Die linke Hand des Bösen - Wolfgang Burger - E-Book
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Die linke Hand des Bösen E-Book

Wolfgang Burger

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Als Kommissar Arne Heldt auf grausamste, sadistische Weise in einem Heidelberger Vorort ermordet aufgefunden wird, ist Kripochef Alexander Gerlach entsetzt. Zwar war das Opfer nicht sehr beliebt, ein Gerechtigkeitsfanatiker, gefangen in einer Welt, in der es nur Gut oder Böse gab. Aber er war ein Kollege. Sofort beginnt Gerlach mit den Ermittlungen und stößt bald auf einen alten Fall von Vergewaltigung mit Todesfolge, den Heldt neu aufrollen wollte. Sämtliche Spuren deuten auf ein geschickt betriebenes Netzwerk von Hardcore-Pornos, das nicht nur bis in die besten Kreise Baden-Württembergs reicht, sondern sogar bis nach Griechenland und Aserbaidschan. Doch wer ist der ruchlose Kopf des Ganzen?

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Karolina

ISBN 978-3-492-97808-8

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © Jaroslaw Blaminsky / Arcangel und © Eric Isselee / shutterstock.com und © Eric Isselee / shutterstock.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

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1

Ich würde nicht hineingehen – das wurde mir in der Sekunde klar, als ich die Hand auf die zerkratzte Aluminiumklinke legte. Sie gehörte zu einer schäbigen Wohnungstür im zweiten Obergeschoss eines zugigen Mietshauses. Die Tür war nur angelehnt, stellte ich fest, und was mich dahinter erwartete, brauchte ich nicht.

Nicht mehr.

Nie mehr.

Ich musste mir das auch gar nicht antun, denn schließlich war ich der Chef hier. Mein Job war es, meine Leute anzuleiten, darauf zu achten, dass sie ihre Arbeit ordentlich machten. Meine Aufgabe war es nicht, ihnen dabei im Weg zu stehen und mit gut gemeinten Ratschlägen auf die Nerven zu gehen.

Sollten sie von mir denken, was sie wollten – ich würde nicht durch diese Tür treten.

Heute war Mittwoch, der sechzehnte November. Buß- und Bettag. Obwohl schon nach neun, war es draußen noch immer nicht richtig hell, und es herrschte ein Wetter, um sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen. Was also wollte ich hier?

Ich war gerade dabei gewesen, mit Theresa zusammen den Frühstückstisch abzuräumen, als der Anruf kam: Einer meiner Mitarbeiter war tot. Arne Heldt. Ermordet in Ziegelhausen, einem Vorort östlich von Heidelberg. Hinter dieser hässlichen walfischgrauen Holztür hatte er vor Kurzem noch gelebt.

Im Grunde hatte ich ihn kaum gekannt, diesen Arne Heldt. Er war erst seit wenigen Monaten bei uns. Als er kam, ich meine, es war am ersten September, einem strahlenden, herrlich warmen Spätsommertag, war er bei mir gewesen, um sich vorzustellen. Ich hatte ihn leutselig begrüßt, ihm ein paar launige Bemerkungen mit auf den Weg gegeben, ihn Klara Vangelis zugeteilt und fast sofort wieder vergessen.

Ein unscheinbarer Mensch war er gewesen, der neue Mitarbeiter, mehr konnte ich eigentlich nicht über ihn sagen. Still, ernst, vielleicht ein wenig verbissen. Um nicht zu sagen: verbittert. Ein Mensch, den man leicht wieder vergisst. Schon über sechzig war er gewesen, und in ein, zwei Jahren hätte er in Pension gehen können. Nie hatte ich Klagen gehört. Aber auch nie ein Lob.

Aus der Wohnung drangen halblaute Geräusche, Gemurmel, Kameraklicken, hin und wieder ein verhaltenes Lachen, das sofort wieder erstarb. Dieses Lachen, das immer wieder aufkommt, wenn man das Grauen anders nicht mehr erträgt. Vorsichtig drückte ich die Tür ein wenig weiter auf, blickte in einen länglichen Flur, von dem auf jeder Seite zwei Türen abgingen und eine fünfte am gegenüberliegenden Ende, wo sich vermutlich das Wohnzimmer befand. Sie war als Einzige geschlossen.

Ein Schwall von Altmännermief und abgestandenem Zigarettenqualm kam mir entgegen. Der tote Kollege war offenbar Raucher gewesen.

In sämtlichen Räumen war das Licht eingeschaltet, dennoch war es nicht hell in diesem stinkenden Flur, dessen Boden von einem verschlissenen Läufer im Orientlook bedeckt wurde. Darüber war jetzt eine dünne Plastikfolie gebreitet, die vermeiden sollte, dass eventuell vorhandene Spuren vernichtet oder unabsichtlich falsche Spuren gelegt wurden durch Haare und Hautschuppen der Menschen, die sich um das Elend dort drinnen kümmern mussten.

An den Wänden klebte eine vergilbte Blümchentapete. Helle Stellen verrieten, wo früher Bilder gehangen hatten. Jetzt hing da nichts mehr. Keine Familienfotos, keine Schnappschüsse aus glücklichen Urlaubstagen, keine Vergangenheit. Eine primitive Messinggarderobe mit vier Haken verunzierte den schmalen Raum. Sie sah aus, als hinge sie seit dem Bau des Hauses dort.

Auf einer kleinen nussbraunen Kommode, unter einem länglichen, an manchen Stellen schon blinden Spiegel, stand die Basisstation eines schnurlosen Telefons, an der ein rotes Lämpchen hoffnungslos blinkte. Der Mann, dem das alles hier gehörte, würde nicht zurückrufen. Er würde niemals wieder ans Telefon gehen.

Weshalb war ich überhaupt hergefahren? Gewohnheit? Neugier? Ich konnte es nicht sagen. Eigentlich war es ein Reflex gewesen, eine völlig automatische Handlung. Eine Idiotie. Durch die zweite Tür rechts, die zu dem Raum führte, wo es geschehen war, fiel ein breiter Streifen eiskaltes Licht. Licht der starken Halogenscheinwerfer, die die Spurensicherer aufgestellt hatten, um ihr trauriges Werk verrichten zu können.

Ich wollte gerade wieder kehrtmachen, mich leise verdrücken, als Klara Vangelis aus der Tür trat, ungewöhnlich blass im grellen Licht. Sie bemerkte mich, lächelte tapfer, kam mit zögernden, fast lautlosen Schritten auf mich zu, als hätte sie nicht wirklich Lust, mit mir zu sprechen. Wie alle, die sich jetzt in der Wohnung befanden, trug sie einen weißen Schutzanzug mit Kapuze.

»Es sieht böse aus«, sagte sie, als wir kraftlos Hände schüttelten.

Vangelis war die Tochter griechischer Eltern, jedoch in der Nähe von Heidelberg geboren und in vielem deutscher als die meisten Deutschen. Mit einer Körpergröße von wenig mehr als eins sechzig erfüllte sie die Einstellungsvoraussetzungen der Polizei Baden-Württembergs nur knapp. Dabei war die Erste Hauptkommissarin ein ernst zu nehmender Gegner, wie schon mancher Tunichtgut zu seiner Verblüffung erfahren hatte, den sie in die Zange nahm. Und sie war eine meiner besten Kräfte. Wenn nicht die beste.

»Ich habe es schon gehört«, erwiderte ich mit belegter Stimme.

Ich sollte mir wirklich abgewöhnen, Tatorte zu besichtigen, mich in die tägliche Arbeit meiner Leute einzumischen. Hatte ich nicht genug Arbeit auf dem Schreibtisch? Akten waren zu lesen, Berichte zu schreiben, Sitzungen zu organisieren, Aufgaben zu delegieren. Zugegeben, es war peinlich, dass ausgerechnet der Chef der Kriminalpolizei kein Blut sehen konnte. Aber so war es nun einmal.

»Ich gehe lieber nicht rein, weil ich keinen Schutzanzug habe«, sagte ich, um mein merkwürdiges Verhalten zu erklären. »Wollte nur mal sehen, wie es so aussieht.«

Vor dem lange nicht geputzten Treppenhausfenster rauschte und gurgelte dieser endlose eiskalte Regen, der mich auf den wenigen Metern vom Wagen bis zur Haustür durchnässt hatte. Klara Vangelis nickte mit einer Miene, als hätte sie gerade an etwas ganz anderes gedacht.

»Wollen Sie Details hören?«, fragte sie.

»Er ist tot«, sagte ich, »ermordet. Das reicht mir fürs Erste.«

»Ich habe schon einiges gesehen«, murmelte die sonst so taffe Klara Vangelis und schob mit einer fahrigen Bewegung eine ihrer dunklen Locken hinters Ohr. »Aber das hier …« Sie schluckte, straffte ihren Rücken. »Am Freitag hat er noch an seinem Schreibtisch gesessen. Wir haben geredet. Über seine Arbeit, über das schreckliche Wetter. Dass in fünf Wochen Weihnachten ist. Er hat mir erzählt, dass er eine Kreuzfahrt machen will, wenn er nächstes Jahr in Pension geht. Kanaren, Azoren, Bahamas, ich weiß es nicht mehr. Er hatte noch nicht viel gesehen von der Welt, hat er mir erzählt. Ungewöhnlich gesprächig war er an dem Tag, das fällt mir erst jetzt auf. So … wie soll ich sagen? Als würde er sich auf ein schönes Wochenende freuen.«

Sie klang ziemlich verschnupft. Schniefte fast ständig. Ihre Augen waren trüb und traurig. Die grassierende Grippe hatte nun auch sie erwischt.

