Die Logik des Misslingens - Dietrich Dörner - E-Book
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Die Logik des Misslingens E-Book

Dietrich Dörner

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Beschreibung

«Komplexität erzeugt Unsicherheit. Unsicherheit erzeugt Angst. Vor dieser Angst wollen wir uns schützen. Darum blendet unser Gehirn all das Komplizierte, Undurchschaubare, Unberechenbare aus. Übrig bleibt ein Ausschnitt – das, was wir schon kennen. Weil dieser Ausschnitt aber mit dem Ganzen, das wir nicht sehen wollen, verknüpft ist, unterlaufen uns viele Fehler – der Misserfolg wird logisch programmiert.» (Rheinischer Merkur) Seit Erscheinen der ersten Ausgabe 1989 hat sich «Die Logik des Misslingens» zum «Standardwerk des Querdenkens» für Psychologen, Kognitionswissenschaftler, Risikoforscher und Motivationstrainer entwickelt. Dass komplexe Systeme nicht nur individuelle Entscheidungen, sondern auch Dynamik und erfolgreiches Handeln in Gruppen maßgeblich beeinflussen, ist neu in dieser erweiterten Ausgabe.

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Dietrich Dörner

Die Logik des Misslingens

Strategisches Denken in komplexen Situationen

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Einige Beispiele

Das beklagenswerte Schicksal von Tanaland

Das nicht ganz so beklagenswerte Schicksal von Lohhausen

Tschernobyl in Tanaland

3. Die Anforderungen

Die Merkmale komplexer Handlungssituationen

Komplexität

Dynamik

Intransparenz

Unkenntnis und falsche Hypothesen

Stationen des Planens und Handelns

4. Der Umgang mit Zielen

Die Anforderungen des Umgangs mit Zielen und ihre Bewältigung

Globale Ziele und «Reparaturdienstverhalten»

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und die «freiwillige Wehrpflicht»

5. Information und Modelle

Realität, Modelle und Information

«Eins nach dem anderen!»

«Juden, Jesuiten und Freimaurer ... »

Primzahlen und Fremdenverkehr oder Moltke und der Waldbrand

«Von des Gedankens Blässe ... »

6. Zeitabläufe

Raum und Zeit

Seerosen, Reiskörner und Aids

Verfrühte Entwarnung?

Ulanen und Sternenkrieger

Laien und Experten

«23 ist eine gute Zahl!»

Räuber und Beute

Die Schmetterlinge von Kuera

7. Planen

«Ja, mach nur einen Plan ... »

Rumpelstilzchen

Aus Fehlern lernen? Das muss nicht sein!

8. Die Gruppe

Solidarität im «Musikzimmer»

Loyalität im «Jagdzimmer»

9. Was tun?

Das Neue Denken

Indianer sind die besseren Menschen!

Die Ursachen

Was tun?

Dank

Literaturverzeichnis

Register

1.Einleitung

Man war bei Laune. Lachend berichtete der promovierte Physiker: «Sie waren sich alle einig! So müsste es gehen! Der Bürgermeister hatte sowohl Bürgerinitiativen als auch den ganzen Stadtrat hinter sich, denn Verkehrsdichte, Lärm und Luftverpestung in der Innenstadt waren ganz einfach unerträglich geworden. So wurde das Tempolimit für den Autoverkehr auf dreißig Kilometer gesenkt, und ‹Verkehrsberuhiger› aus Beton sorgten für Folgsamkeit. Nur einige Schönheitsfehler hatte das Ergebnis: Die Autos fuhren jetzt im zweiten statt im dritten Gang, also lauter und abgasreicher; die zuvor zwanzigminütige Einkaufsfahrt dauerte jetzt dreißig Minuten, sodass die Zahl der die Innenstadt gleichzeitig beengenden Autos deutlich anstieg. – Ein Flop? Nein, denn nun war es so nervtötend geworden, dort einzukaufen, dass immer mehr Menschen es unterließen. Also doch der gewünschte Erfolg? Nein, denn die Verkehrsdichte sank zwar allmählich fast wieder auf den Ausgangswert; Lärm und Abgase blieben aber beträchtlich. Die eine Hälfte der Einwohner wohnte im Übrigen auf der ‹richtigen› Seite der Stadt und kaufte nun im nahe gelegenen Großmarkt vor der Nachbargemeinde ein – und zwar gleich für die ganze Woche. (Das hat sich seitdem als sehr praktisch herumgesprochen und wird aus diesem Grunde zunehmend praktiziert.) Zuvor florierende Geschäfte gerieten zum Kummer des entschlussfreudigen Bürgermeisters an den Rand der Wirtschaftlichkeit, die Steuereinnahmen sanken beträchtlich. Also zum Schluss ein folgenschwerer Reinfall, der die Gemeinde noch lange belasten wird.»

Das Schicksal dieser umweltbewussten norddeutschen Gemeinde ist ein Beispiel dafür, wie menschliche Planungs- und Entscheidungsprozesse schief gehen können, weil man Neben- und Fernwirkungen von Entscheidungen nicht genügend beachtet; weil man Maßnahmen zu stark dosiert oder zu schwach; weil man Voraussetzungen, die man eigentlich berücksichtigen sollte, nicht beachtet; und so weiter. Um richtiges Planen und Entscheiden ging es dem promovierten Physiker und dem diplomierten Volkswirt, die an einem schönen Sommermorgen mit mir über einen Gang des Gebäudes Feldkirchenstraße 21 der Universität Bamberg gingen. Die beiden Herren kamen von einem bekannten und großen deutschen Industrieunternehmen, und es war ihre Absicht, computersimulierte Planspiele, die wir entworfen hatten, auf ihre Eignung zum Einsatz bei der Nachwuchsschulung in ihrem Unternehmen zu prüfen. Das einleitende Gespräch galt natürlich allgemeinen Fragen der bekannten Unzulänglichkeit menschlichen Denkens und Handelns. Und natürlich war das Gespräch ein wenig von dem Hochmut geprägt, dass die Unzulänglichkeiten immer bei den anderen zu finden seien, nämlich bei dem Bürgermeister einer norddeutschen Gemeinde, bei den Managern eines Großbetriebes, die durch falsche Geschäftspolitik den Betrieb an den Rand des Ruins führen, bei Politikern, Verbandsleitern und ähnlichen Personen. Man selbst könnte es wahrscheinlich besser, wenn man nur mal rangelassen würde – so die unausgesprochene Prämisse.

