Die Melodie der Traumpfade - Di Morrissey - E-Book
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Die Melodie der Traumpfade E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Der neue mitreißende Roman von Australiens erfolgreichster Autorin Di Morrissey - »Die Melodie der Traumpfade« handelt von einer folgenschweren Liebe, die zwischen Verliebtheit und Verruf steht, von Abenteuer und dem Bestreben, die indigene Kultur der Aborigines zu schützen. Im Küstenstädtchen Broome angekommen, scheint Jacquis Leben nach rastlosen Jahren endlich wieder eine Wende zum Positiven zu nehmen: Ein von ihr organisiertes Autorenfestival steht kurz bevor, ihr Sohn Jean-Luc kommt aus Frankreich zu Besuch und eine Liebesbeziehung zu Dokumentarfilmer Damien bahnt sich an. Plötzlich taucht ihr alter Schulfreund Cameron auf, und mit ihm das Gerücht, dass unmittelbar vor der Traumküste Broomes Erdgas gefördert werden soll – eine große Gefahr für die Umwelt und die indigene Kultur der Aborigines. Jacqui muss dies stoppen und wendet sich an Cameron. Diesem gelingt es, Schlimmes zu verhindern – doch kann er sich so auch einen Platz in Jacquis Herzen erobern? Di Morrissey ist die erfolgreichste Autorin Australiens. Lesen Sie auch »Die Tränen des Mondes«, der große Auftakt der australischen Kimberley-Reihe.

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Seitenzahl: 557

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Di Morrissey

Die Melodie der Traumpfade

Die grosse Australien-Saga

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der Zauber der Liebe und die endlose Weite des Roten Kontinents

Nach einigen rastlosen Jahren ist Jacqui im australischen Küstenstädtchen Broome angekommen und hat dort einen kleinen Buchladen eröffnet. Endlich scheint ihr Leben eine Wende zum Guten zu nehmen, und der Dokumentarfilmer Damien lässt ihr Herz höher schlagen. Doch dann taucht plötzlich ihr alter Schulfreund Cameron auf …

Als eine große Gefahr für die Umwelt droht, muss Jacqui sich an ihn wenden, denn er kann helfen, das Schlimmste zu verhindern. Wird es ihm gelingen und wird er sich einen Platz in Jacquis Herz erobern?

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Dank

Leseprobe »Der Ruf des Nachtvogels «

 

 

 

 

Den Menschen gewidmet, die mit Worten und Taten kämpfen, um jene Orte zu schützen, an denen die Zeit stillsteht und wo auch künftige Generationen im Angesicht solch unveränderter zeitloser Schönheit ehrfürchtig staunen werden.

1

Gleißende Helligkeit blendete ihn, als sich der Hubschrauber schräg neigte und direkt ins Sonnenlicht flog.

Hinter dem Piloten des Bell 206 saß Damien in einem Gurtgeschirr angeschnallt auf dem Rücksitz. Die Tür des Helikopters stand offen, und so erblickte er zum ersten Mal diesen Teil des Buccaneer-Archipels an der nördlichen Küste Westaustraliens. Die langgestreckte eisvogelblaue Wasserfläche der Collier Bay mit den archaischen rötlichen Klippen und Inseln war ein wenig erforschter Teil von Kimberley. Ebenso die Dugong Bay, wo Walschulen immer wieder vergnügt durch die glatte Wasserfläche stießen, ehe sie zurück in dämmrige Tiefen tauchten. Als Kameramann und Filmemacher hatte Damien im Lauf der Jahre viele spektakuläre Orte gesehen, doch dies hier war etwas Besonderes, was ihn zutiefst berührte.

Er drückte die Kamera etwas fester an sich, und plötzlich hatte er ein altes Musikstück im Ohr, eine Filmmusik, die für diese Szenerie wie geschaffen schien. Als Kameramann liebte er Luftaufnahmen, und diese urwüchsige Landschaft unter ihm war atemberaubend.

Der Pilot warf ihm einen Blick über die Schulter zu, hob lächelnd den Daumen und deutete nach vorn.

Ins Blickfeld kamen jetzt die Klippen des McLarty Range, schroffe Felszungen, die eine größere Wasserfläche umschlossen und sich beinahe berührten. Die Engstellen zwischen den hohen Klippen wurden immer schmaler. Bei Flut staute sich das einströmende Wasser dahinter, bis es sich zum Gezeitenwechsel wieder mit Macht ins offene Meer ergoss – die Horizontal Falls waren ein einzigartiges Phänomen. Jede Sekunde schossen hunderttausend Liter Wasser in einer kurzen Folge von Wasserstürzen waagrecht durch den Durchlass, bevor sie in die ruhige Weite der Talbot Bay einmündeten.

Ein einsamer weißer Punkt tief unter ihm erinnerte Damien daran, weshalb er hier war. Er hob die Kamera und begann sie zu justieren.

»Soll ich es über den Bug anfliegen?«, hörte er die krächzende Stimme des Piloten über das Headset. »Ich werde dann ein paar Runden drehen, sodass Sie das Schiff aus verschiedenen Winkeln filmen können.«

Damien hob zustimmend den Arm, froh, dass der Pilot an verrückte Kameraleute gewöhnt war, die sich hinauslehnten und auf die Kufen stellten, um die gewünschten Aufnahmen zu bekommen.

Unter dem Helikopter dümpelte ein elegantes weißes Kreuzfahrtschiff dahin, eines der kleineren, die in diesem Gebiet unterwegs waren, wobei auch dieses seine Passagiere mit opulentem Luxus verwöhnte. Dieses Schiff war ein Symbol für das Eindringen des Menschen in Australiens ungezähmten Nordwesten und machte die Wildnis drei Dutzend gutbetuchten Leuten zugänglich, die sich diese unvergessliche zehntägige Reise leisten konnten.

Damien erhaschte einen Blick auf den insektenähnlichen Schatten des Helikopters auf der Wasseroberfläche, während sie tiefer gingen und vor dem Schiff verharrten. Dann überflogen sie den Bug, beschrieben über dem Liner einen Kreis und blieben schließlich längsseits auf gleicher Höhe mit dem Schiff. Damien zoomte den schnittigen Bug, der durchs Wasser pflügte, für eine Nahaufnahme heran. Wo stecken bloß die Delphine?, überlegte er.

Nachdem der Helikopter mehrere Runden geflogen hatte, damit Damien aus verschiedenen Perspektiven filmen konnte, setzte der Pilot sacht auf dem gekennzeichneten Landeplatz am Heck des Schiffes auf.

Damien stieg aus. Richie, sein Assistent und zweiter Kameramann, kam ihm über das Deck entgegen.

»Ich hab, glaube ich, ein paar gute Aufnahmen von deiner Landung«, sagte er.

»Das hoffe ich. Es geht ja nicht an, dass du hier bloß mit den Passagieren abhängst, du musst dir deine Brötchen schon verdienen«, neckte ihn Damien. »Allerdings hast du den echt sagenhaften Blick von dort oben verpasst.«

»Von hier unten sieht es auch ziemlich toll aus. Übrigens werden die Passagiere Gäste genannt«, erwiderte Richie. »Auf der Fahrt hierher habe ich etliche Stunden Hintergrundmaterial gedreht und ebenso beim Anlegen gestern Nacht. Inklusive Sonnenaufgang. Alle bereiten sich jetzt auf die Exkursion vor, und sie wissen auch, dass dabei für Werbezwecke gefilmt wird. Nur ein Paar hat nicht zugestimmt, aber die können wir notfalls rausschneiden. Bist du bereit für das große Spektakel?«

»Von oben sieht es ziemlich beeindruckend aus. Was hast du für uns arrangiert?«

»Wir fahren in verschiedenen Zodiac-Booten. Du mit dem ganz vorn«, sagte Richie.

»Gut. Dann kannst du dich auf die Passa… ich meine, auf die Gäste und ihre Reaktionen konzentrieren. Derweil kümmere ich mich um Landschaft, Nahaufnahmen und die Action.«

»Klingt nach einer echt krassen Strömung. Das dürfte in den kleinen Booten ein ganz schöner Nervenkitzel sein«, meinte Richie.

 

Auf dem unteren Deck am Heck des Schiffes beobachtete eine hochgewachsene Frau in weißen Shorts und schickem Hemd, wie die Touristen vorsichtig in die Schlauchboote stiegen, die von ihren Davits ins türkisfarbene Wasser hinuntergelassen worden waren.

Sie mochte in den Vierzigern sein, doch ihr gesundes, natürliches Aussehen mit nur wenig Make-up und den von der Sonne gebleichten Strähnchen sowie der schlanke, gebräunte Körper strahlten jugendliche Frische aus.

»Kommen Sie, Jacqui, Sie werden begeistert sein. Wir sind im ersten Boot.« Ein junger Bootsführer reichte ihr eine Rettungsweste und ging auf dem Weg zu den Zodiacs voraus.

Nacheinander nahmen die Gäste in den vier Schlauchbooten Platz, alle mit Rettungswesten und einem festgezurrten Hut auf dem Kopf, eine der offenbar unverzichtbaren Wasserflaschen in der Hand, Fotoapparate und Handys griffbereit.

Jacqui wurde auf der einen Seite ganz vorne platziert und stellte fest, dass sie neben einem Mann mit einer Filmkamera saß.

»Ich bin Damien Sanderson«, stellte er sich vor, »und drehe einen Kurzfilm für das Tourismusbüro von Kimberley. Wahrscheinlich werde ich nicht immer ruhig sitzen bleiben können. Ich hoffe, ich nehme Ihnen dann nicht zu viel von der Sicht.«

»Ach, das macht nichts. Sie haben ja schließlich einen Job zu erledigen. Ich heiße Jacqui. Sind Sie gerade mit dem Helikopter aus Broome gekommen?«

»Aus Derby, genau genommen. Bin mit dem Heli ein ganz schönes Stück die Küste entlanggebrummt. Eine faszinierende Landschaft. Sind Sie zum ersten Mal hier?«

»Ich bin zum ersten Mal an den Horizontal Falls. Aber ich lebe in Broome und soll an Bord einen Vortrag für die Gäste halten.«

»Sie haben Glück, in einer so interessanten Gegend zu wohnen. Sind Sie Lehrerin?«

»Nein, mir gehört der hiesige Buchladen. Deshalb lese ich eine Menge«, lachte sie.

