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Die Entscheidung zur Vergebung verändert unser Leben. Dank ihr blicken wir mit offenem Herzen einer neuen Zukunft entgegen und lassen alte Verletzungen und negative Gefühle hinter uns. Mit inspirierenden Geschichten, tiefgehenden Erkenntnissen und praktischen Übungen zeigt dieses Buch, wie Vergebung nicht nur anderen, sondern vor allem uns selbst Frieden schenkt. Es ist eine Anleitung für innere Heilung und ein Leben mit neuer Kraft und Leichtigkeit.
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Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wilhelm Krautwaschl:
Die Macht des Vergebens
Alle Rechte vorbehalten
©2025 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Bastian Welzer
Satz: Anna-Mariya Rakhmankina
Lektorat: Saskia Blatakes
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 28 27 26 25
isbn: 978-3-99001-808-8
eisbn: 978-3-99001-809-5
WILHELM KRAUTWASCHL
Wie Vergebung unsere Seele befreit
Aufgezeichnet von Erich Fuchs
edition a
Prolog
KAPITEL 1 Vergebung als spirituelle ReiseWas Sie in diesem Buch erwartet
KAPITEL 2 Die Heilkraft des Vergebens
KAPITEL 3 Die grenzenlose Macht der Vergebung
KAPITEL 4 Die stärkste Widersacherin
KAPITEL 5 Vergebung als Kern der Spiritualität
KAPITEL 6 Warum die Gesellschaft das Vergeben verlernt hat
KAPITEL 7 Empörung und wie wir sie überwinden
KAPITEL 8 Um Verletzungen vergeben zu können, müssen wir sie erst anerkennen
KAPITEL 9 Die drei Hindernisse auf dem Weg zur Vergebung
KAPITEL 10 Die acht Schritte des Vergebens
KAPITEL 11 Die dunkle Seite der Vergebung
KAPITEL 12 Wie schaffen wir es, erst gar nicht wütend zu werden?
KAPITEL 13 Wenn wir uns selbst vergeben müssen
Epilog
Die Frau trug ein langes Kleid mit einem fröhlichen Muster in kräftigen Farben, das im Kontrast zu ihrem ernsten Gesichtsausdruck stand. Ihre kleinen schwarzen Locken glänzten im Licht der Abendsonne, deren schwache Strahlen durch das Fenster fielen. Aufrecht und steif saß sie auf ihrem Stuhl und blickte mit unbewegter Miene nach vorne. In ihren Augen lag eine Schwermut, die nicht zu ihrem Alter passte. Als lägen Jahrzehnte auf ihren Schultern, die sie noch gar nicht gelebt hatte. Der ältere Mann neben ihr blickte zu Boden. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, jede erzählte eine Geschichte, die er lieber vergessen hätte. Die Hände hatte er im Schoß gefaltet, als wolle er sich selbst beruhigen. Die beiden hätten ein Ehepaar sein können, wäre da nicht eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen gewesen, errichtet aus Bruchstücken ihrer Vergangenheit. »Ich muss ihm eine Zukunft ermöglichen«, sagte die Frau. Ihre Lippen zitterten.
Heute reden wir viel über Traumata und ihre Verarbeitung. In Ruanda, im Zentrum Afrikas, zwischen Tansania und der Demokratischen Republik Kongo gelegen, muss ein ganzes Land das Trauma eines Genozids verarbeiten. Im April 1994 begann das Grauen, das rund hundert Tage dauern sollte.
In Ruanda leben zwei große ethnische Gruppen: die Hutu und die Tutsi. Die Hutu stellten nicht nur die Mehrheit, sondern auch große Teile der Armee und der Verwaltung. Seit vielen Jahren befand sich die Regierung im Konflikt mit der Patriotischen Front, einer Guerilla-Bewegung, die vor allem aus Tutsis bestand. Im April 1994 kam es schließlich zu einem groß angelegten Angriff der Hutu. Verschont wurde niemand: Die Hutu griffen Nachbarn an, ihre Kollegen, ihre Freunde, solange sie Tutsi waren oder Hutu, die sich nicht an dem Massaker beteiligen wollten. Über 800.000 Menschen wurden ermordet, die meisten von ihnen Angehörige der Bevölkerungsminderheit der Tutsi sowie Menschen aus der kleinen Bevölkerungsgruppe der Twa. Die Täter vergewaltigten außerdem etwa 150.000 bis 250.000 Frauen. Neben Hutu-Soldaten, Polizisten und Milizen beteiligten sich auch zahlreiche Zivilisten an den Gewalttaten und Massakern. Dieses Blutbad hat, wie wir heute wissen, seine Wurzeln auch in der Kolonialgeschichte, die das ehemals enge Band und das friedliche Zusammenleben zwischen Hutu und Tutsi zerstörte.