Zwei Stunden später hatte sich die Laune merklich verschlechtert. Inzwischen hatten nämlich die beiden Herren ein Planspiel absolviert. Es ging darum, den Moros, die irgendwo in Westafrika leben, bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. Die Moros sind ein Stamm von Halbnomaden in der Sahelzone, die mit ihren Viehherden von Wasserstelle zu Wasserstelle ziehen und außerdem ein wenig Hirseanbau betreiben. Es geht ihnen nicht sonderlich gut. Die Säuglingssterblichkeit ist hoch, die Lebenserwartung insgesamt gering, aufgrund der spezifischen Wirtschaftsform treten immer wieder Hungersnöte auf, kurz: Ihre Situation ist bemitleidenswert. Nun sollte etwas für die Moros getan werden. Geld stand zur Verfügung. Man konnte etwas gegen die Tsetsefliege unternehmen, die den Rinderherden stark zusetzte. Die Tsetsefliege verbreitet die Rinderschlafkrankheit; diese Krankheit ist eine der wesentlichen Todesursachen der Rinder und verhindert eine Vergrößerung des Rinderbestandes. Man konnte einen Gesundheitsdienst für die Moros etablieren, den Hirseanbau durch Düngung und Wahl anderer Getreidesorten verbessern, man konnte tiefere Brunnen bohren und auf diese Weise durch bessere Bewässerung die Weidefläche vergrößern und vieles andere mehr. Natürlich fand das Planspiel nicht in der «richtigen» Sahelzone statt. Diese war vielmehr in einen Computer verlegt worden, der die Verhältnisse in Afrika «simulierte».

Der diplomierte Volkswirt und der Physiker machten sich mit Eifer an die Arbeit. Informationen wurden eingeholt, man betrachtete intensiv die Landkarte mit dem Gebiet der Moros, man fragte, erwog Möglichkeiten, verwarf Entscheidungen, plante neue Maßnahmen und kam schließlich zu bestimmten Entschlüssen. Diese Entschlüsse wurden dem Computer zugeführt, der sodann die Auswirkungen der Entscheidungen berechnete.

Die Jahre vergingen im Minutentempo; der Computer arbeitete gewissermaßen als Zeitraffer. Nach zwanzig (simulierten) Jahren und zwei (echten) Stunden war, wie gesagt, die Stimmung ziemlich trübe. Mit zurückhaltender, aber deutlicher Schärfe kommentierte der Physiker die Meldung des Simulationssystems über die schwindende Ergiebigkeit der Quellen und Brunnen im Lande der Moros: «Herr Kollege, ich war ja von vornherein der Meinung, dass diese exzessive Tiefbrunnenbohrerei zu nichts Gutem führen kann. Damals im Jahre 7 (der Simulation) hatte ich ja auch entschieden davor gewarnt!»

Mit nur wenig verhüllter Schärfe reagierte der Volkswirt: «Daran kann ich mich gar nicht erinnern! Sie gaben damals sogar noch Hinweise, wie man eine solche Tiefbrunnenbohrung möglichst effektiv ansetzen könne. Im Übrigen: Ihre Ideen über die Gestaltung des Gesundheitswesens bei den Moros haben sich ja auch nicht gerade als sehr intelligent erwiesen!»

Der Grund für diese Auseinandersetzung war der in der Tat desolate Zustand der Moros, deren Lebensbedingungen sich in den vergangenen zwanzig Jahren zunächst sehr deutlich verbessert hatten, um sich dann aber rapide zu verschlechtern. Die Anzahl der Moros hatte sich in den zwei Jahrzehnten verdoppelt. Dank der hervorragenden Gesundheitsfürsorge, die man eingerichtet hatte, war die Sterblichkeit stark gesunken, insbesondere die Säuglingssterblichkeit. Allerdings gab es im zwanzigsten Jahr kaum noch Rinder; denn die Weideflächen waren fast vernichtet. Zunächst hatten sich die Rinder stark vermehrt, da man die Tsetsefliege erfolgreich bekämpft hatte. Zugleich hatte man die Weideflächen stark vergrößert, indem man eine große Anzahl Tiefwasserbrunnen bohrte, durch die man das (zunächst) reichlich vorhandene Grundwasser nutzbar machte. Schließlich aber reichte die Weidefläche nicht mehr für die großen Herden: «Überweidung» trat ein; die Rinder fraßen vor Hunger die Graswurzeln; die Vegetationsfläche verminderte sich. Das Bohren weiterer Brunnen half nur kurzfristig und erschöpfte die restlichen Grundwasservorräte umso schneller. Schließlich befand man sich in einer ausweglosen Situation, die allein durch Hilfe von außen noch bewältigt werden konnte.

Wie konnte es dahin kommen? Natürlich handelte es sich bei den beiden akademisch vorgebildeten Herren nicht um Spezialisten der Entwicklungshilfe. Andererseits fühlten sie sich zunächst den Problemen völlig gewachsen und hatten die besten Absichten. Dennoch ging alles schief: Man bohrte Brunnen, ohne zu überlegen, dass Grundwasser eine schwer ersetzbare Ressource ist. Man kann diese Ressource gebrauchen, aber wenn sie weg ist, kriegt man sie nicht mehr wieder! – Man richtete ein effektives System der Gesundheitsfürsorge ein, ohne zu überlegen, dass sich daraus notwendigerweise eine Verlängerung der Lebenszeit, eine Verringerung der Säuglingssterblichkeit, also insgesamt eine Vermehrung der Bevölkerung ergeben würde. Man unterließ es daher, sich beispielsweise gleichzeitig zu den Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge Maßnahmen zur Geburtenregelung zu überlegen. Kurz gesagt: Man löste die anstehenden Probleme, ohne an die zu denken, die man durch die Problemlösungen neu erzeugte. Man hob gewissermaßen den Wagen aus dem einen Straßengraben heraus, um ihn gleich mit Schwung in den gegenüberliegenden hineinzuwerfen. All die klug überlegten Maßnahmen führten schließlich nur dazu, dass man am Ende vor der Notwendigkeit stand, eine erheblich angestiegene Anzahl von Menschen mit erheblich verringerten Ressourcen ernähren zu müssen. Alles war im Grunde noch viel komplizierter geworden als vorher. Hätte es keine Hilfe von außen gegeben, so hätte nun alles in einer großen Hungersnot geendet.