Während sie von dem Passagierschiff wegbrausten, erklärte ihnen ihr Bootsführer, dass die Zodiacs nacheinander durch die Engstelle fahren, eine Runde drehen und dann wieder durch den schmalen Spalt zurückfahren würden. »Sie haben jede Menge Zeit zum Fotografieren, aber bitte bleiben Sie unbedingt sitzen, es kann etwas ungemütlich werden«, warnte er.

Jacqui warf einen Blick zurück auf das nachfolgende Boot, in dem der andere Kameramann saß. Als ihr Zodiac dann den ersten Satz machte und wieder aufs Wasser klatschte, fühlte sie sich auf einmal sehr verwundbar. Das war etwas anderes, als auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffes hoch über den Wellen zu thronen.

Dann wurden wie auf ein Stichwort die Motoren aller Boote gedrosselt, sodass die Zodiacs nur noch dahintrieben und sich leicht auf- und abbewegten. Vor ihnen ragten zerklüftet und verwittert die riesigen roten Klippen auf. Manche ihrer Vorsprünge und Kanten waren vom jahrhundertelangen Anbranden der Wogen geglättet, andere wiederum zu scharfen Nadeln geschliffen worden.

Da ist ja kaum genug Platz, dass sich ein Vogel hinsetzen kann, dachte Jacqui. Inzwischen war das Tosen des Wassers zu einer bedrohlichen Geräuschkulisse angewachsen. Vor sich sah sie den kaum mehr als bootsbreiten Durchlass, in dem das weiße Wasser zu kochen schien.

»Heben Sie die Hand, wenn Sie so weit sind!«, rief der Bootsführer Damien zu. »Wir müssen dann aber noch den richtigen Zeitpunkt abwarten. Okay?«

Jacqui krallte sich am Bootsrand fest, während Damien seine Kamera überprüfte, in Position brachte und den Arm hob. Ein, zwei Sekunden später röhrte der Motor los, und alle wurden nach hinten gedrückt, als das Boot Fahrt aufnahm und mit einem Schwenk ins reißende Wasser fuhr, das hart gegen die Klippen schlug.

Einige im Boot kreischten, andere pressten die Lippen aufeinander und hielten sich krampfhaft fest, wieder andere versuchten trotz allem zu fotografieren, als das Boot unverhofft von den Wassermassen erfasst und in den Spalt gezogen wurde. Das Zodiac schleuderte hin und her, prallte auf das aufgewühlte Wasser und bewegte sich halb hüpfend durch die schmale Passage, sodass Jacqui schon befürchtete, sie alle würden gegen die Felsen geschmettert werden. Hier verwandelte sich das Wasser in ein glänzend grünes Gebrodel, gekrönt von weißem Schaum. Jacqui merkte, dass sie den Atem anhielt – bis sie schließlich, mit einem letzten reißenden Schlingern, unversehens ins ruhige Blau der Talbot Bay gelangten. Was für ein beängstigendes und zugleich packendes und berauschendes Erlebnis! Und obwohl es nur wenige Minuten gedauert hatte, war es Jacqui wie eine Ewigkeit vorgekommen.

Die Gäste brachen in erleichtertes Gelächter aus und plapperten durcheinander. Nun, weit genug von der Engstelle entfernt, standen auch einige auf und fotografierten die nachfolgenden Zodiacs, die nacheinander durch die tosende Engstelle schlitterten, begleitet von Rufen und Schreien der Passagiere. Weiter hinten konnte man einen weiteren horizontalen Wasserfall erspähen.

Damien ließ die Kamera sinken. Er war froh, dass er sich für das klobige Unterwassergehäuse entschieden hatte, sodass Gischt und Spritzwasser dem Gerät nichts anhaben konnten. »Na, wie fanden Sie es?«, fragte er Jacqui.

Ihr Haar war klitschnass, die Rettungsweste durchgeweicht, aber sie klang begeistert: »Fantastisch. Beängstigend. Aber toll. Großartig!«

»Müssen wir wieder durch die Enge zurück, um zum Schiff zu kommen?«, fragte ein Deutscher. »Gibt’s keinen Weg außen rum?«

»Nein. Außer Sie wollen durch die hinteren Falls schwimmen oder surfen«, rief der Bootsführer zurück. »Aber wir können noch ein paarmal durch den Engpass fahren, wenn Sie möchten.«

»Sind hier Haie oder Krokodile im Wasser?«, fragte eine Frau.

Der Bootsführer zuckte die Achseln. »Manchmal schon.«

»Wirklich? Dann war das eine Mal schon zu viel für mich«, meinte eine andere schaudernd.

Das Zodiac, in dem Richie saß, kam näher. Er winkte Damien zu, und die beiden verständigten sich mit ein paar kurzen Rufen, was sie bei der nächsten Durchfahrt filmen wollten.

Jacqui genoss die zweite Durchfahrt sehr viel mehr als die erste, obwohl die Boote diesmal stärker schlingerten und so noch näher an die Klippen gerieten. Ihr fiel sogar ein, dass sie ja auch einen kleinen Fotoapparat mitgenommen hatte, und sie machte ein paar Aufnahmen von diesem Abenteuer.

 

Eine Stunde später nahmen alle Zodiacs wieder Kurs auf die Kimberley Sun.

Während die Boote längsseits festmachten und man den Gästen zurück an Bord half, herrschte heitere Plauderstimmung.

Jacqui wusste, dass das Hochgefühl, das alle erfasst hatte, noch eine Weile anhalten würde. Erst wenn die Gäste bei Champagnercocktails auf dem Schattendeck neben dem Pool einander Fotos gezeigt hatten, würde die Begeisterung allmählich nachlassen, und die Befriedigung, dieses Erlebnis auf der Liste abhaken zu können, würde der Vorfreude auf das nächste Abenteuer weichen.

»Gleich sind Sie dran mit Ihrem großen Auftritt, Jacqui. Sie sind die nächste Attraktion«, sagte ein Mann von der Crew, der die nassen Rettungswesten einsammelte.

»Nur gut, dass mein Vortrag erst nach dem Dinner stattfindet, wenn sich alle frisch gemacht haben und abgefüttert sind. Denn die Falls sind nun mal nicht zu toppen«, lächelte sie. »Außerdem macht es mich nervös, vor Leuten zu sprechen.«

»Das geht uns doch allen so! Sie kriegen das schon hin. Übrigens kommt frischer Barramundi auf den Tisch. Mr. Franklin hat heute Morgen ein Prachtexemplar gefangen. Er ist hin und weg.«

»Da ist dem Ersten Offizier bestimmt ein Stein vom Herzen gefallen. Er hat Mr. Franklin ja quasi versprochen, dass er einen Mordsfang machen würde. Und dieser Gast scheint es gewohnt zu sein zu kriegen, was er will. Was wäre wohl passiert, wenn das nicht geklappt hätte?«

»Der Erste Offizier kennt da ein paar Stellen, wo man mit großer Sicherheit was Ordentliches an den Haken kriegt. Das sind seine Asse im Ärmel für Gäste wie Mr. Franklin, für die nur das Beste gut genug ist.«

»Wäre gut, wenn ich wüsste, wo die sind. Falls jemand mal in meinen Buchladen kommt und einen Barramundi verlangt.«

»Es gibt preisgünstigere Angelplätze als diesen schwimmenden Palast«, meinte der Mann schmunzelnd. »Aber jetzt muss ich weiter. Sundowner und Horsd’œuvres auf dem Oberdeck stehen an. Bis später, Jacqui.« Er schnappte sich die Kiste mit den Rettungswesten und eilte davon.

Jacqui ging in ihre kleine Zweierkabine hinunter und betrachtete die kunstvoll zu flauschigen weißen Schwänen gefalteten Handtücher an den Fußenden der beiden Doppelbetten. Suzi, die Hausdame auf dem Schiff, hatte den Mitarbeiterinnen beigebracht, Handtücher zu den verschiedensten Tieren zu falten, und Jacqui musste lächeln, als sie auf dem Kopf des einen Schwans ihre Lesebrille entdeckte. Was für einen Riesenspaß hätte Jean-Luc auf so einer Fahrt, dachte sie.

Doch sogleich schob sie den Gedanken beiseite, setzte sich an den kleinen Schreibtisch, fuhr ihr Notebook hoch und ging die PowerPoint-Präsentation noch einmal durch, die sie nachher zeigen wollte.

Man hatte sie gebeten, auf dieser Reise-Etappe einen lockeren Vortrag über Kimberley zu halten. Anschließend würde Patricia, die Inhaberin des Souvenirshops an Bord, für ihre wunderschönen Broome-Perlen werben, die sie mit viel Geschick an den Mann und die Frau zu bringen verstand.

Jacqui liebte es nicht, vor Publikum zu sprechen – sie war in letzter Minute eingesprungen, weil die Stammrednerin überraschend nach Perth fliegen musste. Doch die Gäste hier hatten es sich einiges kosten lassen, in dieses entlegene Gebiet zu reisen. Daher würden sie ihr bestimmt interessiert zuhören, wenn sie die unermessliche Weite der Landschaft mit ihrer atemberaubenden Schönheit schilderte, die verblüffenden Farben bei Tag wie auch die funkelnden Sterne in den klaren, dunklen Nächten fernab jeder Stadtbeleuchtung.

