Die Magie der Transformation - Reza Razavi - E-Book

Die Magie der Transformation E-Book

Reza Razavi

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[7]Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum UrheberrechtImpressumDedicationVorwortEinleitung1 Das Imago-PrinzipDer Schmetterling in Kunst und KulturDie Magie der MetamorphoseDer Schmetterling als Vorbild für TransformationKollektive Transformation in Organisationen2 Nachhaltiger WandelWie kann Wandel nachhaltig gelingen?Warum fällt uns Veränderung so schwer?Change oder Transformation?Übergangsphase und ZwischenzeitNachhaltiger Wandel in OrganisationenNachhaltiger Wandel in der Gesellschaft3 Vorbild Renaissance4 Von Bell zu JobsDie Triebkräfte der IndustrialisierungVon der ständischen Agrar- zur bürgerlichen IndustriegesellschaftDie drei Phasen der modernen TelekommunikationSechs Gründe des ScheiternsDie sieben Vs zur Verhinderung von WandelZwischen Hoffnung und Skepsis5 Unser gemeinsames AnliegenDie Bewegung der ImagosDie Motivation der ImagosDie Unschärferelation des gemeinsamen AnliegensDie Resonanz des Gelingens 6 Der Wert der HaltungUnser MenschenbildUnser LeistungsbildUnser FortschrittsbildUnser Strategiebild Unser KundenbildUnser Organisationsbild Unser FührungsbildUnser Weltbild7 Die Zukunft erinnernZukunftsfähigkeit – bereit für morgen?Zukunft erarbeitenZukunft beginnt mit einer EntscheidungWir brauchen eine Haltung8 Metanoia Unsere gedanklichen FundamenteWas ist Wahrheit?Das Denken neu denken9 KulturWas ist Kultur?Und was ist Unternehmenskultur?Wie Kulturwandel in Unternehmen funktionieren kannKultur in Zeiten von Transformation10 Die Imago-BewegungSo geht es nicht weiterImagos und ihre FunktionenDie Magie des Miteinander-GestaltensErfahrung und Tipps aus der PraxisNachwortDankLiteraturDer AutorAnmerkungen/EndnotenBildnachweise
[1]

Hinweis zum Urheberrecht:

Alle Inhalte dieses eBooks sind urheberrechtlich geschützt.

Bitte respektieren Sie die Rechte der Autorinnen und Autoren, indem Sie keine ungenehmigten Kopien in Umlauf bringen.

Dafür vielen Dank!

Haufe Lexware GmbH & Co KG

[4]Ich hoffe, dass wir uns zeitnah kulturell so weiterentwickelt haben, dass das Thema Gendergerechtigkeit keine Rolle mehr in unserer Gesellschaft spielt, weil Gleichheit und Gerechtigkeit gegeben sind. Bis dahin habe ich mich in diesem Buch bemüht, die männlichen und weiblichen Formen entweder im Wechsel oder in beiderlei Genderformen zu benutzen. In jedem Fall habe ich, wann immer von Personen oder Personengruppen mit unbekanntem Genus die Rede ist, immer alle Geschlechter vor Augen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Print:

ISBN 978-3-648-15763-3

Bestell-Nr. 33666-0001

ePub:

ISBN 978-3-648-15764-0

Bestell-Nr. 33666-0100

ePDF:

ISBN 978-3-648-15765-7

Bestell-Nr. 33666-0150

Reza Razavi

Die Magie der Transformation

1. Auflage, Mai 2022

© 2022 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg

haufe.de

[email protected]

Bildnachweis (Cover): © mykef, depositphotos

Produktmanagement: Bettina Noé

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

Sofern diese Publikation ein ergänzendes Online-Angebot beinhaltet, stehen die Inhalte für 12 Monate nach Einstellen bzw. Abverkauf des Buches, mindestens aber für zwei Jahre nach Erscheinen des Buches, online zur Verfügung. Ein Anspruch auf Nutzung darüber hinaus besteht nicht.

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[5]Den Frauen in meiner Familie gewidmet, ganz besonders: Nori, Roya, Bahareh, Sophie, Fay, Isabella

Ich habe einen kleinen Tropfen Wissen in meiner Seele. Lass ihn eingehen in dein Meer.

Rumi

[11]Vorwort

Reza Razavi hat mir geholfen, meine Arbeit – und in gewisser Weise auch mich selbst – zu transformieren. Als ich 2014 nach mehreren Jahren in China und den USA nach Europa zurückkehrte, wusste ich nicht so recht, wie es weitergehen sollte. In alte Bahnen zurück wollte ich jedenfalls nicht. Ich spürte den Wunsch, mehr noch die Notwendigkeit, etwas Neues zu schaffen. Ich gründete The Culture Institute in Zürich und war auf der Suche nach neuen Impulsen, interessanten Menschen und bereichernden Gesprächen, um meine Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei traf ich Reza wieder, mit dem ich Jahre zuvor bei Prof. Malik in St. Gallen die Freuden und Leiden des Beraterlebens erfahren durfte. Reza stand gerade am Beginn seiner BMW-Karriere – damals als Data Scientist – und meine Vorhaben in puncto Unternehmenskultur interessierten ihn.

Wir führten gemeinsam erste Culture-Map-Workshops durch und machten uns daran, zu verstehen, welchen Herausforderungen altehrwürdige Unternehmen gegenüberstehen und wie sie in einer neuen Welt lebensfähig und erfolgreich bleiben können. Dafür analysierten wir die Unternehmenskulturen digitaler Champions im Vergleich zu traditionellen Unternehmen. Die Ergebnisse stießen auf breites Interesse und wurden heiß diskutiert. Sie ermöglichten eine konstruktive Auseinandersetzung mit Kulturmustern fernab der häufig polarisierenden Silicon-Valley-Diskussionen.

Reza beeindruckte mich mit seiner Neugierde und Offenheit. Immer wieder richtete er den Blick weit über den Tellerrand, um auch wirklich alle Punkte zu einem Gesamtbild zu verbinden. Zu diesem Zweck gelang es ihm – ähnlich seinen Helden der Renaissance –, Netzwerke zu bauen. Er tat dies frei vom schnöden Networking. Vielmehr brachte er immer wieder spannende Menschen zusammen, die sich gegenseitig inspirieren und in manchmal durchaus auch kritischen Diskussionen ihr Wissen austauschen, herausfordern und vermehren konnten.

Antrieb war und ist ihm dabei nie der eigene Erfolg oder gar die eigene Karriere. Reza strebt nach besseren Unternehmen und einer besseren Gesellschaft. Dafür gründete er den Connected Culture Club bei BMW, und dafür befasste er sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema Transformation.

[12]Rückblickend hätte es für mich keinen besseren Zeitpunkt geben können, um erneut auf Reza zu treffen. Er half mir entscheidend, meine Zukunft zu gestalten – nicht nur fachlich. Er bestärkte mich darin, meine Visionen weiterzuverfolgen und den Mut aufzubringen, für sie zu kämpfen.

Eigentlich ist es wenig verwunderlich, dass ausgerechnet Reza eine solch große Hilfe bei Veränderungen sein kann – ob für einzelne Person, für Organisationen oder für die Gesellschaft als Ganzes. Denn Transformation war Rezas ständiger Lebensbegleiter. Im Iran geboren, wurde er in den 1970er-Jahren als Kind Zeitzeuge der iranischen Revolution und des ersten Golfkriegs. Im Alter von 14 Jahren kam er gemeinsam mit seiner Schwester nach Deutschland – ohne seine Eltern. Schnell lernte er Deutsch und nahm ein Jahr später bereits am Schulunterricht teil. Mit 20 startete er seine akademische Karriere: Dem Grundstudium aus Mathematik und Philosophie folgten die zwei Diplomstudien Wirtschaftsinformatik und Betriebswirtschaftslehre sowie ein Masterstudium des Daten- und Informationsmanagements. Noch während seiner Studienzeit eröffnete Reza ein Gastronomieunternehmen, das er zu einem führenden Szenelokal in Hannover ausbaute und über 10 Jahre lang erfolgreich betrieb. Auf die Studien- und Gastronomiejahre folgten einige Beraterjahre im Gesundheitsbereich, in der IT und in der Managementberatung – wo sich unsere Wege dann auch erstmals kreuzten.

