Drei Tage im Mai - Wolfgang Burger - E-Book

Drei Tage im Mai E-Book

Wolfgang Burger

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Beschreibung

Anfang Mai: Eine drückende, hochsommerliche Hitze liegt über Heidelberg. Die Woche von Kripochef Alexander Gerlach beginnt träge, doch dann wird er zu einer Geiselnahme gerufen. Ein bewaffneter Mann hat den Chef einer Immobilienfirma in seine Gewalt gebracht. Streit war zu hören, ein Schuss, seitdem nichts mehr. Der Tag verstreicht, ohne dass der Geiselnehmer Forderungen stellt. Alle Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, laufen ins Leere. Welches Motiv steckt hinter der Tat? Feinde des erfolgreichen Geschäftsmannes finden sich zuhauf, denn vor Kollateralschäden zugunsten seiner Karriere war er nie zurückgeschreckt. Schließlich gibt Gerlach den Befehl zur Stürmung. Doch von den beiden Männern fehlt plötzlich jede Spur …

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Amelie und Sebastian

ISBN 978-3-492-97105-8

Oktober 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Phoelix/shutterstock und Eric Isselee/shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Erster Tag – Montag, 4. Mai

1

Ich hatte wirklich schon bessere Tage erlebt. Der erste Mai war in diesem Jahr auf einen Freitag gefallen und hatte endlich Sonnenschein gebracht, nach dem nicht enden wollenden Aprilregen. Wie hatte ich mich auf ein ruhiges, extralanges Wochenende gefreut! Und nun? Nun hatte ich Streit mit Theresa, Stress mit meinen Töchtern, immer neuen Ärger mit meiner Mutter – und das bittere Sahnehäubchen bildete mein geliebter, siebzehn Jahre alter Peugeot Kombi, der soeben mit Pauken und Trompeten durch die TÜV-Prüfung gefallen war. Eigentlich wäre die Untersuchung schon im April fällig gewesen, aber irgendwie hatte ich es nicht früher geschafft.

Heute aber, pünktlich um acht, hatten ich und mein braves Auto hoffnungsfroh vor den Toren gestanden, waren auch fast sofort drangekommen, der Prüfingenieur schien ein umgänglicher, besonnener Mann zu sein, lächelte wohlwollend und verlor sogar ein paar nette Worte über mein altes Auto. Das Lächeln war ihm im Verlauf der Untersuchung leider rasch vergangen: leckende Servolenkung, Ölverlust am Motor, angerostete Bremsleitungen und noch etwas höchst unschön und teuer Klingendes mit der Vorderachse. Der Prüfer war kein Unmensch. Er meinte es gut mit uns und gab mir den Rat mit auf den Weg, ich solle mich doch besser nach einem neuen Auto umsehen.

»Ihr Oldie da, das lohnt sich nie und nimmer«, hatte er gemeint, als er mir tröstend die Hand drückte. »Das ist ein Fass ohne Boden.« Er überreichte mir das Prüfprotokoll wie eine Sterbeurkunde und winkte sogar zum Abschied.

Allmählich zerrte auch die trockene Hitze, die Westeuropa seit Tagen in ihren glühenden Krallen hielt, an meinem Nervenkostüm. Dieser viel zu frühe, knisternde Hochsommer, der die Menschen nervös machte, aggressiv und unleidlich. Schon jetzt, um kurz nach halb neun, zeigte das Thermometer an der Czerny-Apotheke siebenundzwanzig Grad. Spätestens um zehn, halb elf würden wir wieder die Dreißig-Grad-Marke reißen. Da mein Auto nicht über so moderne Einrichtungen wie eine Klimaanlage verfügte, wurde mir schon während der Fahrt zur Polizeidirektion heiß und heißer, und ich verspürte nicht die geringste Lust auf Arbeit und Ärger im Büro. Louise und Sarah waren heute Morgen verachtungsvoll schweigend in Richtung Schule abgezogen, und seit meine Mutter nicht mehr bei uns lebte, war es plötzlich ungewohnt still geworden in unserer Wohnung. Beim Frühstück hatte ich mich regelrecht einsam gefühlt, nachdem ich zuvor wochenlang gehofft hatte, sie würde endlich eine eigene Bleibe finden und uns wieder in Ruhe lassen.

Im Radio erklärte ein vermutlich selbst ernannter und widerlich gut gelaunter Meteorologe, die Ursache der ungewöhnlichen Wetterlage seien wüstentrockene Winde aus Nordafrika.

Durch die heruntergekurbelten Fenster hörte ich, dass wenigstens einige Vögel sich über die Sonne freuten. Der Duft von Flieder und frühem Sommer wehte herein. Und der von Dieselabgasen. Vor mir tuckerte ein uralter Traktor mit Germersheimer Kennzeichen in Richtung Innenstadt und behinderte qualmend und knatternd den Berufsverkehr.

Ich versuchte, mich zu entspannen, nicht mehr an den TÜV zu denken und vor allem nicht an Theresa. Ich versuchte, meine Gedanken auf etwas Positives zu lenken, etwas, worauf ich mich freuen konnte. Aber das Einzige, was mir einfiel, war Lorenzo. Morgen Abend würde ich ihn endlich wieder einmal besuchen. Er würde für uns beide kochen, vielleicht spielten wir anschließend ein wenig Schach, wobei ich üblicherweise verlor, was mir aber nicht das Geringste ausmachte. Wir würden auf seiner Terrasse sitzen mit Blick auf die Heidelberger Altstadt, das berühmte Schloss, den im Abendlicht träge schimmernden Neckar.