Dreißig Jahre nach den Schrecken dieses Konflikts war ich im Sommer 2024 nach Ruanda gereist, um Hilfsprojekte unserer kirchlichen Organisationen und Pfarren zu besuchen und mit den Opfern zu sprechen. Ihre Geschichten rührten mich zutiefst.
Dort war es auch, als ich zum ersten Mal die Macht des Vergebens deutlich spüren konnte. Ich spürte sie in den Augen der Frau, die still und gefasst vor mir saß. Ich spürte es in ihrem Murmeln: »Ich muss ihm eine Zukunft ermöglichen.«
Die Familie der Frau war ermordet worden: Eltern, Schwester, Brüder, Nichten, Neffen. Und der Mann, der ihren Vater getötet hatte, saß mit gesenktem Kopf, die Hände im Schoß, neben ihr. Er war bis zu diesem Tag ihr Nachbar, die beiden begegneten sich seit dem Völkermord von 1994 jeden Tag auf der Straße, wenn sie einkaufen gingen oder auf dem Weg zur Arbeit waren.
Wie schaffte sie das? Wie gelang es ihr, überhaupt noch einen Schritt vor die Tür zu setzen, an ihrem Peiniger, an einem Mörder vorbeizugehen?
»Ich muss ihm eine Zukunft ermöglichen«, wiederholte die Frau. Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass sie nicht über sich sprach, auch nicht über ihren toten Vater, sondern über ihren Nachbarn. Nicht sich selbst hatte sie in die Mitte ihres Gedankens gerückt, sondern einen Mörder. Welche Kraft machte dies möglich? Welche Kraft schenkte ihr ein neues Leben?
Es war die Kraft der Vergebung. Von ihr soll dieses Buch handeln.
Jeder und jede von uns erlebt Verletzungen. Und jeder und jede von uns fügt anderen Verletzungen zu. Ein Leben ohne Verletzungen ist kaum möglich, außer man lebt allein in einer Höhle ohne jeglichen menschlichen Kontakt. Und wer von uns würde das schon wollen? Wir haben also alle etwas zu verzeihen und hoffen, Vergebung zu erfahren. Aber leicht ist das nicht. Wir müssen uns motivieren. Dafür sollten wir uns erst einmal fragen, wofür wir uns eigentlich so abmühen.
Deshalb geht es im folgenden Kapitel um die Heilkraft des Vergebens. Wir fragen Psychologie und Medizin, was Groll und eine nachtragende Haltung gesundheitlich und seelisch mit uns machen. Es ist nicht so, als existierten unsere Gedanken und Gefühle getrennt von unserem Körper. Alles in uns hängt zusammen, das wissen wir aus der Psychosomatik. Schlechte Gefühle wirken sich negativ auf unsere Gesundheit aus. Seelische Verletzungen mit sich herumzuschleppen, fühlt sich an, als hätten wir Sand im Getriebe. Es läuft einfach nicht mehr rund. Aber wir sind keine hilflosen Opfer des Schicksals! Es gehört zum Leben, zumindest zu versuchen, negative Erfahrungen aktiv zu etwas Positivem umzuwandeln. Das schlechte Grundgefühl kann ein starker Motor zur Veränderung sein. Es quält uns, wenn wir dauernd darüber nachgrübeln, wie gemein der Ex-Mann war, wie lieblos die Mutter mit uns umging oder wie hundsgemein uns der Freund behandelte. Wir wollen frei sein, wir wollen loslassen. Und dafür müssen wir vergeben.
Studienergebnisse zeigen, dass Menschen, denen Vergebung gelingt, gesünder, leichter und glücklicher leben. Ich finde es aber nicht hilfreich, Vergebung als weiteren Punkt auf der Selbstoptimierungs-To-do-Liste zu sehen. Das macht nur unnötig Druck. Vielmehr hat Vergebung mit Freiheit und Wahlmöglichkeit zu tun. Wir dürfen uns für die Vergebung entscheiden! Es liegt in unserer Macht, in unserem Einflussbereich. Allein diesen neuen geistigen Raum aufzumachen, das Fenster in einem stickigen Zimmer zu öffnen, fühlt sich schon befreiend an. Wir müssen nicht in der Vergangenheit verharren, mag sie auch noch so schwierig gewesen sein. Irgendwann haben wir genug getrauert, geweint und uns geärgert. Jetzt darf Schluss sein. Allein schon den Beschluss zu fassen, kann sich wunderbar anfühlen.