 

Nach dem Abendessen versammelte sich eine Gruppe von Gästen zu Jacquis Vortrag im Salon, wo sie in den bequemen Sesseln Platz nahmen. Damien und Richie hatten ihre Kameras aufgebaut, um Jacqui bei ihrem Vortrag zu filmen, was sie nur noch nervöser machte. Aber als angesichts der außergewöhnlichen Fotografien auf der Leinwand bewundernde Rufe des Publikums laut wurden, entspannte sie sich ein bisschen. Sie kommentierte jedes einzelne Bild, merkte aber rasch, dass die historischen Aufnahmen von Broome aus der Frühzeit der Perlenfischerei das größte Interesse weckten.

Broome sei zwar eine kleine Stadt, erklärte Jacqui, aber mit einer großen Vergangenheit. Anfang des 20. Jahrhunderts verbrachten japanische Perlentaucher in unförmigen aufblasbaren Taucheranzügen und mit riesigen Kupferhelmen, die nur winzige Sichtfenster hatten, Stunden am Meeresboden, um die außergewöhnlich großen Pinctada maxima zu sammeln. Korb um Korb schickten sie die Perlmuscheln nach oben an Bord der Logger, während durch Schläuche permanent Sauerstoff zu ihnen hinuntergepumpt wurde.

Nachdem sie vorher die Horizontal Falls besucht hätten, fuhr Jacqui fort, wüssten die Gäste ja nun alle um das Phänomen des großen Tidenhubs in dieser Region. Bei Ebbe leerten sich die Buchten rapide, und später strömte das Wasser durch die Mangrovenwälder zurück und machte die auf Grund gelaufenen Boote aus Broome wieder flott, die mit dem Rumpf auf dem Strand und neben der alten Holzpier Streeters Jetty aufgesetzt hatten.

Sie beschrieb ihrem Publikum die Perlenbarone der kolonialen Epoche, die sich in ihren gestärkten weißen Anzügen auf den Veranden ihrer Lagerschuppen neben großen Haufen der silberlippigen Perlmuscheln oder in luftig gebauten Bungalows inmitten tropischer Gärten entspannten, wo chinesische Diener oder junge Aborigines für ihr Wohl sorgten. Jacqui schilderte auch die farbenprächtigen und oft gefährlichen Gassen von Chinatown, einer Barackensiedlung mit Opiumhöhlen, Kaschemmen und Bordellen, und erwähnte, dass die japanischen Taucher in ihrem Club ihren eigenen Vergnügungen nachgingen.

Sie erzählte von den Wirbelsturmkatastrophen, denen zuweilen fast die gesamte Logger-Flotte zum Opfer gefallen war. Und von den Schrecken, mit denen die behelmten Taucher in der Tiefe tagtäglich konfrontiert waren: Neben Haiunfällen drohte vor allem die Gefahr, dass ihre empfindlichen Sauerstoffschläuche kaputtgingen. Oder dass sie zu schnell an die Oberfläche gelangten und Stickstoff in ihrem Blut Gasbläschen bildete, sodass sie an der Taucherkrankheit starben.

Ein anderes Bild zeigte die stummen Gestalten der Aborigines, dunkle Schatten zwischen den Dünen und am Strand, die in ihren entlegenen Lagern bei Zusammenkünften ihrer Sippen und Clans gemeinsam jagten und wie seit Tausenden von Jahren ihre Zeremonien abhielten – an Orten dieses felsigen Landes mit der roten Erde, zu denen sich nur wenige Europäer vorgewagt hatten.

Am Ende der stürmischen Regenzeit seien die internationalen Perlenaufkäufer scharenweise nach Broome gekommen, fuhr Jacqui fort, und zwar nicht nur wegen des Perlmutts, sondern auch wegen des Angebots an seltenen und kostbaren Perlen. Dann machten Transportdampfer an der weit in die Bucht hinausragenden Pier von Broome fest, und die Besucher – hoffnungsfrohe Neulinge, Abenteurer und ganze Familien – fuhren mit der kleinen Bahn die Pier entlang, beäugt von geschäftigen Unternehmern und Stadtbewohnern auf der Uferpromenade.

Broomes Geschichte sei so lebendig und vielfältig wie die Landschaft, in der das Städtchen liege, erklärte Jacqui, und solange der Markt für Perlmutt boomte, wuchs und gedieh der Ort. Doch mit der zunehmenden Beliebtheit von Plastikknöpfen ging die Nachfrage nach Perlmutt zurück. Nur noch die einzigartigen, prächtigen Perlen der wunderschönen Perlaustern von Kimberleys Küste zogen weiterhin Schatzsucher, Abenteurer, Draufgänger und risikofreudige Familien an, die oft zu millionenschweren Unternehmern wurden.

Nach dem tragischen Bombardement von Broome im Zweiten Weltkrieg versank das Städtchen in einem Dämmerschlaf, wenngleich das Interesse an den Perlen aus Broome nie erlahmte. Überall auf der Welt fertigten legendäre Juweliere daraus individuelle Schmuckstücke für die Reichen und Schönen, auch wenn nur wenige ihre Herkunft kannten.

Und so blieb der Ort ein kleiner Punkt in einer weiten roten Landschaft an einem türkisblauen Meer, näher an Asien gelegen als an den wachsenden Städten im Osten Australiens, denn diese waren nicht nur Tausende Kilometer entfernt, sondern auch durch die riesige Wüste inmitten dieses Kontinents von Broome getrennt.

Eine Frau hob die Hand. »Mir ist aufgefallen, dass Broome einen ganz eigenen Architekturstil hat. Stammen die Gebäude auch noch aus jener Zeit?«

»O ja, und das hat die Stadt Lord Alistair McAlpine zu verdanken. Als er Ende der 1970er-Jahre aus England hierherkam, war Broome ein ums Überleben kämpfender Außenposten am Ende der Welt. Aber er verliebte sich in das Städtchen und war entsetzt darüber, dass all die hinreißenden Villen der früheren Perlenbarone abgerissen und durch Vorstadtbungalows mit Klinkerfassaden ersetzt wurden. Also kaufte er ein paar und überzeugte die Gemeinde davon, dass diese alten Gebäude einzigartig und erhaltenswert waren. Dann gründete er die Broome Preservation Society und restaurierte Bauten wie das Sun Picture Theatre.« Jacqui klickte durch ihre Fotos, um ihrem Publikum das alte Kino zu zeigen. »Außerdem baute Lord Alistair McAlpine den Cable Beach Club und legte die Pearl Coast Zoological Gardens für gefährdete Tierarten an. Als Ersatz für die alten Affenbrotbäume, die man in der Stadt gefällt hatte, ließ er sogar eigens neue importieren. Er betätigte sich in Broome auch als Mäzen für alle möglichen Wirtschaftszweige, von indigener Kunst bis hin zu Perlen. Und er war ein wahrhafter Visionär: Ihm verdankt die Stadt ihr markantes Erscheinungsbild. Wer weiß, was er noch alles für diesen Ort getan hätte, wenn alles weiterhin glattgelaufen wäre.«

»Was ist denn passiert?«, fragte ein anderer Gast.

»Das alles geschah vor meiner Zeit, aber offenbar hatte er jede Menge Pläne für die Stadt. Unter anderem wollte er den Flughafen nach Roebuck Plains verlegen und zu einem internationalen Airport ausbauen. Denn der Stadtflughafen war zu klein – und ist es bis heute. Leider kamen ihm Familienangelegenheiten in die Quere, und er musste nach England zurück. Er war untröstlich darüber, dass er nicht zurückkommen konnte, vor allem, weil es mit Stadt und Flughafen nicht so voranging, wie er es sich vorgestellt hatte. Was auch für Broome und Umgebung ein enormer Verlust war.«

Jacqui erzählte noch mehr von der Stadt, ihrer Geschichte und ihren besonderen Reizen.

»Schon immer haben Perlen diejenigen fasziniert, die sie gesucht und die sie getragen haben. Einige Familienerbstücke gehören eigentlich ins Museum. Und wenn Sie mich fragen, ist die Southern Cross Pearl mit ihrer Kreuzform das beeindruckendste Schmuckstück von allen.«

»Davon habe ich noch nie gehört«, murmelte eine Frau.

»Das geht vielen Menschen so«, räumte Jacqui ein. »Aber sie hat eine faszinierende Geschichte.« Sie holte tief Luft. »1883 suchte der fünfzehnjährige Tommy Clarke mit seinem Onkel, dem Kapitän eines Perlenloggers, im Wattgebiet bei Cossack nach Perlmutt. Cossack ist ein Hafen südlich von Broome und heute eine Geisterstadt. Jedenfalls fanden sie dort drei Perlmuscheln und dann am folgenden Tag noch einmal zweihundert. Tags darauf herrschte Flaute, und während sie auf Wind warteten, öffnete Tommy die drei ersten Perlmuscheln, die sie gefunden hatten, und wollte seinen Augen nicht trauen. Denn in der dritten Muschel fand er eine Perle, die ein wahres Wunder war! Tatsächlich handelte es sich um einen Perlenklumpen in Form eines Kreuzes. Als er ihn herauslöste, zerbrach er in drei Teile. Da die einzelnen Perlen nicht besonders groß waren, sei ihr Wert gering, meinte sein Onkel. Daher verkaufte er sie für zehn Pfund und eine Flasche Rum an einen Bekannten, der sie wiederum für vierzig Pfund an den Gastwirt Frank Craig in Cossack verkaufte. Craig allerdings war gewitzter, und so ließ er die Teile von einem erfahrenen Perlmuttschleifer wieder zusammensetzen, ergänzte an einer Seite eine Perle und nannte es ›Southern Cross‹. Danach wechselte dieses ›Kreuz des Südens‹ mehrfach den Besitzer und wurde schließlich 1886 bei der Colonial and Indian Exhibition in London gezeigt. Bei der Weltausstellung in Paris drei Jahre später gewann es eine Medaille, doch danach hörte man jahrelang nichts mehr von ihm. Als es 1924 wieder auftauchte, diesmal bei der British Empire Exhibition in Wembley, gehörte das Perlenkreuz Charles Peto-Bennett, einem Holzhändler, und wurde auf einen Wert von vierundzwanzigtausend Pfund geschätzt.«

Jacquis Zuhörer schnappten nach Luft.