Was die Arbeit betraf, bestand Hoffnung auf eine ruhige Woche. Der eine oder andere war schon in Urlaub, und die Hitze hatte aus Sicht der Kriminalpolizei immerhin den Vorteil, auch die Bösewichte unserer Gesellschaft kraft- und fantasielos zu machen.

Was ich in diesen Minuten allerdings nicht bedachte: Nicht jeder Verbrecher ist ein Bösewicht. Nicht jedes Verbrechen geschieht aus Berechnung, nach einem genau kalkulierten Plan. Zu diesem Zeitpunkt hatte Alfred Leonhard, einer der reichsten, angesehensten und meistgehassten Männer der Kurpfalz, noch zwei Tage und sechs Stunden zu leben. Oft ist es ein Segen, dass wir unsere Zukunft nicht kennen.

Ein erster kleiner Lichtblick dieses Montags, der so niederschmetternd begonnen hatte, war die morgendliche Routinebesprechung. Das lange Wochenende sei weitgehend friedlich verlaufen, berichtete die Erste Kriminalhauptkommissarin Klara Vangelis. Auch sie schien heute nicht die Fitteste zu sein. Offenbar setzten selbst ihr, obwohl griechischer Abstammung, die hohen Temperaturen zu. Nachts konnte man nicht mehr richtig schlafen, und nach der morgendlichen Dusche war man schon wieder erschöpft.

»Das Übliche im Hochsommer«, begann sie ihren Bericht. »Betrunkene in der Altstadt, Betrunkene auf den Neckarwiesen, der erste Badeunfall des Jahres, die traditionellen Samstagabendprügeleien und ein paar ungewöhnlich freche Taschendiebstähle bei der Maikundgebung des DGB am Freitag …«

Trotz der Wetterkapriolen war sie auch heute untadelig gekleidet zum Dienst erschienen. Nur das Grau ihres Kostüms und die Farbe ihrer Strümpfe schienen eine Nuance heller zu sein als sonst. Auch von den anderen Fronten – handgreifliche Familienkonflikte, Brände mit unklarer Ursache, Menschen, die keines natürlichen Todes gestorben waren – gab es erfreulich wenig zu berichten.

»Die einzigen Leichen, die wir hatten, waren Schnapsleichen«, sagte sie abschließend und klappte ihr in braunes Leder gebundene Notizbüchlein zu. »Davon aber reichlich.«

Die Komasäufer schienen immer jünger zu werden und ihr Zustand, wenn sie in den Notaufnahmen der Kliniken abgeliefert wurden, immer beklagenswerter.

»Wenigstens ist bei Schnapsleichen die Täterermittlung nicht so kompliziert«, meinte Sven Balke grinsend, der neben ihr saß, seine durchtrainierten Beine von sich streckte und sich mit einigen Papieren lässig Luft ins Gesicht wedelte. Obwohl er schon einige Jahre hier im Süden Deutschlands lebte, hörte man deutlich, dass er aus dem Norden stammte. Im Gegensatz zu mir machte er einen mit der Welt und seinem Leben zufriedenen Eindruck. Er steckte in den unvermeidlichen Jeans und trug dazu ein eng sitzendes T-Shirt, das die Rundungen seines muskulösen Oberkörpers nicht verheimlichte. Nirgendwo an seinem Körper schien es ein Gramm Fett zu geben. Am linken Ohr glitzerten Piercings im Morgenlicht. Balke war der heimliche oder in manchen Fällen nicht ganz so heimliche Schwarm mancher jungen Kollegin. Bis vor wenigen Monaten hatte er mit Evalina Krauss Büro und Frühstück geteilt. Dann war jedoch irgendetwas vorgefallen, was dazu führte, dass die junge Oberkommissarin sich krank meldete und wenig später um ihre Versetzung in eine andere Dienststelle ersuchte. Seit Anfang April war sie nun in der Polizeidirektion Heilbronn tätig und ließ nichts mehr von sich hören.

»Zum Abschluss was Lustiges«, übernahm Balke mit selbstzufriedener Miene. »Irgendein Knallkopf hat vergangene Nacht einen Porsche im Neckar versenkt. Einen fast neuen Neunhundertelfer mit Mannheimer Nummer.«

»Wie geht das denn?« Es gelang mir, ein Gähnen zu unterdrücken. Meine beiden Mitarbeiter hatten das Wochenende über Dienst gehabt, während ich auf der faulen Haut gelegen und mich mit meinen Töchtern und diversen anderen Damen herumgeärgert hatte. Da konnte ich als Vorgesetzter nicht mit dem Gähnen anfangen. »An der Bundesstraße sind doch überall Leitplanken, oder irre ich mich?«

»Das geht nur mit voller Absicht«, erklärte er fröhlich. Sollte er etwa schon wieder eine feste Freundin haben? »Er ist gar nicht auf der Bundesstraße unterwegs gewesen, sondern von der Uferstraße sozusagen falsch abgebogen.«

»Da ist doch eine Böschung. Und eine Hecke. Da gehen Treppen runter auf die Neckarwiesen …«

»Die Treppen, genau.« Immer noch grinsend faltete er seine Papiere zusammen. »Ich bin vorhin selbst draußen gewesen und habe mir das Elend angesehen. Der Typ ist volle Kanne die Treppe runter, hat dabei den Auspuff abgerissen, ist über die Wiesen gebrettert und mit Karacho ins Wasser.«

»Was ist mit dem Fahrer?«

»Verschwunden. Die Fahrertür war offen, als die Feuerwehr die Karre rausgezogen hat. Seine Leiche ist aber bisher nirgendwo angeschwemmt worden. Vermute, er ist ausgestiegen und an Land geschwommen.«

»Merkwürdiges Hobby. Hoffentlich wird das nicht Mode.«

»Car diving.« Balke grinste immer noch, und ich beneidete ihn um seine gute Laune. »Jedenfalls war das definitiv kein Unfall, sondern Absicht. Nehme an, es war nicht seine Karre.«

Erneut übermannte mich um ein Haar eine Gähnattacke. »Irgendwelche Zeugen?«, fragte ich, weil man als Chef der Kriminalpolizei solche Sachen fragt, um Interesse an der Arbeit seiner Mitarbeiter zu zeigen.