Vielleicht ist es wichtig anzumerken, dass das «Moro-Planspiel» nicht etwa irgendwelche «dirty tricks» enthält. Man braucht keine besonderen Fachkenntnisse, um mit der Planspielsituation operieren zu können. Alles, was sich ereignet, ist im Grunde ganz einfach und «selbstverständlich». Bohrt man Brunnen, so verbraucht man Grundwasser. Und wenn dieses nicht «nachgefüllt» wird (und wie sollte man am Südrand der Sahara in großem Umfang Grundwasser nachfüllen?), so ist es halt weg! Das ist sehr einfach einzusehen – hinterher! Die Betroffenheit durch die Misserfolge bei dem «Moro-Planspiel» erklärt sich gerade aus der Einfachheit der Effekte. Etwas nicht vorausgesehen zu haben, wozu es spezifischer Fachkenntnisse und komplizierter Gedankengänge bedurft hätte, macht niemanden betroffen. Anders aber ist es, wenn man Selbstverständlichkeiten übersieht. Und das war hier der Fall gewesen.

Die «Moro-Entwicklungspolitik» der beiden klugen Leute zeigt, welche Schwierigkeiten auch intelligente Menschen beim Umgang mit komplexen Systemen haben. Dabei waren der Volkswirt und der Physiker keineswegs schlechtere Planer als andere Personen. Der nachfolgende Zeitungsabschnitt zeigt, dass sie sich lediglich so verhielten, wie auch «Fachleute» sich in realen Situationen verhalten.

Hamburger Abendblatt, Sonntag 28./​29.12.1985

Experiment mit dem Hunger

Mit einem folgenreichen Fehlschlag von Entwicklungshilfe beschäftigen sich Tarina Kleyn und Jürgen Jozefowicz in ihrer Reportage «Wüstenland durch Menschenhand». (Sendung des ZDF am gleichen Tag): Das Rezept zur wirksamen Bekämpfung des Hungers in Teilen des Okavangodeltas im südlichen Afrika war einfach, aber kurzsichtig. Nach Plänen von Wissenschaftlern wurden die dort lebenden Wildtierherden von Nutztieren verdrängt und der karge Boden zur Produktion von Rindfleisch verwendet. Vorher bekämpfte man erfolgreich die Tsetse-Fliege, die auf bestimmte Rinderrassen tödliche Krankheiten überträgt.

Zuerst lief alles wie gewünscht, doch bald zogen Hunderte von Viehzüchtern in dieses Gebiet. Die Folge: Durch Überweidung wurde keines der Tiere satt, und als der Regen ausblieb, verfiel das ehemals fruchtbare Land in der Sonnenglut zu Sand und Staub.

Unsere Welt ist ein System von interagierenden Teilsystemen geworden. Zu Goethes Zeiten konnte es dem Bürger gleichgültig sein, ob «hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen». Heute muss uns derlei mit Besorgnis erfüllen, da die politischen Umstände und Entwicklungen auch der fernsten Erdregionen unmittelbar oder mittelbar auch uns betreffen.

In einer Welt von interagierenden Teilsystemen muss man in interagierenden Teilsystemen denken, wenn man Erfolg haben will. Der Frankenwald hat etwas mit Bamberg zu tun, weil Bamberg sein Trinkwasser von dort bezieht. Daher hat man im Frankenwald Talsperren gebaut und Fernwasserversorgungen etabliert. Bamberg ist nun ein relativ harmloser Partner. Frankfurt am Main aber senkt durch seinen Wasserverbrauch den Grundwasserpegel im Hohen Vogelsberg und im Hessischen Ried. Was gingen einen Bauern im Hohen Vogelsberg früher die Frankfurter an? Nichts, aber heute viel. Was gingen uns vor vierzig Jahren die Religionsstreitigkeiten innerhalb des Islams an? Scheinbar nichts! Dennoch hat es aber stets solche globalen Zusammenhänge gegeben. Heute lernen wir, dass wir sie mehr und mehr beachten müssen. Ob wir es wollen oder nicht: Wir müssen heute in globalen Zusammenhängen denken.

Allem Anschein nach ist aber die «Mechanik» des menschlichen Denkens in der Evolution einmal «erfunden» worden, um Probleme «ad hoc» zu bewältigen. Es ging um das Feuerholz für den nächsten Winter. Es ging um einen Plan, wie man eine Pferdeherde so treiben könnte, dass sie in eine Schlucht stürzte. Es ging um den Bau von Fallen für ein Mammut. Alle diese Probleme waren «ad hoc» und hatten meist keine über sich selbst hinausgehende Bedeutung. Der Bedarf an Feuerholz für eine Steinzeithorde unserer Vorfahren gefährdete nicht den Wald, genauso wenig wie ihre Jagdaktivitäten den Wildbestand gefährdeten.

Hier mag es auch immer einmal Ausnahmen gegeben haben. Es gibt Anzeichen dafür, dass bestimmte Tierarten in prähistorischer Zeit stark überjagt und vernichtet worden sind. Aber im Großen und Ganzen war es für unsere prähistorischen Vorfahren wohl nicht notwendig, in größeren Zusammenhängen zu denken. Der menschliche Geist spielte die Rolle eines Troubleshooters. Er wurde ausnahmsweise eingesetzt, um Situationen zu bewältigen, die mit Sitte und Tradition nicht zu bewältigen waren. Das Problem wurde bewältigt (oder auch nicht), und damit war es vorbei. Die Notwendigkeit, über die Situation hinauszudenken, die Notwendigkeit, die Einbettung eines Problems in den Kontext von anderen Problemen mitzubeachten, trat selten auf. Für uns dagegen ist eben dieser Fall die Regel. Wie steht es nun mit unseren Denkgewohnheiten? Wird unser Denken den Anforderungen eines «Denkens in Systemen» gerecht? Zu welchen Fehlern neigen wir, wenn wir nicht nur Probleme hier und jetzt zu lösen haben, sondern wenn wir Nebenumstände und Fernwirkungen mitberücksichtigen müssen?