»Kann man schon etwas zum Tatzeitpunkt sagen?«

Sie hob die schmalen Schultern. »Drei, vier Tage? Heute ist Mittwoch. Also am Wochenende, denke ich. Am Montag ist er nicht zum Dienst erschienen. Da war ich allerdings in Wiesbaden, deshalb habe ich es erst gestern erfahren. Ich dachte natürlich, jetzt ist er auch noch krank geworden. Wird sich schon melden, wenn es ihm wieder besser geht. Ich wusste ja, dass er allein lebt. Hatte viel um die Ohren, sonst … ich meine … ich hätte sonst … vielleicht …«

»Sie hätten ihn nicht retten können«, fiel ich ihr mit hoffentlich fester Stimme ins Wort. »Fangen Sie gar nicht erst an, sich Vorwürfe zu machen. Sie hätten es nicht verhindern können.«

Vangelis nickte mit abgewandtem Blick. Die Locke rutschte wieder nach vorn. Wurde erneut zurückgestrichen.

»Er ist ja nicht nur ermordet worden«, murmelte sie, als führte sie ein Selbstgespräch. »Dem Täter ging es nicht darum, dass Arne stirbt. Er wollte, dass er leidet. Er hat ihn gefesselt und geknebelt auf sein Bett gelegt und …« Wieder schluckte sie. Noch nie hatte ich sie so fassungslos gesehen. »Er muss ihn stundenlang … stundenlang … Ich …«

Sollte ich jemand anderem die Leitung der Ermittlungen übertragen? Aber wem? Fast die Hälfte meiner Mitarbeiter war krank. Die Grippe kam ungewöhnlich früh in diesem Winter, hatten sie am Morgen im Radio gesagt.

»Und niemand im Haus hat irgendwas davon mitbekommen?«, fragte ich, als Vangelis nicht weitersprach.

Sie seufzte. Deutete nach oben. »Unter dem Dach wohnt ein Student, der wahrscheinlich jetzt an der Uni ist. Unter uns eine Frau Seltenreich, die auch nicht zu Hause ist. Nur mit dem alten Ehepaar im Erdgeschoss habe ich kurz gesprochen. Sie waren das ganze Wochenende über hier und sagen, sie haben nichts gehört und nichts gesehen. Wenigstens konnten sie mir die Handynummer des Hausbesitzers geben. Ein Anwalt. Rolf versucht gerade, ihn zu erreichen.«

Rolf Runkels Stimme hörte ich hin und wieder aus den Tiefen der Wohnung. Vermutlich hatte er sich in eine ruhige Ecke verzogen, um ungestört telefonieren zu können.

Die vorwitzige Locke fiel wieder in ihr blasses Gesicht. Dieses Mal ließ sie sie hängen. In diesem Moment trat Runkel aus der Tür, die dem Schlafzimmer des toten Kollegen gegenüberlag. Er stutzte, gesellte sich nach kurzem Zögern zu uns.

»Hab bloß seine Assistentin erreicht«, sagte er. »Ihr Chef hat einen Termin bei Gericht, sagt sie. Er ruft zurück, sobald er Zeit hat.«

»Ich habe zu wenig Leute hier.« Vangelis zückte hastig ein Taschentuch und nieste dreimal hinein.

»Ich übernehme die Herrschaften im Erdgeschoss«, verkündete ich. »Dann habe ich mir wenigstens nicht ganz umsonst nasse Füße geholt.«

2

In der Erdgeschosswohnung schmetterte Wagner-Musik in einer Laustärke, dass die Tür vibrierte. Ich musste den sauber geputzten weißen Plastikknopf fünf- oder sechsmal drücken, bis innen endlich die Lautstärke heruntergedreht wurde. Außerdem zweimal den rötlich flimmernden Knopf der Treppenhausbeleuchtung, die jedes Mal schon nach wenigen Sekunden wieder erlosch. Inzwischen war es halb zehn geworden, und noch immer herrschte draußen Dämmerung, als würde der heutige Tag einfach ausfallen.

Jetzt, wo die dramatische Musik nicht mehr alles übertönte, hörte ich wieder das Rauschen und Platschen des Regens, hier noch stärker als zwei Stockwerke höher. Durch die Ritzen der nahen Haustür wehte ein böser nasser Wind herein und ließ mich frösteln. Mein Atem bildete weiße Wölkchen, und meine Finger waren immer noch klamm. Noch einmal drückte ich den Klingelknopf. Wieder schrillte innen die misstönende Schelle, als hätte ich sie aus dem Schlaf geschreckt.

Der Wohnungstür hatte jemand vor nicht allzu langer Zeit einen frischen Anstrich verpasst, ein warmes Dunkelblau, wodurch sie sich wohltuend vom schäbigen Eindruck des restlichen Hauses abhob.

Endlich hörte ich Geräusche hinter der Tür. Zögernd und mit vorgelegter Kette wurde sie geöffnet. Ein neugieriges blassgraues Äuglein musterte mich von so weit unten, als stünde auf der anderen Seite ein Kind. Ich hielt meinen Dienstausweis in den Türspalt und stellte mich vor. Die Tür wurde wieder geschlossen, die Kette rasselte, ich durfte eintreten.

Die Wohnung war vom selben Schnitt wie die von Arne Heldt, jedoch wohlriechend und gut geheizt. Der Flur war von zahlreichen kleinen Halogenstrahlern taghell erleuchtet. An den cremeweiß gestrichenen Wänden hingen Hunderte gerahmte Fotografien, meist Porträts oder Landschaftsaufnahmen, viele davon in Schwarz-Weiß. Es roch nach Blumen und ein klein wenig nach Desinfektionsmittel.

»Frau Dörflinger?«, fragte ich die kugelrunde Frau unbestimmbaren Alters, die noch ein gutes Stück kleiner war als Klara Vangelis. Sie schüttelte stumm den von grauen Kräusellöckchen umrahmten Kopf und bedeutete mir, ihr zu folgen. Die Frau, die offenbar nicht Dörflinger hieß, trug ein mausgraues, schlecht sitzendes Kleid, das ihre Unförmigkeit noch betonte. Ihre Füße steckten in ebenfalls grauen Hauslatschen. Die einzigen Farbtupfer an ihr waren eine Halskette mit blauem Medaillon und Ohrringe, an denen winzige Steinchen im Halogenlicht lustig funkelten.

Kurz darauf saß ich in einem bequemen, modernen Sessel. Der Wohnraum war ebenfalls hell erleuchtet und gut geheizt. Auch hier hingen Fotografien an den Wänden. Größer als die im Flur, liebevoll gerahmt, mit Bedacht arrangiert und viele auf schwer zu erklärende Weise eindrucksvoll. Die Möbel, die sandfarbenen Raffrollos, die beleuchtete Glasvitrine an der Stirnwand, die mit Mitbringseln und Andenken aus der halben Welt gut gefüllt war – alles hier zeugte von Geschmack und bescheidenem Wohlstand.

»Die Bilder sind von mir«, knurrte Herr Dörflinger mit finsterer Miene, der – klobig und aberwitzig fett – jenseits des schweren Eichenholztischs in einem elektrisch verstellbaren Fernsehsessel mehr lag als saß. Auf einem Tisch in Griffweite neben ihm lagen ein Tablet-PC, ein großer aufgeklappter Toshiba-Laptop, diverse Fernbedienungen und zwei Smartphones. »In besseren Zeiten war ich mal Pressefotograf. Hab Ausstellungen gemacht, Preise gewonnen und so weiter. Heute? Na ja …« Mit einem matten Grinsen im schwabbeligen Gesicht wies er an sich herunter. »Those times are gone.«

In einem hohen Regal rechts neben mir steckten Hunderte von LPs. Auf dem Tisch stand ein alter Dual-Plattenspieler mit Ortofon-System. Der Tonarm schwebte über der Wagner-Platte, als wartete er nur auf die Fortsetzung der Oper. In den Ecken des Raums standen zwei mächtige Quart-Boxen.

»Sie wissen, was oben passiert ist?«, fragte ich.

»Sie halten mich für altmodisch, was?«, fragte der Fette, dem mein Blick nicht entgangen war.

»Überhaupt nicht, nein.«

»Ihre kleine Kollegin ist vorhin da gewesen und hat uns erzählt, was oben los ist.«

Noch einmal zeigte ich meinen Ausweis. Dörflinger beugte sich vor, so weit seine Leibesfülle es erlaubte, nahm mir das Kunststoffkärtchen mit dem Wappen Baden-Württembergs aus der Hand, studierte es misstrauisch. »Kriminaloberrat? Dann sind Sie was Höheres?« Achtlos warf er den Ausweis auf den Tisch zwischen uns, woraufhin er noch ein Stück in meine Richtung rutschte. Dann sank er stöhnend in seinen Sessel zurück. Sein Atem ging keuchend, als hätte ihn die kleine Bewegung kolossal angestrengt. »Der Heldt ist tot, hat sie gesagt. Umgebracht, stimmt das?«

»Das ist richtig. Irgendwann am vergangenen Wochenende ist es passiert, vermuten wir.«

Der Dicke nickte nachdenklich. »Sehen Sie, Herr Kriminaloberrat Gerlach«, sagte er dann, immer noch schnaufend. »Ich hab eine Menge Tote gesehen in meinem Leben. Kosovo, Uganda, Afghanistan. Hunderte, ach, was sag ich, Tausende.«

»Haben Sie Ihren Nachbarn gut gekannt?«

»Überhaupt nicht hab ich den gekannt. Er wohnt ja erst seit …« Der ehemalige Fotograf sah die graue Frau mit schmalen Augen an. Sie saß still und bescheiden auf einem Stuhl neben der Tür und erwiderte seinen Blick unbefangen, machte jedoch keinerlei Anstalten, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Die Hände hatte sie zwischen ihren Oberschenkeln versteckt.