»Fehlanzeige.« Balke schüttelte kraftvoll den Kopf. Wo nahm der Mann nur seine Energie her? »Das Ganze muss morgens zwischen drei und vier Uhr passiert sein. Die paar Leutchen, die um die Zeit noch auf den Neckarwiesen herumgelegen haben, waren alle zu besoffen oder bekifft, um noch irgendwas zu checken.«

»Ist der Porsche als gestohlen gemeldet?«

Die Ringe in Balkes linkem Ohr blitzten und funkelten. »Rübe versucht gerade, den Halter zu erreichen.«

Rübe war Balkes Spitzname für Rolf Runkel, einen älteren Kollegen, dem wir allzu komplizierte Fälle nicht mehr zumuten mochten.

»Geht aber nicht ans Telefon, der Herr Porschebesitzer, und die Handynummer, die wir von ihm haben, ist nicht mehr aktuell. Lars Scheffler heißt der Typ, übrigens ein Stammkunde von uns. Hat schon dreimal vor Gericht gestanden. Zweimal Verdacht auf Drogenhandel, jedes Mal Freispruch zweiter Klasse mangels Beweisen. Beim dritten Anlauf hat er dann immerhin ein halbes Jahr auf Bewährung gekriegt wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung.«

»Vielleicht ein Racheakt der Konkurrenz?«, spekulierte ich lustlos, obwohl es in der Heidelberger Drogenszene zurzeit erfreulich ruhig war.

Balke nickte und gähnte gleichzeitig. Nun konnte auch ich mich nicht mehr zurückhalten, und selbst Klara Vangelis musste heftig die Zähne zusammenbeißen, um sich keine Blöße zu geben.

»Dass dieser Scheffler seine Angeberkarre selbst versenkt hat, halte ich jedenfalls für ziemlich unwahrscheinlich«, sagte Balke.

Versicherungsbetrug, wollte ich schon vorschlagen. Aber so dämlich war wohl keine Versicherung, dass sie das bezahlte.

Durch die offenen Fenster hörte ich das Rauschen des Verkehrs auf dem Römerkreis. Eine Straßenbahn bimmelte empört. Eine Frau lachte hell. Eine andere schimpfte über die Radfahrer. Eine einsame Amsel sang tapfer gegen die unbarmherzige Sonne an, klang jedoch mehr nach Pflichterfüllung als nach Liebeswerben und Lebensfreude.

»Spricht was dagegen, dass Rübe das weiter bearbeitet?«, fragte Balke in die Stille hinein. Dagegen sprach aus meiner Sicht überhaupt nichts, und damit war unsere Besprechung zum Wochenstart auch schon zu Ende. Die beiden erhoben sich und verschwanden durchs verwaiste Vorzimmer.

Sönnchen, meine unersetzliche Sekretärin, hatte mich in meinem Elend im Stich gelassen, um zusammen mit ihrem Verlobten und demnächst Ehemann zwei Wochen Urlaub zu machen. Irgendwo im Süden trieben die beiden nicht mehr ganz taufrischen Turteltäubchen sich herum, am Meer, wo es wahrscheinlich kühler und auf jeden Fall sehr viel angenehmer war als hier.

So musste ich mir meinen ersten Büro-Cappuccino des Tages notgedrungen selbst machen. Als der duftende Becher vor mir stand, nahm ich mein Handy und wählte die Nummer des guten Herrn May. Herr May betrieb in Wieblingen eine kleine KFZ-Werkstatt und hatte meinen Peugeot schon einmal vor dem Schrottplatz gerettet, nachdem andere, größere Werkstätten nur noch mitleidig lächelnd abgewinkt hatten. Herr May nahm jedoch nicht ab, und ich beschloss, es später noch einmal zu versuchen.

Dann machte ich mich an den Papierkram, dessen Erledigung leider zu den Aufgaben eines Kripochefs zählt, und versuchte, weder an Theresa noch den TÜV zu denken. Einen ordentlichen Gebrauchtwagen hätte ich mir zur Not leisten können. Aber der Peugeot war mir über die Jahre ans Herz gewachsen, und seine Verschrottung wäre mir vorgekommen wie die Ermordung eines lange gehegten Haustiers.

Sollte Theresa hoffen, dass ich anrief, um mich zu entschuldigen, dann konnte sie alt und zittrig werden in ihrem inzwischen so geliebten Schweden. Von wegen Schweden! Nicht in das Land hatte sie sich ja verliebt, sondern …

Schluss!

Aus!

Auch ich hatte meinen Stolz, verflucht noch mal! Ich zwang mich zu Disziplin und Konzentration, quälte mich von Unterschrift zu Unterschrift. Vernehmungsprotokolle, Urlaubsanträge, sogar ein Verbesserungsvorschlag lag auf dem rasch niedriger werdenden Stapel. Trotz Cappuccino wurden meine Augenlider schwer. Das bisschen Luft, das durch das offene Fenster hereinwehte, wurde von Minute zu Minute heißer. Ich erhob mich, um das Fenster zu schließen und die Rollläden herunterzulassen. Viel würde auch das nicht helfen, denn mein Büro lag im obersten Stockwerk der Heidelberger Polizeidirektion. Über mir befand sich nur noch ein sparsam isoliertes Flachdach, das demnächst zu glühen beginnen würde.