Während all dieser persönlichen Transformationen blieb Reza sich selbst treu: Ehrlich und authentisch träumt er von einer besseren Welt. Voller Energie und Leidenschaft arbeitet er daran, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Er lebt seine kulturellen Ideale und schafft Verbindungen, aus denen Neues entsteht. Seine Botschaften transportiert er über inspirierende Geschichten und Bilder. So auch in seinem ersten Buch: Die Magie der Transformation zeigt, wie soziale Bewegungen wachsen und eine bessere Zukunft gestalten können.

So manchem Politiker wird das Zitat »Wer Visionen hat, braucht einen Arzt« zugeschrieben. Diese Aussage halte ich für falsch. Ich glaube, wer keine Visionen hat, braucht einen Arzt. Oder zumindest einen Reza Razavi und sein Imago-Prinzip.

Simon Sagmeister, The Culture Institute,St. Gallen, 2022

Dr. Simon Sagmeister ist Gründer von The Culture Institute in St. Gallen und Partner am Science House in New York. Er gilt als einer der führenden Experten für Unternehmenskultur.

[13]Einleitung

Dieses Buch wurde aus der Idee heraus geschrieben, uns gemeinsam unsere Zukunft zurückzuholen. Es ist der Versuch eines Plädoyers, wie wir uns an der Gestaltung der zentralen Zukunftsthemen beteiligen können, und der Überzeugung geschuldet, dass die Zukunft zu wichtig ist, um sie nur einigen wenigen Entscheidungsträgern zu überlassen. Es ist ein optimistisches Buch – nicht weil Optimismus angenehmer als eine pessimistische Sicht auf die Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft ist, sondern weil es für Pessimismus schlichtweg ein bisschen zu spät ist.

Wir leben in spannenden, aber auch turbulenten Zeiten – in einer Ära beschleunigter Umbrüche hinsichtlich unseres Klimas, unserer Demokratie, unseres Wirtschaftssystems, den Auswirkungen der Globalisierung, des kulturellen Identitätsverlustes. In Zeiten des Übergangs. In Sattelzeiten, in denen das Alte nicht mehr funktioniert wie gewohnt und das Neue noch nicht funktioniert wie gewünscht.

Wir leben in Zeiten, in denen die Systeme und Strukturen der modernen Gesellschaft sich nur durch Dynamik, Wachstum und Beschleunigung stabilisieren können.1 Nicht nur um besser zu werden, sondern um den Status quo zu erhalten. Ohne Wachstum verlieren wir Jobs, schließen Firmen, sinkt das Steuereinkommen und das ganze System gerät in eine Schieflage.

Wir leben in Zeiten, in denen wir die gesunde Beziehung zur Natur verloren haben. Als angebliche Krone der Schöpfung bedienen wir uns aller natürlichen Ressourcen, als ob sie auf unserem endlichen Planeten grenzenlos zur Verfügung stünden. Wir plündern und vermüllen die Ozeane, dezimieren die Urwälder, laugen die Böden aus und verpesten die Luft. Wir sind fleißig dabei, uns selbst abzuschaffen. Wir predigen das Mantra des Wachstums, doch Wirtschaft ohne Menschen ergibt wenig Sinn.

Wir leben in Zeiten, in denen ein Virus um die Welt zieht und unser Leben, unsere Gesellschaft und Wirtschaft auf den Kopf stellt und wir mit Erstaunen erleben, dass es keine globale Führung und keinen gemeinsamen Aktionsplan gibt. Langsam begreifen wir, was Komplexität wirklich bedeutet und dass es wenig hilft, mit einem Mindset von gestern die komplexen Probleme von heute lösen zu wollen.

[14]Wir leben in Zeiten, in denen wir zunehmende soziale Ungerechtigkeit spüren: ein Auseinanderfallen der Gesellschaft, eine Polarisierung und Fragmentierung, ein immer größer werdender Graben zwischen Arm und Reich. In vielen westlichen Ländern schrumpft die Mittelschicht als Basis der Gesellschaft. Die Leute fühlen sich abgehängt. Das führt auch dazu, dass sich die Menschen zunehmend radikalisieren. Sowohl am linken politischen Rand wie auch am rechten. Wir verlieren unseren sozialen Zusammenhalt.

Wir leben in Zeiten, in denen die Unternehmen sich in hochgradig dynamischen, komplexen und gesättigten Märkten bewegen, die von undurchschaubaren Bedingungen geprägt sind. Gleichzeitig beobachten wir ein Verharren in alten Strukturen mit überholten Bürokratien, Systemen, Kontrollmechanismen und Paradigmen und wir versuchen, mit alten Denkweisen und Methoden Symptome zu reparieren, ohne die Ursachen der entsprechenden Probleme zu kennen.

Wir leben in Zeiten, in denen die meisten Entscheidungsträger und Verantwortlichen unter »Zukunftsvergessenheit« leiden, weil sie ständig aktuelle Krisen und operative Themen meistern müssen. Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht von Zukunftsatheismus2 und meint damit, dass wir zwar um die Gefahren wissen, aber nicht fähig sind, dieses Wissen im politischen und wirtschaftlichen Handeln umzusetzen. Wie heißt es so treffend: Wir haben kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsproblem.

Wir leben in Zeiten, in denen die langfristige Lebensfähigkeit eines Unternehmens nur durch Kooperation, gute Kommunikation und Vernetzung sichergestellt werden kann. Doch die Entscheidungsträger in ihren Machtzentren sind häufig vor allem auf »Besitzstandswahrung« bedacht. Statt die Wissensträger zu Beteiligten in den Organisationen zu machen, werden sie kleingehalten. Einzelinteressen dominieren das Gesamtinteresse von Unternehmen.

Wir leben in Zeiten, in denen Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter, Bürger und Bürgerinnen sich immer weniger am Geschehen beteiligen. Wir beobachten eine sinkende Wahlbeteiligung und abnehmende Parteienmitgliedschaften. Das Forschungsinstitut Gallup liefert regelmäßig auch für Organisationen erschreckende Befunde. Weltweit sind nur 15 Prozent der Angestellten emotional mit ihrer Arbeit verbunden, die große Mehrheit macht bestenfalls Dienst nach Vorschrift und zeigt kein eigenes Engagement. Das bedeutet, dass die Menschen sich zwar als Teil von, aber nicht als Teilnehmende an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen fühlen.

[15]Wir leben in Zeiten von Vertrauens- und Legitimationskrisen. Die Entscheidungsträger in der Wirtschaft denken zu kurzfristig und richten ihr Tun auf schnelle Gewinne und das nächste Quartalsergebnis aus. Das Gleiche erleben wir in der Politik. Hauptziel ist es, wiedergewählt zu werden und die Macht zu erhalten. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Mitarbeitende und Bevölkerung sich mit ihren Interessen nicht mehr vertreten sehen.

Wir leben in Zeiten, in denen Arroganz auf Ignoranz trifft – eine Art Haltungskrise. Da es den meisten Menschen in der westlichen Welt gut geht, ist die Motivation zur Veränderung gering. Die aktive Gestaltung der Zukunft ist in unserem Alltag und in der Politik kaum existent. Probleme werden wahrgenommen und im gleichen Moment schulterzuckend mit einem »Das Leben ist halt so« oder »Man kann gerade nix machen« ignoriert. Dies führt zu einer emotionalen Abstumpfung und einer tiefen kulturellen Verunsicherung.