»September?«, fragte er sich selbst. »Oder war’s im August, wie er eingezogen ist?« Jetzt sah er wieder mich an. »Na, jedenfalls wohnt er noch nicht lange da oben, und man hat sich kaum gesehen. Ich geh nur noch raus, wenn ich zum Arzt muss, und das ist dann immer eine elende Plackerei. Aber er hätte ja ruhig mal läuten können, der Herr Heldt, und sich vorstellen. Oder macht man das heutzutage nicht mehr so? Er ist ein Kollege von Ihnen gewesen, stimmt das?«

Ich beugte mich vor, um den Dienstausweis wieder an mich zu nehmen. »Er war bei der Kripo wie ich. Bevor er sich nach Heidelberg hat versetzen lassen, war er in Konstanz.« Ich wandte mich an die Frau, die mich mit wachen Äuglein aufmerksam beobachtete. »Sie haben Ihren neuen Hausgenossen doch bestimmt hin und wieder getroffen?«

Ihr Blick war konzentriert, die Stirn kraus, als versuchte sie, mir die Worte vom Mund abzulesen. Aber sie antwortete nicht.

»Sie spricht nicht.« Dörflinger drückte einen Knopf, die Rückenlehne des Fernsehsessels fuhr brummend ein wenig nach oben. »Die gute Alva versteht viel. Aber sie spricht nicht gern.«

»Sie beide sind …?«

Er schüttelte den schweren Kopf. Schnaufte asthmatisch, als hätte ihn schon das Drücken des Knopfs überanstrengt. »Bin nie verheiratet gewesen. Das unstete Leben, nie daheim, das ist nichts für feste Beziehungen. Alva ist meine Hilfe. Mein Faktotum, mit ›a‹, nicht mit ›u‹.« Er lachte dreckig. »Der Witz ist übrigens von Arno Schmidt. Sie kommt aus Weißrussland, meine gute Alva, und ist eine treue Seele. Sauber, fleißig, stellt keine Ansprüche. Besser als jede Ehefrau, sage ich Ihnen, und die kommen einen ja letztlich auch nicht billiger. Der Heldt war also früher am Bodensee, sagen Sie? Was treibt ihn dann hierher, in die Kurpfalz? Hat’s ihm da unten nicht mehr gefallen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Nette Gegend da unten. Tausend Mal schöner jedenfalls als dieses Kaff hier.«

Bisher wusste ich nur, dass Arne Heldt fast vierzig Jahre lang am Polizeipräsidium Konstanz seinen Dienst verrichtet hatte und sich dann, nur ein Jahr vor seiner Pensionierung, nach Heidelberg hatte versetzen lassen.

»Ein bisschen was werden Sie doch über Ihren neuen Nachbarn wissen«, sagte ich. »Haben die anderen Leute im Haus vielleicht mal was über ihn erzählt?«

Dörflinger zog krachend die Nase hoch, wandte den Blick zum Fenster. »Morgens um halb acht ist er in seinen Passat gestiegen und zur Arbeit gefahren. Da draußen steht er, der dunkelgrüne Kombi. Und abends gegen sechs, halb sieben ist er wieder heimgekommen. Meistens hat er vorher noch eingekauft, hat oft eine Tüte dabeigehabt oder zwei. Dann: Treppe rauf, Tür zu, Feierabend.«

»Wer wohnt sonst noch im Haus?«

Unter seinen kaum sichtbaren Augen hingen schwere Tränensäcke. Darüber buschten mächtige Brauen. Die leichenblassen, feisten Hände lagen in seinem Schoß, als wären sie längst tot.

Er lachte bitter auf. »Früher, da hat man sich noch gekannt im Haus. Aber heute? Vergessen Sie’s! Unterm Dach haust ein Student. Schrack heißt er, Tobias, glaube ich, den sieht man so gut wie nie. Vor ein paar Wochen hat er auf einmal Alva den Schlüssel gebracht und ist nach China geflogen, Auslandssemester. Wo genau – fragen Sie mich nicht. Dabei kenne ich China recht gut. Tibet, die Mandschurei, den Süden, überall schon geknipst.« Er wandte den Blick zur Decke. »Und jetzt geht meine Alva zweimal die Woche rauf und gießt sein Grünzeug. Auf meine Kosten. Aber man will ja kein Unmensch sein. Man ist ja hilfsbereit.«

»Und über Ihnen?«

»Eine junge Frau. Nina Seltenreich. Sie macht Musik, Jazz, und ist viel unterwegs.« Dörflinger schloss die Augen mit einer Miene, als quälten ihn Schmerzen. »Mein Geschmack ist es ja nicht, dieses Gedudel, das man manchmal von oben hört. Falls Sie mal gerade nicht auf Tournee ist, was ja zum Glück selten vorkommt. Ich mag Jazz, aber das, was die da oben fabriziert, ist mir dann doch ein bisschen zu … na ja.« Er öffnete die Augen wieder, sah mich an. »Very free, very schräg, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»War sie am Wochenende hier?«

Kopfschütteln. »Am Samstagmorgen hab ich sie gesehen. Mit einem kleinen Koffer und ihrem Saxofon ist sie in ihre blaue Reisschüssel gestiegen.«

»Reisschüssel?«

»Sie fährt so einen kleinen Japaner. Nach Karlsruhe ist sie gefahren, das weiß ich.«

»Woher wissen Sie das denn?«

Dörflingers Atem ging immer noch schwer, obwohl er sich überhaupt nicht mehr bewegte. »Diese Bruchbude ist hellhörig wie eine Schuhschachtel. Und auch wenn mit mir sonst nicht mehr viel los ist, hören tue ich immer noch ganz gut.« Plötzlich klang er zornig und vorwurfsvoll. »Wenn sie oben telefoniert, dann versteht man hier unten jedes Wort. Sie hat aber auch eine kräftige Stimme, die Frau Seltenreich. Am Sonntagnachmittag war sie wieder da, und am Montag, also vorgestern, ist sie dann schon wieder los. Diesmal war der Koffer größer.«

Ich meinte den Namen der jungen Jazzerin schon gehört zu haben und beschloss, später das Internet nach ihr zu durchstöbern.

»Und sie spielt Saxofon?«

»Genau. Tenor und Alt. Manchmal auch Trompete. Echt ein Segen, dass sie selten daheim ist. Hat mich übrigens gewundert …«

Er brach ab. Seine Miene wurde abweisend, als hätte er sich verplappert.

»Was?«

»Dass er überhaupt da gewesen ist, Ihr Kollege, hat mich gewundert. An den Wochenenden ist er sonst ja immer weg gewesen. Denke, er wird wen besucht haben. Seine Kinder vielleicht. Hat er Kinder?«

»Das weiß ich nicht. War er mit dem Auto unterwegs?«

»Ja, wie denn sonst?«, keuchte der alte Fotograf. »Ohne Auto sind Sie hier komplett aufgeschmissen. Hab mich übrigens gewundert, wie der überhaupt Auto fahren konnte mit seinem steifen Knie.«

Arne Heldt war gehbehindert gewesen, fiel mir erst jetzt wieder ein. Er hatte das linke Bein nachgezogen.

»Hat er manchmal Besuch gehabt? Haben Sie mal jemanden gesehen? Vielleicht sogar am vergangenen Wochenende?«

Dörflinger rülpste dröhnend, schüttelte matt den schweren Kopf, der ohne Hals direkt am Brustkorb angewachsen zu sein schien. »Nichts gehört, nichts gesehen«, erwiderte er knapp. »Auch am Wochenende nicht.«

»Dieses Zimmer grenzt an den Hausflur. Ich habe schon dreimal die Haustür gehört, seit ich hier sitze.«

»Ich höre viel Musik. Was soll ich sonst machen, den lieben langen Tag? Außerdem gehen wir früh ins Bett, die brave Alva und ich. Spätestens um zehn, halb elf bringt sie mich ins Bett. Und dann legt sie sich auch hin. Ich habe weiß Gott nicht mehr viel vom Leben, aber einen guten Schlaf, den habe ich immer noch.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Würd mich ja nicht wundern …«

»Was?«, fragte ich wieder, allmählich ein wenig gereizt.