Vermutlich denken viele von Ihnen an dieser Stelle: Aber was ist mit den ganz schlimmen Dingen? Was, wenn Vergebung absolut unvorstellbar ist, weil die Tat so schwer wiegt, dass sie mehr als ein Leben überschattet? Im dritten Kapitel befassen wir uns mit einer solchen Tat und fragen uns, wie es uns gelingen kann, selbst das Unverzeihliche irgendwann zu verzeihen. Mit unserem begrenzten menschlichen Geist ist das kaum möglich. Wir müssen sinnbildlich über uns hinauswachsen und höhere Geisteszustände berühren. Das kann Gott sein oder ein anderes großes Ganzes, das uns stützt und hilft. Wer Schlimmes zu vergeben lernt, wird zu einem weiseren, reiferen Menschen, der die Erfahrung von Transzendenz macht.
Wir träumen manchmal von Rache, wenn uns jemand verletzt hat. Unser Gegenüber soll leiden. Es soll sehen, wie das ist! Aber viele Menschen vor uns haben erlebt, dass die Genugtuung durch Rache nicht von Dauer ist. Wir fühlen uns danach trotzdem schlecht. Vergebung ist immer der bessere und menschlichere Weg. Das zeigt die klassische Geschichte des Grafen von Monte Christo, der zu Unrecht im Gefängnis sitzt und dort Rachepläne schmiedet. Groll und Rachegedanken sind ein geistiges Gefängnis, Vergebung bringt uns Freiheit und ein neues Leben. Das werde ich Ihnen im vierten Kapitel zeigen.
Das haben auch alle Weltreligionen und viele philosophische Denkschulen wie die antiken Stoiker erkannt. Vergebung ist nicht nur im Christentum, sondern auch im Buddhismus und im Islam eine zentrale Tugend. Die Religionen haben sich an unterschiedlichen Flecken dieser Erde mit unterschiedlichen geografischen und kulturellen Gegebenheiten entwickelt, und dennoch sind sie in ihrem Kern, ihrem Ziel ähnlich. Um diese Botschaft des Friedens wird es im fünften Kapitel gehen. In allen Lehren hängen Vergebung und Mitgefühl untrennbar zusammen. Nur, wenn wir uns mitfühlend in unsere Mitmenschen und Lieben hineinversetzen, können wir ihnen vergeben.
Leider ist diese Fähigkeit in unserer heutigen Zeit aus der Mode gekommen. In Kapitel 6 spüren wir den Ursachen der aufgeheizten Stimmung in der Gesellschaft, der Politik und in den sozialen Medien nach. Was hat uns bloß so agitiert? Ich verstecke mich ja nicht abseits der Welt in meinem Bischofssitz, sondern bin im echten Leben und auch auf den Plattformen der sozialen Medien präsent. Dort erlebe ich jeden Tag: Die Fähigkeit zur freundlichen Kommunikation geht verloren, wir leben in einer Empörungskultur. Es ist viel leichter, sich online anonym aufzuregen, als im echten Leben miteinander zu sprechen. Und dann womöglich noch eine abweichende Meinung akzeptieren zu müssen. Heute leiden viele an Egoismus und Selbstgerechtigkeit. Und die anonyme Kommunikation im Internet mit ihren Fake News, Filterblasen und Echokammern hilft nicht. Aber es gibt Hoffnung! Viele spüren, dass uns das auf die Dauer nicht guttut. Vielleicht halten Sie gerade deshalb dieses Buch in Ihren Händen: Weil Sie spüren, dass sich etwas verändern muss.
Im siebten Kapitel sehen wir, was es mit uns – und vor allem mit unseren Beziehungen – macht, wenn wir nachtragend sind und an unserer Empörung festhalten. Wir lernen ein Paar kennen, dem es gelungen ist, aufeinander zuzugehen. An anderen Menschen Fehler zu entdecken, ist einfach. Wer ist schon unfehlbar, wer ist fehlerfrei? Wir sehen auch, wie schwierig es ist, es besser zu machen. Wir brauchen viel Größe und Gelassenheit, wenn wir unserem Gegenüber verzeihen wollen. Und eine Sache, die heute fast aus der Zeit gefallen ist: das persönliche Gespräch von Mensch zu Mensch. Wir müssen einander zuhören – wirklich zuhören, ohne darauf zu lauern, dem anderen die eigene Meinung aufzuzwingen! Nein, wirklich zuhören bedeutet: Ich versuche nachzuvollziehen, was genau der andere meint, woher diese Meinung kommt und wie wir zusammenkommen können. Zuhören bedeutet Respekt.