Wir leben in Zeiten, in denen Fake News, Irrglaube und Desinformation dafür sorgen, dass wir in unterschiedlichen Realitäten leben. Wir können uns nicht einmal auf banale Fakten einigen. Doch Wahrheit beginnt immer zu zweit.3 Mit ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen der Realität und einer feindlichen Haltung dem anderen gegenüber fehlt jede Grundlage für einen Dialog.

Unser Leben scheint von Krisen bestimmt zu sein. Seit mehr als 25 Jahren gehört Krise zu den am häufigsten gebrauchten Begriffen in der öffentlichen Debatte. Die Krise wird inzwischen sogar als das New Normal bezeichnet. Tatsächlich haben wir uns schon daran gewöhnt, permanent in einer Vielzahl von Krisen zu leben – Krisen, die sich überlagern und wechselseitig befeuern. Markus Gabriel spricht von einer Stapelkrise4. Es scheint, dass die modernen Gesellschaften sich immer in Krisen fühlen, immer Krisen produzieren werden. Der Grund dafür liegt unter anderem in ihrer funktionalen Differenzierung. Moderne Gesellschaften bestehen aus unterschiedlichsten Akteuren und Institutionen, die in einem Netzwerk aus Funktionen, Interessen, Perspektiven und Kommunikation verbunden sind. Nun werden all diese Akteure mit Problemen und Herausforderungen konfrontiert, die sie allein nicht bewältigen können. Es gibt zu viele Vernetzungen und Optionen und aus jeder Perspektive sehen die Dinge völlig anders aus. Wer kann da die Hoheit für sich beanspruchen, die richtigen Entscheidungen zu treffen? Wer kann von sich behaupten, solche komplexen Systeme im Detail zu kennen, zu beherrschen und letztendlich zu kontrollieren? Wie ein großer Mikado-Stapel5, sagt Richard David Precht, erscheinen [16]die unterschiedlichen Bereiche wie Wirtschaft, Politik oder Bildung mit ihren jeweils eigenen Logiken, Zielen und Perspektiven aufeinander aufgebaut, und immer, wenn wir versuchen, einen Bereich zu ändern, haben wir das Gefühl, dass alles in sich zusammenfällt. Es handelt sich um komplexe Systeme. Komplex ist ein System dann, wenn es nicht mehr von eindeutigen Kausalitäten bestimmt wird, sondern durch Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen den Prozessen mitgesteuert wird. Ein komplexes System weist mehrere richtige und falsche Lösungen auf.

Wo also fangen wir an? Was hat Priorität?

Viele der heutigen Entscheidungsträger behaupten, wir müssten zuerst an unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand denken. Das sei die Basis für alles. Dies ist nicht überraschend, denn die Autorität der Wirtschaftswissenschaft ist enorm. »Die Wirtschaft ist gewissermaßen die Muttersprache der öffentlichen Ordnung, die Sprache des öffentlichen Lebens [...].«6 Sie definiert, was priorisiert werden muss. Aber tut sie dies zu Recht?

Wir alle sind Nutznießer des heutigen Zeitalters. Wir haben das große Glück, in einer Zeit geboren worden zu sein, in der – zumindest in einem Großteil Europas – Rechtsstaat, Demokratie, Wohlstand und Sicherheit herrschen. Noch vor 100 Jahren war die Welt eine ganz andere, und das, was wir heute für selbstverständlich halten, war für die meisten Menschen ein unerfüllbarer Traum. Wir leben die Utopien unserer Urgroßeltern. So eine rasante Entwicklung und Modernisierung wie im Laufe der letzten 100 Jahre wurde in der Geschichte der Menschheit noch nie verzeichnet. Wir haben einen hohen Grad zivilisatorischen Fortschritts erreicht, der unter anderem darin besteht, dass wir individuelle Freiheit genießen und autonom unser Leben gestalten können. Wir haben die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen und unsere Meinung ohne Angst zu äußern. Wir dürfen in demokratischen Gesellschaften und Rechtsstaaten leben, die dafür sorgen, dass es Sozial-, Gesundheits- und Bildungsversorgung gibt. Wir haben Partizipationsmöglichkeiten, erleben funktionierende Institutionen und genießen einen noch nie da gewesenen ökonomischen Wohlstand.

All dies müssen wir schützen. Ohne unsere Grundrechte, Demokratie, Freiheit und eine offene Gesellschaft werden wir in allen Belangen zurückfallen. Wir haben viel erreicht, dessen sollten wir uns bewusst sein. Ich würde nicht in einer anderen Gesellschaft leben wollen, was Grundpfeiler wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte und auch Gesundheitsversorgung angeht. Diese Werte, dieses [17]Gut, müssen wir verteidigen und ja, dafür brauchen wir auch eine gesunde und funktionierende Wirtschaft, denn ein demokratisches Gemeinwesen kostet Geld. Demokratie muss ein Parlament und Gerichtssystem haben. Sie brauchen Polizei und Institutionen.

Die Demokratie, die in den westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, ist zweifellos erfolgreich. Aber auch sie ist im Wandel. Vor etwas mehr als 10 Jahren war die Zuversicht noch groß, dass die Zahl der demokratischen Staaten zunehmen würde. Der Aufbruch in den osteuropäischen Ländern und der Arabische Frühling signalisierten Hoffnung, dass autoritäre Regierungen durch mehr Demokratie und Menschenrechte abgelöst würden. Heute ist die Situation anders: Viele Länder, die sich demokratisch nennen, werden ihrem demokratischen Kern nicht gerecht und es gelingt auch nicht, neue Demokratien zu errichten. Démos bedeutet im griechischen »Volk« und krátos »Macht/Herrschaft«. Demokratie kann nur unter der Prämisse von Partizipation funktionieren. Dazu müssen alle, auch Minderheiten, die Chance haben, sich zu beteiligen.7 Eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit hat nichts mit Demokratie zu tun. In der Demokratie haben alle Menschen den gleichen Status. Sie haben den gleichen Respekt, die gleiche Anerkennung verdient. Wie Nida-Rümelin zu Recht sagt, ist eine Demokratie ohne ein humanistisches Ethos nicht lebensfähig. Eine Demokratie lebt vom Pluralismus. Sie bedarf des Dialogs, des Streits, der Diskussion. Demokratie ist Regieren durch Argumente. Leider kann die Demokratie ihre Voraussetzungen selbst nicht garantieren.8

In letzter Zeit wird unter dem griechischen Wort Démos scheinbar immer öfter nicht das Volk verstanden, sondern eine Elite. Wer nicht zu dieser Elite gehört, kann sich nicht oder kaum einbringen und bei den Zukunftsthemen mitwirken. Viele einfache Bürgerinnen und Bürger westlicher Demokratien haben den Eindruck, sie könnten nichts verändern und sie würden nicht gehört. Sie wissen nicht, wie sie Veränderungen in Gang bringen können.

Ähnlich sieht es in den Organisationen aus. Fraglos stehen Unternehmen heute vor großen Herausforderungen und müssen in immer komplexeren und hochgradig gesättigten Märkten agieren. Sie wollen und müssen diesen Wandel meistern, doch auf ihrer Agenda vermischen sich Change und Transformation zu sehr. Diese wichtige Unterscheidung geht im Diskurs von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft häufig verloren. Die Begriffe werden synonym verwendet – mit fatalen Folgen. Viele Verantwortliche zeigen zudem eine Geisteshaltung, die noch aus Lehrbüchern der [18]1950er-Jahre stammt, welche auf den Theorien von 18909 und auf alten Prinzipien und Wirtschaftslogiken wie dem Homo oeconomicus beruhen. Frei nach dem Motto »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass« beharren sie lieber auf den altbewährten Methoden und Verfahren, die Teil des Problems sind. Sie ignorieren dabei auch, wie wertvoll ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Mitgestaltung einer Transformation sein könnten. Stattdessen werden Machtzentren zementiert, Informationen zurückgehalten, statt Freiräumen werden mehr Kontrolle und Bürokratie aufgebaut. Obwohl jeder weiß, dass Zahlen und Prognosen keine Sicherheit geben und eigentlich nie zutreffen, baut alles auf Business Cases – zahnlose Tiger – auf. Viele kritische Themen werden verdrängt und tabuisiert. Man spricht nicht darüber. Geführt wird nach wie vor nach dem Prinzip: Oben schlägt unten. Die Führungskräfte bestimmen die Zukunftsthemen, die Teams setzen um.