»Wenn ihn irgendwelche Moslems gekillt hätten. Islamisten, Sie wissen schon. Man sieht in letzter Zeit ziemlich viele Ausländer hier in Ziegelhausen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Man muss ja nur Nachrichten gucken«, erwiderte Dörflinger feindselig. »Überall jetzt diese Vergewaltigungen, Frauen werden Treppen runtergetreten, diese Anschläge überall. Ich hab nichts gegen Ausländer, weiß Gott nicht. Hab mich ja selber jahrzehntelang im Ausland rumgetrieben. Afrika, Südamerika, Russland, Syrien, Iran, was Sie wollen. Einmal hab ich eine große Reportage gemacht, für den Stern, über die alten Städte da. Damaskus, Bagdad, Aleppo, Teheran, Islamabad. Hab sogar einen Preis dafür gekriegt. Und heute? Alles kaputt. Die ganze uralte Pracht zusammengeschossen und zerbombt wegen nichts und wieder nichts. Und jetzt kommen diese irren Moslems hierher und … Wenn Sie mich fragen, die sind nicht wie wir. Die gehören nicht hierher.«

»Aber wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet Islamisten …?«

»Nur so«, erwiderte er und sah plötzlich verlegen aus. »Hab nur so gedacht.«

»So was denkt man doch nicht ohne Grund.«

»Doch. Tut man manchmal. Vergessen Sie es einfach, okay? Ich hab nichts gesagt, okay? Nichts.«

»Haben Sie Telefonnummern von Herrn Schrack und Frau Seltenreich?«

»Von ihr nicht. Von dem Studiosus …« Dörflinger sah seine Haushälterin und Pflegerin an. Die zog die Stirn kraus. »Hat er dir nicht seine Handynummer gegeben für den Fall, dass mal was ist, während er sich in China rumtreibt?«

Offenbar verstand sie wirklich, was gesprochen wurde, denn sie sprang auf, verließ mit eiligen kleinen Schritten den Raum und kehrte Sekunden später mit einem Zettel in der Hand zurück. Ich notierte mir die Nummer des jungen Mannes. Der Kontakt zu der Jazzerin sollte problemlos herzustellen sein, wenn sie auch nur halb so bekannt war, wie ich vermutete. Ich erhob mich, schüttelte nicht ohne Widerwillen Dörflingers klebrige Rechte und verabschiedete mich.

Alva brachte mich zur Tür, nickte freundlich zum Abschied, zögerte im letzten Moment. Ihr Blick veränderte sich, sie kam ganz nah, ich beugte mich zu ihr hinunter, und sie flüsterte mir ins Ohr: »Nix gut Mann!«

»Wer?«, fragte ich ebenfalls leise. »Herr Heldt?«

»Treffen auf Treppe manchmal. Und er immer guck …«

»Er hat geguckt?«

Ein scheues Nicken ersetzte die Antwort.

»Wie denn?«

»Wie wenn … hassen mich. Weil nix deutsch. Er mich einmal sprechen. Aber ich nix versteh. Dann er böse. Nix gut Mann, Herr Heldt. Viel böse. Böse Gedanken. Auf Ausländer.«

Als ich wieder im Treppenhaus stand, rauschte vor der Tür immer noch der Regen. Irgendwo in der Nähe krächzte eine verschlafene Krähe, als würde sie um Hilfe schreien. Der Wind schien ein wenig nachgelassen zu haben.

3

»Kein Handy und kein Internet!« Sven Balke, der sich inzwischen ebenfalls am Tatort eingefunden hatte, war fassungslos. »Kommunikationstechnisch hat Arne anscheinend komplett hinter dem Mond gelebt.«

Ich hatte mich dann doch überwunden, die Wohnung zu betreten. Allerdings hatte ich es vermieden, ins Schlafzimmer zu sehen, wo noch immer Arne Heldts blutüberströmter Leichnam lag.

Einen Teil der Wohnung – unter anderem die Küche – hatten die Kriminaltechniker inzwischen freigegeben. So waren wir nun zu viert in der spartanisch eingerichteten Junggesellenküche unseres toten Kollegen und versuchten, uns einen ersten Überblick zu verschaffen. Vangelis, Balke und ich hatten uns an den Küchentisch mit Chromgestell und Resopalplatte gesetzt. Runkel, immer noch im weißen Schutzanzug, lehnte am Herd, einem alten, schmalen Elektroherd mit nur drei Platten, der wie so vieles hier noch von irgendeinem Vormieter zu stammen zu schien. Nichts hier erweckte den Eindruck, als hätte Heldt vorgehabt, lange zu bleiben. Balke gefiel der hässliche Tisch. Er fand ihn »voll Vintage«.

Jemand hatte für Kaffee gesorgt. Tassen standen auf dem Tisch. Ich schenkte mir ein, sah fragend in die Runde. Alle nickten. Balke sprang auf, fand eine fast leere Zuckertüte in einem klapprigen Hängeschrank. Runkel sah in den Kühlschrank, schüttelte den schweren Kopf. »Milch hat’s keine.«

»Wenigstens hat er schon Telefon gehabt«, murmelte Balke immer noch erschüttert, während er Zucker in seine Tasse löffelte. Vangelis trank ihren Kaffee schwarz. Runkel wollte auf einmal doch keinen, murmelte etwas von »Arzt« und »Blutdruck«.

»Vielleicht hat der Täter das Handy mitgehen lassen?«, schlug ich vor. So ließ sich schließlich vermeiden, dass wir allzu rasch herausfanden, mit wem sein Opfer in letzter Zeit telefoniert hatte.

»Dass er nicht mal einen PC gehabt hat …« Balke rang immer noch um Fassung. »Meine Güte, keine Mails, kein WhatsApp, wie kann der Mensch so leben?«

Vangelis schüttelte den schmalen Kopf mit den schwarzen Locken. »Ich habe vorhin Arnes Kontoauszüge durchgesehen. Da war nichts, was nach Handy oder Internet aussieht. Er hatte Kabelfernsehen und Telefon, eine kleine Stereoanlage im Wohnzimmer und das da.«

Sie deutete auf ein schmutziges kleines Kofferradio mit verbogener Antenne, das einsam neben der Spüle stand.

»Was ist mit Angehörigen?«, fragte ich in die Runde. »Müssen wir jemanden informieren?«

Allgemeines Kopfschütteln. »Keine Briefe, keine Ansichtskarten«, sagte Vangelis mit Schnupfenstimme. »Es ist …« Ein Hustenanfall unterbrach sie. »Es ist, als hätte er allein auf der Welt gelebt.«

»Ist ja auch nicht der Allernetteste gewesen«, warf Runkel mürrisch ein. Er und der Tote hatten sich ein Büro geteilt, da sie etwa gleich alt waren und – so hatten wir gehofft – vielleicht auch charakterlich zueinander passen würden. »Ich hab ihn nicht besonders gut leiden können, ehrlich gesagt. Der Arne ist – wie soll ich sagen – halt gern für sich gewesen. Aber immerhin hat er einem nicht dauernd die Hucke vollgequatscht.«

»Erzählen Sie doch mal, wie das heute Morgen abgelaufen ist«, bat ich ihn.

Ich selbst hatte ihn am Vorabend gebeten, nach unserem neuen Kollegen zu sehen, da er auf seinem Weg nach Hause praktisch an Heldts Wohnung vorbeifuhr.

»Eigentlich wollt ich ja gestern gleich bei ihm vorbeischauen. Er ist schon am Montag nicht gekommen, und angerufen hat er auch nicht, und drum hab ich dann der Frau Walldorf Bescheid gegeben.«

Die daraufhin am Dienstagmorgen feststellte, dass Arne Heldt auch nicht ans Telefon ging. Meine unersetzliche Sekretärin Sonja Walldorf, Sönnchen, war es gewesen, die mich darauf aufmerksam machte, dass unser Neuzugang, sonst die Verlässlichkeit in Person, seit dem Wochenende nicht mehr zum Dienst erschienen war.

Vangelis schlürfte vorsichtig heiße, schwarze Brühe aus ihrer Tasse. Am Montag war sie auf Dienstreise gewesen, erinnerte ich mich, beim BKA in Wiesbaden, zu einer eintägigen Fortbildung zum Thema »Operative Fallanalyse«. Aber spätestens gestern hätte ihr auffallen müssen, dass einer ihrer Mitarbeiter unentschuldigt fehlte.

»Aber dann, wie ich schon unterwegs gewesen bin, hat mich die Mahsuri auf dem Handy angerufen«, fuhr Runkel fort. »Der Hund hat mal wieder irgendwas gefressen, was er nicht vertragen hat, und wir haben zum Tierarzt gemusst. Drum hab ich’s dann erst heut Morgen geschafft. Ich hab gleich gesehen, dass sein Passat vor der Tür steht, und da hab ich gedacht, hoffentlich hat er keinen Herzinfarkt oder so was. Er ist ja auch nicht mehr der Jüngste … gewesen.«

Er selbst war nur zwei oder drei Jahre jünger als unser toter Kollege und freute sich inzwischen ganz unverhohlen darauf, in nicht mehr allzu ferner Zukunft an Tagen wie diesem einfach im Bett bleiben zu können.

Unbehaglich räusperte er sich und fuhr fort: »Ich läute also unten, aber nichts tut sich. Die Leute im Erdgeschoss haben mich dann reingelassen. Ich die Treppe rauf, hab oben noch mal geläutet, aber wieder nichts. Ich hab geklopft und gerufen …«

»Die Tür war zu?«

»Die war zu, genau. Und irgendwie … weiß auch nicht. So ein Gefühl hab ich gehabt auf einmal, ein ganz saublödes Gefühl. Da hab ich die Klara angerufen, und wir haben beschlossen, ich lass den Schlüsseldienst kommen.« Runkel schien ebenfalls ein wenig erkältet zu sein wie so viele zurzeit. »Hat eine Weile gedauert, bis der Typ endlich aufgekreuzt ist. Ich bin dann rein, und die Schlafzimmertür ist die einzige gewesen, die zu war und …« Er brach ab, schluckte, sprach sehr leise weiter: »Und da ist er dann gelegen. Es war … furchtbar war’s. Seit vierzig Jahren bin ich jetzt bei der Truppe, und ich hab weiß Gott schon viel gesehen, aber so was …«

Kopfschütteln. Schniefen. Kopfschütteln.