»Offenbar hat sich der Wert des Southern Cross bei jedem Besitzerwechsel vervielfacht. Doch wiederum verschwand es in der Versenkung, diesmal für mehr als siebzig Jahre – es tauchte nur 1981 kurz einmal bei Christie’s auf, stand aber nicht zum Verkauf. Wo es sich während der ganzen Zeit befand, blieb ein Geheimnis.«

»Niemand weiß, was daraus wurde?«, fragte ein Gast.

»Es gab alle möglichen Gerüchte über den potenziellen Besitzer des Southern Cross, selbst der Papst wurde genannt. Was der Vatikan jedoch entschieden verneinte. Und Anfang der 1990er-Jahre versuchte sogar die Regierung von Western Australia, es ausfindig zu machen, weil man darin inzwischen ein bedeutendes Stück des kulturellen Erbes sah, aber ohne Erfolg.

Doch inzwischen kennen wir seine Geschichte, die letztlich gar nicht so spektakulär ist. Charles Peto-Bennett war weltweit im Holzhandel tätig, so auch in Westaustralien, wo er das Southern Cross erwarb. Irgendwann zog er nach London, und weil ihm nach dem Börsenkrach 1929 die Versicherung für das gute Stück zu teuer wurde, legte er es einfach in seinem Haus in Chelsea in den Safe. Und dort blieb es, bis er 1978 starb. Er hatte es seinen Enkeln vermacht, die es zu Christie’s schickten, allerdings nur, um seinen Wert schätzen zu lassen.

Als 1998 dann einer von ihnen, Chris Peto-Bennett aus Auckland, nach London reiste und bei seiner Zwischenstation in Perth ein Perlengeschäft aufsuchte, hörte er dort zu seiner großen Überraschung von dem sagenumwobenen Southern Cross, das als verschwunden galt.

Er beriet sich mit den anderen Erben, und sie entschieden, dem Bundesstaat Western Australia das Perlenkreuz als Dauerleihgabe zu überlassen. Sollten Sie also einmal nach Perth kommen, können Sie im Fremantle Maritime Museum besichtigen, was bis heute als eine eigenwillige Laune der Natur gilt. Das Rätsel um Australiens berühmteste Perlen war schließlich gelöst«, beendete Jacqui ihren Exkurs.

Einige Leute klatschten, und Jacqui hörte, wie manche einander begeistert vorschlugen, doch das Maritime Museum zu besuchen, um das Perlenkreuz einmal mit eigenen Augen zu sehen.

Für ihr Finale nahm Jacqui ein kleines Kästchen zur Hand. Gespannt beugten sich ihre Zuhörer vor, als sie es öffnete und dann eine prachtvolle, makellose runde Perle von etwa zehn Millimeter Durchmesser hochhielt, die so intensiv und farbenprächtig schimmerte, wie das nur die Perlen taten, die in den warmen, reinen Gewässern von Kimberley gewachsen waren.

»Darum geht es beim Perlenfischen«, sagte sie theatralisch. Ihre Zuhörer staunten.

»Diese seltene und sehr wertvolle Perle gehört meiner Freundin Lily Barton, die die Star-Two-Perlenfarm leitet. Einer ihrer Vorfahren, Captain John Tyndall, zählte zu den ersten Perlenbaronen von Broome. Die Liebesgeschichte zwischen ihm und einer gewissen Olivia Hennessy ist ausgesprochen spannend. Im Museum von Broome erfahren Sie mehr darüber und auch noch vieles mehr über die Anfänge der Perlenindustrie. Wenn Sie mich fragen, sind die Romanzen, Kämpfe und Abenteuer, die sich in Kimberley abgespielt haben, packender als alles, was sich Autoren oder Filmemacher je ausdenken können!«

Als nach dem Ende ihres Vortrags der Beifall verebbt war, wurde Jacqui mit Fragen bestürmt. Ihre Zuhörer wollten wissen, wieso es in Broome keine schwarzen Perlen gab wie im Südpazifik und in Asien und warum die Perlen aus Broome, die als Südseeperlen vermarktet wurden, die gefragtesten der Welt waren. Manche Fragen beantwortete Jacqui selbst. Andere, etwa wo man am besten Perlen kaufen könne, leitete sie an Patricia vom Souvenirshop weiter, die jetzt, von interessierten Gästen umlagert, mehrere Tabletts mit Perlenschmuck präsentierte. Staunend betrachteten die Leute die Stücke, von denen manche mit Diamanten aus Kimberley besetzt waren – darunter auch die seltenen rosafarbenen und gelben. Patricia erklärte, dass die Keshi- oder Barockperlen ebenfalls echte Naturperlen waren, dass die Juweliere allerdings die makellos runden wie die zuvor von Jacqui gezeigte bevorzugten.

 

Als sich die Leute – manche mit frisch erworbenem Perlenschmuck – zu zerstreuen begannen und in ihre Kabinen, an die Bar oder an Deck gingen, begannen Damien und sein Assistent Richie ihre Filmausrüstung einzupacken.

»Ich hoffe, Sie konnten die Bilder einfangen, die Sie wollten«, sagte Jacqui, die zu ihnen hinüberkam.

»Danke, Sie waren großartig. Wir haben jede Menge Filmmaterial. Toller Vortrag, Sie haben den Leuten richtig den Mund wässrig gemacht«, meinte Damien. »Und es passt hervorragend zu den alten Schwarz-Weiß-Archivaufnahmen aus der Anfangszeit der Perlenindustrie.«

»Sehr schön. Und Patricia hat ein paar reizende Schmuckstücke verkauft. Reisen Sie morgen wieder ab?«

»Ja, das Wasserflugzeug holt uns ab. Wir filmen dann noch die King Cascade Falls und ein paar andere Sehenswürdigkeiten. Es gibt, weiß der Himmel, genügend atemberaubende Plätze in dieser Gegend. Die Welt kriegt ja gerade erst mit, was es hier alles zu entdecken gibt.«

»Leben Sie in Perth?«, fragte Jacqui.

»Zurzeit ja. Eigentlich komme ich aus Victoria. Diese Werbefilmerei ist mein Brotberuf, aber ich habe auch ein paar kleine Filme gedreht und früher TV-Spots mit großem Etat und ein paar Dokumentarfilme für Regierungsbehörden und eine wissenschaftliche Stiftung.«

»Klingt spannend.«

»Sagen Sie, dürften wir diese Star-Two-Perle mal aus der Nähe betrachten? Die hat sicher auch eine interessante Geschichte.«

»Allerdings«, bestätigte Jacqui, öffnete das Kästchen und reichte Damien die Perle, der sie eingehend begutachtete. »Vielleicht wollen Sie ja Lily, die Besitzerin, interviewen? Sie hat Unglaubliches erlebt. Inzwischen ist sie über siebzig, aber immer noch eine hübsche Dame und gescheit und redegewandt dazu. Sie wohnt im Norden, Richtung Cygnet Bay.«

»Darauf komme ich vielleicht zurück. Danke.« Damien gab ihr die Perle zurück und zog dann seine Brieftasche heraus. »Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich auf dem Handy an, falls Ihnen noch etwas einfällt, was interessant für mich sein könnte. Ich bin durchaus aufgeschlossen für weitere Geschichten und Menschen. Wobei die Landschaft quasi schon alles sagt, nicht wahr? Kein anderer Ort im Land ist mit diesem hier zu vergleichen.«

»Da haben Sie recht«, nickte Jacqui lächelnd. Dann wünschte sie Damien und Richie alles Gute für ihre weitere Reise, entschuldigte sich und eilte davon, um die prachtvolle Perle an einen sicheren Ort zu bringen. So dankbar Jacqui ihrer Freundin Lily dafür war, dass sie ihr ein so seltenes und kostbares Schmuckstück geliehen hatte, machte es sie doch extrem nervös, dafür verantwortlich zu sein, auch wenn es nur für ein paar Tage war. Deshalb konnte sie es gar nicht erwarten, die Perle schnellstens wieder im Safe des Ersten Offiziers einzuschließen.

 

Ein klarer blauer Himmel mit strahlendem Sonnenschein sorgte am Flughafen von Broome schon am Morgen für brütende Hitze.

Bobby Ching, in Khakishorts und mit farblich abgestimmtem Hemd, auf dessen Tasche das Logo seines Reiseunternehmens prangte, lehnte sich aus der offenen Fahrertür hinaus und beobachtete die Neuankömmlinge, die durch die Glastüren der klimatisierten Ankunftshalle ins Freie traten, wo ihnen die Hitze entgegenschlug. Die Reaktionen der Touristen reichten von freudiger Überraschung bis hin zu Stöhnen und Luftfächeln, die Einheimischen wirkten gleichgültig oder froh, wieder hier zu sein.

Bobbys Statur ließ darauf schließen, dass er kein Gramm Fett zu viel hatte, trotzdem glänzte eine dünne Schweißschicht auf seiner olivenfarbenen Haut. Er kaute mit seinen kräftigen weißen Zähnen auf einem Zahnstocher herum. Auf diese makellosen Zähne war er stolz, seit er vor zehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte. Sein glattes, glänzend schwarzes, schulterlanges Haar war vorn zu einem akkuraten Pony geschnitten. Er trug es immer noch gern offen, doch während der Arbeit hatte er es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Freunde neckten ihn, dass er zu den Zöpfen seiner chinesischen Vorfahren zurückgekehrt sei. Die Aborigines unter seinen Freunden erklärten ihm, er habe die für sie typischen schlanken Beine geerbt.

»Bin also ein echter Junge aus Broome«, prahlte Bobby, der stolz auf seine gemischte Abstammung war. Da er stets gute Laune hatte, schätzte man seine Gesellschaft, und er war für jedes Abenteuer zu haben.