2

Um siebzehn Minuten nach neun schreckte mich das Telefon aus meiner Aktenschläfrigkeit. Um ein Haar hätte ich den Kaffeebecher umgeworfen, als ich nach dem Hörer griff.

»Bewaffnete Geiselnahme in Leimen«, berichtete eine Kollegin aus der Notrufzentrale in einem Ton, als hätten wir solche Fälle dreimal am Tag.

»Schlimm?«

»Bisher weiß ich nur von einer Frau mit Schussverletzung. Die Meldung ist erst ein paar Sekunden alt.«

»Wer ist die Geisel?«

»Keine Ahnung.«

»Die Verletzte?«

»Keine Ahnung. Wollen Sie vielleicht mal zu mir runterkommen, Herr Gerlach?«

»Wo genau in Leimen?«

»In irgendeinem Industriegebiet. Ich suche gerade noch die Adresse auf dem Stadtplan.«

Ich ließ meinen Papierkram liegen, wie er lag, stürzte den letzten Schluck lauwarmen Kaffee hinunter und machte mich auf den Weg zur Einsatzleitzentrale ein Stockwerk tiefer.

Dort gab es inzwischen neue Informationen. »Die Verletzte ist Chefsekretärin einer Immobilienfirma«, sagte die Kollegin, mit der ich eben telefoniert hatte. Sie war einige Jahre jünger als ich, Anfang vierzig vielleicht, hatte ruhige, dunkle Augen und offenbar keine Neigung zu Panikattacken. Schon wieder summte ihr Telefon. Sie trug ein Headset, drückte einen hektisch blinkenden Knopf auf der breiten Konsole, an der sie saß, hörte kurz zu, sagte: »Danke, okay«, drückte einen anderen Knopf. »Sie ist jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus.«

Rolf Runkel platzte herein, in der Rechten einen farbenfrohen, noch fast vollen Kaffeebecher, und baute sich schnaufend neben mir auf. Kurz darauf erschien auch Sven Balke. Er hatte es nicht ganz so eilig und hielt eine beschlagene Coladose in der Hand.

»Schwer verletzt?«, fragte ich.

»Nicht lebensgefährlich, sagen sie.«

Mein Handy schlug Alarm. Es war meine Mutter. Ich nahm das Gespräch an und sagte: »Nicht jetzt, Mama.«

Während meines kurzen Telefonats hatte die Kollegin ihre Computermaus hin und her geschoben. Auf dem linken ihrer beiden großen Flachbildschirme war ein Stadtplan von Leimen zu sehen, einem Städtchen wenige Kilometer südlich von Heidelberg.

»Moment mal«, murmelte die Kollegin verwirrt. »Irgendwie …«

Der Mauszeiger wanderte nach oben, zuckte hin und her. Markierte schließlich einen Punkt in einem Industriegebiet am nördlichen Stadtrand. Ein roter Kreis erschien.

»Da«, sagte sie. »Leonhard Immobilien. Liegt aber gar nicht in Leimen. Das Industriegebiet gehört noch zu uns, sehe ich gerade. Rohrbach Süd.«

Da war wohl wieder einmal in irgendeinem Kopf etwas durcheinandergeraten. So ist es oft in solchen Fällen. In der ersten Hektik hagelt es falsche oder nur halb richtige Informationen, und es fällt schwer, sich einen Überblick zu verschaffen.

»Wissen wir schon irgendwas über die Geisel?«

»Vielleicht der Chef von der Firma selber? Die Chefsekretärin sitzt ja normalerweise vorm Chefbüro. Ob noch mehr Personen in der Gewalt des Täters sind, ist unklar. Zurzeit räumen sie das Gebäude. Acht Stockwerke voller Büros. Wird ein bisschen dauern.«

»Und was ist mit dem Täter?«

Die Kollegin hob die nackten Schultern. Sie steckte in einem hellen und luftigen Kleid mit schmalen Trägern und duftete nach einem angenehm frischen Parfüm. Ich bat sie, das Sondereinsatzkommando in Göppingen vorzuwarnen. »Sie sollen schon mal die Triebwerke ihrer Hubschrauber warmlaufen lassen.«

Dann sah ich Balke an.

Balke sah mich an.

Er zerdrückte die Coladose in der Hand und warf sie in den nächsten Papierkorb.

Als ich zwanzig Minuten später in der Nähe des achtgeschossigen Bürogebäudes aus unserem klimatisierten Dienstwagen kletterte, herrschte um uns herum das in solchen Situationen übliche, mehr oder weniger geordnete Chaos. Die Straße war bereits mit Flatterband abgesperrt, die Parkplätze an den Straßenrändern bis auf drei übrig gebliebene Fahrzeuge geräumt. Außerhalb der Absperrung drängelte sich eine überschaubare Menge Menschen, von denen sich vermutlich die meisten bis vor Kurzem im abgeriegelten Gebäude aufgehalten hatten. Immer noch kamen neue hinzu, die zu ihrem Arbeitsplatz wollten, aber nicht durften, oder aus dem gläsernen Ausgang gelaufen kamen, viele mit einer Aktentasche unter dem Arm oder einem wichtigen Ordner in der Hand. Es roch nach heißem Asphalt und Männerschweiß und irgendwelcher Chemie. Ich sah mich nach einem schattigen Platz um. Der war zum Glück leicht zu finden, denn beide Seiten der Straße säumten kräftige Platanen mit ausladenden Kronen.