»Sie sollten nicht hierbleiben«, ermahnte ich den aufgewühlten Kollegen. »Fahren Sie ins Büro. Oder nach Hause. Wie Sie wollen.«

Unwirsch schüttelte er den kantigen Bauernschädel. »Wenn der geschnappt wird, der das gemacht hat, dann will ich dabei sein. Und wenn es das Letzte ist, was ich in diesem Leben mache, da will ich dabei sein.«

Gewalt gegen Kollegen ist etwas, das jeden Polizisten dieser Welt wütend und fleißig macht.

»Haben Sie hin und wieder privat Kontakt gehabt?«

»Kontakt?« Mit gesenktem Blick überlegte Runkel, was das Wort wohl bedeuten mochte, nagte auf der Unterlippe. »Privat nie. Im Büro haben wir schon mal geredet. Mal hat er mich gefragt, ob ich hier herum einen guten Arzt kenne. Ich hab ihn gefragt, wieso er nicht am Bodensee geblieben ist. Was er da unten so getrieben hat. Ob er Kinder hat, so Sachen.«

»Und was hat er geantwortet?«

»Er ist mal verheiratet gewesen, aber die Frau ist ihm früh gestorben. Kinder hat er keine. Hat dann später keine Frau mehr gefunden, die’s mit ihm ausgehalten hat. Kein Wunder, so maulfaul, wie der Arne gewesen ist. Frauen wollen reden, das weiß man doch. Die wollen hören, was man den Tag über so erlebt hat, wenn man abends heimkommt.«

»Was hat er denn in Konstanz gemacht?« Ich sah Vangelis fragend an, die so etwas am ehesten wissen musste. »Was waren seine Aufgaben dort?«

»Das Gleiche wie bei uns«, antwortete sie ruhig. »Cold Cases.«

Jetzt erinnerte ich mich: Gemeinsam hatten wir im September beschlossen, den gehbehinderten Hauptkommissar Heldt mit der unbeliebten Aufgabe zu betrauen, alte, nicht aufgeklärte Fälle aus dem Archiv zu holen und erneut zu sichten. Meist ging es dabei um Mord, Totschlag oder Vergewaltigung. Er sollte die Akten und Asservaten daraufhin überprüfen, ob die Täter mithilfe der modernen Techniken der DNA-Analyse vielleicht doch noch zu ermitteln waren. Außendienst hatten wir ihm nicht zumuten wollen mit seinem kaputten Knie.

»Mein Eindruck war, dass er mit dem Job ganz zufrieden war. Und wie schon gesagt, in Konstanz hat er in den letzten Jahren das Gleiche gemacht.«

»Hat er Erfolg gehabt?«

Vangelis hob erschöpft die Schultern. »In Konstanz hin und wieder, soweit ich weiß. Hier bei uns noch nicht. Um ehrlich zu sein, ich habe mich nicht groß um ihn gekümmert. Wie Rolf sagte, er war eher das Gegenteil eines Teamplayers. Und nach einigen Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, habe ich aufgegeben und ihn einfach machen lassen. Dachte, die paar Monate bis zum Ruhestand will ich ihm nicht mehr groß auf die Nerven fallen. Außerdem …« Bedächtig nahm sie einen großen Schluck Kaffee. »Er ist nicht besonders gut damit klargekommen, dass er eine Frau als Chef hat, fürchte ich.«

Man war sich also aus dem Weg gegangen. Was ich in diesem speziellen Fall als lässliche Sünde wertete.

»Von seinem Festnetzanschluss hat er auch kaum telefoniert.« Balke hielt das schnurlose Telefon hoch wie eine Trophäe. »Vor zehn Tagen hat er eine Schweizer Nummer gewählt, Vorwahl Winterthur. Die werde ich später gleich mal checken. Zwei-, dreimal hat er eine Nummer in Heidelberg gewählt, die kläre ich dann auch gleich ab.« Er sah um sich, um sicherzustellen, dass auch alle zuhörten.

Arne Heldts letzter Anruf war am Freitagabend um achtzehn Uhr dreiunddreißig an einen Pizzaservice gegangen. Selbst angerufen worden war er nie.

»Oder er hat die Nummern immer gleich gelöscht«, meinte Balke. »Gibt ja diese komischen Vögel mit Verfolgungswahn, die das so machen.«

Ich bat Balke, die Gesprächslisten von der Telekom anzufordern.

Vangelis hatte sich inzwischen erhoben, trat wortlos auf das Pedal des Mülleimers, warf einen Blick hinein. »Ich sehe hier nirgendwo einen Pizzakarton. Und auch keinen ungespülten Teller.«

Eine Spülmaschine gab es nicht.

»Er war ein Ordnungsfanatiker«, erwiderte Balke leichthin. »Wahrscheinlich hat er den Teller sofort gespült und den Karton vorschriftsmäßig entsorgt.«

»Es bringt nichts, wenn wir hier herumspekulieren«, mischte ich mich ein. »Klären Sie das ab, und berichten Sie später, was Sie in Erfahrung gebracht haben.«

Vangelis nickte, als hätte ich ihr das Wort aus dem Mund genommen, und setzte sich wieder.

»Weiß jemand, wieso er sich hat versetzen lassen?«, fragte ich in die betreten schweigende Runde.

»Vielleicht hat’s in Konstanz Krach gegeben?«, schlug Runkel vor. Die anderen beiden schwiegen mit abgewandten Blicken und nicht zu deutenden Mienen. Ich ergriff die schwarze, schon etwas ramponierte Thermoskanne und füllte meine Tasse noch einmal auf.

»Hoffentlich leistet er Widerstand«, murmelte Balke mit Blick auf den billigen Linoleumboden.

»Wie?«, fragte ich. »Was war das?«

»Ich hoffe, das Schwein liefert mir einen Grund, auf ihn zu schießen«, sagte Balke laut und trotzig und immer noch, ohne mich anzusehen.

»Das will ich nicht gehört haben!«, fuhr ich ihn an. »Solche Sitten reißen hier nicht ein, solange ich etwas zu sagen habe!«

»Köbele!«, meldete sich mit knarrender Stimme der Leiter des Konstanzer Polizeipräsidiums. »Was verschafft mir die Ehre, Herr Gerlach?«

»Es geht um Arne Heldt.«

»Arne? Macht er Zicken?«

Ich berichtete ihm in knappen Sätzen, was geschehen war. »Hat er denn bei Ihnen Zicken gemacht?«, fragte ich am Ende.

»Kann ich eigentlich nicht sagen, nein. Es war nur eher, na ja, mehr so der Typ einsamer Wolf. Sie wissen schon.«

»Haben Sie ihn deshalb auf die alten Fälle angesetzt?«

»Erstens das. Und zweitens, sein Bein.«

»Woher hat er das eigentlich?«

»Es ist nicht im Dienst passiert, soweit ich weiß. Aber ich bin erst seit sechs Jahren hier, und wie ich den Laden übernommen hab, da hat der Arne schon gehinkt.«

Köbele hatte als oberster Chef der Behörde nicht viel mit Heldt zu tun gehabt. Aber die Kriminalrätin Hilpert, Heldts frühere Vorgesetzte, müsse mir mehr über ihn sagen können, meinte er. Auch in Konstanz hatte Heldt also eine Frau als Chef gehabt.

»Blöderweise hockt die aber grad beim Gericht. Ich richte ihr aus, sie soll sich bei Ihnen melden, wenn sie wieder im Haus ist. Und den Heldt hat also tatsächlich einer umgebracht, sagen Sie? Ich kann’s immer noch nicht ganz glauben.«

»Umgebracht trifft es nicht ganz. Eher zu Tode gemartert.«

»Da muss ihn der Täter aber sehr gehasst haben.«

»So sehen wir das auch.«

»Finden Sie diesen Drecksack, Herrgott! Und springen Sie bloß nicht allzu zimperlich mit ihm um.«

»Regnet es bei Ihnen auch so?«

»Allerseelenwetter«, stöhnte Köbele. »Nicht mal den See kann ich von hier aus sehen. Dabei mag ich diesen Blick so, vor allem am Vormittag, wenn die Sonne über dem Wasser steht, herrlich, sage ich Ihnen, einfach herrlich!«

4

»Die Nummer in Winterthur gehört Arnes Bruder«, berichtete mir Sven Balke am Nachmittag aufgeräumt, als nach und nach alle an ihre Schreibtische zurückkehrten. »Er behauptet, sie hätten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Angeblich wusste er nicht mal, dass sein Bruder jetzt in Heidelberg wohnt.«

»Und auf einmal telefoniert man wieder miteinander?«

»Es ging um die Frage, ob das Grab der Eltern aufgegeben werden soll. Sie sind vor fünfundzwanzig Jahren gestorben. Kohlenmonoxidvergiftung in ihrem Wohnwagen. Die beiden Brüder sind die einzigen Kinder.«

Andere Verwandte schien Heldt nicht gehabt zu haben. Zumindest keine, mit denen er im Kontakt stand.

»Er hatte es ja nicht so mit zwischenmenschlichen Beziehungen«, meinte Balke ungerührt. »Aber noch was anderes, Sekunde …« Mühsam puhlte er ein zusammengefaltetes DIN-A4-Blatt aus einer der Taschen seiner eng sitzenden Jeans. »Die Verbindungsdaten von Arnes Festnetzanschluss sind schon da. Er ist doch hin und wieder angerufen worden.«

Und hatte offenbar wirklich die Nummern regelmäßig gelöscht. Viele der Anrufe waren abends gekommen, beinahe täglich zwischen sieben und acht.

