In der Blüte des Sturms - Di Morrissey - E-Book
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In der Blüte des Sturms E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Das Schicksal starker Frauen, ihre Geschichten und die große Liebe an der australischen Küste: Nachdem Ellie Conlan ihren Job in Melbourne verloren und mit Mitte dreißig keine Pläne für ihr Leben hat, braucht sie dringend eine Auszeit: Sie zieht zu ihrem Großvater Patrick in die malerische Küstenstadt Storm Harbour. Dort angekommen unterstützt sie ihn in der lokalen Zeitungsredaktion des Chronicle, dessen Leitung Patrick übernommen hat. Was als Urlaub beginnt, wird zu einer Reise in ihre Vergangenheit – und die der örtlichen Gemeinschaft. Denn Ellie findet Freude daran, als Journalistin zu arbeiten, mehr über den Ort und die Menschen mit ihren Geschichten zu erfahren. Zum Geburtstag der Matriarchin Kathryn O'Neill will Ellie einen Bericht schreiben über die Frau, die Storm Harbour zusammenhält, im großen Anwesen lebt und den Botanischen Garten pflegt. Bei ihren Nachforschungen stößt sie jedoch auch auf einen mysteriösen Baudeal, der sowohl den großen Botanischen Garten als auch den Campingplatz und seine Bewohner bedroht. Während Ellie sich in die Recherche stürzt, gerät sie selbst ins Fadenkreuz der unbekannten Bauherren ... Sie muss feststellen, dass es nicht so leicht ist, die Verganenheit abzuschütteln. Denn nicht nur ihr bester Freund Mike bleibt an ihrer Seite, auch Kathryns Söhne Ronan und Ben O'Neill sind für Ellie keine Unbekannten, und bald schlägt ihr Herz unerwartet schneller ...  Erfolgsautorin Di Morrissey verknüpft in ihrem gefühlvollen Liebesroman eine spannende Reise in die Vergangenheit mit aktuellen Themen! Entdecken Sie weitere Liebes- und Familienromane von Di Morrissey im wunderschönen Sehnsuchtsland Australien: - Der Ruf des Nachtvogels - Die Korallentaucherin - Im Licht der Korallenblüte - Im Schatten des Pfefferbaums - Himmel über roter Erde

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Seitenzahl: 531

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Di Morrissey

In der Blüte des Sturms

Ein Australien-Roman

Aus dem Englischen von Christa Prummer-Lehmair, Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß,Kollektiv Druck-Reif

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Nachdem sie ihren Job in Melbourne verloren und mit Mitte dreißig keine Pläne für ihr Leben hat, zieht Ellie Conlan zu ihrem Großvater in die malerische Küstenstadt Storm Harbour. Was als Urlaub beginnt, wird zu einer Reise in ihre Vergangenheit - und die der örtlichen Gemeinschaft. Denn Ellies Großvater gehört die Lokalzeitung, und Ellie findet Freude daran, als Journalistin zu arbeiten. Als sie über einen mysteriösen Baudeal recherchiert, der den Botanischen Garten bedroht, wird sie selbst zur Zielscheibe des unbekannten Bauherren. Dabei kommt sie nicht nur hinterhältigen Machenschaften auf die Spur, sondern auch ihren eigenen Wünschen und der wahren Liebe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Dank

 

 

 

 

Für alle meine Freunde und Kollegen, die weltweit in den unterschiedlichsten Medien arbeiten,und insbesondere für all jene, die bei dem Versuch, die Wahrheit zu sagen und Licht ins Dunkel zu bringen, ums Leben gekommen sind.

 

Ohne freien und unabhängigen Journalismus ist unsere Welt bedroht.

 

Ehrliche, unabhängige Medien sind unsere Stimme.

Bitte unterstützen Sie Ihre Lokalzeitung, die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender sowie vertrauenswürdige Onlineformate.

 

Di Morrissey, 2020

Prolog

Im Licht der untergehenden Sonne wirbelten Staubwolken auf. Bald würde der Ball der Junggesellen und Junggesellinnen beginnen.

Kleintransporter, Pick-ups, Kombis und Limousinen bewegten sich über die unbefestigte Straße zu dem glamourösen Anwesen mit der riesigen, hundert Jahre alten Wollscheune. Hier würde die Jugend von den umliegenden Farmen, Dörfern und Städten zusammenströmen und bis zum Morgen feiern. Die Tradition verlangte, dass es eine Nacht der Exzesse mit Alkohol, Tanz, Erbrechen und Sex wurde.

Im Innern der großen hölzernen Scheune, erfüllt vom Lanolingeruch der dort seit Generationen geschorenen Schafe, testete ein DJ die Sound- und Lichtanlage. Die Folkmusikgruppen, die einst noch für die Eltern der Partygäste aufgespielt hatten, waren moderner Technik gewichen.

Das Lagerfeuer im Hof beleuchtete die lange Bar, wo Fassbier, eine Auswahl guter Weine, billige Plörre und beliebte Schnäpse so schnell hinuntergekippt wurden, dass die Barkeeper mit dem Ausschenken kaum nachkamen. Die Leute scharten sich ums Feuer, hockten auf den Ladeflächen der Pick-ups oder sahen in der Scheune den Tanzenden zu. Die Party fing gerade erst an.

Eine Nacht lang mischten sich hier Arm und Reich, Einheimische, Besucher und Freunde aus der Stadt, und alle hauten so richtig auf den Putz. Der Dresscode war fließend – von formell über ausgefallen bis witzig.

Sie war siebzehn, und dies war ihr Eintritt in eine neue Welt. Eine Freundin aus der Schule, deren Familie die Gastgeber kannte, hatte sie eingeladen, und die beiden Mädchen waren kribbelig vor Aufregung in den Norden gefahren. Voller Vorfreude hatten sie sich nach allen Regeln der Kunst aufgebrezelt. Sie kicherten beim Anblick eines stämmigen Kerls, der über Jeans, Cowboystiefeln und T-Shirt ein smaragdgrünes Ballkleid mit Tüllrock trug, das vielleicht seiner Großmutter gehört hatte. Viele der Mädchen trugen schicke Cocktailkleider, und man sah Jungen mit eleganten Jacketts, glänzenden Stiefeln und Krawatten, die im Lauf des Abends abgelegt wurden.

Für alle, die noch wach und nicht zu verkatert waren, würde es am Morgen ein Muntermacher-Frühstück geben. Man hatte die Unterkunft der Schafscherer für Übernachtungsgäste geöffnet, aber viele hatten auch Schlafsäcke und Decken mitgebracht und schliefen im Auto.

 

Es war spät. Man hatte getanzt und gegessen und sich in Grüppchen ums Feuer gesetzt. Aus der Scheune und dem Dunkel waren spitze Schreie und Gelächter zu hören.

Sie war leicht überrascht, als ein stadtbekannter Mädchenschwarm Interesse für sie zeigte. Groß und gut aussehend, genau der Typ, mit dem man bei seinen Eltern Eindruck schinden konnte. Dass er mit ihr flirtete, schmeichelte ihr.

Als er ihr ein Glas reichte, mit ihr anstieß und darauf wartete, dass sie probierte, nippte sie vorsichtig an dem ihr unbekannten Getränk, einem Rum-Cocktail. Es brannte im Hals. Der Mann brachte sie zum Lachen. Sie fühlte sich klug und witzig und … attraktiv. Sein Arm lag auf ihrer Schulter, und ihr Glas schien nie leer zu werden.

Er nahm sie an der Hand, und sie tanzten im Schatten der Wollscheune. Während sie sich im Rhythmus der Musik bewegten, zog er sie ganz eng an sich und küsste sie … ihr erster richtiger, erwachsener Kuss.

Doch Minuten später – wirklich nur Minuten? – drehte sich alles um sie, und ihr war, als würden ihre Knie nachgeben. Er führte sie in die leere, spärlich beleuchtete Männerunterkunft – die Ruhe dort würde ihr guttun, meinte er. Sie fühlte sich benebelt und sah alles verschwommen, hatte Angst, sich übergeben zu müssen. O nein, das wäre zu peinlich. Dankbar ließ sie sich auf eine schmale Liege fallen.

Doch auf einmal war auch er auf der Liege und wälzte sich auf sie, sie konnte seine nackten Beine spüren, während sich weiterhin alles um sie herum drehte. Sie versuchte, ihn wegzuschieben, doch seine Hand legte sich auf ihren Mund, und die andere kroch unter ihren Rock und zerrte an ihrem Slip. Sie strampelte heftig, als er sein Gesicht auf ihres presste und sie in die Lippe biss.

»Hey, Kumpel, sie will nicht. Lass sie in Ruhe, komm schon …« Schritte polterten, und plötzlich lag er nicht mehr auf ihr.

Sie hörte leises Lachen von draußen, als sie sich auf die Seite rollte und sich über die Bettkante hinweg übergab.

Alles tat ihr weh, aber die Schmerzen in ihrem Kopf fingen erst an. Sie musste hier raus. Taumelnd rappelte sie sich auf, stolperte aus dem Raum und fand irgendwie den Weg nach draußen. Wo war ihre Freundin? Sie wusste nur, dass sie sofort hier wegmusste.

Als sie auf der stockfinsteren Straße war, marschierte sie einfach los, obwohl sie wusste, dass das sinnlos war. Bis nach Hause waren es über hundert Kilometer.

Wenig später kam ein Auto schlitternd vor ihr zum Stehen, jemand sprang heraus und eilte auf sie zu. Sie stand nur zitternd da und hatte keine Ahnung, wer die beiden waren, die ihr ins Auto halfen und sie fragten, wohin sie wolle.

Beim ersten Licht des Tages erreichten sie das Haus ihrer Eltern. Die Frau stieg aus, öffnete die hintere Wagentür und legte dem Mädchen mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Sieht ganz so aus, als hättest du einen schlimmen Abend hinter dir, Schätzchen. Ich rate dir: Versuch es zu vergessen. Du bist mit heiler Haut davongekommen. Pass in Zukunft auf dich auf!«

Das Mädchen murmelte ein Dankeschön und ging leise ins Haus und auf ihr Zimmer.

Sie erzählte nie jemandem von dieser Nacht. Was geschehen war, vergrub sie tief in ihrem Gedächtnis, um es nie wieder hervorzuholen.

Das glaubte sie zumindest.

1

Der Weg zur Arbeit war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Seit nunmehr fünf Jahren lief Ellie Conlan tagtäglich durch dieselben Straßen. Regnete es zu stark, nahm sie die Straßenbahn bis zu der vier Häuserblocks entfernten Haltestelle, die fast direkt vor dem anonymen Hochhaus aus Stahl und Glas lag.

Manchmal begegnete sie im Lift oder im Foyer bekannten Gesichtern – bekannt nur insofern, als diese Menschen ebenfalls in diesem Büroturm tätig waren. Es schien das ungeschriebene Gesetz zu gelten, dass man sich zwar anlächelte oder zunickte, aber sobald man in seiner Etage ausstieg, war man für die anderen aus den Augen, aus dem Sinn.

Ellie ging voll und ganz in dieser Arbeitswelt auf. Ihre Stunden waren angefüllt mit Aufgaben, Besprechungen, Problemen und Papierkram. Es war ein aufreibendes Leben mit wenig Raum für anderes – seit ihrer Scheidung lebte Ellie allein. Dennoch liebte sie ihren Job, verbrachte viel Zeit mit ihrem Team und traf sich mit Freunden, wann immer sie konnte, was zugegebenermaßen nicht oft der Fall war.

Sie hatte gelernt, Ablenkungen auszublenden, wenn sie in dem Open-Space-Büro mit der grellen Beleuchtung und dem vielen Glas saß. Anfangs hatte sie es hypermodern gefunden, inzwischen hielt sie es jedoch für ein veraltetes Konzept. Open-Space-Büros funktionierten einfach nicht, das hatte Ellie schon seit Langem erkannt. Laute Musik vom Soundtrack der Woche und angeregtes Geplauder übertönten sich gegenseitig, und vermeintlich zwanglose Arbeitssitzungen fanden in Creative Hubs statt – verstreut liegenden Sitzecken, wo man den Laptop auf den Knien balancieren musste, weil auf dem winzigen Couchtisch kein Platz war. Das Ambiente war so nüchtern wie in einem Motel an der Autobahn, und es gab keinerlei Privatsphäre; da man keinen fest zugewiesenen Arbeitsplatz hatte, konnte man nichts Persönliches wie Fotos, Lieblingsdinge oder den eigenen Computer auf dem Schreibtisch zurücklassen. Man ging abends nach Hause, und am nächsten Tag fand man einen blitzblanken, leeren Schreibtisch vor. Ellie hatte sich angewöhnt, eine mentale Mauer um sich zu errichten, wann immer sie nachdenken, kreativ sein und sich konzentrieren musste.

Als Projektmanagerin in einem IT-Unternehmen leitete sie ein Team von Entwicklern, die Codes schrieben, Designern, die die Anwendungsoberflächen gestalteten, Analysten, die die Marktbedürfnisse erforschten, sowie Programmierern und Softwarearchitekten, die für die pünktliche Ablieferung des Projekts und für die Nasenlänge Vorsprung vor der Konkurrenz sorgten. Oft fühlte sie sich wie die Dirigentin eines Orchesters, die eine Gruppe von Menschen dazu bringen musste, geschlossen und aufeinander abgestimmt zu agieren.

Ellie und ihr Team arbeiteten an der Einführung einer neuen Software für ein großes Medienhaus, und heute war der Tag der Entscheidung – sie würde das fertige Projekt der Geschäftsleitung präsentieren. Auf dem Weg zur Arbeit hatte sie eine Textnachricht von ihrer Kollegin Sophia erhalten, in der sie aufgefordert wurde, sofort nach ihrer Ankunft zu einem Meeting zu erscheinen. Sophia war ebenfalls Projektmanagerin, allerdings neu in der Firma und offenbar entschlossen, es ganz nach oben zu schaffen, wie Ellie vermutete. Mit ihr war sie bisher nicht wirklich warm geworden. Obwohl Sophia fünf Jahre jünger war als Ellie, behandelte sie sie von oben herab.

Ellie stellte ihre Tasche ab und begab sich, ohne ihrem Team Bescheid zu sagen, mit Notizbuch und Stift in den Konferenzraum, wo sie von Sophia und dem Abteilungsleiter Roger Gladstone erwartet wurde. Die Schroffheit der Textnachricht hatte sie beunruhigt, doch sie wollte nicht, dass ihre Mitarbeiter, mit denen sie seit Jahren zusammenarbeitete und die ihrem Urteil vertrauten, sich Sorgen machten. Sie hätten ihr angesehen, dass etwas nicht stimmte, wenn sie sie wie üblich begrüßt und sich erkundigt hätte, ob es irgendwelche Fragen gab, bevor sich jeder seiner Arbeit widmete.

»Guten Morgen, Sophia, Roger«, sagte sie, als sie in den Raum trat.

»Wir müssen uns unterhalten.« Sophia nahm an dem langen Tisch Platz und bedeutete Ellie mit einem Nicken, ihrem Beispiel zu folgen. »Roger hat dir etwas mitzuteilen.«

Roger knallte eine Zeitung und ein Branchenmagazin auf den Tisch. »Falls es dir entgangen ist, dadrin stehen Artikel über dein Projekt. Im Netz ebenfalls. Offenbar taugt das Produkt nichts. Es ist mangelhaft.«

Ellies Magen krampfte sich zusammen. »Worum geht es hier?«, fragte sie, so ruhig sie konnte.

»Wir wurden sabotiert. Das ist schlechte Presse«, erklärte Roger. »Unsere Kunden kriegen Panik.«

»Weshalb denn?«, wollte Ellie wissen. »Wir haben doch alles unter Verschluss gehalten. Und wenn es einen Mangel gibt, was ich nicht glaube, kann mein Team ihn beheben.« Sie sah zu Sophia, die die Schultern zuckte.

»Für eine Fehleranalyse ist es ein bisschen zu spät«, sagte Roger. »Inzwischen sind die Zweifel an der Tauglichkeit des Produkts so massiv, dass wir das Vertrauen der Kunden nicht mehr zurückgewinnen können.«

»Wie kann das denn sein? Jemand muss absichtlich Lügen verbreitet haben. Mir ist das Ganze ein Rätsel. Aber was auch immer passiert ist, es war jedenfalls keiner aus meinem Team«, entgegnete Ellie.

»Es muss jemand aus deinem Team gewesen sein«, widersprach Sophia mit einem verkniffenen Lächeln. »Sonst hatte niemand Zugang zu den Details.«

»Für mein Team lege ich die Hand ins Feuer. Und außerdem hatten auch andere Zugang«, sagte Ellie. Ihre Augen wurden schmal. »Du zum Beispiel, Sophia.«

Sophia gab sich ungerührt. »Willst du damit andeuten, dass ich eine Saboteurin bin?«

Auf einmal fiel es Ellie wie Schuppen von den Augen, dass genau das zu der ehrgeizigen Sophia passen würde.

»Da es hier um viel Geld geht, wird die Konkurrenz über uns herfallen. Jetzt bleibt uns nur noch Schadensbegrenzung. Tut mir leid, Ellie«, sagte Roger, »aber das ganze Projekt ist gestorben, dein Team wird aufgelöst. Wir müssen noch einmal ganz von vorn anfangen.«

»Das ist nicht schön, aber wir sind nun mal in Zugzwang«, warf Sophia ein.

Diese schreiende Ungerechtigkeit traf Ellie zutiefst. Einen Moment lang konnte sie vor Wut keinen klaren Gedanken fassen. Man hatte sie sabotiert, und sie wusste mit jeder Faser ihres Körpers, dass diese eiskalt lächelnde Schlange dafür verantwortlich war. Es kostete sie größte Überwindung, ihren Ärger hinunterzuschlucken.

»Du erwartest von mir und meinem Team, dass wir einfach alles hinschmeißen? Was genau verlangst du von mir? Der Verlust dieses Projekts trifft die ganze Firma, nicht nur mich«, sagte Ellie ruhig.

»Genau. Deshalb müssen wir ein klares Zeichen setzen, dass das Problem behoben wurde«, antwortete Roger. »Wir müssen denen da oben, dem CEO und den Kunden, beweisen, dass die Angelegenheit geklärt ist.«

»Wie bitte? Was willst du damit andeuten? Hast du vor, mich zum Sündenbock für dieses Schlamassel zu machen? Oder mich ganz abzusägen?«

»Oh, dafür bist du uns viel zu wichtig«, beschwichtigte Roger. »Für dich ist immer Platz in dieser Firma, Ellie. Aber ich habe eine neue Projektmanagerin ernannt.« Er nickte zu Sophia.

»Ich werde mich gut um die Sache kümmern«, sagte Sophia. »Und ich bin sicher, wir finden eine andere Aufgabe für dich.«

Ellie konnte nicht fassen, was sie eben gehört hatte. »Wenn du die Vorzüge unseres Konzepts nicht erkennst und mich und mein Team das nicht zu Ende führen lässt, ist das dein Pech«, fauchte sie. »Und außerdem, wenn es tatsächlich eine undichte Stelle gibt und wir nicht einmal die Chance bekommen, den angeblichen Mangel zu beheben, habe ich hier sowieso nichts mehr verloren.«

Roger zuckte die Schultern. »Es tut mir leid, dass du das so siehst. Trotzdem, Sophia wird deine Aufgabe übernehmen.«

»Nur um es noch einmal klarzustellen: Ich soll also kaltgestellt und mein Team aufgelöst werden, damit du, Sophia, deine Ambitionen durchsetzen kannst, ist das korrekt?«, brachte Ellie mühsam hervor. Sie merkte, wie sie die Beherrschung verlor. »Wisst ihr, so leicht werdet ihr mich nicht ersetzen können. Jemanden mit meinem Weitblick, meinen Führungsqualitäten, meinen Fähigkeiten und Kompetenzen muss man erst mal finden.«

Sie funkelte ihren bestürzt wirkenden Chef wütend an.

»Du tust mir leid, Roger. Eines Tages wirst du merken, wie du manipuliert wurdest.« Ellie warf einen eisigen Blick auf Sophia und holte tief Luft. »Hiermit kündige ich. Unter diesen Umständen kann ich nicht länger bleiben. Es tut mir leid für mein Team, dessen monatelange harte Arbeit nun umsonst war. Aber es ist mir unmöglich, in einer Firma zu bleiben, in der es so verlogen zugeht.«

»Findest du das nicht ein bisschen voreilig …«, begann Roger.

Ellie fiel ihm ins Wort. »Ich werde nicht mit Lügnern und Betrügern zusammenarbeiten, die nur um ihrer eigenen Karriere willen ein fantastisches Projekt sabotiert haben. Ich hoffe, das ist es dir wert, Sophia.«

Damit ging sie zur Tür.

»So muss es doch nicht enden, Ellie …«, setzte Roger an, doch als Ellie sich an der Tür noch einmal umdrehte und ihm einen verächtlichen Blick zuwarf, verstummte er stotternd.

Sie kehrte an ihren Schreibtisch zurück, schnappte sich Tasche und Jacke und ging zum Lift. Im Augenblick war sie zu aufgewühlt, um mit jemandem aus ihrem Team zu sprechen; sie würde sie später anrufen. Jetzt brauchte sie dringend frische Luft.

Als sie auf den Gehweg trat, brodelte es immer noch in ihr.

Auf einmal kam ihr die ganze Umgebung fremd vor. Ihr üblicher Tagesablauf war völlig durcheinandergeraten. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es noch nicht einmal neun war. Langsam schlenderte sie zur Degraves Street, einer beliebten Gourmetgasse, und setzte sich an einen Tisch im Freien.

Sie vergrub den Kopf in den Händen.

Was um alles in der Welt hatte sie getan?

Wie sollte es jetzt weitergehen? Was nun?

 

Vor dem Magic Lantern Café in Fitzroy klappte Ellie ihren Schirm zusammen und trat ein.

Ein heimeliger Geruch von Kaffee, Kuchen und feuchten Mänteln schlug ihr entgegen. Sie sah sich um und ging dann zu der Ecke, wo Mike bereits an ihrem Lieblingstisch saß. Er war ein ehemaliger Kollege von ihr, hatte aber dann zu einem großen IT-Unternehmen gewechselt. Dennoch waren sie in Kontakt geblieben.

Er stand auf und umarmte Ellie, die er um einiges überragte. »Hallo. Ich habe schon mal Kaffee für uns bestellt.«

»Super, danke.« Sie streifte ihre Jacke ab und setzte sich. »Wie schön, dich zu sehen. Ist ja eine Ewigkeit her.« Sie lächelte ihren ehemaligen Kollegen an. »Viel zu lange.«

»Das kann man wohl sagen. Wie war dein Urlaub?«

Ellie wandte kurz den Blick ab. »Ich war gar nicht weg.«

»Was? Warum denn nicht?« Er musterte sie forschend. »Okay, was ist los?«

»Gar nichts. Alles wie immer.« Sie seufzte. »Ich bin doch schon so viel gereist, zu all den IT-Konferenzen an exotischen Orten. Nach dem, was passiert war, wollte ich mich nur noch in meiner Wohnung verkriechen.«

Er griff nach ihrer Hand. »Ellie, das liegt nun schon Monate zurück. Es ist nicht gesund, nur herumzusitzen und Trübsal zu blasen.«

»Das weiß ich. Ich kann mich einfach zu nichts aufraffen.« Sie merkte, wie niedergedrückt sie klang.

»Ich verstehe ja, dass es dich belastet, keinen Job zu haben, aber immerhin hast du selbst gekündigt. Sie haben doch versucht, dich zu halten«, meinte Mike.

»Schon, aber nicht besonders hartnäckig. Nachdem sie mich dermaßen kompromittiert hatten, konnte ich nicht mehr bleiben. Ich hätte mich auf keinen Fall von Sophia herumkommandieren lassen.«

Mike nickte. »Du hast ja recht. Ich an deiner Stelle hätte genauso gehandelt.« Mit sanfter Stimme fügte er hinzu: »Ich wünschte nur, ich hätte dich mehr unterstützen können. Du hättest mir sagen sollen, was los ist.«

Ellie schüttelte den Kopf. »Du musst kein schlechtes Gewissen haben, Mike. Ich kann meine Kämpfe selbst ausfechten. Und mir war klar, dass ich gegen diese Leute keine Chance hatte. Ich habe gelernt, dass man gegen jemanden, der so von Ehrgeiz zerfressen ist, dass er über Leichen geht, schlicht nicht ankommt. Und Sophia ist ein besonders hinterhältiges Exemplar dieser Sorte Mensch.«

Eine Kellnerin brachte den Kaffee und Ellie legte die Hände um die warme Tasse.

Mike schüttelte bedrückt den Kopf. »Wenn man bedenkt, wie du dich reingehängt hast – du musstest mehrere Projekte gleichzeitig stemmen, immensen Druck aushalten, dich mit utopischen Terminvorgaben und Budgetbeschränkungen herumschlagen, dein Team auf Kurs halten und als Projektmanagerin immer für alles den Kopf hinhalten. Ich weiß, was für einen Tribut das fordert.«

»Willst du damit sagen, ich soll froh sein, dass ich weg bin?«

»Nein, keineswegs. Ich will sagen, dass es total unfair war und du nichts dagegen hättest tun können. Du bist eine brillante Projektmanagerin und beherrschst deine Arbeit aus dem Effeff. Sophia und ihre Gefolgschaft haben keine Ahnung von den Entwicklungen in unserer Branche. Und bei Roger weiß man sowieso nie, was er denkt.«

»Er ist echt ein Ekel.« Ellie seufzte. »Wenigstens muss ich mich jetzt auch mit ihm nicht mehr abgeben.«

»Du hast es ihnen gezeigt, Ellie. Bravo! Du kannst wirklich stolz auf dich sein, dass du dich für das moralisch Richtige entschieden hast«, sagte er mit ernster Miene.

»Wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich vollkommen zusammengebrochen. Aber es ist schwer zu verdauen, dass sie mir im Grunde mein Projekt gestohlen haben«, erwiderte sie und wandte den Blick ab. »All die Arbeit, und wofür? Ich bin meinen Job los und stehe mit leeren Händen da.«

»Du kennst doch ihre Regel Nummer eins: klein beigeben, die Klappe halten und länger, härter, schneller arbeiten.« Mike schob seine Schildpattbrille nach oben und streckte seine langen Beine aus.

»Ja. Und wenn man dann aus dieser Blase herauskommt, stellt man auf einmal fest, dass man kein Leben außerhalb der Arbeit hat.« Sie sah Mike mit einem wehmütigen Lächeln an. »Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann. Danke, Mike.«

»Ist doch klar. Aber es wird Zeit, dass du dir etwas Neues suchst. Du bist super auf deinem Gebiet und ein kreativer Kopf. Jedes große IT-Unternehmen würde sich um dich reißen.« Er legte seine Hand auf die ihre. »Sicher, wenn du geblieben wärst und sie dich irgendwann entlassen hätten, hättest du eine Abfindung bekommen.«

»Ausgeschlossen! Das wäre die Hölle gewesen. Die Vorstellung, zusehen zu müssen, wie diese Frau sich als Chefin aufspielt und dann alles vermasselt! Dann hätten sie mich bitten müssen, es wieder in Ordnung zu bringen – oder mir womöglich die Schuld in die Schuhe geschoben.« Ellie biss sich auf die Lippe. »Ich fühle mich wie platt gewalzt. Mir fehlt das Selbstvertrauen – und wohl auch die Motivation –, um irgendetwas anzupacken. Allmählich sollte ich in die Gänge kommen, aber …« Sie zuckte die Schultern. »Aber Selbstmitleid ist auch keine Alternative, was?«

Mike zog seine Hand zurück und lächelte etwas gezwungen. »Sollen wir jetzt nicht bestellen? Ich bin am Verhungern.«

Ellie studierte kurz die Speisekarte. »Probieren wir doch den Jalapeño Mescal Cocktail mit gegrillter Limette, Agavenscheiben, Chilisalz.«

»Gern. Und wie wäre es mit Blini, Schinkenkroketten, Miesmuscheln …?«

»Für mich Moules marinières mit Sauerteigbrot.« Sie lächelte ihn an. »Du munterst mich immer auf. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr richtig gegessen oder auch nur Appetit verspürt.«

Nachdem sie bestellt hatten, sagte Mike: »Am Telefon hattest du erwähnt, dass du länger mit deiner Mutter gesprochen hast. Ich habe sie übrigens neulich im Radio gehört. Wie lautet ihr fachkundiger Rat als Psychiaterin?«

Ellie überlegte, ehe sie antwortete. »Bis jetzt hat sie mir keine Ratschläge gegeben. Und sie setzt mich auch nie unter Druck. Als in meinem Job alles den Bach runterging, hat sie mich kein einziges Mal daran erinnert, dass sie schon immer gesagt hat, ich bekäme für all meine Arbeit viel zu wenig Anerkennung. Und auch wenn sie Charlie nicht besonders mochte, hat sie ihn nie schlechtgemacht oder bei unserer Scheidung genörgelt, sie habe es ja gleich gesagt.« Ellie lehnte sich zurück.

»Mag sein, Ellie, aber das ist doch jetzt alles vorbei. Schnee von gestern.« Mike zögerte, dann fragte er: »Also, was willst du als Nächstes tun? Du bist erst sechsunddreißig. Du darfst dich nicht so hängen lassen.«

»Ich weiß.« Sie spielte mit dem Stiel ihres Cocktailglases. Ellie hatte sich immer für einen zuversichtlichen, selbstbewussten Menschen gehalten, aber durch die Umstände, unter denen sie ihre Stelle verloren hatte, und vor allem durch den ungerechten Vorwurf, sie habe ihr Projekt in den Sand gesetzt, war ihr Selbstvertrauen angekratzt. Sie musste wieder ganz von vorn anfangen und hatte keine Ahnung, wie sie es anpacken sollte.

Sie hob den Blick zu Mike. »Warum guckst du mich so an?«

»Was ist eigentlich aus der schicken Hipsterin geworden? Du siehst eher aus wie eine Stoffpuppe, die der Familienhund durchgebeutelt hat.« Er grinste. »Gefällt mir.«

Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr dunkelbraunes Haar, das normalerweise von ihrem teuren Friseur stylisch in Form geschnitten wurde. Jetzt hatte sie ihre Frisur herauswachsen lassen. »Ich treffe mich ja nicht mehr mit Kunden oder anderen wichtigen Leuten.«

»Und ich zähle gar nicht?« Er lachte. »Also, was hat deine Mutter sonst noch gesagt?«

»Ach, sie hat mich gefragt, ob ich nicht runter in den Süden fahren und bei meinem Opa nach dem Rechten sehen könnte. Und eventuell eine Weile bei ihm bleiben.«

»Ist er krank?«

»Nein, soweit ich weiß, nicht. Mum fürchtet, dass er sich einsam fühlt oder zu sehr in seinem Alltagstrott steckt und seine Gesundheit vernachlässigt. Er arbeitet immer noch, obwohl er inzwischen auf die achtzig zugeht. Früher war er Auslandskorrespondent für ABC, und heute kann er es nicht lassen, die Lokalzeitung zu leiten. Ich glaube, er hat ein paar gute Freunde, aber seit dem Tod meiner Großmutter vor acht Jahren lebt er allein. Mum meinte, dass er ein bisschen niedergeschlagen wirkt.«

»War er bei einem Arzt?«

»Mum hat es ihm empfohlen, aber Opa hört nicht auf sie. Er sagt, ihm fehlt nichts, und vielleicht hat er ja recht. Sie hat mich gebeten, ihn unter dem Vorwand, ich bräuchte einen Tapetenwechsel, zu besuchen. Wobei das ja gar kein Vorwand ist«, meinte Ellie. »Außerdem mache ich es gern. Ich liebe meinen Großvater und auch die Kleinstadt, in der er lebt. Storm Harbour ist ein ganz besonderer Ort unten an der Südküste. Als Kind habe ich viel Zeit dort verbracht, ich bin sogar eine Weile dort zur Highschool gegangen, als meine Eltern im Ausland lebten. Es ist zwar nur vier Stunden entfernt, aber ich war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr dort.« Sie blickte auf das Essen, das der Kellner soeben serviert hatte, und fühlte sich auf einmal überfordert.

»Du fährst also hin. Na ja, vielleicht tut es dir ja gut, wenn du mal aus Melbourne rauskommst«, sagte Mike. Dann meinte er nachdenklich: »Hör mal, ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Was hält dich davon ab, dich bei anderen Firmen zu bewerben?«

Ellie lachte, aber sie merkte selbst, dass es etwas schrill klang. »Vielleicht habe ich ja Angst, dass mir noch einmal dasselbe passiert?«

»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Ich wünschte, du würdest dir klarmachen, wie schlau und kompetent du bist«, rief Mike. »Komm, Estelle Conlan, trink aus, dann bestellen wir noch einen Cocktail und dazu Krabbenkroketten.«

Ellie merkte, wie ihr Tränen in die Augen traten. »Du bist wirklich ein großartiger Freund, Mike.«

Als der Kellner frische Getränke und eine Platte mit knusprigen, warmen Kroketten und Schüsseln mit Muscheln servierte, waren sie ganz ins Gespräch vertieft. Sie liebten es, Ideen auszutauschen und Pläne zu schmieden. Ellie schätzte an Mike, dass er sich Gedanken um die Zukunft machte. Umweltschutz, Informationsaustausch und Pressefreiheit waren ihm ein echtes Anliegen. Aber das Beste an ihm war, dass er sie zum Lachen brachte und von ihren Sorgen der letzten Monate ablenkte.

 

Nachdem sie bezahlt und das Café verlassen hatten, schlenderten sie durch die belebte Straße, die erfüllt war von wohlriechenden Essensdüften und Musikklängen, Gelächter und dem Rattern einer in der Nähe haltenden Straßenbahn. Pärchen gingen Arm in Arm, ein Mann schob sein Fahrrad, eine Frau führte ihren Hund Gassi. Es hatte aufgehört zu regnen, aber alles glänzte noch feucht.

»Lass uns das wiederholen, wenn du aus Storm Harbour zurückkehrst«, sagte Mike.

»Sehr gern.« Ellie wurde bewusst, dass sie sich tatsächlich darauf freute, ihn wiederzusehen. Zum ersten Mal seit ihrer Kündigung verspürte sie einen Hauch von Glück.

Zwei Blocks von ihrem kleinen Apartmenthaus entfernt trennten sie sich. Mike umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Genieß die Zeit bei deinem Opa. Ich wünschte, meiner würde noch leben.«

Sie sah ihm nach, während er ihr noch einmal zuwinkte und mit schnellen Schritten durch die stille Straße davonging.

Zu Hause in ihrem Wohnzimmer klappte Ellie sofort den Laptop auf dem kleinen Esstisch auf und checkte ihre Mails, eine Gewohnheit, die sich nur schwer ablegen ließ. Aber es gab nichts Dringendes oder auch nur halbwegs Interessantes. Wieder kam ihr in den Sinn, wie leer ihr Leben geworden war.

Ihre Scheidung lag nun schon fast zwei Jahre zurück und war einvernehmlich gewesen. Ellie und Charlie hatten sich in völlig verschiedene Richtungen entwickelt, mit unterschiedlichen Interessen und Freunden. Nach der Scheidung hatten sich beide rasch neu orientiert, was ihnen umso leichter fiel, da sie keine gemeinsamen Verpflichtungen oder Kinder hatten. Charlie verdiente gut als Abteilungsleiter im Verkehrsministerium, und obwohl Ellie, wie sie inzwischen erfahren hatte, ein geringeres Gehalt bekommen hatte als ihre männlichen Kollegen, war es doch ganz ordentlich gewesen, und sie verfügte über ein ansehnliches finanzielles Polster.

Ellie setzte sich aufs Sofa und grübelte wie nahezu jeden Abend über das Vergangene nach. Diese Gedanken machten sie unruhig und traurig, doch sie ließen sich nicht abstellen, unablässig kreisten sie in ihrem Kopf. Außerdem hatte ihr die Leere der vergangenen Monate klarer denn je vor Augen geführt, dass es Irrsinn war, sich im Beruf tagtäglich einem solchen Druck auszusetzen, wie sie es getan hatte. Dennoch vermisste sie den Adrenalinkick.

Unzählige Male hatte Ellie die Nacht durchgearbeitet, das Wochenende im Büro verbracht oder war um vier Uhr morgens aufgestanden. Und dennoch hatte sie es so gut wie nie geschafft, ihre überquellenden Posteingänge abzuarbeiten. Als Leiterin großer IT-Projekte hatte sie ständig unter dem Druck gestanden, wacher, schneller und cleverer zu sein als die Konkurrenz und bei jedem neuen Problem sofort eine Lösung für den Kunden parat zu haben.

Tagsüber hatte sie geistig immer auf Hochtouren gearbeitet, auch wenn sie sich manchmal erschöpft und ausgebrannt gefühlt hatte. Ihr Job hatte sie bis in den Schlaf verfolgt, sodass sie im Traum Details und Szenarien durchgearbeitet und sich nachts Notizen auf dem Block neben ihrem Bett gemacht hatte.

Und obwohl sie sich für die Firma aufgeopfert hatte, hatten Sophia und Roger ihr handstreichartig den Boden unter den Füßen weggezogen und Ellie ihr Selbstvertrauen und ihre Zuversicht geraubt.

Ellie schüttelte sich. Sie hatte einen schönen Abend mit Mike verbracht; warum musste sie immer wieder diese Gedanken wälzen und sich davon herunterziehen lassen? Hoffentlich würde der Aufenthalt bei ihrem Großvater in Storm Harbour die Abwechslung bringen, die sie brauchte, um den Kopf freizubekommen.

 

Die Großstadt lag längst hinter ihr, als Ellie den Hamilton Highway verließ.

In der letzten Zeit hatte sie einfach nur in den Tag hineingelebt – keine Verpflichtungen, kein Druck. Und nun der Besuch bei Opa. Danach würde sie sich aber ganz darauf konzentrieren, sich eine gute Stelle zu suchen. Sie versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen: Sie war kompetent – mehr als kompetent – und hatte sich als Projektleiterin in der IT-Branche fundierte Kenntnisse angeeignet, die sie in allen möglichen Bereichen anwenden konnte.

Doch ihre optimistische Stimmung verflog rasch. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt regelmäßig gegessen oder gar selbst gekocht hatte. An ihr Abendessen mit Mike konnte sie sich nur noch verschwommen erinnern. War es wirklich erst ein paar Tage her? Neuerdings reichten bereits die kleinsten Kleinigkeiten, um sie aus der Bahn zu werfen. Wo war ihre frühere Robustheit? Hör auf, dich selbst zu geißeln, flüsterte die Pragmatikerin in ihr, aber sie konnte sich gegen die Kakofonie der kritischen Stimmen in ihrem Kopf kaum durchsetzen.

Während sie solcherlei Gedanken nachhing, verlor sie jedes Zeitgefühl. Als sie auf einer Landstraße inmitten von Feldern und Reihen von Obstbäumen um eine Kurve bog, hatte sie auf einmal keine Ahnung mehr, wo sie war, wohin sie fuhr und wie sie hierhergekommen war. Sie versuchte, sich zusammenzureißen – die Landschaft um sie herum war wunderschön, doch sie hatte das Gefühl, sich in dichtem Nebel zu befinden.

Sie blinzelte. Meine Güte, wie lange war sie so geistesabwesend herumgekurvt? In ihrer Lunge und ihrer Brust wurde es eng, ihr Atem ging stoßweise, Übelkeit überkam sie, und sie konnte nur noch das Pochen in ihrem Kopf hören, während sie sich an das Lenkrad klammerte wie an einen Rettungsring.

Als ein Laster an ihr vorbeidonnerte, riss sie hektisch das Steuer herum und bog schlitternd in einen Fahrweg ein, wo sie schließlich zum Stehen kam.

Ihr Kopf sank auf das Lenkrad, ihre Schultern bebten, ihr Magen rebellierte. Keuchend tastete sie mit einer Hand nach ihrem Handy, während sie mit der anderen versuchte, die Autotür zu öffnen, die plötzlich tonnenschwer zu sein schien.

Angst und Hysterie drohten sie zu überwältigen. Vor ihren Augen verschwamm alles, doch sie tippte auf ihr Handy, bis sie die ruhige Stimme ihrer Mutter hörte.

»Mum, Mum, ich habe eine Art Anfall …«, ächzte sie.

»Wo bist du?«, fragte Sandy mit resoluter Stimme.

»Im Auto …«

»Du fährst?«

»Nein, ich habe angehalten. Mir wird gleich schlecht«, keuchte Ellie heiser.

»Stell den Motor ab«, sagte ihre Mutter bestimmt. »Atme tief ein und zähl mit mir …«

Mit sanfter, klarer Stimme redete sie auf ihre Tochter ein und half ihr, die wachsende Angst und Panik durchzustehen, bis Ellies Atem sich normalisierte. Schweißperlen rannen ihr übers Gesicht.

»Bist du bei mir, Ellie? Tief einatmen … eins … zwei … sprich mit mir.«

»Alles okay. Mir ist bloß noch ein bisschen übel«, japste Ellie. »Das war echt unheimlich … Was ist mit mir los?«

»Alles wird gut, Schatz. Bleib einfach sitzen. Hast du Wasser dabei? Trink einen Schluck. Öffne das Fenster, damit du frische Luft bekommst.«

Ellie stürzte das Wasser hinunter, das sie am Morgen in die Flasche gefüllt hatte. »Danke, Mum. Ich fühle mich schon ein bisschen besser. Zittrig. Müde. Ich habe keine Ahnung, woher das gerade kam.«

»Ach, Liebes. Ich schon. Sieht ganz so aus, als hättest du eine Panikattacke gehabt. Der Stress und Druck in der Arbeit sind nicht spurlos an dir vorübergegangen. So etwas braucht Zeit. Aber ich kenne dich, es wird alles wieder gut.«

Ellie seufzte erleichtert auf. »Danke, Mum. Du hast bestimmt recht. Ich glaube, jetzt geht es wieder.«

»Fahr vorsichtig. Atme tief und gleichmäßig. Wenn du dich wackelig fühlst, halt an und ruf mich an, und falls ich nicht zu erreichen bin, dann deinen Vater«, sagte Ellies Mutter. »Ich liebe dich, mein Schatz.«

Ellie dankte ihr noch einmal und stieß einen Seufzer aus, als sie das Gespräch beendete.

Zurück auf der Straße beschloss sie, ein bisschen langsamer zu fahren, um ihre Nerven zu beruhigen. Die grünen Wiesen und hübschen Dörfer, die den schrecklichen Buschfeuern einige Sommer zuvor entronnen waren, erschienen ihr wie flüchtige Eindrücke aus einer anderen Welt, deren Existenz sie vergessen hatte. Die Menschen in den kleinen Gemeinden hier waren durch die schrecklichen Brände und die Unsicherheit zusammengeschweißt worden und schöpften aus ihren gemeinsamen Erfahrungen Kraft. Ein- oder zweimal sah Ellie verbrannte Hänge, verkohlte Überreste einer Farm, einen geschwärzten Zaun oder ein Schild, das tapfer verkündete: Wir haben geöffnet. Wieder einmal kam ihr zu Bewusstsein, dass sie sich seit mehr als fünfzehn Jahren ausschließlich auf ihre berufliche Karriere konzentriert hatte. Wann war sie zuletzt an einem solchen Ort gewesen? Ihr Leben hatte sich ausschließlich in der Enge von Häuserblocks abgespielt, sie hatte nichts anderes mehr gekannt als den ewig gleichen Weg zwischen Büro und Wohnung.

In der Landschaft, durch die sie nun fuhr, deutete vieles auf Erneuerung hin. Zwischen verkohlten Bäumen spross üppiges Grün. Der Wiederaufbau war in vollem Gange; etliche Bewohner schienen entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorn zu blicken, so gut es ging. Doch es gab auch andere, die nur schwer in den Alltag zurückfanden.

Die Brände haben alle Sicherheiten und Gewissheiten erschüttert, aber das Leben geht weiter, dachte Ellie, als sie das Seitenfenster herunterließ und die frische Luft schnupperte.

Die Ruhe um sie herum weckte Erinnerungen an eine glückliche Kindheit, an die vielen idyllischen Sommer, die sie in dieser Gegend verbracht hatte. Das Städtchen Storm Harbour, in dem sich ihre Großeltern niedergelassen hatten und in dem ihre Mutter aufgewachsen war, war für sie ein Hort der Stabilität, ein entspannter Zwischenstopp auf ihrer wilden Jagd in eine Zukunft, nach der sie mit beiden Händen gegriffen hatte, ehe sie die schmerzliche Erfahrung machte, wie grausam das Leben sein konnte. Sie sehnte sich danach, noch einmal mit einem solchen Optimismus in die Zukunft zu blicken, sich so begeistert ins Leben zu stürzen. Mit Mitte dreißig war sie nun an einem Scheideweg angekommen.

Ihr letzter Besuch in Storm Harbour lag bereits mehrere Jahre zurück. Dabei wusste sie doch eigentlich, dass dies ein Ort war, an den sie immer zurückkehren konnte: das geschützt auf der Anhöhe liegende alte Haus mit Blick auf das Südpolarmeer, die vertrauten Orientierungspunkte, die freundlichen Gesichter, der geruhsame Gang des Lebens hier, und ihr Großvater Patrick, der sie stets strahlend und mit offenen Armen willkommen hieß. Sie sah ihn vor sich mit seinem humorvollen Blick und dem weisen Lächeln, stark wie ein Baum und warmherzig wie die Sonne, wenn er mit seinen runzligen Händen sanft über ihr Haar strich.

Und neben ihm der zarte Schatten ihrer Großmutter, die wie sie alle von der Kraft, dem Lachen und der Liebe dieses Mannes gezehrt hatte, der zwar nicht mehr jung an Jahren, aber jung im Geiste war.

Die Küstenstraße schlängelte sich durch die bäuerliche Landschaft mit ihren schmucken Farmen, die von alten Bruchsteinmauern umgeben waren. Freudentränen schossen Ellie in die Augen, als das Städtchen in Sicht kam, das sich zu beiden Seiten eines Flusses hinzog. Sie passierte das Schild mit der Aufschrift Willkommen in Storm Harbour, bog nach links ab und war bald in der Stadtmitte angelangt. Die breiten Straßen wurden von wunderschön restaurierten historischen Cottages und größeren Anwesen gesäumt, die von prächtigen Norfolk-Tannen und uralten Schmuckzypressen umgeben waren. Manche Häuser waren winzig, echte Steinhäuser mit niedrigen Eingangstüren und puppenstubenartigen Zimmern. Bei anderen hatte man den ursprünglichen Eingangsbereich erhalten, aber Ellie wusste, dass hinter der malerischen Fassade geräumige, schicke Anbauten hinzugefügt worden waren. In gepflegten Gärten im klassischen Stil gediehen Kletterrosen oder alte Rosenstöcke, die sich unter der Last ihrer prächtigen schweren Blüten bogen. Als Ellie an den Garten ihrer Großmutter zurückdachte, fiel ihr wieder ein, dass die Leute in Storm Harbour sehr stolz auf ihre Gärten waren und regelrecht darum wetteiferten, wer den schönsten hatte.

Die Lebensader der Stadt, der Fluss Derrin, floss in das dunkle, tückische Südpolarmeer, vor dem der Ort durch ein Heer kerzengerader Norfolk-Tannen abgeschirmt wurde. Dank seiner geschützten Lage konnte der kleine Hafen auch den wilden Stürmen trotzen, die diesen Teil der Küste gelegentlich heimsuchten.

Ellie parkte das Auto und schlenderte vorbei an der bezaubernden, aus Stein erbauten Bibliothek die Hauptstraße entlang. Ein Anflug von sentimentalem Stolz überkam sie, als sie vor dem vertrauten Eingang mit den Mattglasscheiben stand, auf denen die Titelseiten aus vergangenen Jahrzehnten und die der neuesten Ausgabe prangten. Quer darüber stand in schwarz-goldenen Lettern geschrieben: The Storm Harbour Chronicle. Gegr. 1901.

Als sie die Tür öffnete, hörte sie die Glocke, die einen Mitarbeiter zu dem unbesetzten Empfangstresen rief. Alle hielten sich ständig hinten in dem geschäftigen, wenn auch chaotischen Redaktionsbüro neben dem kleinen Kabuff des Chefredakteurs auf. Vor Jahren hatte man einen Anlauf gestartet, die Setzerei mit der Druckerpresse schalldicht zu isolieren, doch mit dem Anbruch des Computerzeitalters war der Raum neben der Toilette und der Teeküche zu einer Abstellkammer degradiert worden.

Die Gerüche und das Ambiente waren Ellie von Kindheit an vertraut. Sie trat ins Redaktionsbüro mit den drei übervollen Schreibtischen, auf denen sich Aktenordner und Fotomappen stapelten, aufgetürmten Zeitungsbündeln, einigen uralten Desktop-Computern, einem überquellenden Aktenschrank, einer Tafel und Dutzenden gerahmten Fotos an den Wänden.

Jonathan Cubbins, inzwischen der einzige Redaktionsmitarbeiter des Chronicle, wie die Zeitung gemeinhin genannt wurde, sah auf und begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. Er schob seinen Rollstuhl vom Schreibtisch zurück und fuhr gewandt auf sie zu.

»Hallo, Ellie. Patrick hat angekündigt, dass du kommst. Schön, dich zu sehen.«

»Hi, Jon. Wie läuft’s?« Sie schüttelte ihm herzlich die Hand. »Wie ich sehe, schmeißt du den Laden jetzt ganz allein, als Reporter und Fotograf in Personalunion.«

»Ja. Sally ist abtrünnig geworden. Arbeitet jetzt für die Typen vom Lokalradio. Wir treffen uns noch ab und zu auf einen Kaffee und halten einander auf dem Laufenden. Aber es ist nicht mehr dasselbe, weil wir jetzt Konkurrenten sind und nicht mehr über Ideen für Storys sprechen können«, erwiderte er.

»Was ist mit Maggie? Ist sie noch da?«

Ellie mochte Margaret Berger, die Patrick Addison als Sekretärin/Büroleiterin/Rechercheurin/Korrektorin und Sparringspartnerin zur Seite stand, seitdem er die Zeitung in einem späten Anfall von Midlife-Crisis, wie Ellies Großmutter es nannte, übernommen hatte.

»Klar, Maggie kriegst du hier nicht weg«, gluckste Jon. »Wie sie immer so schön sagt, sollen wir sie rauswerfen, wenn der Kalk zu rieseln beginnt.«

»Sie ist doch höchstens Mitte sechzig, oder?«

»Ja, schätze ich auch. Auch wenn sie mir ständig erzählt, dass sie alt genug ist, um meine Großmutter zu sein. Sie ist gerade nicht im Büro, aber ihr seht euch bestimmt noch.«

Ellie lächelte und schaute sich um. »Ist mein Opa hier?«

»Na klar.« Jon nickte zu der geschlossenen Tür des kleinen Büros, aus dem leises Gemurmel zu vernehmen war.

»Wer ist bei ihm?«

»Seamus O’Neill. Er will sich verabschieden, bevor er auf Kreuzfahrt geht.«

Ellie verzog das Gesicht. »Haben die O’Neills hier immer noch das Sagen? Die Stadt muss doch inzwischen auch im 21. Jahrhundert angekommen sein!«

Jon zuckte die Schultern. »Seamus hat einen gut laufenden Betrieb geerbt, den er vermutlich an seine Söhne weitervererben wird. Möchtest du eine Tasse Tee? Den Kaffee kann ich nicht empfehlen, ist nur Pulverkaffee.«

»Nein danke. Ich hätte Opa Bescheid geben sollen, dass ich direkt hierherkomme. Das war wohl etwas spontan.«

»Ach, das stört ihn sicher nicht; er freut sich schon auf dich. Wir sind alle richtig froh, dass du hier bist, Ellie.« Nach einer Pause fügte Jon hinzu: »Er ist ein bisschen einsam. Ich meine, er hat natürlich Freunde. Aber du weißt schon … nichts geht über die Familie.«

»Hallo! Ellie!« Die Tür des winzigen Büros flog auf, und ihr Großvater kam heraus, übers ganze Gesicht strahlend. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte – ein Hüne, der Liebe, Trost und Geborgenheit ausstrahlte.

Ihm folgte ein gepflegter Herr etwa im selben Alter, der teure Markenkleidung im lässigen Landlook trug.

»Oh, Sie haben Besuch. War schön, Sie zu sehen, Patrick.« Auf dem Weg nach draußen nickte der Mann Ellie und Jon höflich zu.

Ellie umarmte ihren Großvater ganz fest. Sein Körper fühlte sich immer noch kräftig an, auch wenn sein Haar etwas schütterer und grauer geworden war. Doch der Duft von Old Spice war schmerzlich vertraut.

»Geht es dir gut, Poss?«, fragte er mit sanfter Stimme, und als Ellie ihren Spitznamen – die Kurzform von Opossum – hörte, vergrub sie das Gesicht an seiner Schulter. »Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen, Ellie. Du wirkst müde. Hast dir wohl zu oft die Nacht um die Ohren geschlagen, was?«

Sie seufzte. »Schön wär’s. Ganz im Gegenteil. Ich schlafe in letzter Zeit viel zu viel. Das passiert, wenn man keine Verpflichtungen hat.«

»Na, das ist doch zur Abwechslung mal was anderes«, sagte er und musterte sie eingehend. »Jetzt komm, fahren wir nach Hause und trinken Tee. Warst du schon im Haus?«

»Nein, noch nicht. Gegen eine Tasse Tee habe ich nichts einzuwenden.«

»Ich hole meine Sachen. Kannst du abschließen, Jon?«

»Sicher. Ich möchte nur noch den Artikel über den Krabbendieb zu Ende bringen. Mir scheint, es steckt mehr dahinter als ein Gelegenheitsdiebstahl.«

»Ganz wie du meinst. Sprich doch mit dem alten Norm Watson, dem pensionierten Fischereiinspekteur. Er könnte ein paar Hinweise für dich haben.«

»Mach ich. Hat mich gefreut, dich wiederzusehen, Ellie.«

Ellie wartete am Auto, als ihr Großvater mit bis zum Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln, einem Fedora-Hut – seinem Markenzeichen – und seiner uralten Aktenmappe unter dem Arm aus dem Gebäude trat.

»Wie spät ist es?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Kurz vor elf. Zu früh für ein Bier. Ja, eine Tasse Tee ist jetzt genau das Richtige. Du hattest eine lange Fahrt.« Er stieg in seinen betagten Geländewagen. »Also bis gleich.«

 

Unter den knorrigen Bäumen, die die Südseite des schmucken alten Gebäudes schützten, stellte Ellie den Wagen ab und griff nach ihrer Tasche. Ihr Großvater war schon da, vermutlich hatte er bereits das Teewasser aufgesetzt.

Als sie sie den wohlbekannten Weg hinaufging, atmete sie tief durch. Das doppelstöckige weiß getünchte Haus auf der Anhöhe vor der Stadt stand inmitten von Buschland. Ellie und ihre Mutter hatten es wegen seiner Weitläufigkeit und seiner großzügigen, einladend anmutenden Eleganz oft als »das Haus aus alten Zeiten« bezeichnet. Mit seiner breiten, umlaufenden Veranda und den bequemen Korbmöbeln darauf wirkte es von außen tatsächlich so, doch innen war es im Lauf der Jahre mehrfach modernisiert und renoviert worden, zum Beispiel durch den Einbau einer familienfreundlichen offenen Wohnküche. Doch es gab immer noch separate Räume, wo man die Tür hinter sich schließen und für sich sein konnte, etwa Patricks Arbeitszimmer, das offizielle Esszimmer oder das Kinderspielzimmer mit Stockbetten. Das Gästezimmer mit der Fenstertür, die auf den Balkon im ersten Stock führte, war früher das Zimmer ihrer Mutter gewesen. Jetzt benutzte Ellie es, wenn sie zu Besuch kam. Vom Balkon aus hatte man einen ungehinderten Blick direkt aufs Meer. Seitlich lag der Garten ihrer Großmutter, der sich um das Haus herum bis zur Rückseite erstreckte.

Die Empfindungen, die Ellie bestürmten, als sie über die Schwelle des Hauses trat, waren ihr so vertraut wie ihr eigenes Spiegelbild: der Duft von Bienenwachs und alten Rosen, und alles war durchdrungen von Liebe.

In der Küche deckte ihr Großvater den Tisch für den Tee und stellte auch einen Teller mit Keksen bereit – genauso hatte es auch Ellies Großmutter immer gemacht, seit sie als junge Braut hier eingezogen war, wie Patrick stets betonte. Ellie kam dabei zu Bewusstsein, dass dieses Ritual zu ihren liebsten Kindheitserinnerungen zählte.

»Hallo, Sam, schau mal, wer da ist!«, rief ihr Großvater.

Der alte Hund tauchte wie aus dem Nichts auf, und als er Ellie erkannte, stürzte er sich auf sie, rieb sich an ihren Beinen, setzte eine Art Grinsen auf und schlug kräftig mit dem Schwanz.

»Na, alter Knabe?« Ellie ging in die Hocke und schlang die Arme um das Tier, das seit zwölf Jahren ein treues Mitglied ihrer Familie war. Sam leckte ihr Ohr, und als sie zu ihrem lächelnden Großvater aufsah, spürte sie, wie die Spannung aus ihrem Körper wich, als würde etwas in ihr auftauen. Die Enge in ihrer Brust löste sich, und zum ersten Mal seit Monaten hatte sie das Gefühl, unbeschwert atmen zu können.

Bei einer Kanne Tee tauschten sie Familienneuigkeiten aus, ehe sie sich der nationalen Politik und dem Weltgeschehen zuwandten. Zu Ellies Erleichterung blieben allzu persönliche Themen ausgespart. Sie fühlte sich auf sicherem Boden, wenn sie dezidierte Ansichten zur Regierung, zu internationalen Politikern und zu ihren Ängsten um die Zukunft des Planeten äußerte. Schon von Kindesbeinen an hatte ihr Großvater sie gelehrt, kritisch zu hinterfragen, was um sie herum geschah. Er hatte sie nicht nur ermutigt, zu lesen und sich die Nachrichten anzuhören, sondern auch eingehend über das Leben in ihrer kleinen Welt nachzudenken. Sie hatte es aufgegeben, ihn für Informationstechnologie begeistern zu wollen, obwohl er immer sagte, er sei stolz darauf, dass sie es auf der Karriereleiter so weit nach oben geschafft hatte. Sie führten freundschaftliche Streitgespräche und zuweilen tiefgründige Diskussionen, die sie manchmal auch dazu brachten, Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten.

»Ich mache mir wirklich Sorgen um meine Generation«, sagte Ellie. »Der Zustand der Umwelt, die Krisen überall, die korrupten Politiker. Es tut gut, diesen Zufluchtsort hier zu haben.«

»Hier bist du auch nicht gegen all das gefeit«, gab ihr Großvater zu bedenken. »Dies mag nur eine Kleinstadt sein, aber sie ist ein Mikrokosmos aus denselben Elementen, die auch die Welt als Ganzes ausmachen: Familien, Nachbarn, Gemeinschaften, Politik, enge Bindungen. Wir haben dieselben Probleme, wenn auch in kleinerem Maßstab. Das macht uns zu dem, was wir sind. Wenn du diese Bande zerreißt und uns unseren Zusammenhalt, unsere Heimat und unsere Lebensart nimmst, folgen Chaos und Korruption. Wir sind vielleicht nur ein kleines Provinznest, aber auch ein Glied in einer unsichtbaren Kette, die alle miteinander verbindet.«

»Die uns verbindet und zu einer Gemeinschaft macht«, ergänzte Ellie leise.

»Ja. Wir haben alle einen Ort, wo wir hingehören. Unser Land, wo unsere Wurzeln liegen.« Patrick hielt inne, und sie saßen eine Weile schweigend da. »Wie auch immer, wir beide werden all die Probleme nicht lösen können«, meinte er schließlich. »Ich muss mich jetzt um den Haushalt kümmern. Würdest du mit Sam spazieren gehen? Dann kannst du gleich rausfinden, was sich in unserem Städtchen seit deinem letzten Besuch alles verändert hat.«

»Hoffentlich gar nichts. Ich mag es so, wie es ist.«

»Wie heißt es so schön: Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Aber hier bei uns versuchen wir, dafür zu sorgen, dass sich die Dinge nur zum Besseren verändern. Der sogenannte Fortschritt wird hier zuweilen mit Argwohn beäugt, und für mich besteht die Aufgabe der Zeitung darin, die Menschen darüber aufzuklären, was wirklich Sache ist.«

»Ja. Gott sei Dank.« Sie ergriff die Hand ihres Großvaters. »Es ist so schön, wieder hier zu sein. Ich habe das alles vermisst. Und dich habe ich auch vermisst.«

Er drückte ihre Hand. »Bleib, so lange du willst, Liebes.« Er stand auf und trug seinen Teebecher zur Spüle. »Du kannst wieder in dein altes Zimmer ziehen. Na ja, das alte Zimmer deiner Mutter«, korrigierte er sich und lächelte.

»Super. Vielleicht packe ich erst mal aus, und dann drehe ich mit Sam eine Runde.«

Als Ellie in den Flur hinausging, war ihr so leicht ums Herz wie schon lange nicht mehr. Die Panikattacke auf der Herfahrt hatte sie allerdings erschüttert. Wenn sie eine Weile an dem Ort blieb, wo sie sich am wohlsten fühlte, würde ihr das hoffentlich dabei helfen, die dunklen Wolken zu zerstreuen, die neuerdings ihren Horizont verdüsterten.

 

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Ellie mit Sam zu einem Spaziergang durch die Stadt aufbrach.

Während sie mit dem glücklich neben ihr hertrottenden Sam den Hügel hinunterging, dachte sie darüber nach, wie sehr Patrick sich seit ihrem letzten Besuch verändert hatte. Ihr Großvater war sichtlich begeistert, sie zu sehen, und wirkte so offen und liebenswürdig wie eh und je, aber Ellie war der müde Zug um seine Augen aufgefallen. Es war schwer zu sagen, ob es von der Arbeit, einer angegriffenen Gesundheit oder einfach vom Alter kam. Sie wusste, dass ein paar seiner Freunde aus seiner Zeit während des Kriegs in Vietnam kürzlich gestorben waren, was ihn schwer getroffen haben musste. In den acht Jahren, die er nun allein lebte, war die Zeitung mehr geworden als nur seine Leidenschaft. Ellies Mutter hatte einmal gemeint, der Chronicle sei womöglich zu seinem Lebensinhalt geworden.

Da war es wieder. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als der Gedanke sie mit voller Wucht traf. Genau wie Patrick hatte sie zugelassen, dass ihr ganzes Leben nur um ihren Job kreiste. Ellie hatte gedacht, sie tue das Richtige, doch irgendwann war es so weit gekommen, dass der Job nahezu jede Facette ihres täglichen Lebens prägte.

Wie so oft in letzter Zeit schob sie diesen Gedanken beiseite. Es war zu schwer, zu belastend, darüber nachzudenken. Sie begann zu laufen und rief Sam zu sich.

Während sie langsam durch die Straßen trabte, fiel ihr auf, dass die malerische alte Seefahrer-, Fischer- und Walfängerstadt ein Flair von Wohlstand verströmte. Das wies auf eine rührige und zufriedene Gemeinschaft hin.

War das alles zu schön, um wahr zu sein? Oder war das die Sicht einer zynischen Großstädterin? In Melbourne schätzte sie es, zentrumsnah zu wohnen. Sie hatte ihre Lieblingscafés und -geschäfte und pflegte eine lockere Bekanntschaft mit einigen der Ladenbesitzer und Bedienungen, auch wenn sie nichts über deren Privatleben wusste. Hier hingegen wusste bestimmt jeder genau über die beruflichen und familiären Verhältnisse seiner Mitmenschen Bescheid.

Sie hörte auf zu laufen, was Sam mit einem dankbaren Blick quittierte, während er, nun in einer würdevolleren Gangart, neben ihr hertrottete. Ellie erwiderte das Lächeln einer Frau, die gerade ihr Fahrrad vor einem kleinen Geschenkeladen abstellte, und blickte dann auf ihre Armbanduhr.

»Zeit, nach Hause zu gehen, was meinst du, Kumpel?«

Sam antwortete mit einem Schwanzwedeln, und sie machten sich auf den Rückweg. Als zwischen den Bäumen das Dach des Hauses hindurchschimmerte, legten sie Tempo zu. Am Tor parkte ein roter Pick-up, den Sam zu kennen schien, denn er rannte voraus und drückte mit der Schnauze die Haustür auf.

Beim Hereinkommen erkannte Ellie sogleich die Stimme von Roland »Roly« Bolton, der Kronanwalt und ein guter Freund ihres Großvaters war. Sie hatte Roly ein paarmal getroffen und ihn als freimütigen, intelligenten und kenntnisreichen Menschen mit dezidierten Ansichten kennengelernt. Seine unverblümte Art machte ihn manchmal ein bisschen schwierig. Doch ihr Großvater fand seine Vorstellungen und seine scharfen, prägnanten Beobachtungen höchst amüsant.

»Ah, Ellie«, begrüßte ihr Großvater sie. »Roly und ich tauschen gerade Neuigkeiten aus. Möchtest du eine Tasse Tee? Oder ist es schon Zeit für etwas Hochprozentigeres?«

»Weder noch, danke, Opa. Wie geht es dir, Roly?«

»Wie es einem eben geht, wenn man in einer Welt des Zwielichts lebt, in der wenig so ist, wie es scheint.«

Patrick gluckste. »Roly sieht hinter jedem Baum einen Verschwörungstheoretiker«, frotzelte er.

»Wir müssen stets vor Eindringlingen auf der Hut sein«, erwiderte Roly. »Und wie geht es dir, meine Liebe? Wie lange bleibst du in der Stadt?«

»Keine Ahnung, aber ich habe es auch nicht eilig. Ich möchte die Zeit mit Opa genießen, faulenzen, Pläne schmieden«, antwortete Ellie in bemüht fröhlichem Ton.

»Ach ja, Patrick hat mir erzählt, dass du zu neuen Ufern aufbrechen willst. Das ist immer gut. Ich habe es als echte Befreiung empfunden, als ich meine Juristenkarriere an den Nagel hängte. Das ist eine Welt voller Frömmler und Wichtigtuer und Schwachköpfe mit Perücken und Talaren, wo sich dubiose, böswillige Opportunisten mit ihren überzogenen Honoraren eine goldene Nase verdienen. Na, du weißt schon. Also, wie geht es bei dir jetzt weiter?«

»Ich werde wohl der IT-Welt treu bleiben. Diese Technologie ist nun mal der Weg in die Zukunft.«

»Du könntest deinen Großvater dabei unterstützen, ein paar von diesen Mistkerlen hier, die glauben, dass ihnen die ganze Stadt gehört, im Zaum zu halten«, meinte Roly.