Dieses Buch beschäftigt sich mit den Merkmalen unseres Denkens beim Umgang mit komplexen Problemen, die mit Neben- und Fernwirkungen behaftet sind. Ich werde beschreiben, welche Fehler, Sackgassen, Umwege und Umständlichkeiten auftreten, wenn Menschen versuchen, mit komplexen Problemsituationen umzugehen. Es geht aber nicht allein um das Denken. Denken ist immer eingebettet in den Gesamtprozess des psychischen Geschehens. Es gibt kein Denken ohne Gefühle. Man ärgert sich zum Beispiel, wenn man mit einem Problem nicht fertig wird. Ärger wiederum beeinflusst das Denken. – Denken ist eingebettet in den Kontext der Gefühle und Affekte, beeinflusst diesen Kontext und wird selbst wieder von ihm beeinflusst.

Denken ist auch immer eingebettet in das Wert- und Motivsystem einer Person. Man denkt meist nicht nur einfach so, sondern um bestimmte Ziele zu erreichen, die sich aus dem Wertsystem oder aus der aktuellen Motivation eines Individuums ergeben. Und hier gibt es Konfliktmöglichkeiten: «Ich bin gegen jede Art von Zwangsmaßnahmen!… Aber wenn nun manche, die mit dem Aids-Virus infiziert sind, sich partout weigern, sich bei ihren sexuellen Kontakten in Acht zu nehmen?» – Der Konflikt zwischen hoch geschätzten Werten und den für notwendig erachteten Maßnahmen kann zu den merkwürdigsten Verrenkungen des Denkens führen: «Bomben für den Frieden!» Der ursprüngliche Wert wird in sein Gegenteil verkehrt.

«Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas!». («Wenn auch die Kräfte fehlen, so ist doch die Absicht zu loben!») Man könnte einwenden: «Was willst du denn immer mit dem Denken? Darauf kommt es doch gar nicht an! Wesentlich sind die Motive und die Absichten, die hinter dem Denken stehen. Das Denken hat nur eine dienende Funktion. Es hilft bei der Realisierung von Absichten. Wenn du aber den Missständen unserer Welt auf den Grund gehen willst, musst du nach den verborgenen Motiven und Absichten fragen!»

Eine solche Auffassung wird auf breite Zustimmung stoßen. Besonders im Bereich der politischen Argumentation ist man geneigt, Absichten und Motive vom Denken und Handeln zu trennen. Jüngst las man in der Zeitung über eine Untersuchung der politischen Auffassungen deutscher Studenten. Da hieß es, dass die Auffassung, die Idee des Kommunismus an sich sei gut, nur mit der Realisierung hapere es leider, bei den Studenten auf breite Zustimmung gestoßen sei. Die «guten Absichten» bleiben in ihren Augen lobenswert, auch wenn die Folgen des Versuchs, diese Absichten in die Realität umzusetzen, eher negativ sind.

(Natürlich geht es hier nicht darum, den Entwurf eines neuen Automotors mit dem Entwurf einer Gesellschaft gleichzusetzen. Letzteres ist – falls es überhaupt möglich sein sollte – ungleich komplizierter! Es geht mir aber darum, auch im letzteren Falle zu fordern, dass neben die gute Absicht auch Wissen und Analyse zu treten haben.)

Wenn wir unsere politische Umgebung betrachten, springt ins Auge, dass wir von «guten Absichten» geradezu umstellt sind. Es kommt aber auf die guten Absichten allein nicht an; sie müssen begleitet sein von dem Vermögen, sie zu realisieren. Das Hegen guter Absichten ist eine äußerst anspruchslose Geistestätigkeit. Mit dem Entwerfen von Plänen zur Realisierung der hehren Ziele sieht es anders aus. Dafür braucht man Intelligenz. Die Hochschätzung der guten Absichten allein ist keineswegs angebracht, im Gegenteil!

Meines Erachtens ist die Frage offen, ob «gute Absichten + Dummheit» oder «schlechte Absichten + Intelligenz» mehr Unheil in die Welt gebracht haben. Denn Leute mit guten Absichten haben gewöhnlich nur geringe Hemmungen, die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu nehmen. Auf diese Weise wird Unvermögen, welches sonst verborgen bliebe, gefährlich, und am Ende steht dann der erstaunt-verzweifelte Ausruf: «Das haben wir nicht gewollt!»

Ist es nicht oft gerade das Bewusstsein der «guten Absichten», welches noch die fragwürdigsten Mittel heiligt? Den Leuten mit den «guten Absichten» fehlt auf jeden Fall das schlechte Gewissen, welches ihre Mitmenschen mit den schlechteren Absichten vielleicht doch manchmal ein wenig am Handeln hindert. Es ist oft gesagt, aber selten gehört worden, dass der abstrakte Wunsch, allen Menschen das Paradies zu bereiten, der beste Weg zur Erzeugung einer konkreten Hölle ist. Das hängt mit den «guten Absichten», die auch ohne jede Kompetenz zum Handeln antreiben, eng zusammen. (Denn das Gute muss man natürlich durchsetzen, koste es, was es wolle!)

«Wir wollen eine Ordnung der Dinge, in der alle niedrigen und grausamen Leidenschaften gefesselt werden, alle wohltätigen und großzügigen Leidenschaften durch die Gesetze geweckt werden; in der der Ehrgeiz besteht, Ruhm zu erwerben und dem Vaterland zu dienen; in der Vornehmheit nur aus der Gleichheit entsteht; in der der Bürger dem Magistrat, der Magistrat dem Volk und das Volk der Gerechtigkeit unterworfen ist; in der das Vaterland das Wohlergehen jedes Einzelnen sichert und jeder Einzelne mit Stolz die Prosperität und den Ruhm des Vaterlandes genießt; in der alle Seelen wachsen durch den ständigen Austausch republikanischer Gefühle und das Bedürfnis, die Achtung eines großen Volkes zu verdienen; in der die Künste der Schmuck der Freiheit sind, die sie veredelt, der Handel die Quelle des öffentlichen Reichtums ist und nicht nur des riesigen Überflusses einiger Häuser.