Nun nahm er das Schild mit der Aufschrift Cameron North Enterprises und schlenderte zu den Passagieren hinüber, die auf ihren Transfer warteten.

Ein großer, intellektuell wirkender Mann in den Vierzigern mit schicker Brille und einer über die Schulter gehängten Reisetasche aus Leder nickte Bobby zu. Cameron North war auf lässige Art gut gekleidet. Mit seinen gleichmäßigen Gesichtszügen wirkt er vermutlich attraktiv auf Frauen, dachte Bobby. Die Ledertasche hatte bestimmt ein Vermögen gekostet, und er strahlte Autorität und Selbstsicherheit aus.

»Haben Sie noch mehr Gepäck, Chef?«, fragte Bobby, als er nach der Reisetasche griff.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das ist alles, danke. Wo steht Ihr Wagen?«

Bobby ging voraus und glitt auf den Fahrersitz seines robusten Allradwagens, dem er den Spitznamen »das Biest« verpasst hatte. Manchmal nannte er ihn auch sein »Flaggschiff«, obwohl es das einzige Fahrzeug war, das er bislang besaß.

»Sie haben geschrieben, dass Sie morgen hinauf zum Cape Leveque wollen«, wandte sich Bobby an seinen Fahrgast auf dem Rücksitz. »Darf ich fragen, wohin genau? Zum Resort oder zu einer Besichtigungstour? Ich müsste dafür noch ein paar Dinge besorgen. Wann wollen Sie aufbrechen? Und wo geht’s jetzt eigentlich hin? Wo übernachten Sie heute?«

»Ich fange mal mit der letzten Frage an«, antwortete sein Fahrgast mit verhaltenem Lächeln. »Was würden Sie empfehlen?«

»Für eine Nacht? Kommt darauf an, wie viel Sie ausgeben möchten. Soll es eher schlicht oder gehoben sein? Mit Restaurant oder ohne?«

»Komfortabel, aber nicht protzig. Mit einer Bar und etwas zu essen.«

»Gut. Sie sind das erste Mal in Broome, Mr. North? Geschäftlich oder als Tourist?«

Doch der Mann antwortete nicht, sondern blätterte in einem kleinen Notizbuch, das er danach in die Hemdtasche steckte.

»Entschuldigung. Sie heißen Bobby, oder? Bobby Ching? Wie wär’s, wenn Sie mich ein bisschen herumfahren und mir das eine oder andere zeigen würden? Vielleicht esse ich am Cable Beach zu Mittag. Ich muss zwar nachher noch ins Funkhaus, aber eine kleine Stadtrundfahrt zur ersten Orientierung wäre nicht schlecht.«

»Gern. Wollen Sie vorher noch Ihr Gepäck loswerden? Und sich frisch machen? Sie haben vielleicht gemerkt, dass meine Klimaanlage hinüber ist. Aber die lasse ich noch richten, bevor wir morgen früh losfahren.«

Cameron North winkte ab. »Fangen wir ruhig gleich mit der Rundfahrt an.«

Seine Broome-Tour kannte Bobby aus dem Effeff.

Er begann an der Streeters Jetty, der restaurierten Holzpier, die abrupt zwischen Mangroven im milchigen Wasser endete. »Kaum zu glauben, dass die Logger hier angelegt haben, mit dem Kiel im Schlamm, wenn Ebbe war. Und dort drüben war der Japanese Club, wo die Helmtaucher verkehrten … die gaben damals in der Stadt den Ton an. Eine Schande, dass alles abgerissen wurde. Immerhin wollen wir hier aber auch keine großen Kaufhäuser und irgendwelche modernen Touristenattraktionen haben, die nicht ins historische Stadtbild passen.«

Ein Stück weiter die Dampier Terrace hinunter zeigte Bobby auf die niedrigen Gebäude.

»Da finden Sie die ganzen Geschäfte für Perlen und Souvenirs. Früher waren es Lagerschuppen für Perlmuscheln. Und dort, beim ›Pearl Luggers‹, haben sie einen alten Perlenlogger restauriert. Außerdem werden Vorträge gehalten und alte Filme und Gebrauchsgegenstände aus den Anfangstagen gezeigt. Gegenüber ist das Roey, der Roebuck Pub. War mal eine ziemliche Spelunke. Es geht dort immer noch hoch her. Falls Sie Gelegenheit haben, dort die Pigram Brothers spielen zu hören, lassen Sie es sich nicht entgehen. Die Jungs haben in dieser Stadt Musikgeschichte geschrieben. Und hier entlang gibt’s ein paar gute Läden für Kunst und Krempel. Wir kommen nachher auch noch am Museum vorbei. Hier kann man übrigens auch gut essen gehen.«

»Gibt es denn eine Kunstgalerie? Die lokale Künstler ausstellt?«, fragte Cameron.

»Aber sicher doch. Wollen Sie etwas kaufen? Julia, die Galeriebesitzerin, kennt sich bestens aus und ist auch sehr nett. Sie fährt raus zu den Siedlungen, versorgt sie dort mit Farbe und Leinwand. Die Künstler von East Kimberley sind wirklich gut. Haben Sie schon mal von Warmun gehört? Turkey Creek heißt der Ort bei den Weißen. Von dort stammen hervorragende Künstler. Sagt Ihnen der Name Rover Thomas etwas? Oder Mung Mung oder die alte Queenie McKenzie? Auch eine Menge neuer Künstler sind gerade im Kommen.«

»Taugen sie was?«

»Na ja, es hängt immer davon ab, was einem gefällt, nicht wahr? Diese Leute malen eben ihr Land. Ihre Geschichten. Sie halten ihre Tradition am Leben.«

»Schreiben Sie mir doch bitte ein paar Namen auf. Ich schau sie mir dann mal an.«

»Fragen Sie lieber die Mädels von der Galerie. Das sind die Experten.«

Bobby machte seinen Fahrgast auf das berühmte alte Freiluftkino Sun Pictures aufmerksam, er zeigte ihm Chinatown, das Warenhaus der Gründerjahre, das die Perlenbarone und die junge Stadt versorgt hatte, und den ursprünglichen Firmensitz von Streeter & Male. »Das waren die ersten Familien, die ins Perlengeschäft eingestiegen sind«, erklärte Bobby. »Waren damals große Nummern.«

Als sie am Bedford Park vorbeifuhren, deutete Bobby auf die Stelle, wo man bei Ebbe noch das Wrack eines Catalina-Flugboots sehen konnte, das von den Japanern abgeschossen worden war. »Und dort stand das alte Conti-Hotel. War damals die einzige Unterkunftsmöglichkeit hier. Es wurde in einer Art Kolonialstil wieder aufgebaut, ist aber heute ein Motel. Dürfte eher nichts für Sie sein.« Bobby vermutete, dass Cameron North Besseres gewöhnt war.

Am Town Beach hielt er an, damit sein Fahrgast die Angler und die Badenden beobachten konnte.

»Möchten Sie jetzt etwas essen, Mr. North? Oder auf die kleine Landzunge rausgehen? Dort drüben sehen Sie auch ein paar alte Gräber von Schiffbrüchigen und Pionieren.«

»Nein, fahren Sie einfach weiter. Das ist alles … ähm … sehr pittoresk.«

»Okay, dann geht’s jetzt zum Hafen, da gibt’s viel Historisches zu sehen, bevor ich Sie durch die Vororte zurückfahre. Dort sind ein paar hübsche alte Bungalows versteckt.«

Sie fuhren ruhige Sträßchen entlang, wo in gepflegten Gärten Palmen und üppige Bougainvillea gediehen und in den Auffahrten Boote standen. Ihre Besitzer saßen im kühlen Schatten der mit Gitterwerk abgeschirmten Veranden.

»Wird hier viel gebaut?«, erkundigte sich Cameron North.

»Geht so. Es wird gemunkelt, dass die Stadt groß im Kommen ist, also kaufen Leute aus Perth hier wie verrückt Grundstücke«, antwortete Bobby. »Aber sonst ist noch nicht viel passiert. Man hört von Wohnanlagen, von Ferienhäusern für Millionäre und dass sich vielleicht große Bergbauunternehmen ansiedeln wollen. Schätze, es gibt immer Leute, die gern spekulieren.«

»Welches Land ist am vielversprechendsten?«

»Die Gegend um Cable Beach. Ich zeige sie Ihnen, wenn wir dorthin fahren. Sind Sie aus der Branche?«

»Ich habe nicht vor, mich in Broome niederzulassen. Oder ein Ferienhaus zu bauen. Aber ja, vielleicht können Sie mich hinfahren, wenn ich hier fertig bin.«

»Das ist ein nettes Hotel«, sagte Bobby, als er vor dem Mangrove Hotel vorfuhr. »Mit prima Blick über die Roebuck Bay. Auch auf dieser Seite hat es hübsche Zimmer. Falls Sie Lust auf ein Bier hätten, das gibt’s gleich da unten bei Matso’s. Das ist von hier aus bequem zu Fuß erreichbar. Früher war Matso’s mal die Villa eines Perlenbarons, es ist noch vieles im Original erhalten. Dabei ist das Haus schon auf die unterschiedlichste Weise genutzt worden – als Familienwohnsitz, als Kunstgalerie, als Restaurant, als Brauerei …«

»Nein, danke. Damit warte ich bis zum Mittagessen.« North warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich sollte jetzt zum Funkhaus, da hab ich einen Termin.«

»Sprechen Sie im Radio?«, fragte Bobby und warf seinem Fahrgast einen Blick über die Schulter zu.

»Ich hole mir nur ein paar Informationen. Es wird nicht lange dauern«, erwiderte North kurz angebunden.