Während der Blaulichtfahrt in den Heidelberger Süden hatte Balke – obwohl er am Steuer saß – schon einmal ein wenig im Internet recherchiert.

»Alfred Leonhard«, hatte er mir vorgelesen. »Vierundvierzig, verheiratet, eine Tochter. Unternehmer, Multimillionär, Kunstliebhaber und Mäzen.«

Bisher wussten wir allerdings nicht einmal, ob der reiche Kunstliebhaber wirklich die Geisel war.

Inzwischen schien die Evakuierung beendet zu sein. Ein kräftig gebauter Kollege in Uniform verließ als Letzter das Bürohaus, das am nördlichen Rand des Industriegebiets stand, und kam mit großen Schritten zielstrebig auf uns zu. Nur wenige Meter entfernt rauschte – für uns unsichtbar – der Berufsverkehr in Richtung Stadt.

»Im Haus ist jetzt keiner mehr«, berichtete der schweißüberströmte Hauptkommissar und drückte zünftig meine Hand. »Außer unsere Leute natürlich und der Typ mit der Pistole und seine Geisel.«

»Sehr gut«, lobte ich den atemlosen Kerl, aus dessen Augen die Hoffnung leuchtete, mit meiner Ankunft die Verantwortung für diese unerfreuliche Angelegenheit loszuwerden. »Die drei Autos da drüben sollten wir sicherheitshalber auch noch wegschaffen. Falls Sie die Halter nicht erreichen, lassen Sie sie abschleppen.«

Der Name des Kollegen war J. Reilinger, las ich auf seiner breiten Brust, er gehörte zum Polizeirevier Heidelberg Süd.

»Wie sieht es in der Tiefgarage aus?«

Die dunkle Einfahrt gähnte rechts neben dem Gebäude.

»Da steht nur noch der Wagen vom Herrn Leonhard. Ich hab allen gesagt, sie sollen ihre Autos wegfahren. Hinten ist auch noch ein kleiner Parkplatz, aber da stehen nur ein paar Firmenfahrzeuge.«

»Die müssen auch weg.« Die Schlüssel zu diesen Fahrzeugen befanden sich mit großer Wahrscheinlichkeit im soeben geräumten Gebäude, und der Geiselnehmer durfte auf keinen Fall in den Besitz eines Fahrzeugs kommen.

Dass der Range Rover des Firmeninhabers in der Tiefgarage stand, ließ darauf schließen, dass er im Haus war. Und da er bislang nicht aufgetaucht war, war er vermutlich tatsächlich das Opfer dieser Geiselnahme.

»Wissen wir schon irgendwas über den Täter?«

»So um halb neun rum muss er gekommen sein. Die Sekretärin ist grad erst im Büro gewesen, hat mir der Mann erzählt, der sie dann gerettet hat. Der Chef, also der Herr Leonhard, der ist schon früher …«

»Lassen Sie die Halter aller Wagen feststellen, die im Umkreis von, sagen wir, zweihundert Metern parken«, fiel ich ihm ins Wort. Auch der Täter war ja vermutlich in einem Auto gekommen. »Versuchen Sie, mit allen Kontakt aufzunehmen. Mal sehen, wer davon nicht erreichbar ist.«

Reilinger winkte einen jungen Kollegen herbei und gab die nötigen Anweisungen. Der spurtete dienstbeflissen davon.

»Was ist mit Videoaufzeichnungen?«, fragte ich. »Hängt im Eingangsbereich des Gebäudes eine Überwachungskamera?«

Der Kollege wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht leuchtete so rot, als würde ihm demnächst der Kopf platzen. Nicht nur ihm zuliebe trat ich in den Schatten einer der Platanen, von wo wir das Gebäude und die Straße im Auge behalten konnten, ohne dabei gegrillt zu werden. Dieser Tag schien noch heißer werden zu wollen als seine Vorgänger.

»Im Eingang hab ich eine Kamera gesehen«, berichtete Reilinger eifrig. »Im Moment ist aber keiner da, der uns die Aufzeichnungen geben könnte. Ich hab als Allererstes die Leute in Sicherheit gebracht und allen gesagt, sie müssen sich zur Verfügung halten. Nicht, dass die einfach alle heimlaufen. Zum Glück ist da drin vor neun noch nicht so viel Betrieb. Sind alles Büros. Fünf oder sechs Firmen, und alle gehören dem Herrn Leonhard. Vor dem Notausgang an der Rückseite stehen auch zwei Leute von uns und passen auf. Aus dem Haus kommt jetzt keiner mehr ungesehen raus.«

»Ausgezeichnete Arbeit. Wir brauchen natürlich von sämtlichen Personen, die im Haus waren, Namen, Adressen und wenn möglich Handynummern.«

Stolz überreichte er mir eine mit krakeliger Hand auf kariertem Ringbuchpapier geschriebene Liste. Unter den erfolgreich in Sicherheit Gebrachten befand sich leider auch der Hausmeister, stellte sich heraus. Dessen Handynummer nicht verzeichnet war. Er befand sich auch nicht in der immer noch größer werdenden Menschentraube jenseits der Absperrung.

»Ich hab den aber nicht fortgeschickt!«, versicherte Reilinger eilig. »Ich hab den Mann überhaupt nicht gesehen.«

Balke machte sich auf den Weg, um den Hausmeister aufzuspüren, der hier Facility-Manager genannt wurde.