Wir wollen in unserem Lande den Egoismus durch die Moral ersetzen, die Ehre durch Rechtschaffenheit, die Gewohnheiten durch Prinzipien, die Höflichkeit durch Pflichten, die Tyrannei der Mode durch die Herrschaft der Vernunft, die Verachtung des Unglücks durch die Verachtung des Lasters, die Unverschämtheit durch den Stolz, die Eitelkeit durch Seelengröße, die Liebe zum Geld durch die Liebe zum Ruhm, die gute Gesellschaft durch die guten Menschen, die Intrige durch den Verdienst, den Schöngeist durch das Genie, den Schein durch die Wahrheit, die Langeweile der Wollust durch den Reiz des Glücks, die Kleinheit der Großen durch die Größe der Menschen, ein leutseliges, leichtfertiges und klägliches Volk durch ein großmütiges, mächtiges und glückliches Volk, d.h., alle Lächerlichkeiten der Monarchie durch alle Tugenden und Wunder der Republik…

… und während wir unser Werk mit unserem Blut ausbreiten, können wir zumindest die Morgenröte des universellen Glücks erstrahlen sehen… Das ist unser Ehrgeiz, das ist unser Ziel.»

Das klingt gut. Liest man aber ein wenig genauer, so mag allerdings so manche Bedenklichkeit auftauchen. Was werden beispielsweise diejenigen zu diesem Dokument sagen, die die Leidtragenden der Ausbreitung dieser Ideen «mit dem Blute» sind? Sehen sie auch die «Morgenröte universellen Glücks»?

Wird der Handel tatsächlich «die Quelle des öffentlichen Reichtums» sein, wenn man die Antriebsfeder des privaten Egoismus (nämlich das Streben für den «Überfluss» des eigenen Hauses) daraus entfernt?

Könnte es nicht sein, dass derjenige, dessen einziger Ehrgeiz tatsächlich aus dem Bedürfnis besteht, «Ruhm zu erwerben und dem Vaterland zu dienen», gegenüber anderen, die dieser Ehrgeiz nicht in so starkem Ausmaß beseelt, das Gefühl bekommt, ebendeshalb «vornehmer» zu sein? Denn er tut das, was er soll, andere nicht. Und da «Vornehmheit nur aus der Gleichheit» besteht, sollte er also nicht auf die Idee kommen können, besonders «gleich» zu sein?

Alle Tiere sind gleich! Manche aber sind besonders gleich!» So beschrieb George Orwell in der «Farm der Tiere» die zweite Fassung des revolutionären Codex der revolutionären Tiere. – Orwell hat wohl gut verstanden, was die Folgen solcher Zielsetzungen sein können, wie sie oben als «Prinzipien politischer Moral» formuliert wurden.

Humanität, die in ihrem eigenen Namen zur Inhumanität verkommt! Und der Grund dafür? Hier sollte man sich vielleicht an unseren Physiker und unseren Volkswirtschaftler erinnern, die den Moros eine glückliche Zukunft bescheren wollten. Und wie ging es aus? Man will, und dann macht man, und dann geht es nicht. Wo liegen die Ursachen des Misserfolgs? Natürlich nicht in einem selbst! Nicht an der eigenen Kurzsichtigkeit und der mangelnden Übersicht scheiterte der gute Plan. Wie sollte er denn? Man hatte doch die besten Absichten! Es liegt an dem anderen! Der hat’s einem vermurkst! Der hat die blödsinnige Idee mit den Tiefwasserbrunnen gehabt! Man kann offensichtlich ganz leicht im Labor erzeugen, was in der Realität viel fatalere Konsequenzen hat.

Die zitierten «Prinzipien politischer Moral» stammen übrigens von Maximilien Robespierre, in dessen «Regierungszeit» Ende 1793 und zu Beginn des Jahres 1794 die Schreckensherrschaft der Guillotine im revolutionären Frankreich ihren Höhepunkt erreichte. Zufall?

Geschichtsabläufe sind labyrinthisch kompliziert. Jene einfache Denkfigur: «Ich habe die besten Absichten gehabt, dennoch hat nichts geklappt! Also muss ein anderer schuld sein», ist zu einfach und erklärt nicht alles!

Vom Zusammenhang des Denkens mit dem Fühlen und Wollen bei der Lösung komplizierter Probleme handelt dieses Buch. Ich werde über die Ergebnisse von Experimenten berichten, die wir unternommen haben, um die Merkmale menschlichen Planens und Entscheidens in komplexen Situationen festzustellen. Wir haben uns bei diesen Experimenten einer spezifischen Methode bedient. An sich müsste man zur Untersuchung des Planens und Entscheidens in komplexen Situationen natürlich in die Realität schauen. Man müsste in großem Umfang die Planungs- und Handlungsaktivitäten realer Politiker, Verbandsmanager, Firmenchefs untersuchen. Das aber hat seine Schwierigkeiten. Man erhält so natürlich nur Einzelfälle, die man schlecht verallgemeinern kann. Außerdem sind solche Fälle realer Entscheidungen meist nicht gut dokumentiert, und ihr realer Ablauf ist schlecht oder gar nicht rekonstruierbar. Nicht selten sind die Berichte über solche realen Abläufe unabsichtlich verzerrt oder sogar absichtlich verfälscht.

Diese Schwierigkeiten, das Denken in realen Situationen zu untersuchen, überwanden wir auf folgende Weise: Wir verlegten die Realitäten in den Computer. Die Computertechnik bietet die Möglichkeit, komplizierte Realitäten zu simulieren. Der Computer kann eine Kleinstadt simulieren oder auch einen Gartenteich mit seiner ganzen Physik und Chemie, seiner Flora und Fauna. Der Computer kann auch komplizierte politische Entscheidungssituationen simulieren. Man hat im Computer ein Werkzeug, um fast beliebig komplexe Situationen nachzuahmen. Dies bietet für die Psychologie die Möglichkeit, Prozesse experimentell zu studieren, die bislang nur in Einzelfällen beobachtbar waren. Mithilfe computersimulierter Szenarios kann man das Verhalten von Versuchspersonen, die sich in einer komplizierten politischen Situation befinden, genau beobachten und protokollieren.

Die «großen» Ereignisse dieser Welt, die großen Entscheidungen sind immer einzigartig. Man kann «hinterher» lange darüber räsonieren, was diesen oder jenen zu dieser oder jener Entscheidung gebracht haben mag. Herauszufinden aber, wie es wirklich war, ist streng genommen unmöglich. Die Verwendung von Computerszenarios bringt hier Abhilfe.