Bevor wir die acht Schritte der Vergebung kennenlernen, kommt noch eine Warnung, ein Caveat an Sie, liebe Leserinnen und Leser: Vergeben heißt nicht, zu vergessen oder das Schlimme, das die Opfer erlebt haben, zu verharmlosen. Am Beispiel der blutigen und ungerechten Geschichte Südafrikas lernen wir eine Gesellschaft kennen, in der Schreckliches zu vergeben war.
Wie wichtig das ist, sehen wir in Kapitel 9. Den Opfern verlangt Vergebung ungemein viel ab. Das zeigt uns die Geschichte der Jüdin Eva Mozes Kor, die als Kind von den Nazis in grausamen Menschenexperimenten missbraucht wurde. Ihr gelang es Jahrzehnte später, sich aktiv für das Vergeben zu entscheiden. Sie vergab den Tätern nicht, weil sie es verdienten, sondern sie vergab, weil sie selbst es verdiente. Ein starker Gedanke, eine beeindruckende Frau.
Ihren Mut brauchen wir, wenn wir den Weg der Vergebung in Form der acht Schritte beschreiten. Dieser Weg ist nicht gerade oder linear, und wir können ihn nicht entlanghetzen. Wenn wir die acht Schritte absolvieren, wird es uns hoffentlich gelingen, zur Vergebung zu gelangen.
Dieses Buch wäre nicht komplett, würden wir uns nicht auch einem negativen Aspekt der Vergebung widmen. Der dunklen Seite. Vergebung darf niemals erzwungen werden, schon gar nicht vom Täter. Wenn jemand ohne jedes Mitgefühl sagt: »Du musst mir alles verzeihen«, sollten alle Alarmglocken schrillen. Erst recht, wenn dieser Jemand den Zwang zur Vergebung als Freifahrtschein für neue Taten missbrauchen will. Vergebung befreit, aber Vergebung muss vor allem eines sein: freiwillig. Davon handelt Kapitel 11.
Danach richten wir unseren Blick in die Zukunft und fragen uns, wie es uns gelingen kann, beim nächsten Affront erst gar nicht wütend zu werden und mit mehr Gelassenheit auf Beleidigungen und Verletzungen zu reagieren.
Zu guter Letzt kommen wir noch zu der Frage: Was, wenn wir uns selbst vergeben müssen? Das fällt vielen Menschen besonders schwer, das zeigen meine Erfahrungen aus der Seelsorge. Viele gehen ungemein hart mit sich ins Gericht. Und schaden dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch anderen. Doch sich selbst zu vergeben, ist mindestens so wichtig, wie anderen Menschen zu vergeben. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Das eine ist langfristig ohne das andere nicht möglich. Erst beides führt zu der inneren Freiheit, nach der wir uns sehnen. Wenn wir vergeben können, werden wir zu reiferen, weiseren Menschen. Und zu deutlich gesünderen, wie Sie im nun direkt folgenden Kapitel sehen werden. Ich wünsche Ihnen eine gute und heilsame Reise auf dem Weg zur Vergebung.
Bevor wir uns der Vergebung aus spiritueller, gesellschaftlicher und philosophischer Sicht nähern, möchte ich Sie hier in die medizinische Seite des Konzepts der Vergebung einführen. Denn die Wissenschaft ist sich einig: Vergebung ist gut für Körper und Geist.
Vergebung ist vor allem ein spirituelles, ein menschliches Thema. Es führt uns über die Grenzen unseres Seins hinaus, es ermöglicht uns Gefühle, die unvorstellbar stark sind. Vergebung gibt uns eine Kraft, die wir nicht in uns vermutet hätten. Doch sie ist auch medizinisch messbar und fassbar. Sie löst echte Reaktionen in unserem Körper aus. Und wir alle sind in der Lage, zu vergeben, handelt es sich dabei doch um eine Fähigkeit, die ins menschliche Gehirn eingeschrieben ist.
Vergebung ist eine Fähigkeit, die wir brauchen, um selbst nach harten Schicksalsschlägen Glück und Zufriedenheit wiederzufinden. Evolutionär betrachtet ist Vergebung wichtig, um eine soziale Gemeinschaft aufzubauen. Auch wenn das alttestamentarische »Auge um Auge« schon eine große Verbesserung zum damaligen Strafdenken inklusive Sippenhaftung darstellte, führt es letztendlich jede Gemeinschaft – konsequent zu Ende gedacht – in ihren Abgrund.