Das Thema Transformation hat momentan Hochkonjunktur. Es beherrscht die Schlagzeilen der Tages- und Wirtschaftspresse. Kaum einer zweifelt mittlerweile daran, dass wir vor einer der größten Systemtransformationen der Geschichte stehen. Die Phänomene Digitalisierung, Globalisierung, Individualisierung und Komplexitätssteigerung sind die Treiber der Transformation und geben eine hohe Schlagzahl vor. Wenn wir einen historischen Vergleich wagen wollen, dürfte die Transformation von heute ähnliche Ausmaße haben wie das Verschwinden der Agrargesellschaft und ihre Ablösung durch die Industriegesellschaft.10 Damals kristallisierte sich eine neue Form des Zusammenlebens heraus: eine bürgerliche Gesellschaft, die auf dem Prinzip der Arbeit und dem damit einhergehenden Ideal der Tüchtigkeit und der Leistungsgesellschaft beruhte. Die alten Strukturen der Feudal- und Ständegesellschaft wurden um das Bürgertum erweitert.11 Nun galten andere Logiken wie die Steigerungslogik, Wettbewerbslogik und Leistungslogik. Nicht mehr die Klasse oder der Stand bestimmten das Leben der Menschen, sondern jeder hatte die Freiheit, durch Arbeit Leistung zu erbringen und sein Leben selbst zu bestimmen. Die leistungsorientierten Menschen haben im Verlauf der Moderne weitere Logiken implementiert wie die Beschleunigungslogik, Selbstoptimierungslogik, Maschinenlogik und Multioptionslogik, auf die wir im Verlauf des Buches näher eingehen werden.

Was eine Transformation auszeichnet, ist ihre systemische Dimension. Transformationen zeigen Auswirkungen in allen Lebensbereichen – von der Ökonomie und Politik über die Bildung und Wissenschaften bis zu unseren persönlichen Identitäten. Transformationen ändern nicht nur unser Umfeld, sie ändern auch uns: die Art, wie wir leben, denken, arbeiten und miteinander umgehen, wie wir produzieren, konsu[19]mieren, distribuieren und finanzieren.12 Damit nicht genug: Transformationen sind globaler Natur, auch wenn sie nicht überall gleichzeitig stark ausgeprägt sind.

Doch Transformation entsteht nicht von heute auf morgen, das Alte wird nicht direkt vom Neuen abgelöst. Sie ist auch keine Veränderung in Form einer Optimierung der Moderne, wie wir sie bislang als stromlinienförmige Entwicklungsschritte beobachtet haben. Transformation ist träge. Die Wirkung und gleichzeitig die Gestaltung der großen gesellschaftlichen Umbrüche haben oftmals mehrere Hundert Jahre gedauert. Die Renaissance, die wir als ein Beispiel für Transformation in Kapitel 3 näher betrachten, lässt diese Trägheit erkennen. Ganz anders die industrielle Revolution: Sie hat unsere Gesellschaft vergleichsweise schnell verändert, gleichwohl sie schwierig war und radikale Umbrüche in Bezug auf Arbeitnehmerrechte, Kinderarbeit, Gesundheitsversorgung und Frauenrechte brachte. Und ich befürchte, dass auch die jetzige Transformation uns nicht allzu viel Zeit gibt. Doch der Blick zurück zeigt auch, dass all diese Dinge trotz großer Hürden umgesetzt wurden und dass die Anstrengungen sich gelohnt haben, weil sie die Gesellschaft insgesamt modernisiert und vorangebracht haben.

Ich halte die Transformation für das wichtigste Thema, das uns heute in Gesellschaft und Wirtschaft beschäftigt. Ob wir scheitern oder uns zu neuer Blüte aufschwingen – die Zukunft liegt gestaltbar in unseren Händen und Köpfen. Entscheidend ist, wie wir als Menschen und Gesellschaft die Transformationsthemen anpacken und wie wir unser vorhandenes Potenzial nutzen, um das Gelingen zu fördern und die Risiken zu minimieren.

Dafür müssen wir aktiv werden und uns an der Gestaltung beteiligen.

Wie wollen wir leben?Auf welche Errungenschaften und Werte wollen wir auf gar keinen Fall verzichten?Welche Art von Gesellschaft wünschen wir uns?Müssen wir unsere Demokratie modernisieren?Welche kulturellen Leistungen in Form von Institutionen, Regeln, Verboten und Gesetzen gewährleisten ein würdiges Zusammenleben von bald zehn Milliarden Menschen auf diesem Planeten?Wie kann sich die Wirtschaft weiterentwickeln, ohne die natürlichen Ressourcen auszubeuten? Brauchen wir ein qualitatives Wachstum?

[20]Ich bin überzeugt, dass die Antworten auf diese fundamentalen Fragen aus ebenso partizipativen wie kollaborativen Transformationsprozessen resultieren. Nur durch soziale Bewegungen und Partizipation können wir unsere Gesellschaft modernisieren. So funktioniert Demokratie – also offene Gesellschaften, die Kritik, Protest und Vielfältigkeit zulassen und aushalten, um sich weiter zu modernisieren. Diktaturen und Autokratien sind dazu nicht geeignet, denn sie wollen nichts verändern.

Als ich vor Jahren das faszinierende Naturschauspiel der Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling näher betrachtete, beeindruckte mich die metaphorische Kraft dieses Vorgangs. Ich sah darin ein Narrativ, eine Geschichte, die hilfreich sein könnte, um uns ein Bild der bevorstehenden Transformation zu geben. Insbesondere die sogenannten Imagozellen, die die Raupe nach der Verpuppung zu einem völlig neuen Insekt umprogrammieren, dienten mir als Inspiration, als passende Metapher und tragfähiges Modell, denn obwohl die Imagozellen die Vorstellung des neuen Schmetterlings als genetischen Code in sich tragen, werden sie vom Immunsystem der Raupe zunächst als Fremdkörper vehement bekämpft und lernen erst mit der Zeit, miteinander zu kommunizieren und Cluster zu bilden. Schließlich vermehren sie sich so rasant, dass sie vom Immunsystem nicht mehr schnell genug beseitigt werden können, und verwirklichen ihr Ziel: das Insekt als Schmetterling neu zu erschaffen.

Analog zu dieser gelungenen Transformation können wir das Imago-Prinzip als erfolgversprechenden Ansatz für einen Veränderungsprozess betrachten, in dem Pioniere den gesellschaftlichen Status quo reflektieren, die inneren Bilder der Menschen infrage stellen und in partizipativen Diskursen neue Visionen und Zukunftsbilder schaffen. Nach und nach werden in diesem Prozess immer mehr Menschen durch den geteilten Sinn, das gemeinsame Anliegen mobilisiert und ermöglichen so die Transformation als Bewegung.