Sicherlich hat eine solche Szenario-Situation immer Spielcharakter. Eine Computerspielsituation ist keine Ernstsituation – so sollte man meinen. Tatsache aber ist, dass unsere Versuchspersonen unsere «Spiele» meist sehr ernst nahmen und mit großer Betroffenheit die Effekte ihrer eigenen Maßnahmen zur Kenntnis nahmen. «Spiele» können sehr ernst genommen werden – wer wüsste das nicht schon von der sonntäglichen Monopoly-Runde am Familientisch.

Aber ich möchte hier nicht vorgreifen. Die Lektüre dieses Buches selbst wird Anregungen genug zum Nachdenken darüber geben, was man nun an den Ergebnissen ernst nehmen sollte und was nicht. Im Hinblick auf die düsteren Parallelen zu tatsächlichen Ereignissen fragt es sich zum Beispiel, ob man es als «makabren Gag» werten sollte, wenn eine Versuchsperson beim Planen von Sanierungsmaßnahmen für eine bankrotte Fabrik in einem Simulationsspiel erwägt, jeden Arbeiter, an dessen Maschine sich Fehler zeigen sollten, «wegen Sabotage» erschießen zu lassen.

Die Verwendung von computersimulierten Realitäten macht es möglich, die Hintergründe von Planungs-, Entscheidungs- und Urteilsprozessen, die sich bislang der direkten Beobachtung entzogen, sichtbar zu machen. Auf diese Weise lassen sich die psychologischen Determinanten solcher Prozesse leichter ausfindig machen als durch die nachträgliche Erforschung solcher Prozesse in der «richtigen» Realität. Wir haben in den letzten Jahren solche «Computerspiele» in größerem Umfang verwendet, um Planungs- und Entscheidungsprozesse von Individuen und von Gruppen zu studieren. In diesem Buch möchte ich einige unserer Ergebnisse vorstellen und interpretieren. Ich meine, dass die Ergebnisse einige psychologische Hintergründe menschlichen Planens und Entscheidens aufhellen.

Im Hinblick auf die vielfältigen Probleme unserer Welt wird oftmals ein «Neues Denken» gefordert. Frederic Vester (1984) fordert ein «vernetztes Denken», welches die vielfältigen Interaktionen der Teilsysteme unserer Welt in Rechnung stellt.

Andere Autoren fordern eine Besinnung auf östliche Weisheit, die es irgendwie erlauben soll, mit den Problemen der Ökologie, der Energiesicherung, des Wettrüstens, des Terrorismus fertig zu werden.

Man wird in diesem Buche viele Beispiele für ein «nicht vernetztes» Denken finden. Und man wird auch finden, dass die Gründe dafür oft recht einfach und ohne alle «östliche Weisheit» zu beheben sind.

Vielleicht hilft, was in diesem Buch vorgetragen wird, einige Probleme mit ein wenig mehr Vernunft zu betrachten.

2.Einige Beispiele

Das beklagenswerte Schicksal von Tanaland

Tanaland ist ein Gebiet irgendwo in Ostafrika. Mitten durch Tanaland fließt der Owanga-Fluss, der sich zum Mukwa-See verbreitert. Am Mukwa-See liegt Lamu, umgeben von Obstplantagen und Gärten und von einer Waldregion. In und um Lamu wohnen die Tupis, ein Stamm, der von Ackerbau und Gartenwirtschaft lebt. Im Norden und im Süden gibt es Steppengebiete. Im Norden, in der Gegend um den kleinen Ort Kiwa, leben die Moros. Die Moros sind Hirtennomaden, die von Rinder- und Schafzucht und von der Jagd leben.

Tanaland existiert nicht wirklich. Wir haben das Land erfunden, es existiert im Computer, der die Landesnatur sowie die Populationen von Menschen und Tieren und ihre Zusammenhänge «simuliert».

Wir gaben 12Versuchspersonen die Aufgabe, für das Wohlergehen der in Tanaland lebenden Bewohner und für das Wohlergehen der gesamten Region zu sorgen. Den Versuchspersonen gaben wir diktatorische Vollmacht: Sie konnten alle möglichen Eingriffe machen, die (relativ) widerspruchslos durchgeführt wurden. Sie konnten Jagdmaßnahmen anordnen, die Düngung der Felder und Obstplantagen verbessern, sie konnten Bewässerungssysteme anlegen, Staudämme bauen, sie konnten die gesamte Region elektrifizieren und durch den Ankauf von Traktoren mechanisieren, sie konnten Maßnahmen zur Geburtenkontrolle einführen, die medizinische Versorgung verbessern und vieles andere mehr. Insgesamt hatten die Versuchspersonen sechsmal die Gelegenheit, zu von ihnen frei gewählten Zeitpunkten Informationen zu sammeln, Maßnahmen zu planen und Entscheidungen zu treffen. Sie sollten mit diesen sechs Eingriffspaketen das Schicksal von Tanaland für eine Zeitdauer von zehn Jahren bestimmen. Zu jedem der sechs Eingriffszeitpunkte waren so viele Maßnahmen möglich, wie die Versuchspersonen nur wollten. Natürlich konnten die Versuchspersonen in jeder neuen Eingriffsphase die Ergebnisse, die Erfolge und Misserfolge der vorausgehenden Phasen berücksichtigen, Entscheidungen rückgängig machen oder modifizieren.

Abb.1: Tanaland

Die Abbildung zeigt das Ergebnis der «Regierungstätigkeit» einer durchschnittlichen Versuchsperson. Man sieht, dass die Bevölkerungszahl der Tupis (der Ackerbauern) zunächst ansteigt. Das ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass das Nahrungsangebot verbessert und eine gute medizinische Versorgung etabliert wurde. Dadurch stieg die Zahl der Kinder, die der Todesfälle sank. Die Lebenserwartung wurde insgesamt erhöht. Nach den ersten drei Sitzungen glaubten die meisten Versuchspersonen, sie hätten das Problem gelöst. Das Gefühl, durch ihre Maßnahmen nur eine Zeitbombe geschärft zu haben, kam ihnen nicht. Durch die in den späteren Jahren fast notwendigerweise ausbrechenden Hungersnöte wurden sie vollkommen überrascht.