Doch nicht nur für die Gemeinschaft ist Vergebung wichtig. Sie hat auch eine psychologische Wirkung. Vergebung, das klingt nach großer Geste. Wir stellen uns vor, dass wir dem anderen zuliebe aus lauter Großzügigkeit verzeihen und vergeben.
Dabei machen wir es nicht zuletzt für uns selbst! Wenn wir anderen Menschen ihre kleinen oder großen Fehler verzeihen, tun wir damit vor allem uns selbst einen Gefallen. Zu vergeben ist ein Weg, alten Frust und Groll endlich hinter sich zu lassen. Vergeben ist ein Weg, um frei zu sein.
Jeder Mensch erlebt ab und zu verletzende Kommentare oder Konflikte, die ihn nachts nicht schlafen lassen. Das ist leider unvermeidlich und gehört zum Menschsein dazu. Es liegt in unserer Macht, diese Konflikte und diesen Groll in uns zu beenden und Frieden zu finden. Wir machen uns damit bereit für Neues und Besseres.
Aber einfach ist es nicht. Wir brauchen Hilfe und Unterstützung. Aus diesem Grund ist dieses Buch entstanden. Die gute Nachricht ist, wir alle können die Fähigkeit des Vergebens trainieren.
Vielleicht hilft es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, sich einmal bewusst zu machen, was Empörung, Vorwürfe, Unnachgiebigkeit, Wut und Hass eigentlich alles in uns anrichten. Wenn wir sehen, wie uns diese Gefühle schaden und uns mit der Zeit aufreiben, finden wir hoffentlich den Anstoß und die Kraft, loszulassen, und irgendwann auch zu verzeihen und zu vergeben.
Um uns für das Verzeihen zu motivieren, wollen wir uns einmal genauer ansehen, wie die Fähigkeit, zu verzeihen, und unser körperliches Wohlbefinden zusammenhängen. Nun bin ich ein Bischof und kein Arzt, doch mit der Hilfe von Mediziner und Autor Prof. Dr. Johannes Huber sowie Psychotherapeut und Religionspädagoge Dr. Hans Neuhold, die mir beratend zur Seite standen, konnte ich einige Ergebnisse aus Studien auswerten: Vergebung ist gut für die Gesundheit, so viel steht fest.
Die medizinische Sicht auf das Vergeben
Wie das genau funktioniert, wollte ich von meinem medizinisch gebildeten Freund wissen. Bevor er mir von zwei interessanten Studien erzählte, packte er den Zusammenhang in eine ganz simple Formel: Wer vergibt, baut Stress ab und fühlt sich dadurch leichter und besser.
Nun wäre ein guter Moment, einmal kurz in sich zu gehen und sich zu fragen, wem ich vielleicht momentan nicht oder noch nicht vergeben kann. Dabei mag es um eine große, schlimme Verletzung gehen oder um eine vergleichsweise kleine, ungeschickte Beleidigung.
Was löst diese Erinnerung in uns aus? Wir fühlen uns schlecht. Vielleicht schlägt das Herz schneller, vielleicht kneifen wir auch die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen zusammen oder wir spüren ein ungutes Gefühl im Magen. Oft begleiten und belasten uns diese schlechten Gefühle und ihre psychosomatischen Begleiterscheinungen lange, viel zu lange.
Stress macht krank, das wissen wir längst. Und Gefühle wie Groll, Zorn, Hass und Wut lösen Stress in uns aus. Wenn wir nicht vergeben, reibt uns das geistig auf, es fördert seelische und körperliche Krankheiten und löst alle möglichen negativen biologischen Prozesse im Körper aus.
Schauen wir uns etwas genauer an, was eigentlich in unserem Körper los ist, wenn wir uns ärgern, grollen und hadern. Wenn wir wütend sind, versetzt das unseren ganzen Körper in Alarmbereitschaft. Unser Nebennierenmark schüttet die bekannten Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin aus. Unser Herz klopft immer schneller gegen die Brust, unser Blutdruck nimmt zu und der Puls steigt und steigt.
Lassen Sie uns an dieser Stelle kurz durchatmen und wieder den Frieden in uns finden. Indem wir an etwas Schönes denken, einen Moment in der Natur vielleicht, das Zwitschern der Vögel, an schöne Musik. Und nun denken wir über die Wut nach. Ist es wirklich die Wut, die uns so schlecht fühlen lässt?
Hinter der Wut steckt oft ein ganz anderes Gefühl. Wenn wir dieses zugrundeliegende Gefühl aufdecken, machen wir den ersten Schritt in Richtung Frieden und Vergebung.