Bobby fragte sich, warum sein Fahrgast so zugeknöpft war. »Alles klar. Das ist gleich neben dem Buchladen, dem Red Coast Books. Ich warte dort so lange und trinke einen Kaffee oder etwas Kaltes.«

 

Bobby betrat die stille, kühle Oase des Buchladens. Zwar las er nicht viel, doch er genoss jedes Mal aufs Neue die friedliche Atmosphäre bei Red Coast Books. Menschen nahmen sich Zeit, die Regale zu durchstöbern, die an den Wänden, aber auch mitten im Raum standen und ihn unterteilten. Von der Straße führte eine Treppe zum Eingang hinauf, dessen Schiebetür die von der Klimaanlage gekühlte Luft drinnen hielt. An einem langen Holztisch am Ende des Raums konnten Kunden sitzen und lesen. Einen Bereich des Ladens hatte man zu einem kleinen Café umgebaut, wo kalte Getränke, Milchshakes, Tee und Kaffee ebenso angeboten wurden wie selbst gebackene Kuchen und Kekse, Sushi und Käseteller mit Brot. In der schattigen Gasse vor dem Nebeneingang des Buchladens standen den Gästen außerdem drei Tische zur Verfügung, die man von der Ladentheke aus gut im Blick hatte. Gleich nebenan war das Funkhaus in einem weitläufigen alten Holzbau untergebracht.

»Hallo, Bobby! Arbeitest du gerade oder besuchst du uns?«, begrüßte ihn Jacqui.

»Ein bisschen was von beidem. Hab einen Touristen im Schlepptau, der anscheinend an der hiesigen Geschichte interessiert ist. Er will, dass ich ihn morgen zum Cape Leveque hochfahre.«

»Das ist eine ganz schöne Strecke.«

»Ja, und die Klimaanlage von meinem Biest macht Probleme.«

»Lass sie lieber in Ordnung bringen, Bobby. Gäste schätzen es nicht, hier unklimatisiert herumzufahren. Schon gar nicht auf der schlechten Küstenstraße. Was will dein Fahrgast denn dort?«

Bobby nahm den Lederhut ab und wischte sich über die Stirn. »Er redet nicht viel. Und es geht mich ja auch nichts an. Ich hab ihm allerdings versprochen, dass die Klimaanlage repariert ist, bevor wir morgen früh losfahren.«

»Wo ist er jetzt?«

»Im Funkhaus. Ich hab ihm gesagt, dass ich hier bin und etwas trinke, solange ich auf ihn warte.«

»Gute Idee. Geh doch rüber zu Sylvia, ja?«

»Mach ich, Jacqui, danke.« Er ging in den Cafébereich, zahlte sein Getränk bei Sylvia und nahm es dann mit nach draußen, wo er auf Cameron North wartete.

 

Als eine Weile später keine Kunden mehr im Laden waren, meinte Jacqui zu Sylvia: »Ich mache kurz Pause und setze mich mit einem Kaffee nach draußen. Ruf mich, wenn du mich brauchst.«

Während Jacqui ihren Kaffee trank, blätterte sie die lokale Morgenzeitung durch. Als sie Schritte hörte, blickte sie auf. Damien Sanderson schlenderte auf sie zu.

»Hi. Freut mich, Sie wiederzusehen, Damien.«

»Ganz meinerseits, Jacqui. Ich bin an dem Buchladen vorbeigekommen und habe mich gefragt, ob das wohl Ihrer ist.«

»Allerdings. Haben Sie Zeit für einen Kaffee? Oder lieber etwas Kaltes?«

Damien warf einen Blick auf ihre Tasse. »Sieht gut aus. Ich hätte gern einen Espresso. Gibt’s den bei Ihnen im Laden?«

»Ja. Als der Imbiss um die Ecke zugemacht hat, haben wir die Kaffeemaschine gekauft und beschlossen, im Buchladen ein kleines Café einzurichten.«

Jacqui wollte aufstehen, aber Damien bat sie, sitzen zu bleiben.

»Lassen Sie nur, ich hole ihn mir selbst. Dann kann ich noch rasch einen Blick auf die Bücher werfen.«

Als sein Kaffee fertig war, kam er wieder zu ihr heraus. »Wow, das nenne ich einen Buchladen«, meinte er. »Sie haben ja eine Riesenauswahl.«

»Ja, es läuft ganz gut. Die Einheimischen sind treue Kunden, und die Touristen kaufen hier ihre Ferienlektüre und Informationen über die Gegend. Es ist so viel los, dass ich Sylvia fast Vollzeit beschäftigen kann. Aber erzählen Sie mal, wie war denn Ihre weitere Reise, nachdem Sie von der Kimberley Sun weggeflogen sind? Wie ist der Film geworden?«, wollte Jacqui wissen.

»Oh, die Reise war fantastisch. Was den Film angeht, ist es noch zu früh, das zu beurteilen, er muss erst geschnitten werden. Aber es sind großartige Aufnahmen dabei, viel mehr, als wir brauchen. Ich bin auf dem Weg nach Perth, um mich mit den PR-Leuten zu treffen und alles entsprechend zusammenzustellen. Wenn sie damit zufrieden sind, treibe ich mich vielleicht noch ein Weilchen hier in der Gegend herum und suche mir womöglich noch etwas Anspruchsvolleres zum Filmen.«

»An Geschichten mangelt es hier nicht. Von Lily habe ich Ihnen ja bereits erzählt. Und Lydia, meine Freundin im Funkhaus nebenan«, Jacqui machte eine Handbewegung zu dem Gebäude auf der anderen Seite der Gasse, »hat schon einige große Reportagen daraus gemacht. Manche ihrer Storys sind sogar landesweit ausgestrahlt worden. Sie hat ein Gespür für so etwas.«

»Tja, das ist das Schöne am Lokalradio«, meinte Damien. »Da kann man sich intensiv mit Themen beschäftigen, von denen die Leute in der Hauptstadt keine Ahnung haben. Eins der wenigen Medien, wo man noch gründlich recherchierte Features geboten bekommt.«

»Ja, Lydia zieht ziemlich über die Radiosender in den Städten her, die sich nur an Kapitalinteressen orientieren und unbequeme Themen gern mal unter den Tisch fallen lassen – insbesondere wenn sie den Eigentümern oder Werbekunden finanzielle Nachteile bescheren könnten.«

»Was sind denn hier gerade die großen Themen?«

»Touristen halten Broome vermutlich für ein hübsches, verschlafenes Nest am Ende der Welt. Aber laut Lydia erhebt die Schlange ihr Haupt.«

Damien hob die Augenbrauen. »Aha? Und das heißt?«

»Es gibt Gerüchte in der Stadt, dass wieder Bergbau betrieben werden soll. Was natürlich nicht unumstritten ist.«

»Ja, das ist normal bei diesem Thema«, nickte Damien. »Da gibt es immer Gewinner und Verlierer.« Er sah zum Buchladen hinüber. »Zumindest Sie haben eine verlässliche Einkommensquelle. Der Laden gehört Ihnen und Ihrem Mann?«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann nahm Jacqui ihre leere Tasse und stand auf. »Er gehört mir, ja. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, ich glaube, der Herr dort sucht etwas, und Sylvia ist gerade mit einem anderen Kunden beschäftigt. Genießen Sie in Ruhe Ihren Kaffee, ich bin gleich wieder da.«

»Danke.« Damien fragte sich, ob er sich das peinliche Schweigen nur eingebildet hatte. Von der Bucht her wehte eine kühle Brise durch die Gasse. Vorn, an der Mündung zur Straße, sah er ein paar Einheimische vorbeischlendern. Danach wankten einige Aborigines die Straße entlang, die ihre Supermarkttüten mit klirrendem Inhalt fest umklammert hielten. Entweder waren sie noch vom Vorabend betrunken oder sie waren heute schon wieder auf den Pfad der Verlorenen eingeschwenkt. Wahrscheinlich verziehen sie sich in die Dünen, um zu trinken und zu streiten, bis sie wegdämmern, überlegte Damien. Oder sie gehen zu ihren Frauen und Kindern in den Park am Strand, bis die Polizei sie verscheucht. Vielleicht werden sie auch von Mitarbeitern der Wohlfahrt oder einer der hiesigen Kirchen aufgesammelt.

Es war ein trauriger Anblick und ein solcher Kontrast zu den hart arbeitenden Aborigines, die er andernorts gesehen hatte, etwa den indigenen Rangern, den Inhabern kleiner Geschäfte und denen, die auf Rinderfarmen oder in der Tourismusbranche beschäftigt waren.

Damien trank seinen Espresso aus und ging in den Buchladen. Diesmal sah er sich etwas gründlicher um.

»Haben Sie etwas gefunden, das Sie interessiert?«, erkundigte sich Jacqui nach einer Weile.

»Allerdings. Ich habe Verschiedenes recherchiert, bevor ich hierhergekommen bin, aber von den hiesigen Schriftstellern hatte ich keine Ahnung. Ich bin begeistert von Ihrer lokalhistorischen Abteilung. Wo haben Sie all die alten Bücher nur aufgetrieben?« Er wies auf die »Sammler-Schatztruhe«, wo Jacqui etliche antiquarische Bücher zum Verkauf anbot.

»Ich mag sie auch«, erwiderte Jacqui. »Den Grundstock für das Antiquariat verdanke ich einem älteren Herrn, der schon seit ewigen Zeiten hier lebt und in ein Seniorenheim umgezogen ist. Ich hatte den Laden gerade eröffnet, und er meinte, er hätte da ein paar alte Bücher, die ihm in seinem Leben viel bedeutet hätten und die er deswegen nicht wegwerfen wolle. Zuerst rechnete ich natürlich nur mit einem Haufen wertloser Taschenbücher, aber ich wollte ihn nicht kränken und bot ihm an, einen Blick darauf zu werfen. Als dann drei große Kartons mit echten Sammlerstücken eintrafen, bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Ich habe ihm nicht nur die Bücher abgekauft, sondern mich mit ihm angefreundet und besuche ihn regelmäßig. Er kann wunderbare Geschichten erzählen. Ich sage ihm immer, er sollte sie aufschreiben.«

Damien stöberte noch ein bisschen weiter und trat dann mit mehreren Büchern an die Theke. »Ich schätze, die muss ich unbedingt haben.«

»Wenn Sie die gelesen haben, kennen Sie sich mit Flora, Fauna und Geschichte dieser Region wahrlich bestens aus«, bemerkte Jacqui.