»Was wissen Sie über diesen Herrn Leonhard?«, fragte ich den stämmigen Hauptkommissar, dessen Gesichtsfarbe sich allmählich wieder dem gesunden Bereich näherte.

»Dass er ein sehr angesehener Mann ist bei uns in Ladenburg.«

»Ladenburg?«

»Da wohnt er«, verkündete Reilinger stolz. »Und ich wohn da auch.« Er war in dem pittoresken Städtchen zwischen Heidelberg und Mannheim aufgewachsen, das die Römer vor fast zweitausend Jahren gegründet hatten.

»Erster Vorsitzender vom Tennisclub ist er und Ehrensenator vom Karnevalsverein, und sogar für die nächste Gemeinderatswahl will er sich aufstellen lassen, heißt es. Also, meine Stimme kriegt er. Wissen Sie, der Herr Leonhard hat viele Arbeitsplätze geschaffen in der Region und Aufträge für die Bauindustrie. Das halbe Viertel hier hat er gebaut, zum Beispiel, nicht nur das Haus da drüben, wo er jetzt sein Büro hat. Und er spendet auch viel, wo Not am Mann ist. Für die Sanierung von der Mannheimer Kunsthalle hat er fünf Millionen springen lassen! Weil ihm die Kunst so am Herzen liegt. Der Herr Leonhard, wissen Sie, der ist ein Macher. Seine Firma hat er praktisch aus dem Nichts aufgebaut. Der ist nicht reich auf die Welt gekommen, wie so viele, die’s angeblich zu was gebracht haben. Der hat auch viel strampeln müssen …«

»Wo liegt denn sein Büro?«, unterbrach ich die Lobeshymne des offenkundigen Leonhard-Fans.

»Ganz oben, logisch, Chefetage. Wo genau, weiß ich auch nicht.«

Hinter der Absperrung wurden Umleitungsschilder aufgestellt, sah ich, um den nicht enden wollenden Strom von Autos zu kanalisieren. Ich beobachtete, wie ein uniformierter Kollege in schwarzer, schusssicherer Weste zu einem am Straßenrand gegenüber parkenden Mercedes lief, einstieg und zügig wegfuhr. Jemand hielt das Absperrband hoch, die Menge bildete bereitwillig eine Gasse, und ein glatzköpfiger Besitzer nahm seinen glänzenden Wagen freudestrahlend in Empfang.

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, wollte Reilinger wissen. »Übernehmen Sie das jetzt?«

»Der Fall liegt ab sofort bei uns. Wer hat Sie eigentlich alarmiert? Der müsste den Täter ja gesehen haben.«

»Ein Herr Bruckner, der müsste da drüben irgendwo …«

Reilinger verschwand und kam Sekunden später zurück mit einem etwa dreißigjährigen Mann in schwarzem Rollkragenpulli, schwarzer Bügelfaltenhose und noch schwärzeren Schnürschuhen im Schlepptau.

Bruckner drückte markig meine Hand. Sein kurz geschnittenes und auf Scheitel frisiertes Haar war so friesenblond wie das von Sven Balke. Er trug eine kantige Brille mit dickem, schwarzem Rand.

»Er hat sogar noch kurz mit der verletzten Sekretärin reden können, bevor sie in Ohnmacht gefallen ist«, erklärte Reilinger stolz.

Bruckner sah ständig um sich, als fürchtete er, der Geiselnehmer oder sonst irgendjemand könnte plötzlich auf ihn zu schießen beginnen.

»Ja, also«, begann er mit überraschend heller und überhaupt nicht zu seinem männlichen Auftritt passender Stimme. »Um kurz nach halb neun ist es g-gewesen. Ich war heute sehr früh im Büro, halb sieben schon. Musste noch was für A-Alfi vorbereiten … a-also, Alfred, mein Chef, Alfred Leonhard. Wir d-duzen uns alle in der Firma. Für einen wichtigen K-Kundentermin um neun.«

Der Zeuge neigte ein wenig zum Stottern. Vielleicht nur, wenn er – wie gerade jetzt – aufgeregt war.

Gegen halb neun, plus minus fünf Minuten, hatte er gehört, wie die Chefsekretärin, Veronika Zöpfle, ihr Büro betreten hatte. Er selbst hatte kurz zuvor ausnahmsweise und vielleicht zu seinem Glück die Tür zugemacht.

»Sonst ist bei uns ja open office, aber … ich … Und auf einmal hat sie einen Schrei losgelassen, die Veronika. Einen Schrei, der mir durch Mark und B-Bein gegangen ist. Und dann hat es geknallt, und dann hat es im Flur so komisch g-gerumpelt. Und wie ich die Tür aufreiße, da liegt sie da. Erst habe ich gedacht, sie ist tot. Ich habe echt gedacht, die Veronika ist tot, wie sie da so gelegen hat. Der Knall, das war natürlich ein Schuss, das war mir klar, und es hat auch so gerochen, als hätte wer geschossen, und die Veronika ist getroffen, habe ich g-gedacht, und wenn ich nichts mache, dann verblutet sie v-vielleicht.«

»Den Täter selbst haben Sie nicht gesehen?«

»Der muss da schon in Alfis Büro gewesen sein. Mein Büro liegt genau g-gegenüber von dem von der V-Veronika. Normalerweise haben wir open office, wie gesagt, aber vorhin, ich hatte die Tür zugemacht, weil ich privat … na ja … t-telefonieren musste ich. Meine F-Freundin, es ist b-bisschen k-kompliziert zurzeit …«

Ich versuchte, meinen Leidensgenossen in Liebesdingen wieder aufs richtige Gleis zu locken: »War Frau Zöpfle ansprechbar?«