Die anfängliche Wut verbirgt zum Beispiel Traurigkeit, weil sich jemand weniger für uns interessiert oder uns schlechter behandelt, als wir uns das wünschen würden. Wir sind vielleicht in Wahrheit traurig, weil wir uns von unserem Partner nicht oder nicht mehr geliebt fühlen, und deswegen macht uns ein bestimmtes Verhalten wütend.
Oder hinter der Wut steckt ein Gefühl von Machtlosigkeit, weil wir einer Situation hilflos ausgeliefert sind. Wir ärgern uns zum Beispiel über unseren Chef, weil der über unseren Kopf hinweg entscheidet. Oder die Wut verbirgt im Kern eine Kränkung, weil wir in unseren Augen unfairerweise kritisiert wurden. Vielleicht sieht jemand unsere vielen tollen Leistungen nicht, sondern verbeißt sich in einen kleinen Fehler, den wir gemacht haben.
So oder so hat uns das Erlebnis wütend gemacht und in unserem Gehirn alles durcheinandergebracht. Dort, im Gehirn, wütet die Wut vor allem im limbischen System, dem Ort der Verarbeitung und Steuerung von Gefühlen.
Ein Teil dieses Systems ist die Amygdala, die wir auch als Mandelkern bezeichnen. Eigentlich müssten wir von ihr in der Mehrzahl sprechen, denn es handelt sich um mehrere »Unterkerne«. Diese kleinen Kerne mischen mit beim Speichern von neuen Erlebnissen und leider auch gehörig bei emotionalen Reaktionen. Sie sind vernetzt mit dem Thalamus (dem Vermittler in unserem Gehirn), der Großhirnrinde (die alle Sinneseindrücke verarbeitet) und dem Hypothalamus (der unseren Kreislauf, unsere Atmung und unsere Körpertemperatur reguliert). Normalerweise ist es die Aufgabe der Großhirnrinde, die Amygdala zu kontrollieren, damit wir mit Ruhe und Bedacht auf alles reagieren können. Wenn uns jemand beleidigt oder verletzt, stürzt das dieses feine Gleichgewicht ins Chaos.
Nehmen wir als Beispiel die blöde Bemerkung eines Freundes. Unsere Augen sehen seinen abschätzigen Gesichtsausdruck. Unsere Ohren hören die Beleidigung. Über Augen und Ohren dringt die Beleidigung – darin steckt ja bereits das Wort Leid – zunächst zum Thalamus vor, der sie dann an die Großhirnrinde und die Amygdala weiterschickt.
Dort passiert die unmittelbare emotionale Reaktion unseres Körpers. Entscheidet sich hier, dass es sich bei dem unbedachten Kommentar unseres Freundes um eine absolute Frechheit handelt, kann die Großhirnrinde nichts mehr ausrichten. Besonnenheit? Kurz durchatmen und cool bleiben? Fehlanzeige, die Amygdala war leider schneller. Hysterisch alarmiert sie den Hypothalamus, der den ganzen Körper in einen unguten Ausnahmezustand versetzt: Stress!
Was ich Ihnen mit diesem biologischen Abstecher sagen will: Viele Reaktionen laufen erst einmal wie von selbst ab, wenn wir etwas Unangenehmes erleben. Es ist also mehr als verständlich, dass wir mit Empörung, Vorwürfen, Unnachgiebigkeit, Wut und manchmal sogar Hass reagieren. Das ist allzu menschlich. Außerdem hat unser Ärger einen Sinn. Wut zeigt, wo eine persönliche Grenze überschritten wird. Wut und Aggression wollen diese Grenzen schützen. In der Gestalttherapie wird etwa zwischen feindseliger und kreativer Aggressivität unterschieden. Je mehr inhaltliche Punkte in einer verbalen Aggression – etwa in einem Streit – liegen, desto größer ist die Chance, diese Aggression zu überwinden und wieder zusammenzufinden, nach dem Motto: Streiten verbindet. Wenn die Aggression jedoch bloß auf Verletzung und Zerstörung aus ist, so verliert sie ihren ursprünglichen Sinn als Abwehrmechanismus und wird bloß zu einem Instrument, das Schaden zufügt.
Wir merken, dass jemand unsere Grenze überschreitet. Wir reagieren heftig, weil jemand etwas Entscheidendes, etwas Essenzielles in uns berührt und verletzt hat. Wenn wir das verstehen, fällt uns das Vergeben sehr viel leichter.
Wut, Empörung und Ärger sind nicht zuletzt wertvolle Signale, die uns zeigen, dass uns etwas sehr wichtig ist. Sie heben hervor, was uns lieb und teuer ist.
Wut kann also gut sein oder vielmehr einen höheren Sinn haben. In der Psychologie zählt die Wut deshalb neben der Freude, dem Ekel, der Angst, der Verachtung, der Traurigkeit und der Neugierde zu den sieben Grundgefühlen. Wut ist also ganz normal.
Der richtige Umgang mit der Wut
Jetzt kommt natürlich die Frage auf, wie wir weitertun. Was machen wir mit unserer Wut? Wer Kinder hat oder Kinder betreut, kennt Situationen, in denen sich die Kleinen vor lauter Verzweiflung auf den Boden legen, schreien und weinen, wenn etwas nicht so läuft, wie sie sich das wünschen. Wir Erwachsenen haben in der Regel gelernt, unseren Ärger anders zu verarbeiten. Verarbeiten heißt aber bitte nicht, ihn zu ignorieren. Wenn wir den Ärger nämlich nur herunterschlucken, bringt das auf Dauer richtig viel Frust, denn der Ärger bleibt. Auch ihn mit Alkohol oder anderen Ablenkungen zu betäuben, ist klarerweise keine gute Idee. In beiden Fällen horten wir einen permanent in uns wabernden, stillen Groll, der uns regelrecht vergiften kann. Wer immer nur schweigt, könnte im schlimmsten Fall zu einem unangenehmen Zeitgenossen werden, der fiese Kommentare absondert, sich passiv-aggressiv verhält und insgesamt verbittert und feindselig wirkt. Der Frust wird chronisch. Das kann nicht die Lösung sein. Das macht uns krank.
Also, was tun? Mittlerweile gibt es in manchen großen Städten – darunter auch in Graz oder Wien – sogenannte Wuträume, in denen Menschen ihre Wut rauslassen und mit Baseballschlägern oder ähnlichem auf alten Computern, Geschirr oder Möbeln herumschlagen dürfen. Das sehen viele Psychologen kritisch, denn es ist alles andere als gut, die Wut auch noch mit einem positiven Gefühl der Erleichterung zu verknüpfen und sie auf diese Weise zu nähren. Neben dem Ignorieren oder Betäuben ist also auch das Ausleben und Rauslassen der Wut keine gute Idee.
Es gibt einen Mittelweg: Wir müssen uns gut um unsere Wut kümmern. Wir müssen sie anerkennen, prüfen und dann einen Weg finden, sie zu transformieren. Am besten ist es natürlich, mit jemandem darüber zu reden. Das kann ein Freund sein, eine Seelsorgerin, ein Priester oder ein anderes empathisches Gegenüber. Als Nächstes wäre es ratsam, das Gespräch mit der Person zu suchen, über die wir uns geärgert haben. Wie das geht und wie das gelingen kann, darauf kommen wir später noch zu sprechen. Manchmal geht das aber nicht. Zum Beispiel, weil die Person, die uns verletzt hat, gar nicht mehr lebt. Oder weil wir uns nicht trauen. Oder weil der Mensch, mit dem wir uns gestritten haben, nicht offen für ein Gespräch ist. Das alles sind freilich keine Gründe zu verbittern, denn wir haben immer noch Handlungsspielraum.
Wir können und dürfen uns in der Stille unserer Seele für die Vergebung entscheiden. Diese Freiheit bleibt uns immer. Wenn wir in uns hineinhorchen, spüren wir vielleicht, wie sich unsere Seele nach dieser Freiheit sehnt.
Die entscheidende Frage ist, ob wir an unserem Groll festhalten oder es schaffen, ihn loszulassen. Wenn wir es schaffen, die Wut und den Ärger hinter uns zu lassen, sind wir damit tatsächlich großzügig, wie am Anfang des Kapitels angesprochen. Aber eben gar nicht so sehr mit unserem Gegenüber, das uns absichtlich oder – wie so oft – unabsichtlich verletzt hat, sondern vielmehr mit uns selbst.
Wie Vergebung das Wohlbefinden steigert
Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle, wie es mit den ganz großen, ganz schlimmen Verletzungen ist. Muss man wirklich alles verzeihen? Auch darauf werden wir an späterer Stelle noch genauer eingehen. An diesem Punkt nur so viel: Auch wenn uns das absolute Verzeihen nicht oder noch nicht gelingen sollte, weil die Verletzung einfach zu groß war, können wir trotzdem die mit der Verletzung verbundenen negativen Gefühle loswerden. Wir vergeben aus Selbst- und aus Nächstenliebe. Wir vergeben, weil es gut ist für unsere Gesundheit. Wie der deutsche Arzt und Psychiater Joachim Bauer bemerkt hat, ist die Verletzung der Ursache unserer Aggression und Wut, kein angeborener Aggressionstrieb im Menschen. Der richtige Umgang mit der Verletzung und der Wut ermöglicht eine neue Nähe und Gemeinschaft, die sich positiv auf unser Wohlbefinden auswirkt.
Dafür liefert uns übrigens die wissenschaftliche Forschung momentan am laufenden Band neue Beweise, zum Beispiel eine Studie aus den USA vom Jahr 2020. Dort haben Psychologen rund um die Forscherin Katelyn N. G. Long eine Gruppe von Krankenpflegerinnen über mehr als zwanzig Jahre begleitet. Alle zwei Jahre befragten sie die Frauen nach ihrem psychosozialen und körperlichen Zustand. Zum Beispiel sollten sie folgender Aussage zustimmen oder widersprechen: »Aufgrund meiner spirituellen oder religiösen Überzeugungen habe ich jenen vergeben, die mich verletzt haben.« Dann wurde ihr Gesundheitszustand mit diversen Tests gemessen. Die Forscher wollten herausfinden, wie Vergebung auf das Wohlbefinden wirkt.
Das Resultat: Jenen Krankenpflegerinnen, die anderen aufgrund ihrer spirituellen oder religiösen Einstellung verzeihen konnten, ging es deutlich besser. Sie waren psychisch stabiler, sozial besser integriert und weniger einsam. Außerdem litten sie seltener an Depressionen oder Ängsten als ihre Kolleginnen, die sich mit dem Vergeben schwerer taten. Der Großmut der Vergebung scheint sich also zu lohnen.
Und wie geht es der anderen Seite? Also jenen Menschen, die hoffen, dass man ihnen etwas vergibt oder verzeiht? Auch dazu gibt es Forschungsergebnisse, die uns zu denken geben sollten. Die Psychologen Yu-Rim Lee und Robert Enright haben dafür eine Metastudie durchgeführt. Das ist eine Studie, die sehr viele andere Studien zusammenfasst. Sie haben sich angesehen, welchen Einfluss Vergebung auf unsere Gesundheit hat, für beide Seiten. Untersucht haben sie Studien über das Zusammenspiel zwischen Vergebung und Cholesterinwerten, Stresshormonen, chronischen Schmerzen, Autoimmunerkrankungen und Bluthochdruck.
Das Ergebnis: Menschen, denen von den Menschen in ihrer nahen Umgebung nicht verziehen wurde, zeigten mit der Zeit körperliche Folgen. Wem vergeben wurde, der lebte leichter und gesünder. Genauso geht es der anderen Seite: Nichtverzeihen geht einher mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Das sind erstaunliche Ergebnisse. Verzeihen und alles wird gut?
So einfach ist es leider nicht. Das zeigen auch meine Erfahrungen in der Begleitung von Menschen. Jeder ist ein einzigartiges Wesen. Jeder reagiert völlig unterschiedlich auf die Freuden und die unvermeidlichen Prüfungen des Lebens. Es gibt keine Muster, nach denen Heilung und Versöhnung ablaufen müssen. Wie schön wäre das? Den ersten Schritt absolvieren, dann den zweiten und dritten, und fertig ist die Seelenarbeit. So läuft es leider nicht.
Wir sind alle einzigartig und gehen auf die uns eigene Weise mit Problemen um. Die seelsorgerische Arbeit lehrt mich, zu staunen vor dem Geheimnis des anderen.
Nicht selten wenden sich Menschen im Gespräch an mich und erzählen mir, wie sehr sie sich wünschen, einem Familienmitglied, einem Ex-Partner oder einem Freund endlich zu verzeihen, es aber einfach nicht schaffen. Frauen kommen dreißig oder gar vierzig Jahre nach einer Abtreibung zu mir und wünschen, sich endlich selbst vergeben zu können. Ich erlebe, wie schwierig das Vergeben in der Praxis ist. Besonders eindrücklich erlebe ich es, wenn ich Menschen an ihrem Sterbebett besuche, denn dann ist der Wunsch nach Klärung und Absolution am größten und drängendsten. Ich versuche immer zu vermitteln: Es ist nie zu spät, loszulassen, zu verzeihen und auch sich selbst zu vergeben. Es ist immer möglich, einen Schritt nach dem anderen zu gehen, um neu anzufangen und Erlösung zu erlangen.