»Und immer vom selben Prepaidhandy.« Balke legte den Computerausdruck auf den Tisch und versuchte, ihn mit der Handkante glatt zu streichen.

»Haben Sie das Handy versuchsweise mal angerufen?«

»Hab ich. Aber es ist zurzeit aus. Hier, sehen Sie mal«, Balke klopfte mit seinem kräftigen Zeigefinger auf die Liste, als wollte er die Haltbarkeit des Papiers testen. »Sie haben immer ziemlich lange gesprochen, oft über eine Stunde. Wenn man Arne gekannt hat, kaum zu glauben.« Er lehnte sich zurück, sah mir ins Gesicht. »Wenn Sie mich fragen, Chef – dieses Handy gehört einer Frau.«

»Sie haben schon einen Nachforschungsantrag gestellt?«

Entspannt nickte er. »Spätestens morgen kann ich Ihnen sagen, mit wem unser schweigsamer Arne stundenlang geturtelt hat.« Er faltete die Hände im Genick und sah mit schmalen Augen über mich hinweg auf die Ordner an der Wand hinter mir. »Schon irgendwie komisch. Da ist der Mann über sechzig, maulfaul und verschlossen, und jetzt plötzlich eine Liebesgeschichte?«

»Eifersucht«, sagte ich nachdenklich. »Wäre ein prima Motiv.«

»Frauen bringen niemanden um. Nicht so.«

»Gehörnte Ehemänner manchmal schon.«

Um Geld war es nicht gegangen, so viel wussten wir inzwischen. Weder hatte die Wohnung den Eindruck gemacht, als hätte jemand sie auf der Suche nach versteckten Wertsachen durchwühlt, noch hätte ein Einbrecher sein Opfer auf so bestialische Weise getötet.

Arne Heldt war einem Racheakt zum Opfer gefallen, in diesem Punkt waren wir uns einig. Und der Täter musste ein Sadist sein. Jemand, der es genoss, andere zu quälen.

»Er wird irgendwem ein bisschen zu heftig auf die Zehen getreten sein«, spekulierte Balke schon wieder.

»Womöglich wollte er deshalb zu uns?«, spann ich den Faden weiter. »So weit weg von Konstanz wie nur möglich.«

Wenige Kilometer nördlich von Heidelberg beginnt Hessen, und dorthin kann sich ein baden-württembergischer Polizist nur unter vielen lästigen und komplizierten Umständen versetzen lassen.

Es klopfte.

Klara Vangelis trat ein, ohne auf mein »Herein« zu warten.

Balke, der im Begriff gewesen war zu gehen, fiel wieder auf seinen Stuhl zurück.

Die Spurensicherung hatte bislang wenig vorzuweisen, berichtete sie, während sie den Rock ihres novembergrauen Kostüms glatt strich. »Was wir schon sagen können: In der Wohnung sind nur Arnes Fingerabdrücke zu finden und ein paar sehr alte, vermutlich von der Vormieterin.«

»Das spricht für unsere Theorie vom Racheakt«, sagte ich, »der Täter hat seine Tat gründlich vorbereitet. Er hat Vorkehrungen getroffen, um keine Spuren zu hinterlassen.«

»Da wird er leider Pech haben«, meinte Balke.

Natürlich hatte er recht. Es würde einige Tage dauern, vielleicht eine Woche, aber früher oder später würden unsere Techniker Spuren finden. Haare des Täters, Hautschuppen, wie jeder Mensch sie in jeder Sekunde zu Tausenden verstreut. Er mochte sich noch so viel Mühe gegeben haben, irgendetwas hatte er hinterlassen. Eine Winzigkeit im Treppenhaus, an der Wohnungstür oder eben doch am Tatort.

»Die Gerichtsmedizin ist mal wieder überlastet«, fuhr Vangelis fort. »Aber Arne kommt heute noch auf den Tisch. Bis zum späten Nachmittag kennen wir die Todesursache, haben sie mir versprochen.«

»Was ist mit Überwachungskameras in der Umgebung?«, fragte ich. »Was ist mit Nachbarn im weiteren Umfeld?«

»Läuft alles. Was Kameras betrifft: bisher Fehlanzeige.«

Der Täter war höchstwahrscheinlich mit dem Auto gekommen, hatte dieses aber wohl in einiger Entfernung vom Tatort abgestellt.

»In einem Ort wie Ziegelhausen fällt ein fremdes Auto auf«, meinte ich. »Da kennt jeder jeden.«

»Außer Arne natürlich.« Balke grinste müde.

Wir wandten uns der Frage zu, wie der Täter ins Haus gekommen war.

»Die Haustür hat zwar ein Sicherheitsschloss, aber ein uraltes Modell«, wusste Vangelis zu berichten. »Das knackt sogar ein Amateur, ohne Spuren zu hinterlassen.«

Mit Werkzeug, das man heutzutage für zwanzig Euro im Internet kaufen konnte. Samt ausführlicher Anleitung.

Für die Wohnungstür galt das Gleiche.

»Arne müsste doch gehört haben, dass sich jemand an seiner Tür zu schaffen macht«, fand Balke.

»Anscheinend nicht«, widersprach Vangelis, ohne von ihren Notizen aufzusehen. »Es gibt keine Kampfspuren im Flur, wir haben an Arne keine Abwehrverletzungen gesehen.«

Dann hatte der Täter sein Opfer vermutlich im Schlaf überrascht.

Unser toter Kollege habe allerdings ein ausgeprägtes Hämatom an der Stirn gehabt, berichtete Vangelis weiter. »Der Täter hat ihn erst k. o. geschlagen und anschließend gefesselt und geknebelt.«

»Dafür spricht auch, dass Arne im Pyjama war«, sagte Balke in meine Richtung, »den der Killer ihm später vom Leib geschnitten hat. Die blutverschmierten Fetzen lagen überall am Boden verstreut.«

Der Täter habe sein Opfer kampfunfähig gemacht, ans Bett gefesselt und dann in aller Ruhe abgewartet, bis Heldt wieder zu sich gekommen sei, meinte Vangelis und nieste dreimal. »Gefesselt hat er ihn übrigens mit Handschellen. Zwei für die Hände, zwei für die Beine. Die Dinger waren fabrikneu.« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie Spukbilder daraus vertreiben. »Und überall war Blut. Überall.«

»Er hat Spuren hinterlassen«, murmelte Balke durch zusammengebissene Zähne. »Jeder hinterlässt Spuren. Jeder.«

»Und selbst wenn?«, gab Vangelis wütend zurück. »Selbst wenn wir seine DNA haben und seine Fingerabdrücke, dann müssen wir immer noch den Mann dazu finden.«

»Machen wir eben ein Massenscreening«, bellte Balke zurück. »Jeder männliche Heidelberger muss eine Speichelprobe abgeben. Das kostet nicht die Welt und …«

»Ruhe!« Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es ist niemandem geholfen, wenn wir uns hier gegenseitig anblaffen.«

Am wenigsten unserem toten Kollegen.

Balke zog den Kopf ein und murmelte eine Entschuldigung.

Vangelis nieste.

Ich holte tief Atem. Nahm die Brille ab. Fragte in sachlichem Ton: »Weiß jemand etwas über Heldts politische Ansichten?«

»Ansichten?«, fragte Balke verständnislos zurück.

»Sein Nachbar im Erdgeschoss hat so eine Bemerkung gemacht zum Thema Ausländerfeindlichkeit …«

Vangelis sah mich ratlos an. »Vielleicht weiß Rolf etwas darüber? Ich frage ihn gleich mal.«

»Ein Linker war er jedenfalls nicht«, versicherte Balke.

Es wurde später Nachmittag, bis die Konstanzer Kriminalrätin Kerstin Hilpert zurückrief. Ihr Termin bei Gericht hatte länger gedauert als geplant.

»Ach, der Arne«, begann sie und seufzte schwer. »Hat ihn also wirklich einer umgebracht?«

»Wieso ›wirklich‹?«, fragte ich alarmiert zurück.

»Wissen Sie, der Arne war einer von diesen Lonesome Riders. Dem war’s scheißegal, was der Rest der Welt von ihm denkt. Er hat sein Ding gemacht, und zwar oft ziemlich gut, und der Rest ist ihm links am Arsch vorbeigegangen. Entschuldigung, ich wollt natürlich sagen, na ja, Sie wissen schon …«

Unter den Kollegen war er auch in Konstanz nicht sonderlich beliebt gewesen.