Bei unserer durchschnittlichen Versuchsperson der Abbildung 2 kam es etwa im 88.Monat zu einer nicht mehr auffangbaren Hungerkatastrophe, die allerdings die Vieh züchtenden Moros, die auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe verblieben waren, längst nicht in dem Ausmaß traf wie die Tupis, über welche die Segnungen der Kunstdüngung und der medizinischen Versorgung in vollem Umfang «hereingebrochen» waren. Es war das Übliche: Anstehende Probleme (hier: der Nahrungsmittelversorgung und der Gesundheitsfürsorge) wurden gelöst, ohne dass dabei die durch die neuen Problemlösungen entstandenen Fernwirkungen und damit die neuen Probleme, die durch die Problemlösungen erzeugt wurden, gesehen wurden.

Abb.2: Die Ergebnisse einer durchschnittlichen Versuchsperson in Tanaland

Die Lage entwickelte sich notwendigerweise katastrophal, weil einer linearen und asymptotisch einschwenkenden Steigerung des Nahrungsangebotes eine exponentielle Steigerung der Bevölkerungszahlen gegenüberstand. Die Abb.3 zeigt die Entwicklung dieser beiden Größen schematisch. Zunächst liegt das Nahrungsangebot aufgrund von Kunstdüngung, tieferem Pflügen mit Motorpflügen und Traktoren deutlich über der Nachfrage. Die Bevölkerungsentwicklung startet langsamer, wächst aber viel stärker an als das Nahrungsangebot. Dies führt notwendigerweise in die Katastrophe. (Man könnte eine solche Katastrophe auch «Malthuskatastrophe» nennen. Der britische Nationalökonom Thomas Robert Malthus [1766–1834] meinte, dass eine solche Katastrophe der gesamten Menschheit bereitet sei. Dies gilt heute als falsch, was aber lokale Fälle solcher Entwicklungen nicht ausschließt. Siehe hierzu z.B. Birg 1989.)

Abb.3: Die Katastrophenfalle: linearer Zuwachs der Ressourcen und exponentieller Zuwachs der Bevölkerung

Abb.4: Die Ergebnisse der einzigen erfolgreichen Versuchsperson in Tanaland

Es ging auch anders. Abb.4 zeigt die Ergebnisse einer anderen Versuchsperson. Man sieht, dass eine Stabilisierung der Verhältnisse in Tanaland durchaus möglich war. Die Versuchsperson erreichte (keineswegs ohne Schwierigkeiten) die Stabilisierung der Bevölkerungszahlen und insgesamt eine Anhebung des Gesamtniveaus des «Lebensstandards» ohne die zunächst sehr stark positive, dann aber negative Dynamik der Entwicklungen, welche die «durchschnittliche» Versuchsperson von Abb.2 erzeugte. Sowohl die Bevölkerungszahlen als auch die Nahrungsmittelversorgung stabilisierten sich bei der Versuchsperson von Abb.4 auf einem hohen Niveau.

Was waren die Gründe für Erfolg und Misserfolg? Sie lagen keineswegs darin, dass etwa die «gute» Versuchsperson über ein Fachwissen verfügte, welches den anderen Versuchspersonen abging. Tanaland enthielt keine Probleme, die nur mit einem spezifischen Fachwissen zu bewältigen waren. Die Gründe für Erfolg und Misserfolg muss man vielmehr in bestimmten «Denkfiguren» suchen. In einem System, wie es Tanaland darstellt, kann man nicht nur eine Sache tun. Man macht immer mehrerlei, ob man will oder nicht. Abb.5 zeigt ein Beispiel dafür. Die Erträge von Äckern und Gärten sind in Tanaland zunächst auch deshalb gering, weil Mäuse, Ratten und Affen sich in erheblichem Umfang an diesen Erträgen «beteiligen». Nahe liegend ist es also, diese «Schädlinge» durch Jagd, Fallen und Gift ordentlich zu dezimieren, um auf diese Weise die Erträge zu steigern. Diese Denkfigur ist in Abb.5 links dargestellt. Was in Wirklichkeit zusätzlich geschieht, sieht man in Abb.5 rechts. Die Dezimierung der Kleinsäuger und der kleinen Affen wirkt sich zwar zunächst einmal positiv auf die Acker- und Obstbauerträge aus. Zugleich aber können sich nun Insekten, die auch eine Beute der Kleinsäuger darstellten, ungehemmter vermehren. Und zugleich wird den großen Raubkatzen ein Teil ihrer Beute entzogen, worauf sich diese dem Viehbestand «zuwenden». Es ist also demnach möglich, dass die Dezimierung der Kleinsäuger und der Affen «unter dem Strich» nicht nur nichts nützt, sondern schadet. Die Nichteinrechnung solcher Neben- und Fernwirkung von Maßnahmen war ein Grund für den Misserfolg, den die meisten unserer Versuchspersonen beim Umgang mit Tanaland hatten.

Abb.5: Lineares Denken und das Geflecht der tatsächlichen Wirkungen

Es gibt aber noch andere Gründe: Abb.6 zeigt die relative Anzahl der drei Kategorien «Entscheidungen treffen», «über die allgemeine Lage und mögliche Entscheidungen nachdenken» und «Fragen stellen». Wir haben das «laute Denken» der Versuchspersonen während der sechs Versuchssitzungen nach diesen Kategorien ausgezählt. Man sieht, dass sich die relativen Häufigkeiten dieser Ereignisse über die Zeit verändern. In der ersten Sitzung überwiegt sehr deutlich die relative Häufigkeit der «Orientierungseinheiten», nämlich die Häufigkeit des Fragens und die Häufigkeit des Nachdenkens über die Situation und über mögliche Entscheidungen. Insgesamt entfallen etwa 56Prozent aller Protokollelemente auf diese beiden Kategorien. Etwa 30Prozent aller Protokollkategorien entfallen auf die unmittelbare Entscheidungstätigkeit. 14Prozent bleiben für andere Kategorien übrig.