»Sie könnten für meinen Film nützlich sein. Und mich zu weiteren Projekten inspirieren. Übrigens würde ich gern Ihren Vorschlag aufgreifen und Lily Barton interviewen. Auch andere Leute haben ihren Namen erwähnt. Es klingt, als hätte sie wirklich viel Interessantes zu erzählen.«

Jacqui schrieb ihm Lilys Telefonnummer auf. »Ich kann sie gern anrufen und ihr schon mal vorab Bescheid geben, wenn Sie möchten.«

»Das wäre sehr nett, Jacqui«, strahlte Damien sie dankbar an.

Als er den Laden verließ, blickte ihm Jacqui nach. Was für ein netter Typ, dachte sie und freute sich, dass er nicht nur Kimberley für sich entdeckt hatte, sondern davon ebenso hingerissen zu sein schien wie sie. Aber vermutlich wussten kreative Augenmenschen wie Damien diesen Teil des Landes eben zu schätzen.

Er musste etwa in ihrem Alter sein. Ob er wohl verheiratet war? Nun, ein so sympathischer Mann wie Damien war bestimmt nicht alleinstehend.

Kaum hatte sie sich wieder an ihre Arbeit gemacht, hörte sie Bobbys Stimme.

»Hallo, Mr. North, ich warte draußen auf Sie.«

Jacqui blickte von ihrem Computer auf, um etwas zu Bobby zu sagen, da blieb ihr der Mund offen stehen. »Das gibt es ja nicht!«, brachte sie schließlich heraus. »Cameron? Cam North? Was zum Teufel …?«

»Jacqui Mitchell! Was tust du denn hier so weitab vom Schuss?«

»Das könnte ich dich auch fragen.« Jacqui kam hinter der Theke hervor, streckte die Hand aus und schüttelte dabei verblüfft den Kopf. »Inzwischen übrigens Jacqui Bouchard.«

Cameron schob ihre Hand weg und küsste sie auf die Wange.

»Ja, ja, ich weiß, aber für mich wirst du immer Jacqui Mitchell bleiben. Du liebe Zeit, dass ich dich ausgerechnet in der tiefsten Provinz wiedertreffe. Wie lange hast du dich denn schon hier vergraben?«

»Seit mir klar geworden ist, dass die Stadt voller geldgieriger, oberflächlicher Intriganten ist, die nur in die eigene Tasche wirtschaften wollen.«

»Immer noch die kleine Rebellin, was? Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Das muss Jahre her sein.« Er sah sich um. »Einen hübschen Laden hast du hier.«

Sie lächelte. »Ja, da hast du recht. Mit beidem. Es ist ein hübscher Laden, und es ist lange her, dass wir uns gesehen haben. Was treibst du jetzt so? Immer noch als Jurist zugange? Und was um Himmels willen verschlägt dich nach Broome?«

Cameron zuckte die Achseln und lächelte verschmitzt. »Ich schaue mich nur ein wenig um. Für einen Klienten.«

Jacqui musterte ihn, dabei wurde ihr bewusst, dass Bobby sie von der Tür her neugierig beobachtete. Sie kannte Cameron seit Kindertagen, als sie in derselben Straße gewohnt hatten. Obwohl sie ihn seit ihrer Studienzeit nicht mehr gesehen hatte, schien er kaum gealtert zu sein. Ein, zwei Fältchen im Gesicht, leicht angegraute Schläfen, aber dadurch sah er fast noch besser aus als in seiner Jugend. Ein bisschen interessanter. Mehr vom Leben gezeichnet. Wie wir alle, dachte Jacqui.

»Auf welches Rechtsgebiet hast du dich spezialisiert?«, fragte sie.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich als Anwalt arbeite.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du einen Abschluss in Jura gemacht.«

»Und du in Geisteswissenschaften«, gab er zurück und grinste. »Was ich zuletzt über dich gehört habe, war, dass du in Sydney lebst und vielleicht Englischlehrerin werden willst. Irgendwer hat mir auch erzählt, dass du geheiratet hast, aber ich habe kaum mehr Kontakt zu der alten Clique.« Wieder zuckte er die Achseln. »Ich bin oft umgezogen, da ist es schwer, alte Verbindungen aufrechtzuerhalten.«

Nun ja, dachte Jacqui, immerhin war er es, der weggezogen ist und alle Verbindungen gekappt hat – zu dem losen Kreis, der sich aufgrund gemeinsamer Interessen zusammengefunden hatte, ebenso wie zu anderen Freunden, zu Kommilitonen, Familienmitgliedern und Nachbarn. »Von mir könnte ich wohl dasselbe sagen«, meinte sie. »Und du hast hier im Norden Klienten?«

»Es bieten sich geschäftliche Möglichkeiten.« Er lächelte. »Wohl nichts, was einen Bücherwurm interessiert.«

»In den kommunalen Angelegenheiten hier bin ich weitgehend auf dem Laufenden«, entgegnete sie.

Es folgte kurzes Schweigen.

»Wie lange bleibst du denn in Broome?«, fragte sie ihn dann.

»Morgen muss ich weiter. Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, hätte ich gern mit dir zu Abend gegessen«, meinte er. »Aber ich komme bestimmt mal wieder. Dann gebe ich dir vorher Bescheid.«

Da Jacqui sich daran erinnerte, was Bobby über seine für den nächsten Tag geplante Fahrt erzählt hatte, wollte sie Cameron schon fragen, was ihn denn am entlegenen Cape Leveque interessierte. Doch dann überlegte sie es sich anders. Er wirkte wenig mitteilsam, und ihr fiel ein, dass er sich noch nie gern in die Karten hatte schauen lassen. Wohl vor allem, um den Eindruck von Wichtigkeit zu erwecken, hatte sie immer gedacht. Aber egal, es ging sie nichts an.

»Dann noch einen schönen Aufenthalt. Und wenn ich bei irgendwas helfen kann … ich meine, in dem bescheidenen Rahmen, der einer Buchhändlerin in einem verschlafenen Nest wie diesem gesteckt ist …« Ironisch hob sie die Schultern.

»Wie gesagt, nachdem ich jetzt weiß, dass du hier wohnst, gebe ich dir künftig im Voraus Bescheid, sobald mich wieder etwas hierher führt.«

»Ja, tu das. Und gute Fahrt. Bei Bobby bist du in sicheren Händen«, setzte sie hinzu.

»Gut zu wissen. Es war schön, dich zu treffen, Jacqui.«

Cameron drehte sich um und schlenderte aus dem Laden. Fragend sah Sylvia zu Jacqui herüber.

»Nur ein alter Bekannter aus meiner Zeit in Sydney«, erklärte Jacqui. »Man weiß eben nie, wer einem in Broome über den Weg läuft.«

 

»Ich hab einen Kumpel, der sich die Klimaanlage anschaut, während Sie zu Mittag essen«, sagte Bobby, während er mit Cameron die Cable Beach Road entlangfuhr. »Vielleicht wollen Sie ja dort im Club übernachten? Der Cable Beach Club ist berühmt für seine Sunset Bar. Eine Menge Leute von der Ostküste sind ganz scharf darauf, die Sonne auf dieser Seite des Kontinents im Meer versinken zu sehen. Und die Kamelritte den Strand entlang sind auch sehr beliebt.«

»Ich mache mir nichts aus Kamelen. Sie beißen und spucken«, erwiderte Cameron.

»Ach, die hier stammen aus der Herde des alten Farouz.«

»Wer ist Farouz?«

»Ein Nachkomme der afghanischen Kameltreiber, die seinerzeit die Tiere ins Land gebracht haben. Und inzwischen rennen Tausende wilde Kamele durchs Outback.« Bobby drehte sich kurz zu Cameron um und grinste. »Mit Kamelen lassen sich gute Geschäfte machen. Sie geben Fleisch und Milch.«

»Nicht meine Branche«, erwiderte Cameron.

»Was ist denn Ihre Branche, Mr. North? Falls ich fragen darf?«, erkundigte sich Bobby in beiläufigem Ton.

»Ich arbeite im Auftrag verschiedener Klienten. Als juristischer und geschäftlicher Berater.«

»Ah.« Darauf wusste Bobby nichts zu erwidern, und er merkte, dass auch gar keine Antwort von ihm erwartet wurde. Also wechselte er das Thema. »Hier ist das geplante Neubaugebiet«, sagte er und wies auf die Baugrundstücke, an denen sie vorbeifuhren. »Einige Wohnanlagen, aber auch ein paar große Villengrundstücke für Leute, die es sich leisten können. Dazu ein paar kleinere Hotels und andere Unterkünfte für Urlauber. Natürlich wollen alle möglichst nah am Strand sein. Ich fahre mal dort entlang, bevor ich Sie zum Beach Club bringe.«

Kurz darauf hielt Bobby am grasbewachsenen Straßenrand neben einem Restaurant mit Blick auf einen weiß schimmernden Sandstrand, der sich bis in die Ferne erstreckte. Hier picknickten Familien, schossen Selfies vor der atemberaubenden Kulisse des leuchtend blauen Meeres oder entspannten sich auf den angelegten Rasenstreifen. Knallbunte Sonnenschirme und Strandmuscheln wirkten wie Farbtupfer auf dem Sand. Bobby stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen, um die hintere Tür zu öffnen.

»Den Strand müssen Sie gesehen haben. Soll ich ein Foto von Ihnen machen? Alle wollen ein Foto von sich an diesem berühmten Strand.«

Cameron zögerte, doch dann stieg er aus. »Kein Foto, danke. Aber ich sehe ihn mir mal an.«

Bobby ging neben ihm her. »Der Strand ist mehr als zwanzig Kilometer lang. Das Südende, Gantheaume Point, ist einen Besuch wert. Man kann dort gut Wale beobachten, wenn sie die Küste entlangziehen. Und dann die roten Klippen, wirklich einzigartig.«

»Ja, sehr beeindruckend«, nickte Cameron.

»Schauen Sie mal dort.« Bobby deutete aufs Wasser. »Da verläuft das Unterwasserkabel nach Indonesien, das uns mit dem Rest der Welt verbunden hat. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts verlegt. Deshalb heißt der Strand hier auch Cable Beach. War bestimmt eine mordsmäßige Herausforderung.«

»Ja, vermutlich. Seither hat die technische Entwicklung große Fortschritte gemacht. Wollen wir dann mal …?« Cameron wandte sich zum Wagen um.

»Der Club ist gleich auf der anderen Straßenseite. Möchten Sie hier übernachten? Oder soll ich auf Sie warten? Sie können mich auch anrufen, falls Sie es sich anders überlegen. Oder ich hole Sie morgen früh hier ab?«

Amüsiert hörte Cameron zu, wie Bobby seine Fragen herunterspulte. »Lassen wir es für heute gut sein. Seien Sie morgen um sechs Uhr hier. Falls ich es mir anders überlegen sollte, rufe ich Sie an.«

Bobby nickte. »Wie Sie wünschen, Mr. North. Dann bis morgen früh Punkt sechs Uhr genau hier, startbereit für die Fahrt zum Kap.«

 

Als Jacqui am nächsten Vormittag ihren Buchladen aufsperrte, war sie dort erst einmal eine Weile allein. Sie liebte diese ruhige Zeit, ehe die Stadt zum Leben erwachte.

Zuvor hatte sie ihr Fahrrad in der Gasse angekettet, dann das Metallgitter hochgeschoben und die Türen des Haupteingangs weit geöffnet, um kühle Morgenluft hereinzulassen. Dann schaltete sie die Klimaanlage ein. Nun atmete sie tief durch und inhalierte den angenehmen Büchergeruch; den der frisch gedruckten Exemplare ebenso wie den der alten Bände, deren Magie sich in modrigen vergilbten Seiten verbarg.

Für sie war ihr Laden eine Schatzkammer voller verschiedener Charaktere, Orte, Szenen und Ereignisse. Als Kind hatte sie sich vorgestellt, dass nicht nur ihre Spielzeuge nachts zum Leben erwachten, sondern auch die Hauptfiguren aus ihren heiß geliebten Büchern, die dann spannende und gefährliche Abenteuer erlebten, bevor der Morgen dämmerte und sie wieder still zwischen die Buchdeckel schlüpften. Lesen war schon immer ihre Leidenschaft gewesen, und sie hatte Spaß daran, auch bei den Neuerscheinungen immer auf dem Laufenden zu bleiben, um ihren Kunden Empfehlungen geben zu können.

Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und überlegte, ob sie zuerst draußen fegen oder einen Kaffee trinken sollte, als sie jemanden hereinkommen hörte.

»Hallooo, Jacqui!«

»Hey, Lily! Wie schön, dich zu sehen«, strahlte Jacqui. »Du kommst gerade richtig zu einer Tasse Kaffee. So früh schon unterwegs?« Sie umarmte Lily Barton herzlich.

»Ich war schon immer Frühaufsteherin. Wie war dein Ausflug zu den Horizontal Falls?«

»Aufregend. Umwerfend. Unglaublich. Setz dich schon mal, ich bringe uns gleich Kaffee.«

Jacqui sah zu, wie sich ihre Besucherin draußen an einen Tisch setzte, eine Zeitung aus der Tasche zog und die Lesebrille aufsetzte. Lily, immer noch schlank und fit, bewegte sich mit Anmut und einer bewundernswerten Gelassenheit. Trotz ihrer vielen Aktivitäten schien sie nie nervös zu werden oder in Hektik zu verfallen, und Jacqui staunte immer über die schier unerschöpfliche Energie ihrer Freundin. Hoffentlich war sie in Lilys Alter auch noch so rüstig und aktiv.

Sie brachte Lily einen schwachen Cappuccino und setzte sich mit ihrer Kaffeetasse ihr gegenüber.

»Schön, dass du da bist. Ja, der Ausflug war toll.«

»Wie ist es mit deinem Vortrag gelaufen? Du warst bestimmt fabelhaft.«

»Ich war ziemlich aufgeregt«, gab Jacqui zu. »Aber den Gästen scheint es gefallen zu haben. Als sie deine Perle sahen, waren sie überwältigt. Ich habe sie hinten im Safe, falls du sie gleich mitnehmen willst.«

»Ist schon okay, Jacqui. Ich bin auf dem Weg zur Farm, da lass ich sie lieber von einem der Mädchen holen.«

»An Bord der Kimberley Sun war auch eine Filmcrew«, fuhr Jacqui fort. »Ich habe dem ausgesprochen netten Kameramann vorgeschlagen, dich für den Werbefilm zu interviewen, den er für die Tourismusbehörde dreht. Ich hoffe, das war in Ordnung? Eventuell ruft er dich an, er heißt Damien.«

»Kein Problem, Jacqui. Wobei ich nicht halb so interessant bin wie meine Familie – ihre Geschichte, das Erbe, die Kämpfe! Ich denke, Broome ist jetzt im Wandel begriffen, wie das der Lauf der Zeit eben so mit sich bringt. Trotzdem stößt man auf Schritt und Tritt auf die Vergangenheit, sie ist nicht nur im Museum versteckt.« Lily seufzte. »Wenn ich darüber nachdenke, dass so viele der Alteingesessenen inzwischen verstorben sind, beunruhigt es mich, wie Familienmemorabilien – all die Briefe und Bilder, das alte Perlenfischereizubehör und vieles mehr, was für diese Gegend ungemein typisch war – verscherbelt werden. Erst gestern hat mir jemand ein Logbuch gezeigt, das ein Kapitän Anfang des letzten Jahrhunderts geführt hat. Er ist rund um Thursday Island und dann an Darwin vorbei hierher gesegelt und durch eine der alten Familien zur Perlenfischerei gekommen. Als ich gesagt habe, dass dieses Logbuch historisch wertvoll ist, sahen mich die Leute mit großen Augen an.«

»Du kennst so unendlich viele Geschichten, Lily. Damien würde sich bestimmt freuen, einige davon zu hören, und dich sicher auch gern auf deiner Perlenfarm besuchen. Wie läuft’s denn dort?«

»Alles bestens. Natürlich spielen sich ständig irgendwelche kleinen Dramen ab. Das lässt sich nicht vermeiden, wenn man mit Menschen, die aus den verschiedensten Lebenswelten kommen und in turbulenten Zeiten zusammengewürfelt worden sind, in einer so abgelegenen und manchmal auch gefährlichen Gegend zusammenarbeitet – erst recht nicht in der nervtötenden Schwüle zu Beginn der Regenzeit. Irgendwas ist da immer am Brodeln.« Lily lachte. Ganz offensichtlich wollte sie es gar nicht anders haben.

Jacqui schmunzelte. »Liebesgeplänkel oder Streitereien?«

»Du warst noch nie bei uns auf der Perlenfarm, oder? Das solltest du unbedingt nachholen, wenn du mal hier wegkannst.«

»Himmel, keine Ahnung, wann das mal sein wird. Aber danke, Lily, ich nehme die Einladung gerne an.«

»Wunderbar. Und da ich jetzt wieder dorthin zurückfahre, brauche ich unbedingt ein paar unterhaltsame Bücher. Was kannst du empfehlen?«

 

Zwei Tage später kam Jacquis gute Freundin Lydia vom Funkhaus nebenan herüber, um im Buchladen-Café zu Mittag zu essen. Sie setzte sich draußen an einen Tisch unter einem Sonnenschirm, spähte durchs Fenster und sah, wie Jacqui sich mit einer Kundin unterhielt. Gleich darauf trat Sylvia an ihren Tisch.

»Was darf ich Ihnen heute bringen, Lydia? Wir haben Avocado-Sushi … oder möchten Sie Garnelen mit Gurke?«

»Klingt beides köstlich, Sylvia, zwei von beidem. Und einen Latte dazu. Wie geht es Ihnen denn?«

»Gut, danke«, antwortete die hübsche junge Aborigine-Frau. »Ich arbeite sehr gern hier. Für eine Bücherfreundin ist es der schönste Job der Welt. Ihr Kaffee kommt sofort.«

Jacqui tippte die Buchkäufe der Kundin in die Kasse, wechselte noch ein paar Worte mit ihr und sah dann, dass Lydia draußen saß. Sie lächelte ihrer Freundin zu. Mit ihren wilden Locken, den großen dunklen Augen, dem strahlenden Lächeln und der tiefen, melodischen Stimme war die Aborigine-Frau in Jacquis Augen eine faszinierende Mischung: eine leidenschaftliche Verfechterin der Rechte ihres Volkes und eine redegewandte, gescheite Frau mit Sinn für Humor, die problemlos in zwei Welten leben konnte. Als Journalistin wusste sie kluge Fragen zu stellen, war einfühlsam und eine hervorragende Menschenkennerin. So gelang es ihr mit ihrem sanften, suggestiven Ton, dem durchdringenden Blick und einem stets freundlichen Lächeln, ihren Gesprächspartnern Dinge zu entlocken, die diese eigentlich nicht hatten preisgeben wollen.

Da im Laden gerade nicht viel los war, beschloss Jacqui, kurz Pause zu machen und ihrer Freundin Gesellschaft zu leisten. Sylvia würde sich so lange ums Geschäft kümmern.

»Hast du viel zu tun heute?«, erkundigte sich Lydia, als sich Jacqui setzte.