»Hier hat ihm keiner eine Träne nachgeweint. Aber auch das ist ihm wahrscheinlich egal gewesen.«

»Der Umgang mit ihm war für Sie als seine Vorgesetzte bestimmt nicht immer einfach.«

»Da haben Sie recht. Das Beste war, hab ich bald rausgefunden, wenn man ihm einen Job gab und ihn anschließend in Frieden ließ. Es hat überhaupt keinen Zweck gehabt, ihm zu sagen, er soll es so machen oder so, weil er sowieso gemacht hat, was er für richtig gehalten hat. Und manchmal ist er dann später tatsächlich gekommen und hat mir eine Akte auf den Tisch geknallt, und der Fall war gelöst. Früher soll er anders gewesen sein, sagen die älteren Kollegen. Wie seine Frau noch gelebt hat. Und bevor das mit seinem Bein passiert ist.«

»Wie ist seine Frau gestorben?«

»Ich war damals noch nicht hier. Aber die Sekretärin vom Chef, die hat mir erzählt, der Arne hätte anderthalb Jahre lang nur Nachtschicht gemacht, damit er tagsüber seine Frau versorgen kann.«

»Und was ist mit seinem Bein?«

»Er ist angeschossen worden. Bei einer Festnahme, die irgendwie in die Hose gegangen ist. Wenn Sie Genaueres wissen wollen, müsste ich mich erst schlaumachen. Das war auch vor meiner Zeit.«

»Noch mal zu Ihrem Wörtchen ›wirklich‹. Hat es Drohungen gegeben?«

»Gott, ja«, erwiderte die Kriminalrätin unbehaglich. »Wer von uns hat noch nie so Sachen gehört, wenn er mal wieder irgendeinem Dreckspatz Handschließen angelegt hat? ›Ich bring dich um!‹, ›dich mach ich fertig!‹, ›ich fick deine Mutter‹ – kennen wir doch alle. Sie etwa nicht?«

Und wie ich das kannte! Einer, den ich ins Gefängnis gebracht hatte, hatte mich Jahre später sogar entführt und um ein Haar getötet.

»Seien Sie mir nicht böse, aber für mich hat da noch mehr mitgeklungen.«

»Gut, okay. Der Arne ist vielleicht mit dem einen oder anderen ein bisschen gröber umgesprungen, als nötig gewesen wäre. Weil es ihn eben nicht die Bohne gejuckt hat, was die Leute von ihm halten. Der Arne hat ungefähr so viel Empathie gehabt wie eine Straßenwalze, so, jetzt wissen Sie’s.«

»Hat es besonders krasse Fälle gegeben? Erst kürzlich vielleicht?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Er hat Ihnen vermutlich auch keinen Grund für seinen Versetzungswunsch genannt?«

»Persönliche Gründe, hat er angegeben. Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, als hätte er Angst gehabt. Oder sich verstecken wollen. Wär ja auch kompletter Blödsinn gewesen. Wenn ihm einer wirklich an den Kragen wollte, dann hätte er ihn auch in Heidelberg gefunden.«

»Nach seinen persönlichen Lebensumständen brauche ich Sie vermutlich auch nicht zu fragen.«

Frau Hilpert lachte auf. »Ich weiß nur, dass er im Paradies drüben ein Häuschen gehabt hat. Angeblich hat es seine Frau mit in die Ehe gebracht …«

»Paradies?«

»So heißt ein Viertel auf der anderen Seite vom Rhein. Nachdem seine Frau tot war, hat er allein da gewohnt. Nie hat er wen zu sich eingeladen, nie hat er Einladungen angenommen, nicht mal zu Grillfesten oder wenn wir Fußball gespielt haben, ist er gekommen. Die, die nicht mitkicken, sind normalerweise trotzdem dabei, wenn wir um Punkte spielen, zum Anfeuern und wegen dem Bier danach. Arne nie. Nicht mal zur Weihnachtsfeier ist er am Ende noch aufgetaucht. Nicht mal das.«

»Hat er irgendwelche Laster gehabt?«

»Geraucht hat er wie eine Kokserei. Frauen – großes Fragezeichen. Glücksspiel? Bei unseren Gehältern unwahrscheinlich. Aber da fällt mir ein: Ein Segelboot soll er gehabt haben. Kann man bei Ihnen auf dem Neckar eigentlich segeln?«

Im Prinzip schon, meinte ich. Im Sommer hatte ich schon Segel auf dem Fluss gesehen.

»Manchmal hat er morgens eine Fahne gehabt. Aber nicht so oft. Wissen Sie was? Am besten, Sie reden mit dem Kollegen, mit dem er zusammen im Büro gehockt hat. Heiner Baumgarten heißt er …«

Sie diktierte mir eine vierstellige Durchwahl.

»Der Heiner hat mir mal erzählt, der Arne würd sogar nach Dienst an seinen Fällen weiterarbeiten. Halbe Nächte soll er daheim vor seinem PC gehockt und recherchiert und telefoniert haben. Vom Charakter her ist der Arne ein Pitbull gewesen. Wenn der sich in was verbissen hat, dann hat er nicht mehr losgelassen, bis zum bitteren Ende.«

Bis zum bitteren Ende. Ich schluckte.

Dann fiel mir etwas auf. »Er hatte einen PC?«

»Gibt’s noch Leute, die keinen haben?«

Auch die Kollegin teilte unsere Einschätzung, dass wir es mit einem Racheakt zu tun hatten.

»Bleibt die Frage, ob’s um eine private Geschichte geht …«

»Oder um seine Arbeit.«

»Wissen Sie was, Herr Gerlach«, sagte Frau Hilpert nach kurzem Grübeln aufgeräumt. »Ich lass Ihnen einfach die Akten schicken, an denen Arne in den letzten Jahren gearbeitet hat. Vielleicht werden Sie da ja fündig.«

»Wie oft war er denn erfolgreich?«

»Kann ich aus dem Stand nicht sagen. Zweimal mindestens. Dreimal? Kann ich jetzt so aus dem Stegreif nicht sagen.«

Heiner Baumgarten war vernünftigerweise schon nach Hause gegangen, stellte ich fest, als ich seine Nummer wählte. Inzwischen zeigte die Uhr auf meinem Schreibtisch halb sechs. Draußen war es längst wieder dunkel. Und noch immer schüttete es, als hätte der Weltuntergang bereits begonnen.

»Du bist ja nie da!«, behauptete Sarah wütend.

»Das ist nicht wahr«, wiedersprach ich meiner Tochter heftiger als beabsichtigt. »Jetzt zum Beispiel bin ich da. Und oft genug bin ich zwar da, aber ihr nicht.«

»Immer wenn man dich mal braucht, bist du weg«, sprang Louise ihrer eine halbe Stunde älteren Zwillingsschwester bei. »Arbeiten, bei Theresa, keine Ahnung …«

»Wenn ich nicht arbeiten würde, dann würdet ihr unter Brücken schlafen und euer Essen in Mülltonnen suchen.«

»Ja, aber Theresa …« Sarah verlegte sich aufs Quengeln, da sie spürte, dass ihre Argumente nicht wie gewünscht zogen.

»Wir hatten besprochen, dass ich abwechselnd bei ihr und hier bei uns schlafe, oder nicht?«

»Schon«, gab man zu.

»Was ist dann euer Problem? Ihr kommt doch sonst auch ganz gut ohne mich zurecht. Immerhin seid ihr schon fast volljährig.«

Sarah sah Louise an. Louise sah Sarah an. »Es ist immer das Gleiche«, behaupteten sie im Chor. »Wenn wir irgendwas machen wollen, was dir nicht passt, dann heißt es, geht nicht, ihr seid noch nicht volljährig. Und wenn wir mal was brauchen, dann heißt es, kümmert euch selber, ihr seid schon fast achtzehn.«

»Und was wird es kosten?«, fragte ich ahnungsvoll und setzte mich endlich zu ihnen an unseren runden Küchentisch.

Sie wollten Motorroller. Zwei natürlich. Und zwar von der Marke Vespa, alles andere war indiskutabel. Farbe: pink. Liefertermin: sofort.

»Wir sind die Einzigen, die noch auf Fahrrädern durch die Gegend gurken.«

»Alle anderen haben Mopeds oder so.«

»Manche sogar schon Autos!«

»Im November? Schaut mal raus, das Wetter … Es wird Winter …«

»Sonst heißt es immer, du bist früher bei Schnee und Hagel mit dem Rad zur Schule gefahren, und wir sollen uns nicht so anstellen.«

»Und was kostet so ein Ding?«

»Neu um die dreitausend«, sagte Sarah.

»Eher dreieinhalb«, korrigierte Louise.

Die klassische Eröffnung: Erst mal hoch einsteigen, um den wahren Preis am Ende nicht so schrecklich erscheinen zu lassen.

»Und gebraucht?«

»Kriegt man schon gute für fünfzehnhundert.«

Das Problem war, dass für meine Töchter natürlich nur zwei absolut identische Vespas infrage kamen. Und die waren auf dem Gebrauchtmarkt nicht leicht zu finden.

»Ihr habt ja nicht mal einen Führerschein. Der kostet auch Geld.«

»Wir jobben.«

»Vor Weihnachten, haben wir überlegt.«

»Und in den Ferien auch.«

»Und zu Weihnachten wünschen wir uns sonst nichts.«

Ein zweites Problem war mein notorisch schlechtes Gewissen. Ich hatte meinen Mädchen schon früh viel abverlangt. Notgedrungen, da sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr keine Mutter mehr hatten. Sie waren immer gut zurechtgekommen, fand ich, mit den Herausforderungen des Heranwachsens, mit der Schule, mit dem großen Thema Jungs. Dennoch nagte oft das böse Gefühl an mir, sie zu vernachlässigen, mich nicht genug um sie kümmern, ihnen zu wenig Nestwärme zu bieten. Und seit es nun auch noch das Agreement mit Theresa gab, dass ich abwechselnd bei ihr und bei meinen Töchtern nächtigte, war es nicht besser geworden.

»Ich sage jetzt noch nicht Ja«, sagte ich.

Souverän unterdrückten sie den fälligen Jubelschrei.

»Sechstausend Euro sind natürlich nicht drin. Aber gebraucht ginge es vielleicht, wenn ihr euch sonst wirklich nichts zu Weihnachten wünscht.«

Sie kannten ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass sie schon gewonnen hatten. Dass ich nur zum Schein noch ein wenig Widerstand aufbot.