Abb.6: Entscheidungen, Reflexionen und Fragen: die Entwicklung über die sechs Sitzungen

Nach der ersten Sitzung verändert sich aber das Verhaltensspektrum deutlich. Die relative Häufigkeit derjenigen Protokollelemente, die die Analyse der Situation betrafen, wird immer geringer und die relative Anzahl der Protokollelemente, die unmittelbar die Entscheidungen betreffen, wird immer größer. Offensichtlich entwickeln sich die Versuchspersonen in den sechs Sitzungen von zögerlichen «Philosophen» zu entscheidungsfrohen «Tatmenschen». Anscheinend glaubten die Versuchspersonen, durch ihre Nachfragen und durch das Reflektieren über die Situation ein genügend genaues Bild von der Situation bekommen zu haben, welches keiner Korrektur durch weitere Erfahrungssammlung – sei es durch weitere Informationssammlung, sei es durch die analytische Reflexion der Geschehnisse – mehr bedurfte. Sie glaubten, über die Methoden zu verfügen, die für den Umgang mit Tanaland notwendig waren – zu Unrecht!

Insgesamt wurden die Versuchssitzungen auch immer kürzer, wie sich deutlich an der Anzahl der Protokollelemente in den einzelnen Sitzungen zeigt. In Abb.7 sieht man die durchschnittliche Anzahl der Protokollelemente unserer 12Versuchspersonen in den 6Sitzungen. Man sieht, dass in der ersten Sitzung durchschnittlich fast 50Protokollelemente nötig waren, um das Verhalten der Versuchspersonen zu beschreiben. In der dritten bis fünften Sitzung waren nur noch durchschnittlich etwa 30Protokollelemente notwendig. Die Versuchspersonen hatten in den ersten Versuchssitzungen ihren Umgangsstil mit Tanaland entwickelt und änderten diesen nun nicht mehr sehr. Ihr schließlicher Misserfolg zeigt aber deutlich, dass mehr Nachdenken und weniger «Machen» durchaus am Platz gewesen wären.

Noch weitere Phänomene bei unseren Tanaland-Versuchspersonen sind bemerkenswert, wenn man nach den Gründen für Erfolg und Misserfolg Ausschau hält. So gab es Versuchspersonen, bei denen sich die Probleme der Situation gewissermaßen umdefinierten. Diese Versuchspersonen nahmen solche Umdefinitionen nicht bewusst vor. Sie unterliefen ihnen. Eine Versuchsperson beispielsweise hatte beschlossen, große Teile der Nehutu-Steppe zu bewässern. Zu diesem Zweck wurde mit enormem Aufwand ein Kanal vom Owanga-Fluss hinunter in die Nehutu-Steppe gebaut. In der Nehutu-Steppe selbst sollte ein ganzes System von kleineren Bewässerungskanälen für die Verteilung des so herangeführten Wassers sorgen. Es war ein großer Aufwand an Geld, Material und Arbeitskraft erforderlich, um dieses Projekt durchzuführen. Und dieses Projekt machte natürlich Schwierigkeiten. Mal war das Material nicht rechtzeitig zur Stelle, mal konnte der geplante Arbeitsaufwand nicht erbracht werden. Dies alles führte dazu, dass die Versuchsperson von diesem Problem völlig absorbiert wurde. Nachrichten (des Versuchsleiters), dass eine große Hungersnot ausgebrochen sei und viele Einwohner von Lamu bereits an Unterernährung litten oder daran gestorben seien, kommentierte die Versuchsperson mit «Ja, ja, aber wie steht es mit dem Bau des großen Seitenkanals in der Nehutu-Steppe?» – Auf die Hungersnot kam diese Versuchsperson nie mehr zurück.

Abb.7: Die Anzahl von Protokollelementen im Tanaland-Versuch

Natürlich ein Einzelfall! Tatsächlich ein Einzelfall? Die Parallelen zu Ereignissen in der «richtigen» Realität zeigten sich hier so deutlich, dass es uns wichtig erschien, die Bedingungen solcher Entwicklungen zu untersuchen.

Bei einigen Versuchspersonen kam es zu ausgesprochen zynischen Reaktionen auf wiederholte Meldungen über eine Hungersnot bei der (zum Glück nur elektronisch vorhandenen) Bevölkerung. Zunächst lösten solche Meldungen gewöhnlich Betroffenheit aus. Nach vergeblichen Bemühungen aber, mit dem Problem fertig zu werden, kam es zu Äußerungen wie: «Die müssen halt den Gürtel enger schnallen und für ihre Enkel leiden!» – «Sterben muss jeder mal!» – «Da sterben ja wohl hauptsächlich die Alten und Schwachen, und das ist gut für die Bevölkerungsstruktur!»

Natürlich kann man solche Reaktionen in einer Spielsituation für schnodderig-zynische Entgleisungen halten, die so ernst, wie sie klingen, nicht gemeint waren. Wiederum aber schienen uns die Parallelen zu tatsächlichen Ereignissen bedeutsam zu sein: Hilflosigkeit als Auslöser für Zynismus!

Neben Reaktionen der Hilflosigkeit und neben Fluchttendenzen fanden wir Versuchspersonen, die ganz offensichtlich die «Macht» über Tanaland genossen und sich sehr deutlich in die Quasi-Diktator-Rolle hineinzuleben verstanden. Mit in die Ferne gerichtetem Feldherrnblick befahl eine Versuchsperson: «50Traktoren zum Roden in die südlichen Wälder…!», und man sah fast, wie in der Vorstellung der Versuchsperson die Staubfahnen der nach Süden vorstoßenden Traktorenkolonnen aufstiegen.

In diesem Tanaland-Versuch, der nur mit 12Versuchspersonen stattfand und aus diesem Grunde kaum so etwas wie generalisierbare Ergebnisse erbrachte und der den Namen «Experiment» fast nicht verdient, wurde uns klar, wie Denken, Wertsysteme, Emotionen und Stimmungen bei der Handlungsorganisation interagieren. Und uns wurde klar, dass man dies alles zusammen erforschen müsste. Die Parallelen zu realen Ereignissen waren offenkundig:

Handeln ohne vorherige Situationsanalyse,

Nichtberücksichtigung von Fern- und Nebenwirkungen,

Nichtberücksichtigung der Ablaufgestalt von Prozessen,

Methodismus: Man glaubt, über die richtigen Maßnahmen zu verfügen, weil sich keine negativen Effekte zeigen,

Flucht in die Projektmacherei,

Entwicklung von zynischen Reaktionen.

Und weil unser Versuch so viel Ähnlichkeit mit der «real existierenden Realität» zeigte, erschien uns die Erforschung der Bedingungen solcher Reaktionen sehr bedeutsam.