Die Liebhaberin - Joachim Zelter - E-Book

Die Liebhaberin E-Book

Joachim Zelter

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Beschreibung

In der Rolle eines Engländers, unter falschem Namen, heißt sich der Ich-Erzähler also "Friedhofsoziologe" und hält einen bizarren Vortrag vor zahlreichen Studenten. All dies um einer einzigen Studentin zu gefallen, die zu dem Vortrag aber gar nicht kommt. Wochen später hört er auf der Straße den jauchzenden Aufschrei einer Frau: »Der Beerdigungsunternehmer!" Sie geht mit ihm, und er gerät in die Fänge seiner eigenen Fiktion. Sie wird seine Lieb-Haberin. Eine tragik-komische Version von »Romeo und Julia". Ein Roman über das Thema Tod und Liebe, die Vergeblichkeit im Verhältnis der Geschlechter.

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Seitenzahl: 141

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Joachim Zelter

DIE LIEB-HABERIN

Roman

KrönerEditionKlöpfer

© 2023 Alfred Kröner Verlag, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN E-Book: 978-3-520-76625-0

Mehr über das Verlagsprogramm des Alfred Kröner Verlags

finden Sie unter: www.kroener-verlag.de

Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Life imitates Art far more than Art imitates Life

Oscar Wilde

Inhalt

Vorwort

Roman

Vorwort

Die Lieb-Haberin: Die Betonung liegt auf dem Trennstrich. In einem Atemzug, ohne den Strich gesprochen, verstehen wir unter einer Liebhaberin ein gefälliges Wesen, dem Mann gefügig und verfügbar, disponabel, immer da und zugleich absent, im Hintergrund parat, zum Bleiben oder Gehen bereit. Sie hat nicht, sondern im Gegenteil, sie ist eine Gehabte oder Gewesene. Strenggenommen müsste es heißen: eine Liebgehabte oder Liebgewesene. Etwas Vergangenes, Episodisches und Passivisches ist ihr zu eigen. Ganz anders die Lieb-Haberin. Sie ist keine Geliebte, noch eine Gehabte, noch eine Gewesene. Sie ist keine Episode. Sie geht nicht, sondern bleibt. Sie ist eine für immer Bleibende. Sie geriert sich endgültig und epochal. Sie ist ein rastlos aktives Wesen. In immer neuen Anläufen hält sie sich präsent. Sie lebt in Angst, verrückt zu werden. Sie ist ein gebrochenes Wesen. Nicht ohne Grund ist ihr Name gebrochen: Lieb-Haberin. Nicht ohne Grund zerfällt ihr Name in zwei unversöhnliche Hälften. Als ob man Liebe haben oder fordern könnte. Sie tut es. Es existiert für sie ein höchster Wert: ihre Liebe. Wehe dem, der dies bezweifelt. Sie lebt in dem Glauben, dass ihr Geliebter sie liebt, es ihr aber nicht sagt – oder es gar nicht weiß. Ihre männlichen Gegenspieler: der Verführer oder der ahnungslos Hineingeschlitterte, der nicht nein sagen kann. Sie findet sich in wirren Gesten in Roland Barthes Fragmenten einer Sprache der Liebe. Sie ist die Sprache der Liebe, ist verrückt vor lauter Sprache (Barthes). Sie neigt zur Redseligkeit (Sprachfieber). Und sie neigt zum Weinen, ein zu schwaches Wort für ihre Anfälle, Zusammenbrüche und Konvulsionen. Ihr Paradoxon: Selten ist sie lieb, aber sie liebt. Weiteres Paradoxon: Sie kennt keine anderen Liebhabereien. Drittes Paradoxon: Der Trennstrich duldet keine Trennung. Der Trennstrich ist vielmehr das Luftholen vor dem Wesentlichen: Sie will. Sie will haben. Sie will ihn lieb haben. Sie will ihn ganz haben. Sie will ihn für immer haben. Sie will Gewissheit haben, und Wahrheit und Offenbarung und den Boden fester Bedeutungen, und, und, und … Sie kennt das Buch Haben oder Sein. Sie will beides: Haben und Sein. Sie will das Seiende haben und das Habende sein. Sie ist eine endlos seiende Haberin.

»Ich stehe vor dem Grab des Kanzlers der großen Koalition …« Ich stand vor dem Grab des Kanzlers der großen Koalition. Tatsächlich war das Grab ungewöhnlich groß, eher schon ein eigener Garten als nur ein großes Grab, ein Grundstück für sich, mit Stufen, Geländern und eigenen Wegen. Ein eigener Wasserhahn. Eine eigene Gießkanne. Um das Grab herum verlief eine meterhohe Hecke. Ein Weg führte direkt auf das Grab zu. Ein anderer Weg war ein Rundweg um das Grab herum. Ich zählte 27 Schritte. Allein der Grabstein zog sich einige Meter in die Länge. Links und rechts standen zwei Bänke. Zum Grab hin war der Weg durch schwere Ketten begrenzt. In der Mitte des Grabes stand ein einziger Baum.

Ich trug ein Tweed-Jackett, eine halblange Pumphose, eine Sonnenbrille, eine Aktentasche mit allerlei Utensilien – Hammer, Meißel, Meterstab, Schraubenzieher –, die den Eindruck forscherischer Umtriebigkeit und Verstiegenheit erzeugen sollten. Die genaue Art des Forschens würde sich noch erweisen. Ich dachte an die Archäologie. In meiner Tasche befand sich eine Schrift über die trojanischen Ausgrabungen Heinrich Schliemanns, ein Buch, das ich unwillkürlich eingepackt hatte. Ich fragte mich warum? An Ausgrabungen hatte ich nie gedacht. Wen sollte ich auf diesem Friedhof ausgraben? Auch der Schraubenzieher war deplatziert. Wozu ein Schraubenzieher? Ich hatte keine Ahnung. Doch gerade unverständliche Werkzeuge fügen sich in das Bild des Forschers. Meine hastig verpackten Geräte (später nannte ich sie Instrumente) waren nur Hinweise, Anspielungen und Fingerzeige. Forschung lebt von Bildern, Eindrücken und Vermutungen. Vermutungen und Widerlegungen. Ich wurde nicht widerlegt. Ich war das Ebenbild, wenn nicht das Inbild eines Forschers: ein Privatgelehrter, eine betont skurrile Figur, weit gereist, grüblerisch, zerstreut … Andererseits auskunftsfreudig, wenn nicht auskunftswütig … Natürlich ein Exzentriker, am besten Engländer … Von der Arbeit besessen … Mein Anzug aus gutem Grund teuer, aber alt und zerschlissen … Ich trug einen Walrossbart, den ich mir aufgeklebt hatte …

Ich kam aus Oxford. Magdalen College, Oxford, England. Mein Arbeitsgebiet: Friedhöfe. Meine Leidenschaft: Friedhöfe. Meine Bezeichnung: Friedhofssoziologe. Mit betont englischem Akzent: Friedhofssoziologe, Magdalen College, Oxford, England … Zahlreiche Expeditionen zu Friedhöfen in aller Welt … Außer meiner Aktentasche hatte ich einen Picknickkorb bei mir, in dem sich mein Lunch befand, bestehend aus undefinierbaren weißen Sandwiches, die ich mir so obskur wie möglich geschmiert hatte – dazu Fläschchen und Näpfchen mit süß-sauren, gelb-grünen Saucen – darunter Haferkekse und Geschirr für tea-time – überdies zwei Flaschen Whisky, die Bibel und einige englische Zeitungen. Die Äußerlichkeiten wurden abgerundet durch einen Spazierstock, dessen Griff sich zu einem provisorischen Hocker aus Stoff entfalten lässt, auf dem man schwankend sitzen kann. Ein Utensil der englischen Jagd. Von einer Baustelle war das rot-weiße Plastikband, mit dem ich das Grab, gleich einer prähistorischen Ausgrabungsstätte, umzäunt hatte.

Hinter mir hörte ich Schritte. Ich drehte mich nicht um. Es wurden mehr Schritte. Ich stand unbewegt, offensichtlich in meine Arbeit versunken, über einen Zeichenblock gebeugt, das Grab des Kanzlers der großen Koalition skizzierend; emblematisch-semiotische Studien, wie ich es später nannte. Ich hörte flüsternde Gespräche. Ich zeichnete weiter, obgleich ich ein furchtbarer Zeichner bin.

Ich sollte hinzufügen: Ich hatte keine besondere Neigung zu Friedhöfen, hatte kaum Ahnung von Friedhöfen. An Beerdigungen hatte ich nie teilgenommen. Meine Eltern leben. Meine Familie lebt. Meine Freunde leben. Ich lebe. Kein einziger Mensch, den ich persönlich kenne, ist gestorben. Der Tod war nie ein Thema. Auch kein Gedanke an Selbstmord, allenfalls als dahingesagte Koketterie: »Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.« Nietzsche. Bislang war ich über jede böse Nacht hinweggekommen. Bislang war ich an jedem Tod arglos vorbeigekommen. Möglicherweise war ich noch nie auf einem Friedhof gewesen, nicht einmal als ahnungsloser Passant. Ich wusste nur: »Bestattungen finden in jedem Fall statt, auch ohne Kirche.« – ein Satz aus einem der Bücher, die ich mir in aller Eile angelesen hatte.

Zu meiner Erklärung: Ich war verliebt, nichts Arges, die übliche Hoffnungslosigkeit, die kein Geschrei macht, mit der man leben kann, mit der ich ins Bett gehe und wieder aufstehe …, die wie eine Erkältung vorbeigeht. Man erträgt diese Hoffnungslosigkeit, gerade weil man sich keine Hoffnungen macht. Eine solche Hoffnungslosigkeit ist derart, dass sie sich nicht mitteilt. Sie spricht es (oder sich) nicht aus, nicht einmal vor sich selbst, oder nur ganz selten. Sie verschont die Frau. Sie verschont sich selbst. Sie geht gut gelaunt nach Hause: »Bis demnächst. Bis irgendwann …«

Das erste Mal sah ich sie in einem schwarzen Badeanzug beim Volleyballspielen im Schwimmbad. Wenn sie fiel, dann legten sich die Hände ihrer Mitspieler auf ihre Schultern. Für einige Sekunden saß sie gebeugt, ihr Mund dicht an ihrem Knie, das sie mit beiden Händen an sich zog und vor ihrem Mund aufstellte. Sie blies gegen ihr Knie, fast berührte sie es mit ihren Lippen. Dann schüttelte sie die Hände auf ihrer Schulter von sich und stand wieder auf, stand in der Mitte ihrer vielen Mitspieler, die ihr den Ball zum nächsten Aufschlag reichten: der nächste Ballwechsel, der nächste Sturz, die nächsten Hände, das andere Knie … Und so weiter. Plötzlich rannte sie auf mich zu. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet zu mir. Es blieb nicht einmal Zeit, mir ein T-Shirt überzuziehen. Sie stand vor mir, streckte beide Arme aus und wollte den Ball, der in meine Nähe gerollt war. Ich reichte ihr den Ball. Auf eine unbeschreibliche Art sagte sie danke und rannte davon.

Sie studiert Theologie. Auf der Straße hatte ich sie wiedergesehen und war ihr gefolgt. Sie lief in das altehrwürdige Theologicum, ein gewaltiges Gebäude, in dem gleichermaßen und zu gleichen Teilen, wenn auch in getrennten Räumen und Zwischenräumen, die evangelische und katholische Theologie untergebracht ist. Bereits der Eingang verzweigt sich in zwei Cafeterien, eine katholische und eine evangelische Cafeteria. Sie ging in die evangelische Cafeteria. Hinter einem Kaffeeautomaten stehend beobachtete ich sie beim Kaffeetrinken. Um sie herum die verstockten Blicke matter Gestalten. Bücher wurden aufgeschlagen und wieder geschlossen. Ein vehement nickender Student warf ihr österliche Blicke zu. Sie trank ihren Kaffee, stand auf und ging ins Treppenhaus, hinauf in den ersten Stock: auf der linken Seite die evangelische, auf der rechten Seite die katholische Bibliothek. Sie wählte die katholische Seite, setzte sich an einen Tisch, auf dem Bücher lagen, offensichtlich ihre Bücher, und fing an zu lesen. Mit einem Buch über katholisches Kirchenrecht setzte ich mich an einen Nebentisch. Plötzlich hörte ich sie flüstern, in Richtung meines Tisches.

Wir schauten uns an.

Wie gut mein Latein sei?

»Wie bitte?«

Ob ich gut in Latein sei?

Ich antwortete auf Lateinisch: »Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur.«

Sie blickte mit einem Ausdruck größter Hoffnung. Ihre nervösen Hände schienen nach mir zu greifen.

Ob ich ihr bei einer Übersetzung helfen könne?

Ich konnte kein Latein.

Ich konnte nur diesen einen Satz.

Ich hatte nicht einmal das Kleine Latinum.

Sie hatte das Große Latinum.

Ich gab ihr eine unentschiedene Antwort, gab vor, ich hätte nur (oder wenigstens) das Kleine Latinum.

»Das macht doch nichts.«

Sie kam mit ihrem Buch zu mir.

Mit langen Fingern zeigte sie auf einen einzigen Satz.

Stirnrunzelnd täuschte ich einen ernsthaften Versuch der Übersetzung vor.

Für einen kurzen Augenblick glaubte sie, meine vernuschelten Mutmaßungen ergäben einen Sinn.

Gemeinsam flüsternd versuchten wir uns an diesem einen Satz.

Sie flüsterte mir ihre Vermutungen vor, und ich flüsterte sie zustimmend nach.

Sie jedoch stimmte weder mir noch sich selbst zu.

Auf diese Art versuchten wir uns minutenlang.

Ich atmete ihr Haar.

Sie hörte nicht mehr auf meine zustimmenden oder aufmunternden Worte.

Ich hätte ihr Englischnachhilfe geben können.

Ich spreche fließend Englisch.

Ich antwortete ihr sogar auf Englisch: »This is indeed an intriguingly intricate question.«

Sie ging darauf nicht ein.

Später fragte sie mich, welche Theologie ich studiere: »Katholisch oder Evangelisch?«

»Katholisch.«

Immerhin bin ich katholisch getauft.

Meine Antwort schien sie zu erleichtern.

Dann fragte ich sie, womöglich eine absurde Frage, doch ich fragte sie, welche Theologie sie denn studiere?

Sie lachte – als liebte sie meinen Humor – und sagte: »Evangelisch.«

Dabei warf sie ihr Haar zurück – wie evangelisch.

Gemeinsam machten wir eine Pause, verließen die Bibliothek und standen einige Minuten im Treppenhaus. Eine Sekunde lang wäre es denkbar gewesen, uns in die Arme zu fallen. Eine Sekunde!

Das Leben, so denke ich, hält einem jeden eine Sekunde bereit, wenigstens eine Sekunde, die einem bestimmten Menschen gilt, die nur einem einzigen Menschen zugedacht ist. Ein Tag hat 86 400 Sekunden, ein Jahr bereits 31 536 000 Sekunden. In 20 Jahren könnte die gesamte gegenwärtige Weltbevölkerung zum Zuge kommen.

Sie lächelte verlegen. Eine Sekunde wäre es denkbar gewesen …, doch sie verabschiedete sich und ging. Viel zu oft verliebte ich mich in viel zu schöne Gesichter.

Ach Verena! Sie heißt Verena. Verena wie Volleyball, wie evangelisch, wie reizend, wie energetisch, wie nackt (unter ihrem T-Shirt war sie nackt), wie Angelolatrie. Wie evangelisch, seufzte ich, als ich sie Tage später im Theologicum traf. Selbst in den dunklen Hallen des Theologicums wirkte sie wie im Badeanzug, auf dem Weg zum Schwimmbad. Sie bewegte sich mit größter Beflissenheit in drei toten Sprachen und in hautengen Jeans. Sie las Latein, zitierte altgriechische Weisheiten und deutete hebräische Doppeldeutigkeiten – stets zu ihren Gunsten. Wörter behandelte sie mit großer Vorsicht, erzählte mir zu vielen Wörtern lange Wortgeschichten, erklärte mir, dass selbst unscheinbare Wörter mit verschiedenen Ohren gehört werden müssen, am besten mit griechischen oder hebräischen Ohren. Oft sagte sie: Ein hebräisches Ohr höre dieses oder jenes Wort ganz anders. Mit hebräischen Ohren hörte sie sich an, was ich ihr zu sagen versuchte. Mit hebräischen Ohren lenkte sie meine Komplimente auf den Ursprung irgendeiner Wortgeschichte zurück – wie evangelisch. Und wie erbärmlich im Vergleich zu ihren vielen toten Sprachen mein Englisch war. Sie sagte es nicht offen, doch Englisch war für sie keine Fremdsprache, vielleicht nicht einmal eine Sprache. Ich fragte sie: »Warum Religion?« – und sie antwortete mir im doppelten Sinne des lateinisches Wortes: reli-gare, die Gebundenheit des Menschen durch eine außer ihm stehende Macht; siehe aber auch das damit verwandte Wort re-ligo, d.h. zurückbinden oder anbinden, die Zurückbindung der Gegenwart an Ursprüngliches … Und sie ließ mich in der Cafeteria stehen – wie evangelisch. Gerne würde ich über sie – nicht ohne Bosheit – schreiben: Sie mochte mich. Sie mochte sich. Sie mochte die Welt. Die Welt mochte sie … Doch fast nichts davon wäre zutreffend. Sie würde antworten: »Darum geht es gar nicht.« So ihre Antwort, als ich sie zum Essen einlud, und auch ihre Antwort, als ich bemerkte, das Leben sei absurd. »Nicht das Leben«, sagte sie, »darum geht es gar nicht.« Ich fragte sie, warum sie gerade Theologie studiere? Ihre Antwort: »Warum nicht?« Ob sie ernsthaft Pastorin werde wolle? »Warum nicht?« Ihre braungebrannten Arme – wie evangelisch. Ihre schweren Kirchenbücher, die sie, wenn wir im Treppenhaus miteinander standen, gegen ihre Brust drückte – sie wirkten wie ein Witz. Ihr Make-up, ihre Brüste, ihre Beine … – wie evangelisch. Ich begann meine eigenen Pflichten an der Universität zu vernachlässigen. Ich erwähnte Shakespeare, und sie antwortete: »Na ja.« Ich sprach von ihr als der Religion meines Auges. Sie antwortete nicht. Oder schaute weg. Oder verabschiedete sich zum Volleyball – wie evangelisch. Ihrerseits quittierte sie meine Bemerkungen zum Evangelischen mit der Bemerkung: »Wie katholisch.« Und wir gingen gemeinsam in die katholische Bibliothek, sie zu ihren Büchern, ich zu meinem ständigen Buch über das katholische Kirchenrecht, über dessen vergilbte Ränder hinweg ich sie beim Lesen beobachtete. Sie warf ihr Haar nach hinten. Oder sie streichelte mit einer Hand ihre Wange. Oder ihre Hand bewegte sich nachdenklich unter ihrem T-Shirt – ganz evangelisch.

Auf ihrem Lesetisch in der Bibliothek lagen zahlreiche Bücher, darunter eine Abhandlung des Aurelius Augustinus mit dem Titel Contra mendacium, gegen die Lüge, ein Buch, in das ich während ihrer Abwesenheit eine lateinische Notiz steckte: Narrare humanum est. Erzählen ist menschlich. Und darunter dann meine Beichte, dass ich gar nicht Theologie studiere. Lächelnd faltete sie den Zettel und steckte ihn in ihre Hose.

Später entdeckte ich auf ihrem Tisch zahlreiche Totenbücher, Bücher mit Titeln wie: Der Umgang mit den Toten. Und: Bestattungsgottesdienste. Und: Der Tod. Und Luthers Trauerbüchlein. Und: Totenmasken deutscher Dichter und Gelehrter (ein Bildband). Und: Semiotik der Gräber. Und immer seltsamere Titel. Sie setzte sich zu mir. Sie sprach von einem nebulösen Totenseminar, das sie besuchte. Sie erklärte mir das Wort Kasualgottesdienst: unvermeidliche Gottesdienste anlässlich feststehender Ereignisse wie Taufe, Hochzeit und Tod. Das Thema Tod anscheinend ein Steckenpferd ihres Professors. Er sei ein Besessener. Die Studienverordnung zwinge sie zur Teilnahme an dem berüchtigtsten aller Seminare im ganzen Theologicum. Sie folgte mir in die Cafeteria. Wir tranken Kaffee. Diesmal ging sie nicht abrupt, sondern blieb sitzen. Sie zeigte mir das Vorlesungsverzeichnis, in dem das Seminar wie folgt beschrieben war: Hauptseminar Tod und Bestattung in der christlichen Gemeinde. Mittwochs 16 bis 22 Uhr. Den ganzen Mittwoch: Tod, Tod, Tod … Totenbilder, Totenmasken, Totenfürsorge, Totenverständnis, Totenmesse, Totenkult … In theoretischen und empirischen Anschauungen: Ausflug zu Friedhöfen … Besuch einer Leichenhalle … Anschauung der Toten … Beiwohnung eines Leichenschmauses … Der Totenschein … Feuer- und Erdbestattung … Trauerzüge … Friedhofsbelegungsrechte … Tod und Industriegesellschaft … Dies waren nicht Verenas Worte, sondern Überschriften im offiziellen Seminarplan des Professors. Jede dieser Überschriften war ein Themengebiet für Referate, die die Studenten halten mussten. Verenas Referat rückte immer näher: Feuerbestattung versus Erdbestattung – eine Einführung