Darüber hinaus bin ich sogar davon überzeugt, dass unser Denken analog zum Imago-Prinzip prinzipiell darauf angelegt ist, immer wieder neue Strukturen zu erfinden, und stetig neu geboren werden will – um es einmal pathetisch zu formulieren. Aber Transformation ist alles andere als ein Selbstläufer. Sie wird vor allem durch Handlungen einer Vielzahl von Individuen konstituiert, beeinflusst, befördert oder gehemmt.13 Wir müssen lernen, geduldig zu sein. Wie alle bisherigen Transformationen wird auch die aktuelle nicht frei von Konflikten und Unsicherheiten, von Verwirrungen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen sein. Aber wenn wir ein klares Bewusstsein für die Besonderheiten von Transformation entwickeln und ihr mit einem hohen Maß [21]an Offenheit begegnen, gepaart mit der grundlegenden Bereitschaft, tradierte Denkmuster zu überwinden, können wir die anstehenden Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft zum Wohle aller gestalten. The Future is up to us.

Dieses Buch ist so aufgebaut, dass es den Leserinnen und Lesern ein vertieftes Verständnis von Transformation ermöglicht. Durch Geschichte und Geschichten, Beispiele und Reflexionen, neue Perspektiven und Denkansätze lädt das Buch dazu ein, die wiederkehrenden Muster der Transformation besser zu verstehen und auf dieser Grundlage aktiv mitzugestalten.

Kapitel 1 beschreibt die Metamorphose des Schmetterlings als Analogie und Metapher für Transformation.

Kapitel 2 behandelt die Unterscheidung von Change und Transformation und beleuchtet die Bedingungen der Möglichkeit von Wandel in Organisationen und in der Gesellschaft.

In Kapitel 3 betrachten wir, wie Transformation in der Renaissance gelang, und was wir daraus für unsere Zeit lernen können.

In Kapitel 4 beleuchten wir den Paradigmenwechsel in der Telekommunikationsindustrie als Beispiel für Transformation.

Kapitel 5 spürt dem gemeinsamen Anliegen nach, das jeder Transformation innewohnt.

Kapitel 6 verweist auf die Bedeutung der Haltung und der inneren Bilder, deren wir uns versichern müssen.

Kapitel 7 interpretiert Zukunft und Zukunftsfähigkeit als eine Entscheidung.

Kapitel 8 befasst sich mit den gedanklichen Fundamenten von Transformation.

Kapitel 9 reflektiert die kulturellen Rahmenbedingungen von Transformation in Gesellschaft und Wirtschaft.

Kapitel 10 rückt die Akteure von Transformation in den Mittelpunkt: die Imagos.

[23]

[24]»Wenn Sie Schmetterlinge lieben, sollten Sie nicht auf Raupen treten!«

Elisabet Sahtouris

»Im Kokon ist ein Schmetterling sicher.

Aber dafür sind Schmetterlinge nicht gemacht.«

Unbekannt www.klub-der-kommplizen.de

»Wir staunen über die Schönheit eines Schmetterlings,

aber erkennen die Veränderungen so selten an,

durch die er gehen musste, um so schön zu werden.«

Maya Angelou

»Was für die Raupe das Ende der Welt,

ist für den Rest der Welt ein Schmetterling.«

Laotse

[25]Vor einigen Jahren, als ich lange im Zug saß, um vom tiefsten Süden in den hohen Norden Deutschlands zu fahren, las ich in einem Buch. Ich beschäftigte mich schon damals mit Transformation und wollte verstehen, wie diese auf der Metaebene funktioniert, also welchen persönlichen und psychischen Prozess Menschen während einer grundlegenden Veränderung durchlaufen. In dem Buch beschrieb die Autorin eine Art Kurve, die das emotionale Erleben von Menschen in Veränderungsprozessen abbildet. Ich wollte mehr darüber erfahren, bis mir eine Geschichte, die die Autorin erzählte, einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

Im Alter von neunzehn Jahren verließ die junge Frau die Schweiz, um eine Reise durch das gerade befriedete Nachkriegseuropa zu machen.14Sie reiste zuerst nach Frankreich, es folgten Freiwilligeneinsätze in Belgien, Italien, Schweden und Polen. In Polen nahm sie an einer humanitären Hilfsaktion des Internationalen Friedensdienstes teil und besuchte das Konzentrationslager Majdanek am Stadtrand von Lublin. Natürlich hatte sie von den KZs gehört und darüber gelesen. Doch vor Ort zu sein, war etwas anderes. Sie war erschüttert, Waggonladungen kleiner Schuhe und menschlichen Haares von ermordeten Kindern zu sehen, die Krematorien vor Augen und ihren Geruch in der Nase zu haben.

»Damals kannte ich das Leben nicht. Doch als ich an diesem Ort, in Maidanek, stand, überfielen mich plötzlich die Schrecken der ganzen Welt. Nach einer solchen Erfahrung kann man nie mehr derselbe Mensch sein wie zuvor.«

Sie ging in die Baracken, in denen die Kinder die letzte Nacht ihres Lebens verbracht hatten. Sie suchte nach Spuren und Botschaften der Kinder und fand Bilder und Symbole, die diese mit einem Stückchen Kreide oder auch nur mit den Fingernägeln in die Wand geritzt hatten.

»Das am häufigsten auftauchende Bild war der Schmetterling. Ich sah all diese Schmetterlinge. Ich war damals noch sehr jung. Ich wusste nicht viel. Ich hatte keine Vorstellung, (…) warum diese Kinder Schmetterlinge sahen.«15

Es sollte ein Vierteljahrhundert dauern, bis die junge Frau von damals verstand, was diese Schmetterlingsbilder zu bedeuten hatten. Als Wissenschaftlerin und Ärztin hatte sie inzwischen umfangreiche Erfahrungen mit sterbenden Kindern gesammelt und war zu einer Pionierin der Sterbeforschung avanciert. Ihr Name: Elisabeth Kübler-Ross.

[26]Wahrscheinlich geht es Ihnen genauso, wie es mir damals ging, als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte. Einerseits war ich ergriffen und fassungslos angesichts des eindrücklichen Berichts über die Verbrechen und Grausamkeiten der Nazis und anderseits faszinierte mich die Kraft des Schmetterlingssymbols, das dem Gräuel etwas wie Hoffnung, Freiheit und Neubeginn entgegenzusetzen schien.

Schon immer haben Schmetterlinge eine besondere Begeisterung und Bewunderung in mir ausgelöst. Seit meiner frühesten Jugend faszinierten mich ihre Farbenpracht, die Zartheit und Leichtigkeit ihres umherflatternden Daseins und das Wunder ihrer Verwandlung. Seitdem ich die Geschichte der Kinder von Majdanek von Kübler-Ross gelesen habe, haben Schmetterlinge eine noch größere Bedeutung für mich gewonnen.

Bis heute ist mir kein einziger Mensch begegnet, der sich der Schönheit von Schmetterlingen entziehen kann. Fast alle verspüren eine Regung in der Seele bei der Ansicht eines so ätherischen Wesens. Der Schmetterling berührt etwas in uns, erzeugt eine Resonanz, die mit unserer Sehnsucht nach Freiheit, Verwandlung, Leichtigkeit und Unbeschwertheit zusammenhängt.

Der Schmetterling in Kunst und Kultur

Mit unserer Bewunderung für den Schmetterling sind wir nicht allein. Seit der Antike haben Schmetterlinge in vielen Mythen und alten Kulturen ihren Platz. Wir finden sie in unzähligen Kunstwerken, Legenden, Geschichten, Liedern und Gedichten – bis in die Neuzeit hinein. Im antiken Griechenland galten Schmetterlinge als Verkörperung der menschlichen Seele; das altgriechische Wort für Schmetterling lautete ψυχή, psuchḗ oder psyche, auf Deutsch »Hauch, Atem, Seele«. In der griechischen Mythologie ist Psyche die Göttin der menschlichen Seele und von so großer Schönheit, dass sie selbst Aphrodite, die Göttin der Schönheit und Liebe, in den Schatten stellt. In vielen mythologischen Darstellungen erscheint die Seele mit Schmetterlingsflügeln: Vom Tode erlöst, kann sie sich von ihrer Hülle befreien und in die Höhe erheben.

