nach 30 Minuten war die Besprechung durch, Sarah konnte sich zurückziehen, es war ja nachmittags und sie musste erst wieder um 8 Uhr auf der Brücke stehen. Diese Woche noch zu Ende, dann sollte sie auf 0 –4 Uhr und 12 – 16 Uhr wechseln, auch nicht ohne, aber ein gutes Training für die Variante 4 – 8 Uhr und 16 – 20 Uhr, wo sie An- und Ablegen beide Male voll mit drin hatte. Zurück in ihrer Kabine, gönnte sie sich erst einmal eine heiße Dusche und setzte sich danach etwas auf ihr Bett, noch hatte sie die Kabine für sich. Gerade jetzt war sie sehr froh drum. So groß war die Kabine nicht, immerhin hatte sie eine Luke und Sarah konnte das Meer sehen, zwei Einzelbetten standen drin, jeweils gegenüber, dazu zwei kleine Schreibtische, da passte allerdings kaum etwas drauf. Jede Person konnte ihren Kabinenbereich etwas personalisieren mit Fotos etc. Wichtig waren nur Ordnung und keine entflammbaren Gegenstände. Während sich Sarah in ihrer Kabine etwas entspannen konnte, musste Lars dagegen noch zum Rapport beim Chef, er hatte aktuell die Schicht 12 – 16 Uhr und 0 – 4 Uhr erwischt.
Ohne viele Worte zu verlieren, fragte der Captain ihn auch gleich in seinem Büro: „Was war los, wieso hat es so lange gedauert, das Problem hatten wir sonst noch nicht.“ „Das ist korrekt, wird nicht wieder vorkommen, mein Kopf hat zu spät geschaltet, dass es eine Übung ist. Tut mir leid.“ Tobias nickte, so etwas hatte er sich schon gedacht, denn er hatte Sarah und Lars während der ganzen Nummer ganz genau beobachtet und zumindest bei Lars so einiges in seinem Gesicht lesen können. So eine Übung mit komplett anderen Bedingungen, abgesehen von der Hauptakteurin, mussten sie also wiederholen und dann sollte Lars darauf aufpassen, dass er nicht noch mal an erster Stelle den Schock darüber hat, wen es getroffen hatte. Und das wusste Lars nur zu gut, wo er sich da jetzt hereingeritten hatte, das Ganze völlig unbeabsichtigt und unter den Augen seines Captains, na bravo. Sarah dagegen war einfach nur k.o., es war zwar alles total spannend und aufregend gewesen, dennoch freute sie sich schon jetzt, wenn sie nicht mehr simulieren musste, sondern auf der Brücke Protokoll führen durfte.
2. Kapitel
Die nächsten drei Monate verliefen für Sarah nach Plan, mit jedem Tag erhielt sie mehr Verantwortung auf der Brücke, durfte mehr Entscheidungen treffen, koordinierte immer mehr und profitierte von dem großen Erfahrungsschatz der älteren Brückenbesatzung. Rettungsübungen, Brückenwache, Anlegen, Ablegen, Drehen im Hafenbecken, Tenderbootfahren, das volle Programm machte sie nun mit und konnte recht selbstständig dabei agieren, inzwischen wusste sie genau, was sie zu tun hatte und was nicht. Natürlich blieben ihre Fortschritte auch Captain Tobias Born und seinem zweiten Offizier Lars nicht verborgen.
Inzwischen waren sich Lars und Sarah deutlich nähergekommen, es blieb auch fast gar nicht aus, allerdings weigerte sich Sarah nach wie vor, mit ihm zusammenzukommen, da sie noch Kadettin war und keine Offizierin. Jedes Mal wieder sorgte dies für einen Streit unter ihnen, völlig egal, wo auf der Welt sie sich gerade befanden. Diesmal steckten sie oben in Norwegen auf einer der ersten Nordlandkreuzfahrten in diesem Jahr, allerdings schon auf der Rückfahrt vom Nordkap, und legten in Bergen an. „Sarah, willst du Buchläden plündern oder kommst du mit zu einem Wassermarsch in den Park hinten?“ Sarah musste zunächst einmal lachen, ja, Lars kannte sie, sehr gut sogar. Er ahnte bereits, dass sie sich mal wieder das ein oder andere Buch nach Bergen bestellt hatte in eine große örtliche Buchhandlung, ARK Beyer, mitten in der Fußgängerzone. „Erst in den Park und auf dem Rückweg Buchhandlung, glaubst du etwa, ich will die Bücher die ganze Zeit mitschleppen?“ Nein, das hatte er nun wirklich nicht geglaubt, vielmehr hatte er Zweifel gehabt, ob Sarah es überhaupt über die Buchhandlung hinaus schaffen würde. Tobias hatte Fetzen dieser Diskussion mitbekommen und schmunzelte mal wieder in sich hinein, ob die zwei es je noch packten. Inzwischen hatte er da so seine angebrachten Zweifel, denn er ahnte, was das Hindernis für Sarah war. Auch wenn sich ihre Zeit als Kadettin langsam, aber sicher dem Ende zuneigte. Die Beförderung konnte nicht mehr lange dauern, Tobias rechnete ohnehin jeden Tag mit dem Anruf und der Bestätigung, dass dieses Thema durch sei. Im Nordnesparken angekommen, atmete Sarah erst einmal tief durch. „Herrlich, hier zu stehen, das ist jedes Mal wieder Entspannung pur, dieser Ausblick, diese Ruhe, einfach traumhaft und zum Glück nicht überlaufen.“ Lars stimmte ihr vollkommen zu. „Ich weiß, ich versuche auch jedes Mal, wenn ich in Bergen bin, zumindest kurz hierherzukommen, ist so etwas wie ein ruhiger Punkt auf der Erde, den haben wir ja alle irgendwo.“ Dem stimmte Lars vollkommen zu, einer dieser Orte war auch für ihn dieser schöne Park hier oben in Bergen, hier fand er oft Zeit zum Nachdenken oder er suchte sich den Park aus, um schwierige Dinge bei anderen Personen anzusprechen.
„Sarah, du weißt, was ich für dich empfinde, und ich finde es auf der einen Seite Schwachsinn, dass du noch warten willst, bist du 3. Offizierin bist, und auf der anderen Seite kann ich es auch verstehen. Das Blöde ist nur, ewig wird dieser Eiertanz nicht funktionieren und ich glaube, das wissen wir beide.“ Zu einer Antwort kam Sarah nicht mehr, denn ihr Handy meldete sich. „Jetzt, sofort?“, verstand Lars nur. „Okay, Captain, ich mache mich direkt zu Fuß auf dem Weg zum Schiff, ohne Umwege.“ Blass sah sie nun Lars an. „Keine Ahnung, was der Captain von mir wissen will, es eilt aber offenbar sehr, kannst du die Bücher bitte noch für mich abholen, ich muss zum Captain.“ Ziemlich bleich sah sie im Gesicht aus und fegte sofort los. Lars fragte sich ebenfalls, was passiert sei. Wenn es etwas Gravierendes in der letzten Zeit gewesen wäre, hätten sie das alle mitbekommen und bemerkt, aber es war nichts gewesen, von daher konnte auch er Sarah nicht weiterhelfen. Das Timing hätte jedenfalls nicht schlechter sein können, mitten in seinem Geständnis diese Unterbrechung, allerdings ahnte er, so ungelegen kam diese Unterbrechung Sarah wohl nicht. „Viel Glück, ich bringe dir die Bücher mit, wir sehen uns später.“ Sarah nickte nur kurz und sauste zu Fuß mit einem Affenzahn quer durch Bergen. Sie hatte den Captain noch gefragt, ob zu Fuß in Ordnung sei oder ob es noch schneller sein müsse. Zu Fuß war in Ordnung. Leider setzte genau in diesem Moment das typische Bergener Regenwetter ein und als sie endlich beim Schiff ankam, war sie klatschnass, hörte aber vom Staff nur „Beeilung, der Captain wartet schon!“ Sarah raste nach oben zum Büro des Captains, umziehen musste jetzt warten, entweder das oder Eile, und offenbar herrschte Eile vor. Mit einmal Anklopfen stürmte sie ins Captainsbüro, triefend nass und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Captain an. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, ging Tobias Born ins Bad, griff sich ein Handtuch und warf es Sarah zu. Zum Dank nickte sie. Nachdem sie sich wieder einigermaßen trockengerubbelt hatte, starrte sie erneut ihren Captain an. „Sarah, du ziehst den Regen auch magisch an oder doch umgekehrt? Zieh bitte die Schuhe aus und leere sie über der Balkonreling aus, ich möchte eigentlich nicht, dass die schiffsinterne Feuerwehr hier gleich abpumpen muss.“ „Oh Gott, sorry“, stürmte auf den Balkon zu, riss die Tür sperrangelweit auf, zog die Schuhe aus und kippte die Wassermassen nach unten über Bord. Grinsend betrat Sarah danach wieder das Büro. Allerdings hatte sie immer noch tausend lebendige Fragezeichen auf der Stirn und in ihren Augen stehen. „So, dann will ich mal nicht so sein, herzlichen Glückwunsch, ab Montag bist du 3. Offizierin hier, du hast es dir verdient!“ Vollkommen baff und platt stand Sarah zunächst sprachlos vor dem Captain, ihr fehlten die Worte, sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Leider fiel ihr dazu nichts Besseres ein als „Ich glaub, ich friere und brauche eine Dusche!“, sprach es aus, stürmte aus dem Büro und raste in ihre Kabine, eine heiße Dusche brauchte sie jetzt echt, denn in der Tat war sie vollkommen durchgefroren.
Bingo.
Erst nach einer langen heißen Dusche setzte so langsam ihr Bewusstsein wieder ein. Mein Gott, war das gerade real gewesen? Hatte sie gerade wirklich eine Beförderung bekommen und war einfach so rausgestürmt, hatte sie auch nicht geträumt? Oh Gott, es half alles nichts, sie musste wohl noch mal zum Captain, diesmal aber ruhiger und vor allem aufgeräumter und in trockener Uniform. Nach Sarahs Abgang konnte sich Tobias sein Lachen nicht mehr verkneifen, das war echt mal richtig kurios gewesen, es passte zu Sarah wie die Faust aufs Auge. Im Stillen rechnete er sich bereits aus, wann sie erneut vor seiner Tür stünde, diesmal in Uniform, trocken und etwas weniger verwirrt, höchstens über ihren eigenen Auftritt. Übel nahm er es Sarah allerdings nicht, er hatte zwar von Eile gesprochen, allerdings hatte Sarah das Wort etwas anders interpretiert als er, was ihren Auftritt von vorhin erklärte. Keine 15 Minuten später klopfte es erneut an seiner Bürotür. Tobias ahnte, wer da nun stünde. Irrtum. Lars stand vor der Tür, ebenfalls mit einigen Fragezeichen im Gesicht und zugegebenermaßen auch mit Sorgenfalten, was Tobias sofort bemerkte. „Mach bitte die Tür zu. Sarah ist zur 3. Offizierin befördert worden, hat das aber noch nicht gerafft, realisiert und angenommen, ich gehe davon aus, dass sie jede Sekunde vor der Tür stehen wird.“ Noch bevor Lars sich dazu äußern konnte, klopfte es erneut und Sarah trat ein, diesmal ruhiger und würdevoller. „Captain, du wolltest mich sprechen? Tut mir leid für den Auftritt von eben.“ Etwas betrübt schaute Sarah ihren Vorgesetzten an, ihre erste Reaktion auf ihre Beförderung hatte sie eben ordentlich verbockt. Daran konnte es keinen Zweifel mehr geben und so sah Tobias Born auch aus, ernst, erschlagen und negativ überrascht. „Sarah, schon gut. Ich fange am besten noch mal ganz von vorne an. Du hast dich eben nicht verhört, Glückwunsch, ab Montag bist du 3. Offizierin auf der Poseidon. Herzlichen Glückwunsch, alles Gute!“ Auch diesmal fehlten Sarah im ersten Moment die Worte, stattdessen schloss sie die Augen und versuchte tief durchzuatmen, es klappte aber nicht. Stattdessen öffnete sie die Augen, sah ihren Captain fest an: „Danke, Captain, ich freue mich sehr über die Beförderung, ich werde alles geben und diese Position gut ausfüllen. Danke für die Unterstützung.“ Nun sah sie auch Lars fest an, hielt dem Blick der beiden Männer vollkommen stand, verabschiedete sich und ging zumindest äußerlich in aller Seelenruhe aus dem Büro heraus. Draußen angekommen, raste sie erst einmal an Deck, sie war innerlich bei Weitem nicht so ruhig und abgebrüht, wie sie sich nach außen hin gab, sie hoffte sehr, dass zumindest ihre innere Aufgewühltheit den beiden verborgen geblieben war. An Deck schnappte sie erst einmal nach Luft, während vor allem Lars sehr verblüfft über ihr Auftreten gerade war. „Oha, bei der Nachricht hätte ich eigentlich Jubelstürme von Sarah erwartet, allerdings war es wohl eher andersherum. Was zum Teufel ist da passiert?“ Auch sein Captain schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, es ist aber merkwürdig, dass sie beide Male völlig anders reagiert hat, als wir es vermutet haben. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.“ Allerdings beschloss Tobias, Sarah erst einmal 30 Minuten zu lassen, ihre Schicht hatte noch nicht begonnen, er konnte in den 30 Minuten noch etwas auf der Brücke klären. Wo er Sarah an Deck finden würde, war ihm ohnehin klar. Wenn sie richtig in Schwierigkeiten oder in „Denk-Turbulenzen“ steckte, gab es nur einen einzigen Ort, an dem sie sich aufhielt. Wenn er sie da fand, dann war es kompliziert. Selbst Lars hatte das noch nicht mitbekommen. Ganz hinten, auf dem Promenadendeck fand er sie, weit hinter den Rettungsbooten. Hier kamen nicht oft Passagiere hin, aber hier war man dem Meer ganz nah, näher am Meer ging auf der Poseidon nun wirklich nicht. Sie brauchte erst mal ein paar Minuten für sich. Ihre Reaktion auf die Beförderung war bei Weitem kein Glanzstück gewesen, beide Male hatte sie ihre Reaktion ordentlich versemmelt. Sie war von einem Extrem ins nächste gekippt. Dummerweise waren beide Varianten sicher nicht das gewesen, was die Chefetage erwartet hatte. Jetzt durfte sie das wohl ausbaden und war ihrem Captain wohl oder übel eine Erklärung schuldig. Na super. Auch das noch, denn inzwischen war ihr klar geworden, dass es nicht die neuen Aufgaben waren, wovor sie Angst hatte, es war etwas ganz anderes. Nur traute sie sich nicht, das zuzugeben oder gar dem Captain zu beichten. Dass irgendwas im Busch war, hatte er ohnehin schon mitbekommen, da war sich Sarah ganz sicher, erst recht, als sie ihn auf dem Promenadendeck entdeckte und er bereits auf sie zukam. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er sich neben Sarah, beide schwiegen erst einmal ein paar Minuten, aber Sarah spürte eine Kraftübertragung wie nur selten.
„Es ist chaotisch, ich weiß. Mir ist klar, dass lauter Jubel oder ein Luftsprung angebracht gewesen wären. Stattdessen hab ich zwei Mal reagiert, als ob mich jemand töten wollte. Zum jetzigen Zeitpunkt hab ich noch nicht mit der Beförderung gerechnet.“ Tobias schluckte, das war zwar immer noch nicht die grottenehrliche Sarah, da war gerade noch die Diplomatin am Werke, die jedoch nur diplomatisch war, wenn sie im ganz großen Chaos steckte und versuchte das irgendwie zu sortieren. „Überrascht hat mich deine Reaktion ziemlich, ja. Ich vermute aber, dass deine Reaktion nicht aus beruflichen Gründen so ausgefallen ist. Du kannst den Job, hast es drauf, hast es verdient und weißt das auch. Du hast Angst, was jetzt wird. Die ganze Zeit hast du Lars auf Distanz gehalten mit der Begründung, erst wenn du auch Offiziersrang hast. Den hast du jetzt.“ Sarah schluckte, der junge Captain konnte aber wirklich Gedanken lesen oder er kannte sie einfach nur zu gut. Gesagt hatte sie ihm natürlich nie etwas davon und sie war sich sicher, dass Lars ebenfalls nie ein Wort verloren hatte, aber nun gut, der sechste Sinn konnte einem Captain auch nicht immer schaden. „Hm“, grummelte sie, obwohl sie ganz genau wusste, dass Tobias Recht hatte. „Ich komme mir vor, als sei ich eine Klippe hinuntergestürzt, ja.“ Nun konnte sich Tobias nicht mehr zurückhalten, er musste Sarah danach fragen. „Liebst du Lars?“ Zu lange sah Sarah ihn nun an. „Puh????.“ „Womit wir beim eigentlichen Problem wären, gut zu wissen.“ Erstaunt sah Sarah ihren Chef an, das Meer konnte ihr diesmal nicht helfen, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte. „Sarah, das war eine Ja-oder Nein-Frage. Deine Antwort hat allerdings auch alles gesagt. Wann willst du ihm das beibringen und wie soll das mit euch auf der Brücke funktionieren? Stopp, ich brauche deine Antworten darauf nicht jetzt, aber du solltest darüber nachdenken, und zwar bald.“ Okay, der Captain war also mächtig sauer, auch Sarah hatte inzwischen raus, wie er sich verhielt, wenn er sauer war. Toll, super, Lars plante mehr oder weniger die gemeinsame Zukunft und sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt eine gemeinsame Zukunft mit Lars wollte. Na, herzlichen Glückwunsch.
In Bergen fuhren sie heute sogar erst um 21 Uhr wieder aus dem Hafen, es war ja auch um diese Zeit dort oben noch hell, eine ruhige Minute hatte Lars nicht, er und Sarah hatten 8 – 12 erwischt und waren sich erst wieder um 19:40 Uhr auf der Brücke über den Weg gelaufen, da aber liefen schon die Vorbereitungen fürs Ablegen auf Hochtouren. Sarah agierte gewohnt professionell, sie ließ sich nichts anmerken und es wurde auch sehr deutlich, dass außer Lars und dem Staff niemand über ihre Beförderung Bescheid wusste, neben dem Captain natürlich. Das konnte auch ruhig noch eine Weile so bleiben, Sarah musste sich selbst erst einmal mit dem Gedanken anfreunden und vor allem mit den Konsequenzen. Ablegen in Bergen war je nach Liegeplatz immer ein kleines Abenteuer, diesmal hatten sie Glück und lagen direkt vor der Festung, sie mussten also nicht rückwärts raus, sondern nur seitlich und dann weiter hinten drehen, Platz und Tiefe waren hier jedoch zum Glück genug vorhanden und da die Poseidon nicht ganz so lang war, ging es ohne Probleme. Die große Herausforderung käme erst später durch den Fjord, an Felsen und Steinen vorbei nach Stavanger. War zum Glück nicht weit, deshalb brauchten sie auch nicht so früh loszufahren, denn Bergen liebten die meisten Passagiere ohnehin. Sarah liebte zusätzlich den Lysefjord und sie hatten sogar richtig großes Glück, die Poseidon war klein genug, um auch durch diesen Fjord durchzufahren, bis zum Prekkestollen, es war ohnehin einer der tiefsten Fjorde in Norwegen. Sarah konnte es kaum erwarten, sie liebte diesen Fjord noch mehr als den Geiranger-Fjord und die nautische Herausforderung im Lysefjord war eine Spur größer als im Geirangerfjord. Klar, auch hier hatten sie einen Lotsen an Bord, aber es war unglaublich, mit der Poseidon hier durchzuschippern, ganz langsam, ganz ruhig, ganz bedächtig. Vorbei an mobilen Lachsfarmen, vorbei an Häusern, Bootsstegen und Flaggenmasten. Jedes Mal wieder dachte Sarah, gleich hängt Klein-Ida am Fahnenmast. Ja, es waren Klischee und Schönheit pur, die mit jedem Meter noch atemberaubender wurden und zudem Sarah viel Kraft mitgaben, denn sie wusste, früher oder später musste sie mit Lars reden. Es blieb ihr nichts anderes mehr übrig.