»Sachte, sachte, Roly«, mahnte Patrick. »Du jagst dem Mädchen noch Angst ein!«

»Ich behalte es im Hinterkopf, Roly«, sagte Ellie lächelnd. »Opa, kann ich dir beim Vorbereiten des Mittagessens behilflich sein? Und soll ich etwas fürs Abendessen einkaufen? Ich fahre gerne noch mal in die Stadt.«

»Alles schon erledigt«, entgegnete ihr Großvater. »Roly hat uns erstklassige Filetsteaks mitgebracht, von einem Freund, dessen Rinder sehr begehrt sind. Er hat sie im Tausch gegen ein paar Schnapper bekommen, die er gerade gefangen hat.«

»Danke, Roly. Das ist wirklich nett von dir, obwohl ich zugeben muss, dass ich kaum noch rotes Fleisch esse.«

»Bist du etwa Vegetarierin? Oder so eine Umweltschützerin, die den Planeten retten will?«

»Nicht so richtig«, antwortete Ellie. »Es geht mir nicht so sehr darum, überhaupt kein Fleisch mehr zu essen. Ich will einfach nicht diese grausamen Großmastbetriebe unterstützen, in denen die Tiere in Riesenställen untergebracht und mit Hormonen und Antibiotika vollgepumpt werden. Lieber unterstütze ich kleine Betriebe, die auf natürliche und gesunde Weise wirtschaften.«

»Das ist gerade sehr im Trend. Aber in diesem Fall musst du kein schlechtes Gewissen haben. Das Tier stammt von einer neuen Lowline-Rasse, die auf Weiden gehalten und ohne Hormone aufgezogen wird und wenig Methan produziert. Dank ihres geringeren Gewichts und Appetits schonen sie Boden und Umwelt.«

»Klingt gut. Wie wäre es, wenn ich für das Mittagessen einen Salat mache und wir die Steaks später essen?«, schlug Ellie vor.

»Perfekt, danke«, sagte Patrick. »Ich sehe schon, ich werde hier richtig verwöhnt, solange du da bist, Liebes.« Er grinste Ellie an. Dann wandte er sich an Roly: »Ach, was ich dir noch erzählen wollte – Seamus O’Neill ist heute Morgen auf einen Schwatz vorbeigekommen. Der arme Kerl, ich glaube, seit dem Tod seiner Frau langweilt er sich zu Tode.«

»Soweit ich informiert bin, hängt er ständig im Club in Melbourne herum«, sagte Roly. »Vielleicht wird es Zeit, diesem ruchlosen O’Neill-Clan, der sich wie eine Krake überall ausbreitet, in die Parade zu fahren. Dann hat Seamus mal etwas anderes zu tun, als nur herumzuhocken und sein Geld zu zählen.«

Patrick schmunzelte. »Deshalb halten wir es überhaupt mit dir aus, Roly. Du bist immer für Unterhaltung gut. Mag ja sein, dass die O’Neills steinreich sind und zu viel Einfluss ausüben, aber ruchlos? Das kann man von Seamus und seiner lieben alten Mutter Kathryn O’Neill wirklich nicht behaupten.«

»Du denkst also, diese Stadt ermöglicht sozialen Aufstieg, pflegt ihr Erbe und ihre Geschichte und ist voller netter Menschen? Oberflächlich betrachtet sieht es vielleicht so aus, aber die da oben mögen es nicht, wenn irgendwas verändert wird, was seit Jahrzehnten so gewesen ist. Und sie mögen es nicht, wenn jemand seine Nase in ihre Angelegenheiten steckt. Gäbe es deine Zeitung nicht, Patrick, wären die Leute hier vollkommen ahnungslos. Du bist ein mutiger Mann mit einem großen Herzen.«

»Hast du irgendwas Bestimmtes vor, Opa?«, erkundigte sich Ellie.

»Ich mache nur meinen Job, Liebes. Ich bin zu alt und zu gerissen, als dass mir jemand an den Karren fahren könnte.«

»Und zu dickköpfig«, fügte Roly hinzu, während er nach seiner Kappe griff. »Tja, ich muss los. Wir sehen uns, Ellie.« Er drückte ihrem Großvater sanft die Schulter. »Bleib sitzen, Patrick, ich finde schon hinaus.«

»Lebt Roly immer noch allein auf dem Campingplatz?«, fragte Ellie neugierig, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war.

»Ja. Aber nicht aus finanziellen Gründen, ganz bestimmt nicht. Roly könnte jederzeit nach Melbourne fahren und in exklusiven Restaurants speisen, die für mich viel zu teuer wären. Und einmal im Jahr wirft er sich in Schale und besucht ein Galadinner der Anwaltskammer, bei dem herausragende Kronanwälte ausgezeichnet werden. Ich glaube, er lebt einfach gern hier.«

»Hast du das Arbeiten nicht allmählich satt?«, fragte Ellie. »Du könntest auch durch die Gegend gondeln, wenn du wolltest. Ganz entspannt, ohne Druck. Wann gehst du eigentlich in Rente, Opa? Oder hast du es überhaupt vor?«, fragte sie liebevoll.

»Irgendwann mache ich es schon mal. Diese Stadt braucht eine Zeitung. Wie Roly gesagt hat, woher wüssten die Leute sonst, was wirklich vorgeht? Sie vertrauen uns und lesen den Chronicle nicht nur wegen der Lokalnachrichten, sondern auch wegen unserer Sicht auf das landesweite Geschehen. Wir sind vielleicht nur ein kleines Blatt in einer kleinen Stadt, aber du wärst überrascht, was für eine Reichweite wir haben.«

 

Nach dem Abspülen schlug Patrick vor, sich draußen auf dem Rasen in die Korbstühle zu setzen, was sie dann auch taten.

»Ich verstehe dein Argument, dass die Einheimischen die Zeitung gern auf Papier lesen«, nahm Ellie den Faden ihrer Unterhaltung während des Essens wieder auf. »Mir macht es auch Spaß, bei einer Tasse Kaffee den Chronicle durchzublättern. Aber ihr solltet zusätzlich im Internet mit einer guten Website präsent sein.«

»Hier leben viele ältere Menschen, Ellie. Es wimmelt nur so von pensionierten reichen Viehzüchtern aus dem Western District, und auch viele ›gewöhnliche Sterbliche‹ verbringen hier ihren Lebensabend und kaufen sich ein Haus an der Küste. Selbst wenn diese älteren Herrschaften mit dem Computer umgehen können, wollen die meisten von ihnen ausführliche Nachrichten haben, dazu Hintergrundanalysen und ein Kreuzworträtsel und überall Tee- und Kaffeeflecken drauf.«

»Aber warum bietet ihr ihnen nicht an, zwischen einer Druck- und einer Onlineausgabe zu wählen, Opa? Verlangen eure Anzeigenkunden denn nicht beides?« Als er die Schultern zuckte, fügte sie hinzu: »Also, wenn du möchtest, könnte ich euch dabei behilflich sein, solange ich da bin. Wer kümmert sich bei euch um das Digitale? Kennt Jon sich damit aus?«

»Absolut, er redet ständig nur von diesem Computer- und Technikkram. Gerade hat er seinen Rollstuhl auf Autopilot umgerüstet oder so.«

Ellie lachte. »Klingt gut. Dass Maggie mit Hightech viel am Hut hat, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Auf ihrem Schreibtisch habe ich einen uralten Computer stehen sehen. Aber keine Sorge, mit mir hättet ihr eine IT-Expertin, auf die ihr bauen könnt.« Sie streichelte seine Hand. »Du hast mit dem alten Lokalblatt Großartiges geleistet, hast es wieder auf Vordermann gebracht.«

Er lächelte. »Eine Stadt braucht eine gute Zeitung, Schätzchen. Damit die bösen Buben anständig bleiben.«

Eine Weile saßen sie schweigend im kühlen Schatten der ausladenden alten Äste.

Ellie rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Ich weiß«, sagte sie schließlich, »dass die O’Neills in Storm Harbour ihre nicht immer ganz astreinen Geschäfte betreiben, seit ihre Familie mit den ersten Siedlern aus Europa hergekommen ist. An Ben kann ich mich noch ein bisschen aus meiner Zeit an der Highschool erinnern.« Sie hielt inne. »Ich nehme an, sein älterer Bruder kümmert sich nach wie vor um den Besitz in Queensland?«

»Nein. Ronan lebt mit seiner Familie wieder hier«, erwiderte Patrick.

»Aha?« Ellie beugte sich vor, um Sam zu tätscheln, wobei ihr das Haar ins Gesicht fiel. »Das wusste ich gar nicht.«

»Sie sind noch nicht lange zurück. Ronans und Bens Schwester lebt meines Wissens in Melbourne. Ben ist von Storm Harbour weggezogen, wobei er sich jetzt offenbar wieder hier aufhält.«

Ellie gab Sam einen letzten Klaps und richtete sich auf. »Was macht die Familie eigentlich geschäftlich? Halten die O’Neills immer noch Schafe?«

»Nicht einfach nur ›Schafe‹. Zuchtmerinos und neue Rassen. Außerdem gehört ihnen noch die Rinderfarm in Queensland, die der alte Boyd gekauft hat, als die Wollkrise ausbrach. Seit Ronan zurück ist, kümmert sich ein Verwalter um die Farm. Und Craigmore, ihr traditioneller Familiensitz, entwickelt sich allmählich zu einer Art Versailles. Jemand hat uns Drohnenaufnahmen von den Gartenanlagen geschickt – unglaublich.«

»Hast du sie abgedruckt?«

»Nein. Das wäre eine Verletzung der Privatsphäre gewesen. Mir würde es auch nicht passen, wenn heimlich geschossene Fotos von meinem Garten im Lokalblatt erscheinen.«

»Da hast du recht.« Sie stupste den alten Hund, der zu schnarchen begonnen hatte, leicht mit dem Fuß an. »Weißt du, mit dem Chronicle