Zwar symbolisiert der Schmetterling sowohl im Persien des Altertums, im alten Ägypten, in Japan als auch in der Tradition der Kelten vorrangig Schönheit und [27]Liebe, doch die meisten Kulturen verehren ihn vor allem als Botschafter der Hoffnung auf ewiges Leben, auf die Verwandlung nach dem Tod, also auf eine Wiedergeburt.16

Auch in der christlichen Kunst und Kultur fand der Schmetterling Eingang: als Zeichen des unvergänglichen Lebens und der Unsterblichkeit des Menschen. In einem der tiefgründigsten und meistinterpretierten Gedichte Johann Wolfgang von Goethes steht der Schmetterling für die Grunddynamik des Lebens: das Werden und Vergehen, der Transformation als Taktgeber des Lebens.

Selige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,

Weil die Menge gleich verhöhnet,

Das Lebend’ge will ich preisen,

Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,

Die dich zeugte, wo du zeugtest,

Überfällt dich fremde Fühlung,

Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen

In der Finsternis Beschattung,

Und dich reißet neu Verlangen

Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,

Kommst geflogen und gebannt,

Und zuletzt, des Lichts begierig,

Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.17

[28]Auch in der Gegenwart spielt die Symbolkraft des Schmetterlings immer wieder eine Rolle. Im Jahr 1969 erscheint mit »Papillon« einer der berühmtesten Gefängnisromane der Gegenwart. Der Autor des Buches, Henri Charrière, verbrachte über zehn Jahre in einem Gefängnis in Französisch-Guayana und unternahm währenddessen unzählige Fluchtversuche. Mit »Papillon« erzählt er in teils autobiografischer Weise aus dieser Zeit. Der Schmetterling, den er sich auf den Halsansatz tätowiert hatte, ist hier das Symbol der Freiheit und der Unbeugsamkeit. Unvergessen sind auch viele eindrückliche Szenen aus dem 1973 gedrehten gleichnamigen Kinofilm mit Dustin Hoffman und Steve McQueen.

Nur wenige Jahre später rückt der Schmetterling erneut ins Rampenlicht und wird mit dem Song »My Butterfly« des französischen Schlagersängers Danyel Gérard zum Evergreen einer ganzen Generation und Epoche. Der Schlager, der den Kosenamen einer verflossenen Liebe verewigt, ist voller romantischer Motive. Er besingt Wind, Sonne, Meer und Vögel und zeigt sich beeinflusst von der Flower-Power-Bewegung, die damals ihren Höhepunkt erlebte.

Die Magie der Metamorphose

So vielfältig die schöngeistige Symbolik der farbenprächtigen Falter ist, so faszinierend ist ihr Werden in der naturwissenschaftlichen Betrachtung: vom Ei zur Raupe zur Puppe zum Schmetterling. Sobald sich die Raupe in ihren Kokon einspinnt, beginnt eine einzigartige Metamorphose. Angeregt durch spezielle Enzyme, löst sich die bisherige Zellstruktur der Raupe allmählich auf. Erstaunlicherweise werden dabei nicht alle Raupenzellen vernichtet. Der Prozess setzt langsam ein. Die Raupe verdaut sich selbst und beginnt mit dem teilweisen Abbau ihrer Zellen. Dabei wird ihr Gewebe zerkleinert und in eine Art Protein-Suppe umgewandelt, aus der sich neue Zellen bilden. Diese völlig neuartigen Zellen werden von der Wissenschaft »Imagozellen« genannt. Sie sind insofern imaginativ, weil sie noch keine Schmetterlingszellen sind, sondern lediglich die Vision des künftigen Schmetterlings in sich tragen. Sie enthalten ein Zukunftsbild ihrer selbst. Gleichzeitig sind sie so andersartig, dass sie von [29]der sich auflösenden Raupe als Fremdkörper eingestuft und attackiert werden. Es herrscht große Verwirrung auf der Zellstrukturebene. Dem Immunsystem der Raupe gelingt es, diese erste Generation von Imagozellen zu eliminieren. Aber diese geben nicht auf und bleiben hartnäckig, sodass immer neue Imagozellen entstehen. In diesem Prozess gibt es einen Zeitpunkt, ab dem jede bekämpfte Zelle durch Tausende neuer Zellen ersetzt wird. Die Imagozellen sind lernfähig und sie kommunizieren miteinander. Sie verbinden sich und bilden mit der Zeit Cluster, die untereinander einen intensiven Informationsaustausch betreiben.

Nach einiger Zeit ist das Immunsystem der Raupe überwältigt und kann die andersartigen Zellen nicht mehr schnell genug zerstören. Immer mehr Imagozellen überleben, bis die Anzahl der Imagozellen und ihrer Verbindungen eine kritische Masse erreicht. Die Imagozellen setzen sich letzten Endes durch und dirigieren den weiteren Umbau der Raupe. Dabei hat jede Zelle ihre eigene Aufgabe. Für jede der neuen Zellen gibt es etwas zu tun, alle sind wichtig. Für jeden Körperteil im künftigen Schmetterling existiert bereits eine Imaginalscheibe, die einen Körperteil im künftigen Insekt gestaltet und alle anderen Zellen unterstützen sie darin, genau das zu tun. Eine Imaginalscheibe für den Flügel eines Schmetterlings kann zum Beispiel mit 50 Zellen beginnen und auf 50.000 Zellen anwachsen, bis der Flügel schließlich komplett aufgebaut ist.

In ihrer Metamorphose wird die Raupe systematisch auseinandergenommen und neu zusammengesetzt bis zur vollständigen Verwandlung. Dabei findet ein fast vollständiger körperlicher Umbau statt: Es gibt kein Körperteil, das der Schmetterling von seiner Raupe übernommen hätte. In meinen Vorträgen bekomme ich häufiger zu hören, dass all dies geschähe, um die Raupe als einen gierigen, destruktiven Konsumenten von grünen Blättern durch die Verwandlung positiv zu ersetzen. Doch darum geht es nicht. Es geht nicht darum, zu bewerten, ob ein Schmetterling besser oder schlechter ist als eine Raupe. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, dass an die Stelle der Raupe ein vollkommen anderes Wesen treten muss, weil die Raupe in ihrer alten Form nicht überlebensfähig ist.

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Abbildung 1: Der Imago-Prozess – Die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling

[31]Die Raupe ist eine Fressmaschine. Ihr einziger Zweck ist es, zu fressen und zu wachsen. Alles an der Raupe ist auf das Fressen ausgerichtet. Deshalb ist der Körper der Raupe im Wesentlichen ein Rumpf mit Verdauungsorgan. Raupen nehmen fast pausenlos Nahrung auf. Sie schaffen es, in weniger als zwei Wochen ihr Körpergewicht um 3000 Prozent zu steigern. Dafür müssen sie sich fünf- bis sechsmal häuten, da ihre oberste Hautschicht nicht dehnbar ist. Der kleine Kopf der Raupe besteht hauptsächlich aus kräftigen Nahrungsorganen. Ihre Augen können nur zwischen Licht und Dunkel unterscheiden.

