Himmel über roter Erde - Di Morrissey - E-Book
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Himmel über roter Erde E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Eindrucksvolle Landschaften, strahlende Sonne und der Beginn eines neuen Lebens - der neue Australien-Roman von Di Morrissey Jetzt zum Einführungspreis für nur 4,99 € sichern! Nie hätte Chris Baxter geglaubt, dass es sich so richtig anfühlen würde, nach Hause zu kommen: Eigentlich soll die Rückkehr des erfolgreichen Auslandskorrespondenten in sein idyllisches Heimatstädtchen in Australien nur vorübergehend sein. Doch seine 14-jährige Tochter braucht ihren Vater, und Chris' Mutter berichtet von einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das auch den Journalisten in ihm nicht mehr loslässt. Während eines Hilfsprojekts in Indonesien ist es 1968 zu einem tragischen Zwischenfall gekommen. Durch seine Nachforschungen bringt Chris die vermeintliche Idylle in große Gefahr … Ein herzerwärmender Roman um Heimkehr, Familie und den langen Schatten eines alten Unrechts. Der neue Sehnsuchts-Roman von Australiens erfolgreichster Autorin Di Morrissey jetzt auf Deutsch – für alle Leserinnen, die Familiengeheimnisse und exotische Schauplätze lieben! Di Morrissey ist die erfolgreichste Autorin Australiens. Als Journalistin arbeitete sie für Frauenmagazine, Radio und Fernsehen, schrieb Drehbücher und Theaterstücke und wirkte an zahlreichen TV-Produktionen mit. Sie lebt heute auf einer Farm in Byron Bay, New South Wales.

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Seitenzahl: 637

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Di Morrissey

Himmel über roter Erde

Ein Australien-Roman

Aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß, Kollektiv Druck-Reif

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Nie hätte Chris Baxter geglaubt, dass es sich so richtig anfühlen würde, nach Hause zu kommen: Eigentlich soll die Rückkehr des erfolgreichen Auslandskorrespondenten in sein idyllisches Heimatstädtchen in Australien nur vorübergehend sein. Doch seine 14-jährige Tochter braucht ihren Vater, und Chris’ Mutter berichtet von einem tragischen Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das auch den Journalisten in ihm nicht mehr loslässt. Durch seine Nachforschungen bringt Chris die vermeintliche Idylle in große Gefahr …

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Der Ruf des Nachtvogels «

 

 

 

 

Für Peter B. Morrissey, US Peace Corps, Sumatra, Indonesien, 1963–1965.

 

Und für unsere wunderschöne kleine Enkeltochter Ulani Summer Devi Morrissey, die uns allen Freude und Heiterkeit beschert.

1

Chris Baxter reihte sich mit gezückter Bordkarte in die Schlange ein und lauschte dem australischen Slang der anderen Passagiere, die sich auf die Qantas-Maschine zubewegten. Der Flug von Los Angeles nach Sydney würde die letzte Etappe seiner Heimreise sein. Als er den Eingang zur Business Class passierte, überkam ihn tiefe Wehmut, denn er ließ ein Land hinter sich, das er gerade erst zu verstehen begonnen hatte.

Drei Jahre zuvor war er von seinem damaligen Einsatzort London nach Washington D.C. umgezogen. Er hatte die Zeit in der britischen Hauptstadt genossen, zumal hier auch seine Schwester Kate lebte. Bei seiner Ankunft in den Staaten hatte er erwartet, eine familiäre und vom Gleichheitsgedanken geprägte Gesellschaft vorzufinden. Stattdessen entdeckte er jedoch ein Land, das wesentlich vielschichtiger und widersprüchlicher war, als er es sich je hätte vorstellen können. Hier gab es Dummheit und Oberflächlichkeit neben Talent und Brillanz, Liberalität und Toleranz neben konservativem Fundamentalismus, Intelligenz, Großmut und Offenheit neben Verschlossenheit, Engstirnigkeit und religiösem Fanatismus, bittere Armut neben unvorstellbarem Reichtum. Amerika war ein einziges großes Puzzle von Gegensätzen, ein Land, das aus Dutzenden verschiedenen Ländern zu bestehen schien. Chris war in seinem Job als Auslandskorrespondent voll und ganz aufgegangen. Daher war er enttäuscht, als die australische Zeitung, für die er arbeitete, ihn dort abzog.

Er lächelte dem Steward am Eingang des Flugzeugs zu und zeigte seine Bordkarte vor.

»Guten Abend, Mr. Baxter. Rechts die Treppe hoch, bitte. Eine schöne Jacke haben Sie da an«, sagte der Steward und deutete auf Chris’ abgewetzte Schott-Lederjacke.

»Ein Souvenir«, erklärte Chris.

»Und die Harley? Ist die im Frachtraum?«

»Leider nicht«, erwiderte Chris mit bedauerndem Lächeln.

»Na ja, Sie sehen jedenfalls danach aus, auch wenn Ihr Akzent nicht dazu passt«, meinte der Flugbegleiter, ehe er sich dem nächsten Passagier zuwandte.

Der schlaksige Chris machte es sich auf seinem Platz bequem und hoffte, dass der Sitz neben ihm frei blieb. Es war eine ganze Weile her, seit er zuletzt in der Business Class geflogen war. Bei der Trinity Press gab es solchen Luxus heutzutage nicht mehr, aber er hatte sich für seine vielen Bonusmeilen ein Upgrade des Langstreckenflugs gegönnt.

»Möchten Sie etwas trinken, Mr. Baxter?«, fragte eine attraktive Stewardess.

»Gerne, ein Glas Champagner, bitte.«

»Hatten Sie einen angenehmen Aufenthalt in den USA?«

»Ja, ich habe dort drei Jahre als Journalist gearbeitet. Jetzt geht es für eine kleine Auszeit nach Hause. Ich freue mich darauf, wieder einmal Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Sie wird so schnell groß.« Die Stewardess nickte verständnisvoll und schenkte ihm ein Glas Champagner ein.

»Und dann fliegen Sie wieder zurück?«

»Nein, meine Zeit in den Staaten ist vorbei.«

»Wie schade. Werden Sie in Australien bleiben?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht verschlägt es mich irgendwohin nach Asien.«

»Nun, genießen Sie den Champagner. Er hat immer ein bisschen etwas Feierliches, nicht wahr? Ich bringe Ihnen gleich noch die Speisekarte.«

Tatsächlich war Chris nicht nach Feiern zumute. Seufzend fuhr er sich durchs dichte Haar. Natürlich freute er sich darauf, seine Tochter und seine Mutter wiederzusehen, aber er musste ständig daran denken, was er alles zurückließ. Washington D.C. war der politische Nabel der Welt, und er hatte seine Arbeit als politischer Korrespondent dort sehr genossen. Aber er hatte auch ein Händchen für unkonventionellere Reportagen, und wann immer sich ihm eine – leider viel zu seltene – Gelegenheit geboten hatte, war er mit seinem fünf Jahre alten Lexus losgefahren, um solche Storys aufzuspüren. So hatte er im Lauf der Jahre über Parteitage, Demonstrationen, skurrile Schönheitswettbewerbe, landwirtschaftliche Veranstaltungen, Rodeos und Katastrophen ebenso berichtet wie über das Leben in städtischen Slums und in biederen Vorstädten, was für ihn das Wesen des modernen Amerikas ausmachte. Diese Erfahrungen hätte er nicht missen wollen, denn ihnen verdankte er ein so viel tieferes Verständnis für dieses Land. Außerdem fanden seine Storys bei den australischen Lesern großen Anklang.

Doch trotz all der Quellen, die er aufgetan, und all der Kontakte, die er geknüpft hatte, war Chris stets Außenseiter geblieben. Als ausländischer Journalist genoss man eben nie den Heimvorteil der lokalen Medien. Und obwohl er sich mit Amerikanern angefreundet und Umgang mit Kollegen wie auch mit Mitgliedern des internationalen Pressekorps gepflegt hatte, war er wegen seines Nomadenlebens keine engeren Beziehungen eingegangen. Vermutlich hatte sich die eine oder andere Frau aus seinem Bekanntenkreis durchaus zu ihm hingezogen gefühlt, aber seine Arbeit hatte ihn daran gehindert, sich auf etwas Festeres einzulassen. Und nach seiner schmerzlichen und kostspieligen Scheidung vor einigen Jahren wollte er es auch weiterhin so halten.

Chris leerte sein Glas und streifte die Schuhe ab, froh, dass niemand neben ihm saß. In der Ruheoase des oberen Passagierraums zog er sein Buch heraus, aber als eine Flugbegleiterin mit Zeitschriften und Zeitungen vorbeikam, legte er es beiseite und ließ sich den Economist und das Wall Street Journal geben.

Während das Flugzeug zur Startbahn rollte, vertiefte er sich in einen ausführlichen Artikel über die derzeitigen Nahostverhandlungen. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Unter ihm verglommen die Lichter von Los Angeles.

Als die Maschine ihre Flughöhe erreicht hatte, war Chris in Gedanken bei seiner vierzehnjährigen Tochter Megan, und ihm wurde klar, wie sehr er sich auf die gemeinsame Zeit mit ihr freute. Er hatte sie seit seiner letzten Heimreise vor fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Allerdings folgte er ihr auf Facebook – wo er mehr über sie erfuhr als aus ihren E-Mails – und sie skypten so oft wie möglich miteinander. Soweit er es beurteilen konnte, machte Megan gerade eine Phase durch, in der sie von einer Minute auf die andere von einer Zehnjährigen zu einer Zwanzigjährigen und zurück mutieren konnte. Er liebte seine Tochter, hatte aber auch durchaus Verständnis für seine Ex-Frau Jill. Mit einem Teenager zusammenzuleben war sicher kein Zuckerschlecken. In ein paar Tagen, wenn er sich in Sydney eingerichtet hatte, würde Megan zu ihm kommen. Und dann, beschloss er, würden sie irgendetwas Besonderes zusammen unternehmen, nur sie beide. Chris lächelte in sich hinein und wandte sich wieder der Zeitschrift und den endlosen Problemen des Nahen Ostens zu.

Gerade als er zu Ende gelesen hatte, legte die Flugbegleiterin ein Deckchen auf seinen Ausklapptisch und bot an, ihm Champagner nachzuschenken.

»Ich glaube, ich steige lieber auf einen guten Roten um. Welche australischen Weine haben Sie?«, fragte er.

Sie reichte ihm die Speisekarte. »Rotweine haben wir aus Coonawarra und dem Hunter Valley. Als Hauptgang servieren wir Hummer oder Ente.«

»Die Qual der Wahl«, meinte er lächelnd. »Dann nehme ich den Hunter Shiraz, und Ente klingt gut. Danke.«

Nach dem köstlichen Mahl lehnte er sich zurück, schloss die Augen und war froh, seine langen Beine auf dem ausklappbaren Sitz ausstrecken zu können. Genieß die nächsten Stunden im Schwebezustand, sagte er sich.

Auch wenn er jetzt erst einmal Urlaub hatte, war Chris schon gespannt, welche Pläne die Trinity Press mit ihm hatte. Er wusste, dass es ihn nach dem Urlaub bestimmt ganz schnell wieder in die Ferne ziehen würde. Das Büro in Bangkok war vakant, und das würde man ihm aller Voraussicht nach anbieten. Womit er durchaus einverstanden wäre. Allerdings war er auch nicht wählerisch; er würde überall hingehen, solange es im Ausland war.

Auf dem Flug schlief er gut und – soweit das mit seinen langen Gliedmaßen möglich war – in einer einigermaßen waagrechten Position. Dann frühstückte er und betrachtete, ausgeruht und mit einer Tasse Kaffee vor sich, den Sonnenaufgang, während die Maschine auf Sydney zuhielt. Der Anblick der in der Morgensonne glänzenden Segel des Opernhauses, der beiden Landzungen, die den prächtigen Hafen umschlossen, und der Harbour Bridge, die die beiden Teile der Stadt miteinander verband, rief ihm in Erinnerung, was für eine verlockend schöne Stadt Sydney war.

Nachdem er Zoll- und Passkontrolle hinter sich gebracht hatte, nahm er ein Taxi zu seiner winzigen Wohnung in fußläufiger Nähe zum Fährhafen. Sie lag in einem dreistöckigen Gebäude in einer engen Straße von Neutral Bay. Der Mieter, dank dessen Zahlungen er den Hypothekenzins für das Zweizimmerapartment hatte aufbringen können, war ein paar Tage vorher ausgezogen. Die Wohnung wirkte sauber, aber auch etwas unpersönlich.

Nachdem er ausgepackt hatte, spazierte er die Military Road entlang. Wie er erfreut feststellte, gab es noch einige seiner Lieblingsgeschäfte. Im Supermarkt kaufte er ein paar Lebensmittel ein, anschließend setzte er sich draußen vor ein kleines Café, das ausgezeichneten Espresso servierte. Während ihm die Sonne den Rücken wärmte und eine leichte Brise das Haar zauste, musste er sich eingestehen, dass er froh war, zu Hause zu sein.

 

Am nächsten Samstag kam ihm Megan von der Bushaltestelle Neutral Bay entgegen, und Chris strahlte übers ganze Gesicht. Er sah, dass sie gewachsen war und ihr Körper weiblichere Formen annahm. Sie hatte einen großen Rucksack dabei, trug weite Shorts mit Blumenmuster, ein bauchfreies Top und schwarze Leinensneakers zum Schnüren, allerdings ohne Schnürsenkel. Um ihren Hals baumelten Kopfhörer. Als sie näher gekommen war, stellte Chris außerdem fest, dass sie sich Gänseblümchen auf die Fingernägel geklebt hatte. Ihr braunes Haar mit den kupferroten Natursträhnen war seitlich zu einem französischen Zopf geflochten. Dazu trug sie blassrosa Lipgloss und Lidschatten. Auch wenn Megans neuer Look ein bisschen eigenwillig wirkte, stand er ihr. Chris breitete die Arme aus, und sie umarmte ihn innig. Liebevoll küsste er sie auf den Kopf.

»Hi Dad«, sagte Megan mit strahlenden Augen.

»Wie geht’s meinem Mädchen?«

»Gut. Wollen wir irgendwo was essen? Ich bin am Verhungern.«

»Wenn du möchtest«, antwortete er, nahm ihr den Rucksack ab und führte sie die Straße entlang zu einem Café. »Tut mir leid, dass du den Bus nach Neutral Bay nehmen musstest. Es ist ein ganz schöner Schlauch von Newport, aber ich habe noch kein Auto. Wenn ich mich eingelebt habe, könnten wir vielleicht zusammen eins kaufen gehen.«

»Das wäre cool, Dad«, meinte Megan, und dann waren sie schon an dem Café angelangt.

»Hier kann man ziemlich lecker essen. Ist das okay für dich?« Megan nickte, also belegten sie draußen einen Tisch und bestellten an der Theke Kaffee für Chris und Lachs-Sushi und einen Früchte-Smoothie für Megan. Als sie dann einander gegenübersaßen, musterte Chris noch einmal lächelnd seine Tochter. Sie hatte sich verändert, war aber immer noch sein kleines Mädchen. Ihre Bestellungen kamen prompt, und Megan machte sich mit großem Appetit über ihr Essen her, während ihr Vater seinen Kaffee trank.

»Nimm dir ein Sushi, Dad, es ist echt gut«, meinte Megan.

»Okay, danke. Mir gefällt dein Outfit. Über deinen Geschmack in Klamottenfragen bin ich ja nicht mehr so auf dem Laufenden. Kauft dir deine Mutter die Sachen, oder suchst du sie selbst aus?«

Sie zog die Nase kraus. »Nein, Mum kauft mir so gut wie nie Klamotten. Unsere Geschmäcker sind doch sehr verschieden. Ich gehe mit meinen Freundinnen shoppen, wenn ich genug Taschengeld zusammengespart habe. Wenn Mum mitgeht, endet es fast immer mit einem Streit. Einige Sachen, von denen sie meint, sie würden mir stehen, würde ich nie im Leben anziehen«, erklärte sie mit einem theatralischen Seufzen.

Nach dieser ersten Sondierung wagte sich Chris noch ein bisschen weiter vor. »Wie kommst du denn mit deiner Mum klar? Hat sich die Lage nach der Hochzeit entspannt?«

Megan zuckte die Achseln. »Nein«, sagte sie in genervtem Ton. »Oscar und Ned treiben mich in den Wahnsinn. Mum versucht immer ganz lieb zu ihnen zu sein, aber ich merke, dass sie ihr auch auf den Wecker gehen. Die Jungs sind total schlampig, deshalb legt Mum Wert darauf, dass ich Ordnung halte. Sie stellt mich gern als Vorbild hin und macht immer viel Tamtam darum, wie toll mein Zimmer aufgeräumt ist. Aber die Jungs gehen mir schon auf die Nerven, wenn sie bloß in mein Zimmer gucken. Sie mögen mich nicht, und ich mag sie nicht. Außerdem muss ich immer das Geschirr abräumen und andere Sachen im Haushalt machen, damit sie sehen, was sie eigentlich tun sollten. Aber die meinen, dass bloß Mädchen für den Haushalt zuständig sind. Es ist echt nicht fair.«

»Na ja, die Zwillingen sind ja auch erst … wie alt? Acht? Zehn? Sagt ihnen ihr Vater nicht, dass sie mithelfen müssen? Den Müll rausbringen und so?«, meinte Chris mit gerunzelter Stirn.

»Von wegen!« Megan biss wieder in ein Sushi-Röllchen. »Trevor ist sogar so dreist, von mir zu verlangen, ich solle ihm dies oder das bringen. Als ob ich sein Dienstmädchen wäre! Es ist schrecklich, Dad. Nicht auszuhalten.«

»Hey, hey, beruhige dich«, sagte Chris und legte tröstend seine Hand auf ihren Arm. »Schau, das ist eben für euch alle eine große Umstellung. Mir ist klar, dass du es nicht leicht hast, Liebes, aber deine Mutter ist glücklich, und sie hat es so gewollt. Also versuch ihr zuliebe, auch ein bisschen glücklich zu sein. Sei ihr eine Stütze.«

Megan starrte ihn an, als hätte er gerade Suaheli gesprochen. »Dad, ich bitte dich. Denk mal nach. Trevor Franks ist ein Witz von einem Stiefvater, wie aus einer Sitcom. Und seine Söhne sind zwei doofe, verzogene Blagen. Für einen Teenager sind die der reinste Albtraum. Meine persönliche Horrorshow. Dad, das ist Mums neues Leben, nicht meins. Ich hatte dabei nichts mitzureden.«

»Liebes, deine Mutter hat doch mit dir besprochen, dass sie Trevor heiraten will«, wandte Chris behutsam ein. »Das hat sie mir gesagt. Sie möchte, dass ihr eine richtige Familie werdet, vor allem weil ich ja so viel unterwegs bin. Und zu dieser Familie gehören nun mal auch die Jungs. Vielleicht tun sie sich mit dieser Umstellung genauso schwer wie du.«

»Die tun sich nicht schwer. Die haben ja sich, und sie können mir das Leben zur Hölle machen. Worüber könnten die sich denn beklagen?« Megan warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Chris wusste nicht recht, wie er auf diesen Gefühlsausbruch reagieren sollte. »Hör mal, Megan, Liebes, versuch es positiv zu sehen«, brachte er schließlich heraus. »Es kann nicht alles schlecht sein. Und jetzt, da ich zumindest vorläufig wieder hier bin, kannst du die Wochenenden bei mir verbringen. Ich weiß, meine Wohnung ist klein, du wirst auf dem Sofa schlafen müssen, oder ich. Aber es sind ja immer nur ein oder zwei Nächte am Stück. Und die Schule macht dir doch noch immer Spaß, und du unternimmst offenbar auch viel mit Gleichaltrigen, oder?«

»Ohne meine Freundinnen würde ich vor die Hunde gehen.«

Chris unterdrückte ein Grinsen. »Toll, dass du so gute Freundinnen hast.«

»Du musst Ruby unbedingt kennenlernen. Kann sie uns mal bei dir besuchen kommen?« Jetzt klang Megan etwas fröhlicher.

»Seid ihr Besties?«

Megan lachte. »Versuchst du dich in Jugendslang, Dad? Das ist gar nicht leicht, weil er sich wöchentlich ändert und immer neue Wörter dazukommen.«

»Ich verstehe da immer nur Bahnhof, Liebes. Du, ich geh schnell rein und hol mir ein Glas Wasser, willst du auch eins?«

Als Chris mit zwei Gläsern Wasser zurückkam und sie auf den Tisch stellte, schaute Megan von ihrem Handy auf.

»Schreibst du einer Freundin?«, fragte ihr Vater.

»Ja, Ruby.« Sie zeigte ihm, was auf dem Display stand: Chille mit meinem Dad. Ich glaube, er checkt nicht, dass er immer noch einiges hermacht. Aber erste graue Haare. LOL. Und trägt grottige Ami-Shirts. Will dich kennenlernen.

»Freches Luder. Ich mag dieses Yankee-Shirt«, lachte Chris, aber es freute ihn, dass Megan ihm ihre Freundin vorstellen wollte.

Nach dem Imbiss gingen sie in Chris’ Wohnung, wo sie den Nachmittag verbrachten. Chris saß am Esstisch und sah auf seinem Laptop seine E-Mails durch. Er hatte Kontakt zu seinen alten Freunden und Kollegen aufgenommen und ihnen mitgeteilt, dass er wieder in Australien war, auf seinen nächsten Einsatz wartete und neugierig auf den neuesten Klatsch aus der hiesigen Medienlandschaft war. Unterdessen fläzte Megan auf dem Sofa, hörte die Thundamentals auf ihrem iPod und brachte mittels Smartphone ihre vier besten Freundinnen auf den neuesten Stand, was sich bisher heute so ereignet hatte.

Ein paar Stunden später tippte ihr Chris auf die Schulter. »Hörst du mich? Wo sollen wir zu Abend essen?«

Megan nahm den Kopfhörer ab. »Mir ist alles recht. Wonach ist dir?«

»Ich hätte Lust auf gute asiatische Küche. Wie wär’s, wenn wir nach Chinatown fahren?«

»Das wäre voll cool. Da war ich noch nie. Ist zu weit weg von Newport. Ich gehe schnell und ziehe mich um.«

Chris war angenehm überrascht, als Megan in einem kurzen Baumwollkleid mit Blumendruck aus dem Schlafzimmer kam. Auf ihre Frisur und die Accessoires hatte sie viel Aufmerksamkeit verwendet. Allerdings verblüffte es ihn etwas, dass sie zu ihrem Outfit mehrfarbige Basketballschuhe trug.

»Hübsch, abgesehen vielleicht von den Schuhen. Warum nicht Sandaletten?«

»Dad, das sind Converse! Man nennt sie Chucks, nach dem Basketballspieler. Außerdem sind Sandaletten so was von … Sechzigerjahre.«

»Verstehe«, meinte Chris kleinlaut. »Du siehst klasse aus.«

Wenig später schlenderten sie durch Chinatown und überlegten, welches Restaurant infrage käme. In den engen Straßen herrschte Hochbetrieb, weil hier viele Leute ausgingen.

»Diese palastartigen Lokale mit all dem Rot und Gold finde ich schön«, bemerkte Megan.

»Gut, dann entscheide du.«

Chris folgte seiner Tochter eine Treppe hinauf in eines der größeren Restaurants. In dem riesigen Saal saßen bereits zahlreiche Familien, die sich auf Kantonesisch unterhielten. Chris und Megan wurden zu einem Tisch geführt und mussten dabei Scharen von Kellnern ausweichen, die gewaltige Tabletts mit appetitlich duftenden Speisen trugen. Nachdem sie sich gesetzt hatten, fielen Megan schier die Augen aus dem Kopf, als sie die umfangreiche Speisekarte durchblätterte.

»Dad, das hört ja gar nicht mehr auf – Seiten und Seiten ohne Ende!«

»Wie wollen wir es machen, Megan? Möchtest du ein eigenes Gericht oder sollen wir uns eins teilen?«

»Teilen.«

Sie ließ sich Zeit bei der Auswahl der Speisen, und als die Bestellungen aufgenommen wurden, entschied sie sich für eine Limo anstatt für Jasmintee.

Chris stützte das Kinn auf die Hand und schaute seine Tochter an. »Also, Megan, wie geht’s weiter?«

»Meinst du, in der Schule? Was ich mit meinem Leben anfangen will? Jungs? Oder mit Mum und Trevor?«

»Jungs? Gibt es denn da einen speziellen? Hast du einen Freund?«, fragte Chris und zog die Augenbrauen hoch.

Sie lächelte. »Bleib cool, Dad. Ist nichts Ernstes.«

»Das heißt?«

»Ich flirte nur ein bisschen. Was zwar über eine normale Freundschaft hinausgeht, aber keine Beziehung ist.«

»Und flirtest du mit jemand Speziellem?«

»Zurzeit nicht.«

»Und in der Schule ist alles gut? Von deinen Zeugnissen her weiß ich ja, dass du dich anstrengst. Hast du schon mal darüber nachgedacht, was du in den oberen Klassen machen möchtest? Ich erwarte nicht von dir, dass du jetzt schon eine Vorstellung von deinem künftigen Beruf hast, außer wenn es etwas gibt, was dich wirklich fesselt. Manchmal ist es gut, Verschiedenes auszuprobieren.«

»Ich antworte allen, die mich fragen, dass ich nur glücklich sein will. Das hören sie gern. Gelegentlich sage ich, ich möchte Anwältin werden, aber das stimmt nicht.«

Chris gluckste und schüttelte den Kopf. »Ich konnte es auch nie leiden, danach gefragt zu werden. Und die andere Frage, die ich nicht ausstehen konnte, war: Was ist dein Lieblingsfach?«

»Damit habe ich kein Problem – Wirtschaftslehre.«

»Echt?«, staunte er.

Dann bat Megan: »Kannst du zu meinem nächsten Elternabend gehen? Ich hasse es, wenn Trevor mitgeht, auch wenn er Mum das Reden überlässt.«

»Klar, Liebes. Deine Lehrer lerne ich gern einmal kennen. Ich bin froh, dass es dir auf der Schule gefällt. Es soll aber auch eine der besten Mädchenschulen weit und breit sein.«

»Die Schule ist großartig. Die Leute sind alle ganz toll. Es ist nur eine lange Fahrt jeden Tag mit dem Bus von Newport, aber dabei kann ich mit meinen Freundinnen abhängen und quatschen.«

»Und du findest es gut, dass dort nur Mädchen sind? Du würdest nicht lieber auf eine gemischte Schule gehen, die nicht so weit weg ist?«

Megan schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Eine meiner Freundinnen geht auf eine gemischte Schule, und ich kenne die Argumente dafür und dagegen. Aber mir ist es lieber so.«

»Warum?«

»Meine Freundin sagt, die Mädchen dort wollen sich nicht anmerken lassen, wie klug sie sind, denn sie gelten als Streberinnen, wenn sie gute Noten bekommen, gerade in naturwissenschaftlichen Fächern. Und ich denke, an einer reinen Mädchenschule traut man sich mehr. Wer will sich schon vor den Jungs in der Klasse blamieren? Außerdem hat meine Freundin gemeint, wenn man mit einem Jungen aus der Schule geht und sich dann trennt, kriegen es alle mit und machen ein Mordstheater drum. Ich finde es gut zu lernen, wie man mit Jungs als Kumpels auskommt, was wohl für gemischte Schulen spricht. Aber ich bin lieber in einer reinen Mädchenklasse. Abgesehen davon gibt es am St. Peters’ Tanzkurse und Aufführungen zusammen mit Jungs. Dieses Jahr studieren wir gemeinsam ein Musical ein, um Spenden für eine Schule in Myanmar zu sammeln.«

»Hast du da auch eine Rolle?«

»Ich stehe nicht auf der Bühne, arbeite aber hinter den Kulissen mit. Mein wahres Talent habe ich noch nicht entdeckt«, meinte sie lächelnd.

Als der erste Gang serviert wurde, ging Chris wieder einmal durch den Kopf, was für ein großes Glück Megan für ihn bedeutete. Es machte ihm Freude zu sehen, wie ausgeglichen und besonnen sie wirkte, und ihre Intelligenz war ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Jill hatte bei der Erziehung gute Arbeit geleistet. Schade nur, dass Megans Leben in letzter Zeit so schwierig geworden war.

»Ein paar Nudeln?«, fragte er sie.

»Wow, dieses Essen sieht großartig aus. Kein Vergleich zu unserem Chinesen um die Ecke.« Nachdem sie ihren Teller vollgeladen hatte, plauderte sie munter weiter.

»Wolltest du eigentlich immer schon Auslandskorrespondent werden, Dad?«

Chris überlegte kurz. »Na ja, zunächst einmal Journalist. Auslandskorrespondent wurde erst später mein Berufsziel, und das über etliche Umwege. Ich denke, es fing alles mit meinem Faible für Bücher und fürs Lesen an und dass ich mich für Kommunikation interessierte. Als ich sechs oder sieben war, habe ich meine eigene Zeitung geschrieben und in der Nachbarschaft verteilt. Deine Großeltern waren ganz versessen auf Nachrichten, vor allem dein Großvater. Ständig lief bei uns das Radio, und wenn die Nachrichten im Fernsehen kamen, mussten alle mucksmäuschenstill sein. Ich nehme an, ihr Interesse an dem, was in der Welt passiert, hat sich auf mich übertragen.«

»Dad, ich finde es echt cool, dass du Auslandskorrespondent bist. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich deinen Namen in der Zeitung lese. Das erzähle ich dann auch immer all meinen Freundinnen.«

»Schön zu hören.«

»Ja, und alle sagen, du kommst ziemlich cool rüber. Wer waren denn die wichtigsten Leute, die du in Amerika kennengelernt hast, Dad?«

»Ich hatte wenig Gelegenheit, jemanden von ihnen kennenzulernen«, räumte Chris ein. »Auslandskorrespondenten werden von der heimischen Presse oft als Außenseiter gesehen, die man nicht unbedingt in seinem Ressort wildern lassen will. Aber als der australische Premierminister in der Stadt war, bekam ich eine Akkreditierung, die mir die Teilnahme an allen Pressekonferenzen ermöglichte, die er und der Präsident gemeinsam im Weißen Haus gaben.«

»Wow! Hast du Präsident Obama kennengelernt?«

»Nein, dafür bin ich nicht annähernd wichtig genug. Aber ich war immerhin mit ihm im selben Raum«, grinste Chris.

»Wahnsinn! Er ist ja so ein cooler Typ.«

»Schön, dass du das denkst. Mit jemandem, der vielleicht ähnlich ›cool‹ ist, hatte ich ein Einzelinterview – mit Hillary Clinton.«

Megan starrte ihn an. »Ist nicht wahr! Wenn ich das den anderen in der Schule erzähle! Wie kam es dazu?«

»Sie hat ihr Einverständnis zu einem einstündigen Interview gegeben. Bis es so weit war, vergingen Monate, und ich dachte schon, es wird nichts mehr daraus. Aber dann hat es gerade noch geklappt, kurz bevor ich zurückgeflogen bin. Es wird in ein paar Wochen in der Wochenendausgabe der Zeitung erscheinen.«

»Irre!«

Die Teller und Schüsseln des nächsten Gangs wurden aufgetragen, und Chris nahm sich mit seinen Essstäbchen ein Stück kross gebratene Ente.

»Sag mal, hast du in letzter Zeit was von Bunny gehört?«

Megan versuchte, Chris’ Beispiel zu folgen und mit den Stäbchen ein Stück Entenbrust in ihre Schale zu bugsieren, was ihr nur mit Mühe gelang. »Wir telefonieren ständig miteinander. Sie hat sogar gelernt, mit Social Media umzugehen, und folgt mir auf Facebook. An meinem Geburtstag vor ein paar Monaten ist sie mich besuchen gekommen. Wann fährst du denn mal zu ihr? Sie würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«

»Ja, ich mich auch. Ich werde deiner Großmutter einen Besuch abstatten, sobald es geht. Wie stehst du denn zu Trevors Familie, kommst du mit ihr aus?«

Megan verzog das Gesicht. »Himmel, nein! Seine Mutter ist ein Drachen und sein Vater ein Proll. Nicht mal Mum ist auf Familientreffen mit denen scharf.«

»Das findet sich bestimmt alles. Nur Geduld.«

»Du hast leicht reden, du musst ja nicht mit ihnen unter einem Dach wohnen. Ich hasse es, wenn Mum diese Rotzlöffel als meine Stiefbrüder vorstellt.«

»Bis zu den Schulferien ist es nicht mehr lang. Wie wär’s, wenn wir dann nach Neverend fahren und deine Großmutter besuchen?«

»Ja, das wäre cool. Ich bin gern bei Bunny.«

»Ich bespreche das noch mit deiner Mutter, aber ich wüsste nicht, was sie gegen einen Besuch bei deiner Großmutter einzuwenden hätte.«

»Schön, dass du wieder zu Hause bist, Dad«, meinte Megan nach einer Pause.

Das gab Chris einen Stich. Er war froh, wieder in der Heimat zu sein und Zeit für seine Tochter zu haben, und er freute sich auch darauf, seine Mutter zu besuchen und sein Elternhaus wiederzusehen. Megan und Bunny waren die beiden Menschen, die er am meisten liebte. Zugleich hatte er aber Gewissensbisse, weil er wusste, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder irgendwo im Ausland tätig zu sein. Er war Auslandskorrespondent mit Leib und Seele, es war sein Traumberuf.

Chris fasste nach Megans Hand. »Ich finde es auch schön, dich wiederzusehen«, sagte er.

 

Am Nachmittag des nächsten Tags gingen Chris und Megan zur Bushaltestelle, wo Megan den Bus zurück nach Newport nahm.

»Tut mir leid, dass ich dich nicht hinfahren kann. Meinst du, du kannst nächstes Wochenende wieder herkommen, damit wir zusammen ein Auto aussuchen können? Mich würde deine Meinung interessieren.«

»Echt? Das wäre toll. Ich verspreche dir, dass ich bis Samstag alle Hausaufgaben erledigt habe, damit ich das ganze Wochenende bei dir verbringen kann. Bis dann, Dad.« Sie umarmte ihn und stieg in den Bus.

Als er ihr nachwinkte und der Bus auf der Military Road davonfuhr, dachte Chris über sein Wochenende mit Megan nach, das er sehr genossen hatte. Er fand es interessant, was sie dachte, und das Zusammensein mit ihr war so unkompliziert. Sie stellte keine Ansprüche an ihn, denn sie war ohnehin ständig mit Snapchat, Instagram und allen möglichen anderen Apps auf ihrem geliebten lilafarbenen Smartphone beschäftigt. Dass sie an seiner Arbeit Anteil nahm und stolz darauf war, rührte ihn. Allerdings war ihm nicht entgangen, dass Megans Leben während seiner Abwesenheit kompliziert geworden war. Sich in eine Patchworkfamilie hineinzufinden, fiel ihr als Einzelkind nicht leicht. Chris verstand gut, dass sie sich mit dieser neuen Situation schwertat.

Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung dachte er an die Jahre nach seiner Scheidung und wie wichtig ihm seine Freiräume geworden waren. Es bedeutete ihm viel, sein eigener Herr zu sein und sich nicht nach anderen richten zu müssen. Abends nahm er gern in aller Ruhe einen Drink, um die Hektik des Tags herunterzuspülen, und war froh, nicht unter Leute gehen zu müssen, wenn er keine Lust dazu hatte. Lieber hörte er in seiner Wohnung ungestört Musik oder guckte seine Lieblingsfernsehsendungen. Wahrscheinlich hielten ihn viele Leute für einen Eigenbrötler, aber das kümmerte ihn nicht. Wenn er Menschen um sich herum haben wollte, dann um seine Neugier zu befriedigen, um über aktuelle Ereignisse, Ideen und Nachrichten abseits des Mainstreams zu diskutieren. Aber im Allgemeinen war er sich selbst genug Gesellschaft. Trotzdem freute er sich, am nächsten Wochenende mit Megan auf Autosuche zu gehen. Das würde bestimmt lustig werden.

 

Ein paar Tage später, kurz bevor er sich in der Redaktion zurückmelden sollte, beschloss Chris, sich mit seinem alten Freund und Mentor Sam McPhee zu treffen, der zu Beginn von Chris’ Laufbahn sein erster Nachrichtenredakteur gewesen war. Mittlerweile war Mac, wie alle ihn nannten, im Ruhestand, aber er wusste immer noch bestens Bescheid, was in der Zeitungsbranche los war, und würde Chris auf den neuesten Stand bringen.

In einer ruhigen Ecke des Black Swan – unter den hier verkehrenden Journalisten auch als »Schmierfink« bekannt – stellte Chris ein großes Glas Bitter für Mac und ein helles Lagerbier für sich auf den Tisch.

Mac hob sein Glas. »Cheers, Chris. Schön, dich zu sehen.«

»Prost, Mac. Es ist gut, wieder hier zu sein, zumindest vorübergehend.«

Der ehemalige Nachrichtenredakteur mit dem schütter gewordenen Haar wischte sich über den rotblonden Schnauzbart. »Warst du schon in der Redaktion?«, fragte er.

Chris lehnte sich zurück. »Nein, ich habe noch Urlaub und wollte eine kleine Auszeit, um hier wieder richtig anzukommen. Habe mir auch Zeit für ein bisschen Zweisamkeit mit meiner Tochter genommen.«

»Und wie sehen deine Pläne aus?« Mac hob eine Augenbraue.

»Es sind zwar nur Gerüchte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich wieder eine Stelle im Ausland bekomme. Bangkok wird gerade frei.«

Mac nahm einen Schluck von seinem Bier. »Ich schätze, im Ausland zu arbeiten ist eher was für Alleinstehende wie dich als für Leute mit Familie. Da wird es immer kompliziert.«

»Ich will richtige Storys schreiben, nicht bloß dürre Nachrichten bringen, und das kann ich nur als Auslandskorrespondent. Aber mir ist klar, dass viele Zeitungen ums Überleben kämpfen. In den USA mussten etliche dichtmachen. Meine Güte, die Washington Post ist von Amazon-Chef Jeff Bezos für ’nen Appel und ’n Ei aufgekauft worden, nur weil er will, dass dieses traditionsreiche Blatt fortbesteht. Ich wüsste also gern, Mac, was du über die hiesige Presselandschaft gehört hast, insbesondere wie es bei der Trinity Press aussieht.«

Mac rieb sich das Kinn. »Na ja, Chris, die australischen Zeitungen haben es derzeit alle schwer. Nur die Murdoch-Presse macht mehr oder weniger weiter wie früher, weil sie von den anderen Unternehmen der News Corporation quersubventioniert wird. Aber für Murdoch zu arbeiten heißt natürlich, sich der Parteilinie unterzuordnen. Fairfax hat schon mit Einsparungen begonnen. Wie du weißt, sind sie seit dem Aufkommen der Online-Werbung nicht mehr auf die Beine gekommen. Die einstmals sprudelnden Einnahmen aus ihrer Werbung tröpfeln jetzt nur noch spärlich. Angeblich will der Herald sein Online-Kleinanzeigengeschäft ausbauen. Aber heutzutage lassen sich echte Meldungen von durch Werbung gesponserten Storys kaum noch unterscheiden. Und wenn kein Geld reinkommt, wird zuerst am Personal gespart«, stellte Mac mit Nachdruck fest.

»Ich weiß. Ich habe gehört, dass viele Festangestellte entlassen worden sind«, erwiderte Chris.

»Es ist ein Albtraum. Etliche der besten Journalisten mussten gehen. Wissen und Erfahrung von Jahrzehnten sind dahin. Klar, manche bekommen gute Abfindungen, und wenn man schon kurz vor dem Renteneintritt steht, ist es vielleicht ganz okay. Andernfalls hast du ein Problem. Es gibt zu viele Journalisten und zu wenige Stellen. Viele versuchen sich als Freiberufler, müssen sich aber mit einem Hungerlohn begnügen.« Mac verzog grimmig den Mund. »Wenn sie deinen Artikel nicht ins Blatt nehmen, kriegst du gar nichts, auch wenn du tagelang drangesessen hast. Es ist zum Kotzen. Aber selbst wenn du eine Vollzeitstelle hast, ist es nicht damit getan, dass du deine Story ablieferst. Du musst eine Online-Version davon erstellen, auf Tweets, Kommentare und Blogs reagieren. Da hast du einen Vierzehn-Stunden-Tag, und falls du nicht lieferst, wirst du vor die Tür gesetzt, weil Dutzende andere nur darauf warten, deinen Job zu kriegen.«

Chris wollte etwas sagen, aber Mac hatte sich jetzt in Rage geredet und fuhr fort: »Technik ist heute natürlich das A und O. War ein Fernsehjournalist früher mit einem Sendeleiter, einem Kameramann und einem Tontechniker unterwegs, ist das jetzt nur noch eine Ein-Mann-Show. Er muss das digitale Filmmaterial erstellen, den Ton aufnehmen, Wortbeiträge vor der Kamera einsprechen, das Ganze auf dem Laptop bearbeiten und sofort hochladen, sofern er nicht gerade in einem Funkloch steckt. Das ist ein Knochenjob geworden.«

Chris runzelte die Stirn. »Manche Journalisten haben aber ein ziemlich gutes Auskommen«, wandte er vorsichtig ein.

»Ja, aber normalerweise erst, wenn sie sich bereits einen Namen gemacht haben. Einige bekannte Promi-Journalisten verdienen sich eine goldene Nase und können sich einen Producer und einen Rechercheur und dazu noch ein protziges Haus am Meer leisten. Und all das für nur eine halbe Stunde TV-Sendezeit pro Woche. Der Rest krebst herum. Und was noch schlimmer ist: Die Medien verlassen sich zunehmend darauf, dass ihnen der Content von außen geliefert wird. Sie lassen sich ihre Artikel von Akademikern, Geschäftsleuten oder anderen Experten schreiben, was problematisch ist, weil die Leser nicht wissen, welche Motivation jeweils dahintersteckt. Aber wir brauchen Journalisten mit Berufsehre wie dich, die sich als vierte Gewalt verstehen.«

»Wie sieht es beim Hörfunk aus? Da verdienen doch ein paar Promis ebenfalls ein Vermögen.«

Mac schüttelte den Kopf. »Beim privaten Radio ist auch nichts zu holen. Diese Erbsenzähler, die die Radiostationen betreiben, lassen sich ihre Stars und großen Namen durchaus etwas kosten, weil sie für Quote und damit für Einnahmen sorgen – für ihre Journalisten gilt das allerdings nicht. Die werden nur als Kostenfaktor betrachtet. Und entsprechend karg bezahlt. Natürlich leistet die ABC nach wie vor gute Arbeit, aber es fehlt hinten und vorn an Geld, und alle müssen noch Zusatzaufgaben übernehmen, sodass kaum Zeit bleibt, wirklich interessante Storys aufzutun. Die journalistische Arbeit beschränkt sich jetzt auf den 24-Stunden-Nachrichtenzyklus, der in leicht verdaulichen Häppchen präsentiert wird. Gott bewahre, dass jemand da draußen wirklich wissen will, was in der Welt passiert. Die Berichterstatter haben keine Zeit für tiefer gehende Analysen, also zitieren sie nur, was dieser oder jener zum Thema sagt. Meinungsmache statt Objektivität. Gonzo-Journalismus. Und weißt du was? Die Öffentlichkeit ist jetzt schlechter informiert als früher. Den Leuten wird oft sogar etwas vorgegaukelt. Ich habe früher mal mit dem Gedanken gespielt, in die Journalistenausbildung zu gehen. Um junge Leute zu motivieren, dass sie die Wahrheit ans Licht bringen. Aber jetzt denke ich mir: Wozu? Es gibt viel zu wenige Jobs für Journalisten, und sie stehen viel zu sehr unter Zeitdruck, um sich so einen Luxus wie Enthüllungsjournalismus zu leisten.«

Chris erschrak über Macs Verbitterung. »Reg dich nicht so auf, Mac. Du hättest doch trotzdem nichts anderes machen wollen. Ich hole uns noch was zu trinken.«

Als Chris mit den Getränken von der Bar zurückkam, hatte sich Mac wieder etwas beruhigt. »Auch wenn bei der Produktion und der Übertragung zunehmend technische Fähigkeiten gefragt sind, braucht man trotzdem immer noch Gespür und Verstand, um an Quellen heranzukommen und Informationen zu analysieren und für die Leser aufzubereiten. Ich mag diese Herausforderung. Und du bist ja jünger als ich. Wie alt bist du jetzt?«

»Ich werde dieses Jahr dreiundvierzig«, antwortete Chris.

Mac grinste. »Dann hast du ja karrieremäßig noch einiges vor dir. Du hast in Washington gute Arbeit geleistet, daher spricht wohl kaum etwas dagegen, dass du diese Stelle in Bangkok kriegst. Möglicherweise hängt es davon ab, wie du mit dem neuen Geschäftsführer klarkommst, diesem Briten. Ich habe mir sagen lassen, er sei genauso ein Pfennigfuchser wie all die anderen. Hat die Belegschaft in Sydney schon drastisch reduziert. Aber die Belegschaft in Bangkok besteht ohnehin nur aus einer Person, da lässt sich nichts kürzen«, meinte Mac mit einem Augenzwinkern. »Wird schon klappen.«

»Ich habe den neuen Geschäftsführer noch gar nicht kennengelernt«, sagte Chris.

»Er soll total penibel sein. Protokolliert sogar die Mitarbeitergespräche. Und man muss sich einen Termin geben lassen. Nichts von wegen anklopfen und ins Büro spazieren.«

»Klingt, als würde er ein strenges Regiment führen. Ich rufe besser gleich heute noch in der Redaktion an«, überlegte Chris. Danach saßen die beiden noch eine Stunde beisammen und plauderten. Laut Mac war der Umgangston in der Redaktion jedoch nicht sonderlich freundlich. Chris hoffte, dass bei seiner Unterredung mit dem Geschäftsführer alles glattlief.

 

»Ich habe Megan gebeten, mit mir zusammen ein Auto auszusuchen. Ist es okay, wenn sie nächstes Wochenende wieder zu mir kommt?«, erkundigte sich Chris, als er abends mit seiner Ex-Frau telefonierte.

Jill gab sich unverbindlich. »Ich frage sie. Aber wenn du ein Auto kaufst, heißt das, dass du hier bleibst?«, fragte sie ziemlich kühl.

»Es kann sein, dass ich ein paar Monate in Sydney bleibe, bis mit meinem nächsten Einsatz alles geklärt ist. Und ich würde mit Megan in ihren Ferien gern zu Mum hochfahren.«

Jill schnaubte. »Megan hat eine Menge Termine. Vielleicht will sie ja gar nicht zu ihrer Großmutter aufs Land.«

»Na, dann gucken wir eben, was Megan dazu sagt, okay?«, erwiderte Chris lapidar.

»Und wohin geht es für dich als Nächstes?«

»Bangkok, hoffe ich.«

»Du hast’s gut. Andere Leute müssen zu Hause bleiben und Kinder großziehen«, sagte Jill bitter.

Über diese Bemerkung ging Chris hinweg. »Könntest du also bitte Megan bitten, Bescheid zu geben, ob sie immer noch ein Auto mit mir aussuchen möchte? Das wäre nett. Danke, Jill.«

Er legte auf. Auf einen weiteren Streit mit seiner Ex-Frau konnte er gut und gern verzichten. Jill hatte das Sorgerecht für Megan beantragt, und da er viel auf Reisen war und im Ausland arbeitete, hatte er keine Einwände erhoben. Aber Jill rieb ihm bei jeder Gelegenheit unter die Nase, dass sie bei dieser Abmachung den Kürzeren gezogen hatte.

Am nächsten Wochenende machte Chris mit Megans Handy ein Foto, wie sie am Steuer eines teuren italienischen Sportwagens saß. Das wollte sie ihren Freundinnen schicken.

»Versuchen wir es mal eine Nummer kleiner. Das Auto darf nicht zu groß sein, sonst finde ich in der Nähe meiner Wohnung nie einen Parkplatz. Andererseits soll man damit bequem Langstrecken fahren können, und es darf nicht zu viel Sprit schlucken.«

»Wir kaufen also nicht den Maserati, Dad?«, fragte Megan scherzhaft. »Na schön. Können wir mit unserem neuen Auto dann gleich nach Hause fahren?«

»Nein, dafür muss ich erst einen Kredit aufnehmen. So viel Geld habe ich nicht flüssig. In ein paar Tagen werde ich es dann wohl abholen können. Morgen wirst du, fürchte ich, noch einmal mit dem Bus heimfahren müssen.«

Er war froh, sie lachen zu sehen. Als er sie von der Bushaltestelle abgeholt hatte, hatte sie ein bisschen verschlossen gewirkt. Er hatte das Gefühl, dass sie etwas belastete, wollte sie aber nicht darauf ansprechen. Als sie das Autohaus verließen, fragte er: »Was hättest du denn gern zu Mittag?«

»Fisch und Pommes. Aber irgendwo, wo man auch nett sitzen kann. Nicht bloß welche zum Mitnehmen.«

Chris grinste. »Gute Idee. Das habe ich schon ewig nicht mehr gegessen. Wir könnten den Bus nach Balmoral nehmen oder in das kleine Fischlokal hier um die Ecke gehen. Entscheide du.«

»Das Lokal um die Ecke sieht doch nett aus. Außerdem bin ich für heute schon genug Bus gefahren.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Chris. »Dann sehen wir doch mal, was dieser Laden hier zu bieten hat.«

Megan suchte einen etwas abseits gelegenen Tisch in dem kleinen, unkonventionellen Restaurant aus, während Chris an der Theke die Bestellung aufgab. Das Essen kam rasch, allerdings wirkte Megan wenig begeistert davon.

»Das war eine gute Wahl … der Fisch ist innen zart und außen knusprig, die Mayonnaise lecker, und es gibt Verjus statt Essig«, stellte Chris erfreut fest.

Megan nickte und aß langsam. Offenbar war sie mit den Gedanken ganz woanders.

»In der Schule alles okay?«, fragte er vorsichtig, während er ihr Mineralwasser nachschenkte.

Megan seufzte und stocherte in ihrem Gericht herum. »Ja. So wie immer eben.«

»Na, das ist doch gut. Aber was plagt dich dann?«

Da schaute sie von ihrem Teller auf, und Chris sah mit Bestürzung, dass eine Träne über ihre Wange rollte.

»Megan, Liebes. Was hast du denn?« Er fasste nach ihrer Hand.

»Es ist wegen Mum und Trevor.«

»Was ist denn passiert?«

»Es geht um Trevors Job«, begann Megan mit zittriger Stimme.

»Ist er gekündigt worden? Arbeitslos?«

»Schlimmer. Er wird versetzt. Nach Perth.«

Während Chris sie anstarrte, brach Megan vollends in Tränen aus.

»Ich will nicht nach Perth! Das ist am anderen Ende der Welt! Ich will bei meinen Freundinnen bleiben, auf meiner Schule! Bitte, Dad …«

»Hey, hey, nur die Ruhe.« Er reichte ihr eine Papierserviette, um sich die Tränen abzuwischen. »Jetzt noch mal ganz von vorn. Trevor soll nach Perth gehen und hat vor, mit Mum und euch Kindern dorthin zu ziehen? Was sagt deine Mutter dazu?«

Schniefend betupfte sich Megan die Augen. »Nicht viel. Er hat gesagt, wir ziehen dorthin, also müssen wir alle mit. Das Haus wird verkauft, und ab nach Perth! Was soll ich bloß tun? Dort drüben gehe ich ein wie eine Primel.«

Chris ärgerte sich darüber, dass Jill kein Wort davon erwähnt hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er euch alle aus eurer gewohnten Umgebung herausreißen und das Haus verkaufen will. Dafür müsste man ihm ja einen unglaublich tollen Job angeboten haben.«

»Es ist schon irgendeine leitende Position. Aber ich finde es total unfair, dass ich nur wegen seinem blöden Job von hier weg muss! Deswegen soll ich mein ganzes bisheriges Leben hinter mir lassen, meine Freunde, meine Schule? Echt nicht, Dad.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Einen Moment lang saßen sie nur schweigend da. Dann schaute Megan auf. »Hey, wie wäre das: Ich bleibe hier bei dir?«

Chris zögerte. »Ich glaube, das geht nicht, Megan.«

Erneut kullerten Tränen über Megans Gesicht, worauf sich Chris neben sie setzte und ihr den Arm um die Schultern legte. Er war froh, dass keine anderen Gäste in der Nähe waren.

»Das Problem ist, dass ich wahrscheinlich als Nächstes nach Bangkok geschickt werde, Liebes. Meine Arbeit nimmt mich ziemlich in Anspruch, ich werde viel unterwegs sein bei Einsätzen in ganz Asien, und dass du ohne mich in Bangkok lebst, kommt überhaupt nicht infrage. Außerdem würde dich deine Mutter niemals mitgehen lassen. Das ist ausgeschlossen.«

»Kannst du nicht hier in Sydney bleiben? Musst du denn unbedingt nach Bangkok?«, fragte Megan mit flehentlichem Blick.

»Das ist nun mal mein Job, Liebes«, erwiderte Chris matt. Es gefiel ihm nicht, wie sich dieses Gespräch entwickelte. »Du könntest auf das Internat deiner Schule gehen«, schlug er vor, fragte sich jedoch im selben Moment, woher das Geld für die kostspielige Internatsunterbringung kommen sollte. Als Megan die Idee nicht sofort in Bausch und Bogen verdammte, fuhr er fort: »Schau, es gibt vielleicht doch noch Alternativen. Wir wollen uns nicht unseren gemeinsamen Tag verderben lassen.«

»Es geht ja bloß darum, dass mir mein ganzes Leben verpfuscht wird«, maulte sie.

Später, nachdem er seine Tochter zu ihrem Bus zurück nach Hause gebracht hatte, machte Chris einen langen Spaziergang, um sich Megans Situation durch den Kopf gehen zu lassen. Er ging in Richtung St. Leonards Park, denn er schätzte die relative Ruhe dieser grünen Oase im Norden der Stadt. Besonders angetan hatte es ihm der Kricketplatz mit der alten, ursprünglich vom Sydney Cricket Ground stammenden edwardianischen Zuschauertribüne, die die Anlage zu einem der malerischsten Stadien des ganzen Lands machte. Gedankenverloren betrachtete er einen einsamen Dudelsackspieler, der unter einer großen Palme stand und auf seinem Instrument übte.

Er machte sich Sorgen, wie es mit Megan weitergehen sollte. Wie würde sie mit der neuen Situation zurechtkommen?

Plötzlich packte ihn Angst. Vor Jahren, am Anfang seiner journalistischen Laufbahn, hatte er eine mehrteilige Reportage über obdachlose Kinder gemacht, die sich in Kings Cross herumtrieben. Kinder, die von zu Hause durchgebrannt waren, Drogen- und Alkoholprobleme hatten, auf Suppenküchen, Obdachlosenheime und die Almosen von Hilfsorganisationen angewiesen waren, ziellos durch die Gegend streunten, in Torwegen herumlungerten, auf Skateboards hin- und herflitzten oder mit leerem, zombieartigem Ausdruck am Straßenrand hockten, ohne auf vorbeifahrende Autos zu achten. Einen Moment lang plagte ihn die Vorstellung, Megan könnte auch so enden, doch gleich darauf verwarf er diesen Gedanken. Schließlich hatte Megan Eltern, die sie liebten und für ihr Wohlergehen sorgten.

Als Chris das Ende des St. Leonards Park erreichte, blickte er auf den prächtigen Hafen und die Skyline von Sydney und zermarterte sich das Hirn. Megan war tief unglücklich, er musste irgendeine Lösung finden. Wenn er wieder zu Hause war, würde er Jill anrufen und die Lage mit ihr besprechen.

 

»Aber, Jill, sie ist völlig durch den Wind. Ich kann gut verstehen, dass es für einen Teenager schrecklich ist, aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen zu werden«, sagte Chris, während er in seinem Wohnzimmer auf- und abging.

Jill wirkte unbeeindruckt. »Megan kann ziemlich zickig sein, das ist eben so mit vierzehn. Und Perth ist ja nicht gerade auf einem anderen Planeten.«

»Ich mache mir Gedanken um ihren schulischen Werdegang«, entgegnete Chris. »An ihrer jetzigen Schule fühlt sie sich wohl, und sie ist eine gute Schülerin. Vielleicht finden wir einen Weg, dass sie dort aufs Internat gehen kann. Es ist so eine wichtige Zeit.«

»Sei nicht albern. Das Internat wäre viel zu teuer, außerdem gibt es auch in Perth hervorragende Schulen«, fauchte Jill.

»Das wird auch für mich nicht einfach, Jill. Wie soll ich sie sehen, wenn sie in Perth wohnt und ich zwischen Bangkok und Sydney pendle?«

»Es geht hier nicht um dich, Chris. Trevor hat einen großartigen Job angeboten bekommen und Megan lebt bei uns, also geht sie mit nach Perth.«

Da hörte Chris im Hintergrund, wie Megan ihre Mutter anschrie: »Ich will nicht nach Perth! Ich hasse Trevor und seine fiesen kleinen Blagen!«

Nun wurde auch Jills Stimme lauter, als sie entgegnete: »Sprich nicht so über Trevor und seine Söhne! Trevor behandelt dich gut, und er ist mein Mann. Wir sind jetzt eine Familie. Und es wird das gemacht, was wir sagen. Kapiert?«

»Nein! Ich will bei Dad bleiben, hier in Sydney.«

»Das ist lächerlich, Megan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Vater länger an ein und demselben Ort bleibt, geschweige denn in Sydney. Schlag dir das aus dem Kopf.«

»Dann lauf ich eben weg!«, brüllte Megan.

Jill stöhnte. »Lass doch dieses Theater, Megan.« Dann wandte sie sich mit gepresster Stimme wieder an Chris. »Sie muss sich nur daran gewöhnen, dass sie mit uns in Perth leben wird. Sie muss einfach lernen, flexibler zu sein und sich anzupassen.«

Da hörte sich Chris sagen: »Und wenn ich dir vorschlage, dass Megan hier bei mir bleiben kann? Ich lehne die Versetzung nach Bangkok ab, sofern sie mir überhaupt angeboten wird, und bleibe in Sydney. Das wäre ja vielleicht die beste Lösung.«

Der Gedanke war ihm wie aus heiterem Himmel gekommen. Oder hatte ihn das schlechte Gewissen dazu bewogen, das er immer verdrängt hatte wie alles, was mit der Familie zusammenhing?

»Nein. Denn ehrlich gesagt, Chris, ich hätte kein gutes Gefühl dabei, wenn sie bei dir wäre. Deine Wohnung ist viel zu klein. Megan kann nicht auf Dauer auf deiner Couch schlafen, außerdem hast du keine Ahnung von Kindererziehung, geschweige denn vom Umgang mit einem Teenager. Du hast die Stürme der Pubertät nicht miterlebt, die, wie ich leider sagen muss, noch nicht ausgestanden sind. Anscheinend bildet sich Megan ein, dass sich immer alles und jeder nach ihr zu richten hat. Bei jedem Trend, der gerade angesagt ist, muss sie ganz vorn mit dabei sein. Sobald irgendwelcher neuer Technikkram auf den Markt kommt, muss sie ihn haben.« Jills Ton wurde schärfer. »Du machst es dir natürlich leicht, wenn du hier ab und zu auftauchst und den coolen Daddy markierst und mich als die böse Hexe dastehen lässt. Aber du würdest dir keinen Gefallen tun, wenn du Megan zu dir holst. Sie hätte dich im Nu um den Finger gewickelt. Selbst wenn du in Sydney bleiben würdest, was ist, wenn du wegen irgendeiner Berichterstattung mal eben aus der Stadt musst? Nein, Chris. Das ist einfach keine Option.«

Jills Antwort überraschte Chris nicht, doch er wollte sich noch nicht geschlagen geben. »Ich rede mit dem Chefredakteur und erkläre ihm die Situation. Dafür hat er sicher Verständnis.«

Jill blieb unerbittlich. »Das schaffst du nie, Chris. Du bist viel zu sehr mit deiner Arbeit verbandelt. Und du wirst nicht mehr so viele Überstunden machen können, wenn du nach Hause zu Megan musst.«

»Okay, Jill, ich habe deine Argumente zur Kenntnis genommen. Darf ich trotzdem fragen, wann ihr nach Perth umziehen wollt?«

»Gegen Ende der Weihnachtsferien. Wir müssen früh dort sein, damit sich die Kinder in der neuen Schule eingewöhnen können.«

Chris hielt einen Moment inne, die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. »Was hältst du von folgender Idee: Megan könnte die Ferien bei mir verbringen. Dann haben wir genug Zeit, um zu sehen, ob ein Zusammenleben funktioniert und wir miteinander auskommen. Schaden kann es nicht, selbst wenn es nicht klappt.«

»Natürlich kann es schaden.« Jills Stimme klang schrill. »Du kannst ihr nicht Hoffnungen machen und dich dann verziehen, wie du es immer tust.«

»Jill, ich verspreche dir, ich werde dem Chefredakteur klarmachen, dass aus Bangkok nichts wird und er mir hier in Sydney einen Job geben soll«, erklärte Chris mit Nachdruck.

»Du meinst es wirklich ernst, was?«, sagte Jill nun etwas ruhiger. Einen Moment lang war es still in der Leitung, was Chris hoffen ließ, dass sie über seinen Vorschlag nachdachte. »Ich kann nicht behaupten, dass ich über diese Idee allzu glücklich bin. Meiner Meinung nach reagiert Megan einfach über. Andererseits denke ich mir, warum sollt ihr nicht wirklich auf die eine oder andere Weise herausfinden, ob ihr zusammenleben könnt?« Damit verabschiedete sich Jill und legte auf.

Kurz darauf rief Megan an. »Hi Dad, ich bin’s. Ich bin total happy, dass du das für mich tust. Mit mir wirst du nicht den geringsten Ärger haben, das verspreche ich dir. Du wirst es nicht bereuen. In der Schule werde ich doppelt so fleißig sein, du wirst schon sehen! Wir werden eine größere Wohnung finden, und ich mache den Haushalt, und wir werden so richtig gut miteinander auskommen. Versprochen!«

Megans Enthusiasmus freute Chris, doch ihm war klar, dass es nicht so einfach werden würde, wie sie sich das offenbar vorstellte.

»Megan, noch ist nichts beschlossen«, bremste er sie. »Ich muss erst noch mit meinem Chef sprechen. Vielleicht ist er von der Idee genauso wenig begeistert wie deine Mutter.«

Davon ließ sich Megan nicht beirren. »Doch, Dad, er ist bestimmt einverstanden. Wart’s ab. Bitte rede ganz bald mit ihm, ja? Bitte, bitte!«

Nachdem sie noch ein paar Worte gewechselt hatten, legte Chris auf. Er ließ sich in seinen Sessel plumpsen und starrte mit sorgenvollem Gesicht auf das Telefon. Hoffentlich hatte er den Mund nicht zu voll genommen.

 

Am nächsten Tag rief Chris bei der Trinity Press an und vereinbarte einen Termin mit dem Chefredakteur. Da er ein bisschen zu früh eintraf, schaute er erst noch in der Nachrichtenabteilung vorbei, um seine Kollegen zu begrüßen. Alle nahmen zwar seine Anwesenheit zur Kenntnis, schienen aber zu beschäftigt zu sein, um ihre jeweilige Arbeit zu unterbrechen. Auf dem Weg zum Büro des Chefredakteurs eilte ihm Rhonda, die Redaktionsassistentin, entgegen.

»Hallo, Chris. Entschuldigen Sie, ich habe versucht, Sie anzurufen. Bei Ihrem Termin für heute Vormittag gibt es eine kleine Änderung.«

»Hi Rhonda. Oh, Entschuldigung, ich hatte mein Telefon ausgeschaltet und vergessen, es wieder einzuschalten. Verschiebt sich der Termin? Ist kein Problem.«

Rhonda schüttelte den Kopf. »Nein, aber Sie haben das Meeting nicht mit John, sondern mit unserem neuen Geschäftsführer Mr. Honeywell.« Sie ging zu ihrem Tisch und griff zum Telefon. »Susie, sagen Sie Mr. Honeywell bitte, dass Chris Baxter auf dem Weg zu ihm ist.«

Chris nickte und blickte über ihre Schulter zu der schemenhaften Gestalt, die hinter ihr in dem verglasten Büro saß. »Richten Sie John aus, dass ich nachher bei ihm vorbeikomme.«

»Aber gern.«

Chris durchquerte das Großraumbüro mit den Reihen identischer Tische und Computerbildschirme, von denen aber nur ein Drittel besetzt war. Gewöhnlich waren die Kollegen um diese Tageszeit unterwegs, um die Beiträge für die nächste Ausgabe zusammenzustellen. Als er in der nächsthöheren Etage aus dem Lift stieg, geleitete man ihn zu Honeywells Büro. Der neue Chef der Trinity Press war ein hünenhafter Engländer, der mit ausgestreckter Hand auf ihn zustapfte.

»Chris, schön, Sie kennenzulernen«, sagte er, als sich seine Pranke um Chris’ Hand schloss. »Schade, dass wir uns nicht schon in Washington D.C. treffen konnten, als ich auf der Durchreise war. Bitte setzen Sie sich.«

Chris nahm auf einem ziemlich unbequemen Stuhl vor Honeywells Schreibtisch Platz. Männer dieser Sorte kannte Chris bereits. Die joviale Art, das Schulterklopfen, das Lächeln, das auf die untere Gesichtshälfte beschränkt blieb, der distinguierte englische Akzent – all das verriet Chris, dass er auf der Hut sein musste. Was wollte dieser Mann?

»Sie sind ein wirklich begnadeter Autor, Mr. Baxter, ich kann Ihnen zu Ihrer hervorragenden Erfolgsbilanz und Ihrem Renommee nur gratulieren.«

»Danke. Ich freue mich auch schon auf meine nächste Aufgabe, und darüber wollte ich mit Ihnen sprechen«, erwiderte Chris.

Honeywell nickte. »Wie Sie sicherlich wissen, ist die Medienbranche weltweit im Umbruch. Das Management muss genau darauf achten, wo es investiert. Man muss sichergehen, dass sich die Ausgabe lohnt, dass das Ergebnis stimmt und einen Zuwachs bei den zahlenden Lesern generiert.«

»Ja, gewiss«, sagte Chris und fragte sich, wohin dieses Gespräch führen sollte.

»Daher ist es mir eine große Freude, Ihnen die Position des Südostasienkorrespondenten mit Sitz in Bangkok anzubieten, weil ich der Ansicht bin, dass Sie diese Anforderungen zu unserer vollsten Zufriedenheit erfüllen werden«, verkündete der Engländer großspurig.

Chris fühlte sich geschmeichelt, doch er kam schnell auf den Boden der Realität zurück. »Vielen Dank, Mr. Honeywell. Hätten Sie mir dieses Angebot vor ein paar Tagen gemacht, hätte ich es mit Kusshand angenommen, aber bedauerlicherweise gab es bei mir einige private Veränderungen. Meine noch schulpflichtige Tochter, die bisher bei ihrer Mutter gelebt hat, wird jetzt zu mir ziehen, und ich fürchte, Bangkok ist keine geeignete Umgebung für ein Mädchen ihres Alters. Sie ist erst vierzehn, und ihre Mutter würde diesem Umzug nie zustimmen. Deshalb muss ich Ihr Angebot leider ablehnen und möchte Sie ersuchen, mich stattdessen auf eine Stelle in Sydney zu versetzen.«

Honeywell betrachtete Chris mit einem Gesicht, als wäre er in etwas Unappetitliches getreten. »Bedaure, eine andere Option gibt es nicht, Chris«, meinte er hüstelnd. »Ich habe für Sie keinen Job in der Redaktion von Sydney. Bitte überdenken Sie gründlich Ihre Lage. Diese Zeitung hält große Stücke auf Sie, wir würden Sie nur ungern verlieren. Aber Sie müssen auch verstehen, dass viel Aufwand erforderlich war, um Ihre Versetzung nach Bangkok zu organisieren, und dass ich nicht Ihrer persönlichen Bedürfnisse wegen einfach jemanden hier in Sydney entlassen kann.«

»Ja«, entgegnete Chris, »das ist mir durchaus bewusst, und ich bin Ihnen dankbar für das Angebot in Bangkok. Aber ich kann es derzeit einfach nicht annehmen.«

Honeywell funkelte ihn zornig an, als wäre Chris’ Weigerung eine persönliche Beleidigung, und sagte äußerst kühl: »Nun gut. Anscheinend wissen Sie nicht zu schätzen, welche Chance die Trinity Press Ihnen bietet. Ich bedaure, aber wenn Sie das, was meines Erachtens ein Traumjob ist, ausschlagen, trennen sich unsere Wege. Dann kann ich mich nur noch von Ihnen verabschieden.« Mit diesen Worten sprang der Engländer auf, das Gesicht von kalter Wut verzerrt, ging zur Tür des Büros und hielt sie ihm auf.

Chris schob seinen Stuhl zurück, stand auf und stellte mit Erstaunen fest, dass ihm die Knie zitterten. »Ich verstehe«, murmelte er, als er sich umdrehte und hinauswankte.

Er ging die Treppe hinunter und direkt zum Büro des Chefredakteurs John Miller. Kaum hatte Chris angeklopft, winkte ihn John schon herein, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und schüttelte ihm die Hand.

»Freut mich, dich zu sehen, altes Haus. Du hast also jetzt das Büro in Bangkok? Da bist du froh, was? Für den Job gibt es aber auch keinen besseren als dich.« Da bemerkte er Chris’ kreidebleiches Gesicht. »Hey, du siehst aber nicht gerade glücklich aus.«

Daraufhin erzählte ihm Chris von Megan und was gerade in Honeywells Büro geschehen war.

John starrte ihn an. »Mist. Das tut mir echt leid, Chris, ehrlich. Aber du hast dich entschieden, und ich finde es sehr respektabel, dass du dich mehr um deine Tochter kümmern und sie bei dir aufnehmen willst.«

»Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass es keine andere Stelle für mich gibt«, bekannte Chris matt. »Ich stehe ein bisschen unter Schock. Denkst du, er meint es ernst? Wie stehen die Chancen, hier irgendwo unterzukommen?«

»Wahrscheinlich bei unter null. Honeywell hat die Zügel fest in der Hand.« Der Chefredakteur stand auf und schloss die Tür des Büros. Dann setzte er sich wieder und sah Chris teilnahmsvoll an. »Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Es ist blanker Irrsinn, dich rauszuschmeißen. Aber hier werden eine Menge merkwürdiger Entscheidungen getroffen. Glücklich und zufrieden ist in diesem Laden kaum noch einer. Man hat das Gefühl, als würde einem ständig jemand über die Schulter gucken. Aber weißt du was, ich werde mal mit Honeywell reden und zusehen, dass ich ihn umstimmen kann. Wenn ich mich dahinterklemme, finde ich schon eine Stelle für dich in der Lokalredaktion. Überlass das nur mir.«

Dankbar sah Chris seinen Freund an. »Ich schätze, Honeywell hat guten Grund, auf mich sauer zu sein. Ich habe ja deutlich zu erkennen gegeben, dass ich Interesse an Bangkok habe, und dann sage ich plötzlich, er soll den Job jemandem anderen geben.«

»Die Familie geht vor, Chris. Ich werde sehen, was ich tun kann, und rufe dich dann an.«

»Danke, John.«

Auf der Fähre zurück nach Neutral Bay dachte Chris über die Ereignisse des Vormittags nach. Wenn John nicht einen Job für ihn auftat, würde Chris wahrscheinlich arbeitslos werden. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass diese Unterredung so schiefgegangen war. Wie sollte er seine Hypothek abbezahlen, geschweige denn den Kredit bedienen, den er für sein neues Auto aufgenommen hatte? Dass er ein guter Journalist war, wusste er, aber ob es ihm gelingen würde, sofort einen neuen Arbeitsplatz zu finden? Mac hatte ihn gewarnt, dass zurzeit ein Überangebot an Journalisten herrschte. Und bald würde sich herumgesprochen haben, dass ihm die Familie wichtiger war als die Arbeit. Vielleicht konnte er sich als Freiberufler über Wasser halten, bis sich etwas fand, aber das war garantiert kein Zuckerschlecken. Womöglich würde er am Ende doch die Stelle in Bangkok annehmen müssen. Seine Möglichkeiten schienen jedenfalls ziemlich begrenzt zu sein. Er stieß einen leisen Seufzer aus. Sollte er mit Jill besprechen, ob sie Megan mit ihm nach Bangkok ziehen ließ? Er verwarf die Idee – darauf würde seine Ex sich niemals einlassen. Er wäre ja selbst auch nicht glücklich bei dem Gedanken, dass Megan bei ihm in Bangkok lebte. Dann würde er, wann immer er unterwegs war, sich ständig Sorgen machen. Nein, das funktionierte nicht. Wenn John ihm keinen Job in Sydney besorgen konnte, musste er eben in den sauren Apfel beißen, Honeywells Angebot annehmen und Megan zurücklassen. Er konnte ja nicht einfach seinen Beruf an den Nagel hängen. Bestimmt würde Megan verstehen, dass er durchaus willens war, sie zu sich zu holen, aber dass die neuen Umstände dies einfach nicht erlaubten. Dann würde sie eben nach Perth ziehen müssen.

All dies ging ihm während der kurzen Fahrt mit der Fähre durch den Kopf, doch eine Lösung fand er nicht. Wenn er Megan sagte, dass er sich umentschieden hatte und sie nicht zu ihm ziehen konnte, wäre sie zweifellos am Boden zerstört, und bei diesem Gedanken überkamen ihn Schuldgefühle. Jill hatte recht. Was hatte Chris in den letzten Jahren schon für Megan getan, außer alle paar Monate als strahlender Daddy aufzutauchen und sie zu verwöhnen? Jetzt, da sie ihn wirklich brauchte, würde er sie im Stich lassen. Hoffentlich konnte John ein gutes Wort für ihn einlegen. Chris würde jede Stelle annehmen, wenn er nur in Sydney bleiben konnte.

Etwa eine Stunde nachdem er nach Hause gekommen war, erhielt er Nachricht von seinem alten Freund.

»Tut mir leid, Kumpel«, sagte der Chefredakteur, »ich fürchte, es wird nichts daraus. Honeywell schaltet auf stur. Die Alternative heißt, Bangkok oder gar nichts. Offenbar ist ihm auch nicht sonderlich an einem Kompromiss gelegen, selbst wenn ich eine Stelle für dich hier finden würde. Er meint, damit würden wir einen Präzedenzfall schaffen. Sein Motto lautet: Friss oder stirb. Also, was hast du vor?«