Erst als ich allein im Wohnzimmer saß, hörte ich sie in der Küche jubeln und herumhüpfen.

5

»Auf Arnes Girokonto ist nicht viel gelaufen«, berichtete Sven Balke, als wir am nächsten Morgen im großen Besprechungszimmer zusammensaßen. »Ende des Monats ist das Gehalt eingegangen, und die Miete wurde abgebucht. Außerdem Strom, GEZ, Krankenversicherung, zweihundert Euro per Dauerauftrag an einen Investmentfonds. Hin und wieder Abbuchungen über die Kreditkarte, die ich noch checken muss. Das Einzige, was ein bisschen aus dem Rahmen fällt, ist ein Strafzettel über fünfzehn Euro vor sechs Wochen. Wie es scheint, ist er doch nicht immer der brave Vorzeigebeamte gewesen.«

Klara Vangelis hatte noch gestern Nachmittag eine Sonderkommission zusammengetrommelt und ihr den unverfänglichen Namen Ziegelhausen gegeben. So saßen am großen Tisch jetzt dreiundzwanzig Personen plus meine Wenigkeit. Vangelis hatte mir vor Beginn der Sitzung erzählt, fünf der neun Kolleginnen und Kollegen, die gestern noch im Krankenstand gewesen waren, hätten sich heute Morgen zum Dienst gemeldet, obwohl sie sichtlich noch nicht gesund waren. Entsprechend viel wurde um mich herum geniest, geschnieft und gehustet. Eine ältere Kollegin hatte sogar ihren Urlaub abgebrochen, um mitzuhelfen, Arne Heldts Mörder hinter Gitter zu bringen.

»… ein Festgeldkonto«, hörte ich Balke sagen, »mit etwas über dreihunderttausend Euro drauf.«

Einige Köpfe zuckten hoch, aber Balke winkte ab.

»Die Kohle stammt vom Verkauf seines Hauses am Bodensee. Aber jetzt kommt was, und das finde ich interessant …«

Heldt hatte einen Dauerauftrag laufen gehabt. Monat für Monat waren vierhundert Euro an den Empfänger C. Waßmer gegangen, mit dem Verwendungszweck: »bekannt«.

»Das C steht für Christiane«, fuhr Balke fort. »Sie wohnt in Allensbach, nicht weit von Konstanz. Falls nichts dagegen spricht, werde ich sie nachher gleich mal anrufen.«

Ich machte mir eine Notiz. »Das übernehme ich. Ich habe sowieso schon Kontakte nach Konstanz geknüpft.«

Balke hakte den Namen ab.

Nun ergriff der Chef der Spurensicherung das Wort, der Erste Hauptkommissar Lemmle, ein hörbar dem schwäbischen Sprachraum entstammender Hüne und anerkanntes Genie in seinem Fach. Mithilfe seines Notebooks projizierte er eine Reihe von Fotos an die Wand, um denen, die am Vortag nicht am Tatort gewesen waren, einen Eindruck von der Szene zu vermitteln. Ich sah das Haus, in dem Arne Heldt gelebt hatte und gestorben war, ein heruntergekommenes Mietshaus an der Peterstaler Straße, vor dem sich ein asphaltierter Hof erstreckte. Rechts stand ein alter Wohnwagen, der aussah, als hätte er seinen Stellplatz seit vielen Jahren nicht mehr verlassen. Ich sah den trostlosen Flur von Heldts Wohnung. Als die Fotos vom Schlafzimmer kamen, sah ich woanders hin. Ansonsten hatte er wenig Neues zu berichten.

»Wir haben die Teppiche abgeklebt«, erklärte er lautstark. »Und außerdem natürlich …«

Weiter kam er nicht, weil unvermittelt die Tür aufschwang und unser aller Chef, der leitende Polizeidirektor Kaltenbach, mit Verve eintrat. Er baute sich am Kopfende des Tischs auf, blickte in die verdutzte Runde und ergriff das Wort: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte entschuldigen Sie meinen Überfall, aber es ist mir ein tiefes Bedürfnis, Sie bei ihrer traurigen und aufwühlenden Aufgabe nicht ohne Beistand zu lassen.«

Ein beliebter, von allen geschätzter Kollege war tot (den er noch nie im Leben gesehen, geschweige denn gesprochen hatte), auf bestialische Weise ermordet (was nun wirklich jeder im Raum wusste, viele sogar mit eigenen Augen gesehen hatten), und das war ja nun wohl absolut inakzeptabel (wogegen nichts einzuwenden war).

»Wir sind hier ein großes Team, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich als Chef zähle dabei am wenigsten. Auf Sie kommt es an, auf jeden Einzelnen von Ihnen. Geben Sie Ihr Bestes! Ruhen Sie nicht, bis dieses abscheuliche Verbrechen gesühnt ist! Zögern Sie nicht, mich anzusprechen, wenn Sie Unterstützung benötigen, welcher Art auch immer. Sie können auf mich zählen. Ich werde Sie nicht im Stich lassen an der Front.«

Um zehn Uhr werde er zusammen mit einem Vertreter der Staatsanwaltschaft eine Pressekonferenz geben, verkündete Kaltenbach mit blitzenden Augen (an der ich nicht teilnehmen würde). Und natürlich wollte er bald Erfolge melden, einen Sieg verkünden. Und so weiter und so fort.

Schließlich rauschte er wieder ab, und nach einigen versonnenen Sekunden fuhr Lemmle mit seinem Bericht fort: »Insgesamt neun Quadratmeter haben wir abgeklebt, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter. Außerdem haben wir Fingerspuren genommen, an die hundert Stück, die zum größten Teil noch gar nicht ausgewertet sind. Das braucht halt alles seine Zeit. Hexen können meine Leute immer noch nicht. Vieles, was wir hier nicht machen können, hab ich gestern per Kurier ans LKA nach Stuttgart geschickt.«

Die Suche nach Zeugen, denen in den Nächten des vergangenen Wochenendes etwas aufgefallen war, hatte bereits begonnen.

In der Umgebung des Tatorts hingen seit gestern Abend kleine Plakate. Heute würden zusätzlich Handzettel verteilt werden mit der dringenden Bitte, jede Beobachtung zu melden, auch scheinbar nebensächliche. An jeder Haustür im Umkreis von zwei-, dreihundert Metern würde im Lauf des Tages geklingelt werden. Es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn wir auf diesem Wege nicht wenigstens ein Stückchen vorankamen.

»Die Obduktion wird nun doch erst heute sein«, sagte Vangelis. »Bis Mittag haben sie mir einen vorläufigen Bericht versprochen.«

Sie klang noch kränker als gestern. Ihre Augen glänzten fiebrig, die Stimme krächzte, und ihre Nase lief. Wenigstens das Wetter war über Nacht besser geworden. Als ich mich um halb acht auf den Weg zur Direktion machte, hatte es kaum noch geregnet, und nur noch einige große Pfützen an den Straßenrändern erinnerten an den vergangenen Katastrophentag. Der Neckar führte wieder einmal Hochwasser, hatte Sönnchen mir beim eilig getrunkenen Morgencappuccino berichtet. Womöglich musste demnächst wieder die Bundesstraße gesperrt werden, die am Fluss entlangführte.

Bald hatten alle berichtet, was es zu berichten gab. Wir standen noch am Anfang, und da sind die Puzzleteilchen, die im Zuge einer solchen Mordermittlung mühsam eingesammelt werden, meist klein und unscheinbar.

»Als er noch in Konstanz war, hat er angeblich einen PC gehabt«, sagte ich in die Runde. »Ziemlich merkwürdig, dass er den bei seinem Umzug nicht mitgenommen hat.«

Fragende Blicke kreuz und quer.

Ich wandte mich an Balke: »Es gab wirklich keine Zahlungen für einen Internetanschluss?«

Sicherheitshalber blätterte mein Mitarbeiter noch einmal in den Kontoauszügen, die vor ihm lagen. Schüttelte schließlich den Kopf. »Kommunikationsmäßig sehe ich hier nur die GEZ und die Telekom.«

»Also …« Eine junge dunkelhaarige Kollegin, die neu bei uns zu sein schien, hob die Hand. Sie trug ein blaues Uniformhemd, gehörte demnach zur Schutzpolizei. Ein kunstvoll zerzauster Kurzhaarschnitt umrahmte ihr herzförmiges Gesicht mit großen, fast schwarzen Augen, die wach in die Runde blickten. »Ich bin die Laila, für die, die mich noch nicht kennen. Und, also, wie ich an der Polizeihochschule gewesen bin, da haben wir in einer Dreier-WG gewohnt, ich und zwei andere Mädels. Und wir haben natürlich nicht viel Geld gehabt, und da hab ich es geschafft, dem Typ, der unter uns gewohnt hat, das Passwort für sein WLAN abzuschwatzen. Und so haben wir dann anderthalb Jahre lang ganz umsonst Internet gehabt.«

»Waßmer!«, bellte mir eine halbe Stunde später eine Männerstimme unwirsch ins Ohr.

»Oh, da habe ich mich wohl verwählt, entschuldigen Sie«, sagte ich eilig. Klugerweise hatte ich nicht von meinem Dienstapparat, sondern von meinem privaten Handy angerufen.

»Wen wollten Sie denn sprechen?«

»Einen Herrn Schmitz in Konstanz.«

»Hier ist Allensbach und nicht Konstanz«, wurde ich belehrt. »Da haben Sie die falsche Vorwahl erwischt.«