Das Problem der Raupe ist, dass sie geschlechtslos ist und sich aus sich selbst heraus nicht vermehren kann. Die Metamorphose ist ihre Rettung – und gleichzeitig ihr Untergang. Sobald die Raupe genug Nahrung aufgenommen hat, stellt sie das Fressen ein und sucht sich einen geschützten Ort, an dem sie sich aufhängen und verpuppen kann. Im Schutz des Kokons geschieht nun Unglaubliches. Die Raupe erfindet sich neu. Aus einem erdgebundenen, pflanzenfressenden Wesen mit eingeschränkter Sicht und Bewegung entsteht ein Insekt, das mit einem außergewöhnlichen Navigationssystem ausgestattet ist.18 Ein Schmetterling hat keine Ähnlichkeit zu einer Raupe – weder äußerlich noch hinsichtlich der Funktionsweise seines Körpers. Der Schmetterling hat ein neues Herz, neue Augen, Fühler, einen neuen Stoffwechsel. Er ist kein Wurm mit Flügeln. War die Raupe ein Rumpfwesen mit kleinen Extremitäten, so geht beim Schmetterling alles von der Brust des Tieres aus: die häufig farbenfrohen Flügel und auch die sechs zarten Beine, die zum Festhalten und nicht zum Gehen gebraucht werden. Mit ihrem langen Rüssel nippen sie an den süßen Blütensäften und nehmen damit Blütenstaub auf, den sie von einer Pflanze zur anderen tragen. Die wichtigste Aufgabe des Schmetterlings besteht darin, für Nachkommen zu sorgen.19

So wichtig dieser praktische Nutzen der schönen Falter auch ist, so wenig erschöpft sich darin ihr Wesen. Denn ihre Ästhetik und vielfältige Schönheit geht weit über das Thema Arterhaltung und Fortpflanzung hinaus. Vielleicht ist die Farben- und Formenpracht der flüchtigen Falter ja auch ein wenig dazu da, um von uns bewundert zu werden?

Der Schmetterling als Vorbild für Transformation

Schmetterlinge sind ein Faszinosum der Natur. Sie sind ein Wunder an Kreativität, Design und Verwandlung, das uns zum Staunen bringt. Wenn wir sie betrachten, kommen wir nicht umhin, uns zu fragen: Wie ist das möglich? Ein Beleg für die Magie, [32]die von dieser Verwandlung ausgeht, ist das Kinderbuch »Die kleine Raupe Nimmersatt«, das weltweit mehr als 50 Millionen Mal verkauft und in 64 Sprachen übersetzt wurde. Aber auch für die Transformation von Organisationen sind Schmetterlinge ein wunderbares Symbol. Dies zum einen, weil sie vier völlig unterschiedliche Lebensformen durchlaufen (Ei, Raupe, Puppe, Schmetterling) und Künstler der Verwandlung und Erneuerung sind. Zum anderen, weil sie Eigenschaften mitbringen, die uns in der heutigen Wirtschaftswelt als Vorbild und Inspiration dienen können. Im folgenden Überblick beleuchten wir diese Eigenschaften näher.

Vielfalt

Die Vielfalt der Schmetterlinge ist einfach überwältigend. Sie bilden mit rund 180.000 Arten und 130 Familien neben den Käfern die formenreichste Insektenordnung. Jede einzelne dieser 180.000 Arten hat ein anderes Farbmuster und anders geformte Flügel. Kein Künstler der Welt wäre in der Lage, diese Varietät zu erschaffen.

Überlebensfähigkeit

Schmetterlinge existieren schon seit der Kreidezeit, also seit mehr als hundert Millionen Jahren auf dieser Erde. Man findet diese Überlebenskünstler auf allen Erdteilen mit Ausnahme der Antarktis. Es gibt kaum ein Lebewesen, das im Laufe der Evolution so überlebensfähig war wie der Schmetterling.

Verbundenheit

Schmetterlinge sind gebende Wesen und tragen durch Bestäubung zum Erhalt unzähliger Arten bei. Zudem sind sie wichtige Bioindikatoren und reagieren sensibel auf die Veränderungen ihrer Umwelt.

Strategisches Talent

Man kann bei den Schmetterlingen eine faszinierende Vielfalt unterschiedlicher Überlebensstrategien beobachten, mit denen sie sich gegen hungrige Vögel, Fledermäuse und andere Tiere schützen. Zum Beispiel finden sie sich während der nächtlichen Ruhephase in kleinen Gruppen zusammen, was den Feinden den Angriff deutlich erschwert.

[33]Agilität und Leichtigkeit

Schmetterlinge sind der Inbegriff von Agilität und Leichtigkeit. Sie bezaubern uns nicht nur durch ihre filigrane Schönheit, sondern können mit einem Gewicht von wenigen Gramm mehr als 80 Kilometer am Tag fliegen und dabei mit ihrer Energie sehr gut haushalten.

Anpassungsfähigkeit

Während der Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling ändert sich vieles, doch der genetische Code bleibt gleich. Diese Anpassungskünstler verändern sich also, ohne dabei ihre Identität aufzugeben.

So faszinierend der Verwandlungsprozess des Schmetterlings ist, so wesentlich ist auch der eigentliche Sinn und Zweck der Metamorphose, denn die Raupe geht nicht unter, damit ein schöner Schmetterling entsteht. Beide Daseinsformen haben ihre Berechtigung, jedoch unterschiedliche Aufgaben im Leben des Insekts. Ohne die Verwandlung kann es kein zukünftiges Leben geben. Es geht darum zu verstehen, dass erst die Weiterentwicklung für das Überleben sorgt. Und das gilt für die Transformation von Organisationen ebenso. Der Prozess der Metamorphose gibt uns wertvolle Hinweise darauf, was und wie wir etwas tun müssen, um Transformation im Unternehmen zu gestalten.

Kosmetische Transformationsmaßnahmen: Nicht mehr als angeklebte Flügel

Vielen Unternehmen dämmert es mittlerweile, dass sich in der heutigen Welt etwas ändern muss. Doch ihr Vorantreiben des Wandels entpuppt sich bei näherem Hinsehen oftmals als eher unbeholfen und oberflächlich. Sie konzentrieren sich auf die Mechanik der Transformation im Sinne des Ursache-Wirkungs-Prinzips oder sie versuchen, durch die radikale Überstülpung von Methoden aus den letzten Changemanagement-Trends ihre Organisation zu verändern.

Was sie dabei oftmals übersehen, ist die tiefere Bedeutung der Transformation. Um im Bild der Metamorphose zu bleiben: Es ist keine gute Idee, der Raupe lediglich schillernd-bunte Schmetterlingsflügel anzuheften, denn diese Flügelattrappen sind weder ein neu entstandener Körperteil des Organismus, noch sind sie funktional. Die Raupe kann mit solchen nachgebildeten Aufsätzen nichts anfangen, sie werden ihr sogar hinderlich sein. Und niemals wird auf diese Weise aus der Raupe ein [34]Schmetterling werden. Sie ist und bleibt eine Raupe, auch wenn sie sich äußerlich geändert hat.

Ähnlich funktionieren viele Changeprojekte in Unternehmen, die aufgesetzt werden, um neuen Herausforderungen oder Marktbedingungen zu begegnen: Der Wandel geschieht nicht von innen heraus, sondern ist eher kosmetischer Natur. Damit neu implementierte Strukturen funktionieren, müssen die Akteure – so die Topdown-Vorgabe – ihr Verhalten ändern. Im Unterschied dazu ist Transformation keine Vorgabe, sondern das Ergebnis eines Prozesses, und zwar anhaltender, unternehmensweiter Motivation und des Engagements für ein gemeinsames Ziel.

Kollektive Transformation in Organisationen

Ich bin davon überzeugt, dass wir aus der Metamorphose des Schmetterlings viel lernen und dies auf Unternehmen, Gesellschaft und Organisationen übertragen können. Lassen Sie mich kurz erklären, weshalb ich diese Überzeugung hege. Gesellschaftliche oder unternehmerische Transformation beginnt mit dem Auftauchen »imaginierender« Individuen oder Pioniere. Oftmals werden sie als »Abweichler«, »Spinner« oder Außenseiter wahrgenommen, weil sie das Bestehende angreifen, vielleicht sogar zerstören wollen. Sie schwimmen gegen den Strom und stellen alte Gewohnheiten und Gesetzmäßigkeiten infrage. Für sie spricht, dass sie in der Regel mit einem gemeinsamen Anliegen, einem Langzeitziel verbunden sind – auch wenn dieses zu Beginn noch vage ist.