»Das war sie. Anfangs wenigstens. Sie hat die Augen aufgemacht und mich so komisch angeguckt. Bisschen schräg irgendwie, wie wenn die Pupillen nicht recht wüssten, wohin sie gucken sollen. ›Pistole‹, hat sie g-geflüstert. Sonst habe ich nichts verstanden. Aber sie hat es zwei- oder dreimal deutlich gesagt: ›Pistole‹, da bin ich mir sicher.«

Bruckner warf einen nervösen Blick auf seine goldene, ultradünne und vermutlich nicht billige Armbanduhr mit selbstverständlich schwarzem Lederarmband. Er konnte mir auch zeigen, wo genau sich Leonhards Büro befand. Praktischerweise standen wir direkt darunter. »Ganz oben rechts, die ersten zwei Fenster, das ist ein Lagerraum oder so etwas. Die nächsten acht Fenster, das ist das Chefbüro, und die nächsten zwei Fenster, das ist das Vorzimmer. Mein B-Büro ist auf der a-anderen Seite.«

»Frau Zöpfle war also schon in ihrem Büro, als der Täter kam?«

»Genau. Die Tür zwischen Vorzimmer und Alfis Büro ist zu gewesen, das konnte ich vom Flur aus sehen. Dabei steht die sonst auch immer offen. Wenn er nicht g-gerade wichtigen B-Besuch hat, natürlich. Und drinnen, also in Alfis Büro, da haben sich zwei angebrüllt. Und dann hat’s noch mal geknallt …«

Und dann hatte Bruckner die verletzte Sekretärin in den glücklicherweise noch offen stehenden Lift geschleift und die Polizei gerufen.

»Dann haben Sie die Stimme des Täters gehört?«

»Hm. Ja. Muss wohl.«

»Ist er eher jung oder alt?«

»K-Kann ich nicht sagen, sorry. Ich habe auch gar nichts verstehen können, überhaupt nichts. Nur einmal, da hat Alfi ›Scheiße!‹ gebrüllt. Aber das ist auch alles gewesen, was ich verstanden habe.«

»Aber es war ein Mann?«

»Denke schon, ja. Doch, wahrscheinlich ein Mann.«

»Herr Leonhard hat aber eher nicht ängstlich geklungen?«

»Ach, wissen Sie, Alfi ist nicht so leicht zu erschrecken.«

»Hat der Täter Dialekt gesprochen oder Hochdeutsch?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen, sorry. Das ist alles so furchtbar schnell gegangen. Ich habe Gebrüll gehört, Alfi hat regelrecht getobt. Und Veronika hat am Boden gelegen mit verdrehten Augen, und – na ja, man ist nicht besonders konzentriert, wenn um einen herum geschossen wird.«

Wütend hatte Alfred Leonhard also geklungen.

»S-sauwütend sogar. Und dann hat es noch mal g-geknallt, und dann ist es still gewesen, und dann ist endlich die Aufzugtür zugegangen.«

»Denken Sie, er ist verletzt?«

Bruckner zögerte mit der Antwort. Sah schon wieder auf seine goldene Uhr. »Geschrien hat er nicht. Es hat auch nicht gerumpelt, als wäre er umgefallen. Aber ich habe auch wirklich nicht groß gelauscht, ehrlich gesagt. Ich habe die Veronika in den Lift geschleppt, da ist sie schon nicht mehr bei Besinnung gewesen, und habe gehofft, dass bald wer kommt. Ist kein tolles Gefühl zu wissen, ein paar M-Meter von dir ist einer mit einer K-Knarre, der ja wohl nicht mehr alle Latten im Zaun hat.«

Mein Handy unterbrach unser Gespräch. Es war Klara Vangelis: »Wir haben einen Mordfall an der Raststätte Hardtwald West. Das Opfer ist männlich, Alter zwischen dreißig und vierzig, leider keine Papiere.«

Zwei gelb blinkende Abschleppwagen kamen mit heulenden Motoren angerast, mussten wie alle der Umleitung folgen und um den Block fahren.

»Todesursache?«

»Ein Kopfschuss aus kurzer Entfernung. Mitten in die Stirn.«

Das klang eher nach Hinrichtung als nach Raubmord.

»Der Tod muss nachts zwischen zwei und drei Uhr eingetreten sein. Vom Täter haben wir bisher keine Spur. Zeugen scheint es nicht zu geben.«

Und ich hatte mich auf eine ruhige Woche gefreut …

Die Abschleppwagen tauchten links von mir wieder auf, bremsten scharf, und die Fahrer machten sich daran, die beiden letzten noch verbliebenen Fahrzeuge am Straßenrand zu entfernen, deren Halter offenbar auf die Schnelle nicht zu finden waren.

»Was ist aus den Kunden geworden, die um neun kommen wollten?«, fragte ich Bruckner, der sich inzwischen eine vornehm aussehende braune Zigarette angesteckt hatte.

»Die habe ich gleich angerufen, als klar war, dass der Termin platzt. Jetzt sind sie wieder im Hotel. Sind ja zum Glück pflegeleicht, diese Asiaten. Kein Vergleich mit den Russen. Oder den Amerikanern.«

Er war so etwas wie Leonhards persönlicher Assistent, erklärte er mir. Und auch der Firmenchef war heute früher als sonst im Büro gewesen. »Wenn dieser Koreadeal hinhaut, das wird ein Zig-Millionen-Projekt.«

Balke kam zurück. »Keine Ahnung, wo der Herr Facility-Manager sich versteckt«, verkündete er missmutig. »Seine Handynummer weiß anscheinend keiner.«

Das Gebäude war ein fantasielos gestalteter Zweckbau. Die Außenwände waren hellgrau gestrichen, die Fensterrahmen – immerhin ein Hauch von Originalität an dieser architektonischen Fehlleistung – dunkelrot. Im Foyer befand sich eine kleine Rezeption, stellten wir fest, als wir durch die weit offen stehenden Glastüren ins angenehm kühle Innere traten. Die Rezeption schien jedoch auch dann unbesetzt zu sein, wenn das Gebäude nicht gerade evakuiert war.

»Und wieder erfolgreich eine Stelle wegrationalisiert«, kommentierte Balke sarkastisch.

Auf dem aus goldbraunem und sorgfältig poliertem Holz gefertigten Tresen stand lediglich ein einsames Telefon neben einem Keramikschälchen voller bunter Bonbons und einer in Folie eingeschweißten Liste mit Namen, Telefon- und Raumnummern. Ganz unten war auch der Hausmeister verzeichnet. Dort fanden wir neben der vierstelligen internen Nummer auch seine Handynummer, die Balke umgehend in sein Smartphone tippte. Die oberste Zeile der Liste lautete: »Sekretariat Herr Leonhard – V. Zöpfle.«

Ansonsten waren in dem nach Putzmittel riechenden Foyer die üblichen großen Pflanzen in weißen Hydrokulturkübeln zu besichtigen. In einer schattigen Ecke stand eine wuchtige Sitzgruppe aus schwarzem Leder. Auf dem Tisch lagen Prospekte, die offensichtlich jeden Morgen ordentlich auf Stapel sortiert wurden. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand hing zwischen den beiden Aufzügen tatsächlich eine Videokamera, die uns dumm anglotzte.

Balke ließ sein Handy sinken und schimpfte: »Schon wieder kein Empfang!«

Kurz überlegte ich, ob wir nach oben fahren sollten, um uns auch dort ein wenig umzusehen. Aber erstens trugen wir keine Schutzwesten, und zweitens würden wir dort vermutlich nichts weiter zu sehen bekommen als einen langen, menschenleeren Flur mit vielen offen stehenden Türen rechts und links.

An der zartgelb gestrichenen Wand hinter dem Empfangstresen hingen drei abstrakte Gemälde in schrillen Farben, die offensichtlich zusammengehörten.

»Mutig«, fand Balke, »so was da hinzuhängen, wo jeder rein und raus kann.«

Ob die Bilder wertvoll waren, wussten wir nicht. Reproduktionen waren es jedenfalls keine.

Wir verließen das Gebäude wieder, hielten uns draußen dicht an der Wand, um von oben nicht gesehen zu werden. Durch die Bäume hatten wir – außer in den anderthalb Sekunden, in denen wir die Fahrbahn überquerten – perfekten Sichtschutz. Balkes Smartphone hatte jetzt wieder Netz, und ich hörte ihn halblaut mit dem Hausmeister telefonieren. Schließlich nickte er mir befriedigt zu.

»Sitzt bei einem Kollegen im Haus gegenüber gemütlich beim Kaffee und hat noch gar nicht mitgekriegt, was hier los ist. Er kommt sofort, hat er versprochen.«

»Rufen Sie ihn bitte gleich noch mal an. Wir brauchen Pläne von dem Gebäude. Außerdem will ich wissen, was mit dieser Videokamera ist.«

»Die funktioniert, sagt er. Aber der Rekorder dazu steht blöderweise in Leonhards Vorzimmer.«

Und da kamen wir vorläufig wohl eher nicht ran. Ich wählte versuchsweise die Nummer des Sekretariats im achten Stock, aber es nahm wie erwartet niemand ab. Die Durchwahl zu Leonhards Schreibtisch hatte ich mir von Bruckner geben lassen, ebenso wie die Handynummer des Chefs sowie die seiner Ehefrau.

3

Im Schritttempo fuhr der Krankenwagen vor, den wir für den Krisenfall angefordert hatten. Reilinger wies dem Fahrer einen Stellplatz im Schatten und außerhalb des Sicht- und Schussfelds des Täters zu. Kurz darauf kurvte ein weißer Mercedes-Kastenwagen mit der Aufschrift einer tatsächlich existierenden Dossenheimer Wäscherei um die Ecke – unsere mit inzwischen schon wieder ziemlich veralteter Elektronik vollgestopfte mobile Einsatzzentrale. Balke dirigierte ihn neben uns.

Aus dem Führerhaus sprangen zwei dynamische, junge Kollegen, rissen die Hecktüren auf und begannen in routinierter Eile, Geräte einzuschalten, Computer hochzufahren, Monitore zurechtzurücken, lose gewackelte Stecker festzudrücken. Offenbar waren sie bereits informiert, worum es bei diesem Einsatz ging, denn sie stellten keine Fragen.

»Wird übel werden bei der Hitze«, meinte der größere der beiden. »Gut, dass wir wenigstens Schatten haben.«

»Hat die Kiste keine Klimaanlage?«

»Kaputt«, erwiderte er mit resigniertem Grinsen. »Wenn er nicht im Schatten steht, gibt die ganze schöne Elektronik in einer halben Stunde den Geist auf.«

Wir legten den Sprechfunkkanal fest, den wir benutzen würden, bis dieses Drama sein Ende gefunden hatte. Zwei kleine Videokameras auf massiven Stativen wurden am Straßenrand aufgebaut, die es uns erlaubten, die Fenster im achten Stock im Auge zu behalten, ohne aus dem Schatten treten zu müssen. Dort gab es momentan nicht allzu viel zu sehen, denn alle Außenjalousien waren heruntergelassen.

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