Diese Pioniere sind unsere Zukunfts- oder Imagozellen, die sich innerlich mit der Zukunft verbinden und das Heute aus der Zukunft heraus lenken. Diese Individuen sind so etwas wie Fackelträger20 einer sich entfaltenden Zukunft. Sie schaffen eine Brücke, eine Verbindung zwischen heute und morgen. Die Reaktionen auf diese Wegbereiter sind freilich unterschiedlich. Oft bestehen sie darin, die Zeichen des Neuen zu ignorieren, erste Bewegungen zu unterdrücken oder die neuen Gedanken auszublenden. Sie werden belächelt und auch bekämpft. Das Immunsystem der alten Gesellschaft versucht, diese Visionäre loszuwerden. Dennoch verhindern diese Reaktionen nicht, dass immer mehr neue »imaginierende« Individuen auftauchen. Im Gegenteil! Mit der Zeit bilden sich Cluster von Gleichgesinnten, die sich untereinander austauschen und Gemeinschaften bilden. Sie lernen, sich gegenseitig in ihren jeweiligen Identitäten und Fähigkeiten zu unterstützen. Nach einiger Zeit entstehen [35]so Gedankenwelten und Ideen, die Resonanz erzeugen. Das deutsche Wort Zeitgeist drückt treffend aus, was damit gemeint ist.

Die Imagozellen bekommen eine Identität. Getrieben von einem gemeinsamen Anliegen und einer geteilten Vision fangen sie an, sich zu mobilisieren. Es entstehen eine Dynamik und ein Umfeld, in dem die neue Vision aufblühen kann. Dabei werden Motivation und Engagement von der Ebene der Einzelnen auf die Teamebene und schließlich auf die gesamte Organisation ausgeweitet.

Der Schlüssel für eine erfolgreiche Mobilisierung im Unternehmen liegt darin, eine Bewegung an der Basis zu schaffen, die vom mittleren Management und prominenten Unterstützern mitgetragen wird. Die Basis muss lernen, dass es sich lohnt, über den täglichen Egoismus hinauszugehen, um Teil einer größeren Dynamik zu werden. Das Zentrum der Bewegung bilden die Imagozellen.

Was noch wichtig ist: Die Transformation wird im Intellekt des Einzelnen entworfen. Sie beginnt mit einer Reflexion und der Auseinandersetzung mit den inneren Bildern und mentalen Modellen. Nach der rationalen Erkenntnis muss die Idee auch unser Herz erreichen und zu einem neuen Narrativ werden. Dann wird sie ansteckend, inspirierend und erreicht auch andere. Die Transformation ist somit ein Akt der Bewusstseinsentwicklung. Wir brauchen eine Veränderung in unserer Mentalität und Identität, um eine Welt schaffen zu können, die sich deutlich von der jetzigen Welt unterscheidet – die besser ist. Das Gute daran ist, dass einem weiterentwickelten Bewusstsein auch ein größerer Lösungsraum zur Verfügung steht, um eine neue Zukunft gestalten zu können.

So wie sich die Imagozellen des Schmetterlings gegen das eigene Immunsystem durchsetzen müssen, stellen sich den Innovatoren in Organisationen jahrzehntealte Traditionen, lieb gewonnene Abläufe, eingeübte Gewohnheiten und Routinen in den Weg. Diese Vorkämpfer erkennen, warum das alte System an seine Grenzen stößt und eine Weiterentwicklung notwendig ist. Ihnen gelingt es, mögliche Bilder der Zukunft zu entwerfen und Gleichgesinnten einen tieferen Sinn des Wandels zu vermitteln. Immer mehr Imago-Pioniere bringen ihre eigenen Ideen, neue Glaubenssätze und Agenden in die Diskussion mit ein und verbinden sich gedanklich mit dem Morgen.

Mehr und mehr »imaginierende« Individuen finden sich zu Clustern zusammen und erhöhen die Effizienz ihrer Kommunikation. Nach einiger Zeit ist die innerbetrieb[36]liche Bewegung so groß geworden und ihre Identität derart gefestigt, dass sie den Zeitgeist sowie den zukunftsgerichteten Diskurs einer Organisation prägt. Diese mentale Energie treibt den Transformationsvorgang an, lockert den »psychischen« Boden des Unternehmens auf und reichert ihn mit Nährstoffen an. Es entsteht ein kulturelles Umfeld, in dem die neue Vision aufblühen kann. Die Zukunftszellen warten nicht auf Zukunft; sie wagen den Aufbruch. Eine Transformation ist deshalb noch lange kein durchgeplantes Projekt, sondern eine von zunehmender Gewissheit geleitete Reise, deren Ziel zunächst vage bleibt.

Dass dies auf Widerstand stößt, ist nur natürlich und Teil des Prozesses. Denken wir an die ersten Imagozellen in der Schmetterlingspuppe, die vom Immunsystem der Raupe zunächst erfolgreich bekämpft werden. Von diesem anfänglichen Widerstand dürfen wir uns aber nicht entmutigen lassen. Wir müssen zu resilienten Imagozellen unserer Organisation werden und geduldig bleiben.

Wahre Transformation beginnt in einer Organisation, sobald sich Individuen mit neuen Ideen, mit einem neuen Anliegen, mit einer neuen Vision für die Zukunft zu Gruppen zusammenfinden. Wie die Kraft des Einzelnen zum tiefgreifenden Umbruch ganzer Sozialgefüge beitragen kann, hat kaum jemand so gut auf den Punkt gebracht wie der Systemtheoretiker, Zukunftsforscher und Mitbegründer des Club of Rome Ervin Laszlo: »Der Einzelne hat nach der systemischen Sichtweise die Macht, etwas zu tun. Das ist es, was man im Englischen ›empowerment‹ nennt. In einem chaotischen System, das wir heute wissenschaftlich in seinen sehr fein zusammengesetzten Ordnungen erklären können, haben kleinste Veränderungen die Möglichkeit, sich auszudehnen und das ganze System zu beeinflussen – das ist der so genannte Schmetterlingseffekt. Jeder einzelne Mensch ist so ein Schmetterling und hat die Möglichkeit, das ganze System zu beeinflussen. Wenn ein Schmetterling einen Tornado auslösen kann, wie viel mehr können wir Menschen dann auslösen?!«21

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[40]»Tradition heißt nicht, Asche verwahren,

sondern eine Flamme am Brennen erhalten.«

Jean Jaures geprägt von Thomas Morus (1478 – 1535).

»Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.«

Wolf Biermann

»Ein Mann, der Herrn Keuner lange nicht gesehen hatte,

begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹

›Oh!‹ sagte Herr Keuner und erbleichte.«

Bertolt Brecht (in Geschichten vom Herrn Keuner)

»Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird.

Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.«

Georg Christoph Lichtenberg

»Veränderung wird nur hervorgerufen durch aktives Handeln,

nicht durch Meditation oder Beten allein.«

Dalai Lama

»Intelligenz ist die Fähigkeit, sich Veränderungen anpassen zu können.«

Stephen Hawking

[41]Als Alice im Wunderland bereits mehrfach ihre Gestalt geändert hatte und mal drei Meter groß, mal klein wie eine Maus geworden war, begegnete sie einer blauen Raupe, die oben auf einem Pilz saß und gemütlich an einer Wasserpfeife paffte. Die Raupe und Alice sahen sich eine Weile schweigend an, dann nahm die Raupe die Wasserpfeife aus dem Mund und sprach Alice an: »›Wer bist denn du?‹ sagte sie.« Und Alice antwortete zaghaft: