Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur - Alexander Sigl - E-Book

Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur E-Book

Alexander Sigl

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Beschreibung

Der Epikureismus gehört zweifellos zu einer der umstrittensten Philosophenschulen in der Antike. Seine Lebensmaximen, die sich um Begriffe wie "Lust", "Seelenruhe" und ein "Leben im Verborgenen" drehen, wurden schon in der antiken Literatur ganz unterschiedlich rezipiert und oftmals sehr kritisch beurteilt. Eine zentrale Gestaltungstechnik, die bei der Rezeption epikureischen Gedankenguts bisher noch nicht systematisch untersucht wurde, stellt die autorenspezifische Inszenierung entsprechender Figuren in der römischen Literatur dar. Neben den philosophischen Dialogen Ciceros bildet die römische Dichtung im 1. Jhd. v. Chr. und im 1. Jhd. n. Chr. mit einer thematisch geordneten Textauswahl von Vergil, Horaz, Silius Italicus und Statius den Schwerpunkt dieser Arbeit. Sie richtet sich an Interessierte und Kenner:innen der antiken Literatur und Philosophie.

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Alexander Sigl

Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur

Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67. 23. 57. Su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo – Museo Archeologico Nazionale di Napoli.

 

Diss. Ludwigs-Maximilians-Universität 2020

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395034

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-4274

ISBN 978-3-8233-8503-5 (Print)

ISBN 978-3-8233-0316-9 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Thematische Einführung1.1 Problemstellung und Ziel der Arbeit1.2 Forschungsstand1.3 Methodisches Vorgehen2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur2.1 Zur Tradition der Rezeption philosophischen Gedankenguts in der griechischen Dichtung vor Epikur2.2 Epikureer in der Neuen Komödie2.2.1 Zur Rolle der (epikureischen) Philosophie bei Menander2.2.2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in den Komödienfragmenten bei Athenaios2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie2.3.1 Zur Rolle der Philosophie für die plautinische Figurenmodellierung2.3.2 Fazit und Ausblick auf Terenz2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie2.4.1 Epikureisch ‚gefärbtes‘ Gedankengut in den Tragödien des Ennius2.4.2 Epikureisch ‚gefärbtes‘ Gedankengut in den Tragödien des Pacuvius2.5 Fazit zur Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren in der vor- und frührömischen Dichtung3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung3.1 Die simulata tristitia versutaque des L. Calpurnius Piso im Werk Ciceros3.1.1 Piso als belua immanis in Post reditum in senatu3.1.2 Pisos enttarnte obstructio in Pro Sestio3.1.3 Piso als adulescens non acriter intellegens in In Pisonem3.1.4 Fazit zur Bedeutung des Epikureismus für das Gesamtbild des ciceronischen Piso3.2 Eruditio und Scheitern des L. Manlius Torquatus in De finibus bonorum et malorum3.2.1 Torquatus als homo omni doctrina eruditus in Buch I3.2.2 Torquatus und die dialecticae captiones in Buch II3.2.3 Die voluptas convicta in Buch III3.2.4 Vergleichendes Fazit zu Ciceros Umgang mit Piso und Torquatus3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz3.3.1 Odysseus als utile exemplar in Hor. epist. 1, 23.3.2 Das Prinzip des nil admirari in Hor. epist. 1, 63.3.3 Die multo corrupta dolore voluptas in Hor. sat. 1, 23.3.4 Ofellus und die voluptas summa in Hor. sat. 2, 23.3.5 Die gaudia vana und der demptus mentis gratissimus error im zweiten Epistel-Buch3.4 Der autorenspezifische Umgang mit der voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘3.4.1 Zur Gestaltung und Funktion von voluptas und virtus als kontrastive Begriffskonzepte und Handlungsprinzipien bei Silius Italicus3.4.2 Zur weiteren Motivtradition der ‚Scheidewegsszene‘ in der antiken Literatur3.4.3 Zwischenfazit über die literaturgeschichtliche Verwandlung von der Κακία zur Voluptas3.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit dem voluptas-Begriff in den behandelten Werken4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum4.1.1 Die übersteigerte fides des Velleius in Buch I4.1.2 Das Eingeständnis der rhetorischen Niederlage in Buch II und III4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz4.2.1 Epikureisch ‚gefärbte‘ Göttervorstellungen bei Horaz4.2.2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Todesszenarien bei Horaz4.2.3 Ergebnisse über die Gestaltung und Funktion theologischer und thanatologischer Aspekte im Werk des Horaz4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius4.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit epikureisch ‚gefärbten‘ Götter- und Todesvorstellungen im Kontext römischer FigurenmodellierungDas epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία im Kontext römischer Figurenmodellierung5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens in Vergils Bucolica und Georgica5.1.1 Die Kontrastierung von Tityrus und Meliboeus in der ersten Ekloge5.1.2 Der fortunatus (agricola) im zweiten und der Corycius senex im vierten Buch der Georgica5.1.3 Fazit zu den epikureisch ‚gefärbten‘ Figuren in Vergils Bucolica und GeorgicaDie Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des HorazLateinische Übertragungen des λάθε βιώσας in Hor. epist. 1, 17 und 1, 185.2.2 Die Kontrastierung von Stadt- und Landleben in Hor. sat. 2, 65.2.3 Die Relativierung des Stadt-Land-Kontrastes in Hor. epist. 1, 10 und 1, 145.2.4 Die fabella des Volteius Mena in Hor. epist. 1, 7Fazit über die differenzierende Ausdeutung des epikureischen λάθε βιώσας bei Horaz5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius5.3.1 Die villa Tiburtina des Manilius Vopiscus in silv. 1, 35.3.2 Die villa Surrentina des Pollius Felix in silv. 2, 25.3.3 Fazit über die Rezeption des epikureischen Lebensideals in den Silven des StatiusGesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit den epikureischen Lebensprinzipien λάθε βιώσας und ἀταραξία im Kontext römischer Figurenmodellierung6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata6.1 Allgemeine Darstellung und Beurteilung der Philosophen im Werk Lukians6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen6.2.1 Der Streit zwischen Hermon und Zenothemis im Symposium6.2.2 Das rhetorische Duell zwischen Damis und Timokles im Iuppiter tragoedus6.2.3 Epikur als advocatus voluptatis im Bis accusatus6.3 Fazit über die Inszenierung und Funktionalisierung epikureischer Figuren im Werk Lukians7 Auswertung der EinzelergebnisseLiteraturverzeichnisKritische TexteditionenKommentare und ÜbersetzungenWeitere ForschungsliteraturRegister

Meinen geliebten Eltern

Ὁ γενναῖος περὶ σοφίαν καὶ φιλίαν μάλιστα γίγνεται,ὧν τὸ μέν ἐστι θνητὸν ἀγαθόν, τὸ δέ ἀθάνατον.

(Epik. sent. Vat. 78)

Vorwort

Die vorliegende Monographie ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2020 an der Ludwig-Maximilians-Universität eingereicht wurde. Nachfolgende Forschungsliteratur wurde daher nicht mehr berücksichtigt. Das individuell gewählte Forschungsprojekt wurde im Herbst 2016 begonnen und profitierte nicht nur von eigenen Recherchen in Münchens reicher Bibliothekenlandschaft, sondern in erster Linie von wertvollen Anregungen in zahlreichen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, sei es im Rahmen von abteilungsinternen Forschungsseminaren, von nationalen und internationalen Kongressen oder auch von zufälligen Begegnungen im Flur oder Treppenhaus. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die früheren Philologus-Mitarbeiterinnen Prof. Dr. Lisa Cordes und Dr. Janja Soldo sowie meine ehemaligen (Büro-)Kollegen Dr. Tobias Uhle, Christoph Mayr und Dr. Johannes Singer. Von den externen Gelehrten, die mich in persönlichen Gesprächen immer wieder inspiriert haben, gilt mein Dank vor allem Prof. Dr. Yasmina Benferhat, die mich darüber hinaus großzügig mit Forschungsmaterial versorgt hat, sowie Prof. Dr. Michael Erler, Prof. Dr. Christian Tornau, Prof. Dr. Katharina Wesselmann, Prof. Dr. Thorsten Burkard und Prof. Dr. Gernot Michael Müller.

Mein größter Dank gebührt zweifellos meiner Doktormutter Prof. Dr. Claudia Wiener, die mich in meinem Promotionsvorhaben zu jeder Zeit fachlich und persönlich gefördert und mir auch in schwierigen Zeiten Mut zugesprochen hat. Schon während meines Studiums hat sie mich mit ihrem leidenschaftlichen Engagement für Lehre und Forschung begeistert und mein Interesse an Vergil und nachvergilischer Epik geweckt.

Prof. Dr. Therese Fuhrer möchte ich nicht nur für die Erstellung des Zweitgutachtens danken, sondern auch für die förderliche Zusammenarbeit während meiner einjährigen Zeit in der Redaktion des Philologus und für die mehrfache Gelegenheit, Teile meiner Arbeit vor Fachpublikum zu präsentieren und zu diskutieren.

Prof. Dr. Christof Schuler hat mich bereits im Rahmen des Promotionaprogramms Altertumswissenschaften (PAW) am Münchener Zentrum für Antike Welten (MZAW) mit regelmäßigen Anregungen begleitet und in meiner Disputatio dankenswerterweise die Rolle des Drittprüfers übernommen.

Das Promotionsprojekt hat nachhaltig davon profitiert, dass ich meine Ideen und Ergebnisse im Rahmen des genannten Programms am MZAW mit Vertreterinnen und Vertretern anderer altertumswissenschaftlicher Disziplinen diskutieren und vertiefen konnte. Dabei bin ich insbesondere Prof. Dr. Elke-Stein-Hölkeskamp und Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl, die im Jahr 2016/2017 bzw. 2018/2019 als Gastprofessorin bzw. Gastprofessor am MZAW fungierten, zu großem Dank verpflichtet.

Darüber hinaus möchte ich mich auch für die langjährige Beschäftigung als zunächst studentische und später wissenschaftliche Hilfskraft an der Münchener Zweigstelle der Année Philologique bedanken, da mir diese Tätigkeit einen direkten Zugang zu aktueller Fachliteratur in all ihren Teildisziplinen eröffnet und das breite Spektrum möglicher Forschungsschwerpunkte nahegebracht hat. Hierbei gilt mein Dank vor allem Prof. Dr. Martin Hose als Leiter der Münchener Arbeitsstelle, Dr. Christina Abenstein als wissenschaftlicher Mitarbeiterin und langjähriger Kollegin sowie dem unvergessenen Dr. Maximilian Braun, der mich zu Beginn meines Studiums für die bibliographische Arbeit bei der Année Philologique begeistern konnte.

Die Studienstiftung des deutschen Volkes e. V. hat mich während der Promotion finanziell und ideell sehr großzügig gefördert und mir bei der Abfassung meiner Dissertation einige Freiräume für Forschung und Austausch ermöglicht. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Für die Betreuung von Seiten des Verlags danke ich zudem Tillmann Bub und Arkin Keskin.

Schließlich gebührt mein tiefster Dank meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden, die mich während meiner gesamten Promotion und vor allem in der abschließenden Schreibphase unterstützt haben. Gewidmet sei das vorliegende Buch meinen Eltern, auf die ich immer zählen kann und denen ich alles zu verdanken habe.

 

München, im April 2023    Alexander Sigl

1Thematische Einführung

1.1Problemstellung und Ziel der Arbeit

Sind Vertreter des Epikureismus als eine delicata et umbratica turba in convivio suo philosophantium (Sen. benef. 4, 2Sen. benef. 4, 2) oder vielmehr als terroribus ab Epicuro soluti et in libertatem vindicati (Cic. nat. deor. 1, 56Cic.nat. deor. 1, 56) anzusehen? Bis heute hält sich das gegensätzliche Bild, das die römischen Schriftsteller zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und der christlich-konstantinischen Ära von der hellenistischen Schule des Kepos1 entworfen haben. Auch wenn der römischen Epikur-Rezeption in der Forschung großes Interesse entgegengebracht wird, scheinen längst noch nicht alle relevanten Autoren auf epikureisches Gedankengut und dessen kontextuelle Funktionalisierung im jeweiligen Fall eingehend untersucht worden zu sein.

Die vorliegende Arbeit hat daher zum Ziel, nicht nur die bekannten philosophischen Schriftsteller von der ausgehenden römischen Republik bis zum Ende der frühen Kaiserzeit in den Blick zu nehmen, sondern sich auch mit den mutmaßlichen Anfängen der Epikur-Rezeption im römischen Drama auseinanderzusetzen; insgesamt liegt der Schwerpunkt jedoch auf der spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Dichtung. Die Fokussierung der römischen Dichtung in den genannten Epochen erfolgt vor allem aus vier Gründen: Erstens bildet die Dichtung in der Frühzeit der römischen Literatur den Hauptbestand der erhaltenen Texte und hat somit einen hohen Stellenwert bei der ersten Rezeption philosophischen Gedankenguts in der römischen Literatur. Zweitens ist auch das bedeutendste Werk, das den Epikureismus in lateinischer Sprache thematisiert, die sechs Bücher De rerum natura von Lukrez, als (Lehr-)Dichtung abgefasst. Drittens sind – mit Ausnahme von Vergil und Horaz – Texte der römischen Dichtung bisher nur am Rande bzw. vereinzelt auf ihre philosophische Dimension untersucht worden.2 Viertens legen gerade die zahlreichen Studien zum philosophischen Gehalt von Vergil- und Horaz-Texten nahe, dass in diesem Zeitraum und auch im folgenden Jahrhundert, in dem beide Dichter einen unübersehbar großen Einfluss auf die römische Dichtung hatten, entsprechende Untersuchungen durchaus erfolgsversprechend sein dürften.

Für die Zusammenstellung eines geeigneten Textcorpus war jeweils die in den Texten feststellbare oder bereits nachgewiesene, zum Teil auch die – insbesondere auf der Basis philologischer Kommentare – zu erwartende philosophische Dimension von Figurencharakterisierungen und -äußerungen ein entscheidendes Kriterium. Frequenz und Ausmaß der Einbeziehung epikureischer Inhalte in der Modellierung entsprechender Figuren waren anschließend für die Auswahl der Texte entscheidend. Zum zentralen Corpus dieser Studie zählen daher neben den bereits genannten Texten bzw. Autoren einzelne Werke und Textpassagen aus der griechischen (Menander, Damoxenos, Baton, Antiphanes, Hegesipp) und römischen Komödie (Plautus, Terenz) sowie aus der römischen Tragödie (Ennius, Pacivius), Ciceros Reden Post reditum in senatu, Pro Sestio und In Pisonem und seine philosophischen Dialoge De finibus bonorum et malorum und De natura deorum sowie ausgewählte Texte von Silius Italicus und Statius, die bezüglich ihrer autorenspezifischen Verarbeitung von epikureischem Gedankengut analysiert werden: Was wirkt in den Werken dieser Autoren epikureisch und auf welche Weise tut es das? Wird dabei der Kepos-Eindruck verstärkt? Oder kommt es stattdessen zu einer innovativen Neukontextualisierung von Lehrinhalten und Denkmodellen, die typischerweise den Anhängern Epikurs zugeschrieben werden? Welche Funktion erfüllt die Rezeption epikureischen Gedankenguts und im Speziellen die prosopographische Darstellung literarischer Figuren, die mit einem color Epicureus3 versehen sind, für das jeweilige Werk?

Anhand der gestellten Leitfragen sollen also Erklärungen für das kontrastreiche Darstellungsbild der Epikureer4 gefunden werden, wie es sich beispielsweise auch aus der Gegenüberstellung von Ciceros Velleius aus dem ersten Buch von De natura deorum, einer überwiegend unsympathisch wirkenden Epikureerfigur,5 und dem Selbstbild der horazischen Sprecher-persona ergibt, welche sich bekanntermaßen als Epicuri de grege porcu[s] (Hor. epist. 1, 4, 16Hor.epist. 1, 4, 16) bezeichnet, ohne sich jedoch selbst als einen orthodox-dogmatischen Vertreter dieser philosophischen Schule zu beschreiben.6 Während Cicero mit Velleius einen geradezu aggressiv wirkenden Dialogteilnehmer darstellt, der sich der epikureischen Lehre völlig verschrieben hat und sich energisch für deren Anerkennung und Übernahme durch andere einsetzt, indem er die Ansichten der anderen Schulen zu widerlegen versucht, stößt man bei Horaz (u. a. in den Saturae) auf einen ‚spielerischen‘ und gleichsam ‚irenischen‘ Umgang mit Kepos und Stoa, der eine strikte Zuordnung des Dichters zu einer dieser beiden miteinander vielfach konkurrierenden Denkschulen nicht zulässt.

Vielmehr erkennt man gerade am Beispiel des Horaz, wie in der römischen Dichtung Orthodoxie und Dogmatismus immer mehr der Bedeutung von Philosophie als ars vitae, also als Lebenshilfe in den unruhigen Zeiten des Bürgerkrieges und in der römischen Kaiserzeit, weichen. Neben der Frage, wie es zu einem so facettenreichen Epikureer-Bild kommt und welche Motive der jeweilige Autor dabei verfolgt, müssen folglich auch politisch und zeitgeschichtlich bedingte Veränderungen in der römischen (Bildungs-)Gesellschaft berücksichtigt werden, die für den literarischen Umgang mit epikureischem Gedankengut eine erhebliche Rolle spielen können.7

Mit dem Beispiel von Cicero und Horaz ist eine Diskrepanz im Umgang mit der epikureischen Lehre und ihren Vertretern bereits angedeutet, die in dieser Arbeit für einen Zeitraum in den Blick genommen wird, der sich insgesamt vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. erstreckt und damit die Blütezeit des römischen Epikureismus abdeckt.8 Gerade der Beginn des römischen Epikureismus ist durchaus problematisch zu sehen, da historische Erkenntnisse über die ersten epikureischen Philosophen in Rom relativ vage sind und noch keine zuverlässigen Rückschlüsse auf erste Spuren epikureischen Gedankenguts in der römischen Literatur zulassen:9 Cicero nennt zwar C. Amafinius als Archegeten des römischen Epikureismus,10 doch im Allgemeinen gilt T. Albucius, der als Redner in Rom am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. wirkte, als erster bekannter Epikureer im Imperium Romanum.11 Obwohl die Epikureer an der berühmten griechischen Philosophengesandtschaft nach Rom 155 v. Chr. nicht beteiligt waren, gibt es bereits Hinweise auf die Vertreibung der Epikureer Alkios und Philiskos aus Rom, die sich wohl einige Jahre zuvor zugetragen haben soll.12 Jedenfalls bleiben die tatsächlichen Anfänge des römischen Epikureismus weiterhin im Dunkeln. Mögliche Spuren epikureischen Gedankenguts in der frühesten römischen Literatur scheinen daher nicht kategorisch ausgeschlossen.13

Neben dieser zeitlichen Problematik stellt sich auch die Frage nach einer Konkretisierung des Untersuchungsgegenstands, der bislang recht allgemein als Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Literatur bezeichnet wurde. Im Unterschied zu einem rein philosophiegeschichtlichen Interesse an epikureischen Inhalten soll hier der Schwerpunkt nicht nur auf der Identifizierung und Analyse epikureischen Gedankenguts in der römischen Literatur liegen, sondern vor allem auch auf der Figurenmodellierung, genauer gesagt auf der Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ personae in einem ausgewählten Corpus, das hauptsächlich Texte der römischen Dichtung enthält.

Der Begriff persona, der das lateinische Pendant zum griechischen Begriff πρόσωπον bildet, entstammt der antiken Theatersprache („Schauspielmaske“; „Rolle“) und hat durch den Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung (1875–1961) sogar Eingang in die moderene Tiefenpsychologie gefunden.14 Von maßgeblicher Bedeutung für das antike Verständnis dieses Ausdrucks ist Ciceros (stoisch geprägte) personae-Theorie, die er Buch I von De officiis im Rahmen seiner Ausführungen über die temperantia bzw. modestia präsentiert, für die das decorum eine große Bedeutung hat.15 Dort werden vier Arten von personae unterschieden:16 die allen Menschen gemeinsame und durch die menschliche ratio bestimmte persona, die von der individuellen Natur des Menschen geprägte persona (Cic. off. 1, 107–114), die durch casus und tempus bedingte persona sowie die selbst zugewiesene und damit durch die eigene voluntas bestimmte persona (Cic. off. 1, 115–121). Es ist naheliegend, dass für die hier im Zentrum stehende philosophische Dimension von literarischen Figuren insbesondere die beiden letztgenannten persona-Konzepte im Fokus stehen, doch auch die übrigen personae kommen je nach Text und Autor bei der Modellierung literarischer Figuren in unterschiedlicher Weise zur Geltung. In diesem Forschungsprojekt wird der persona-Begriff jedenfalls auf Figuren in der lateinischen Literatur angewandt, die vom jeweiligen Autor namentlich genannt bzw. eingeführt und/oder näher charakterisiert werden und für das jeweilige Werk eine bedeutende Funktion haben. Dabei kann auch ein namentlich nicht näher bekannter Ich-Sprecher als persona fungieren.Cic.off. 1, 107–121

Damit soll nicht nur ein Beitrag dazu geleistet werden, Ansehen und Wirkungsgeschichte des Kepos in Rom zu rekonstruieren. Insbesondere wird mit der Figurenmodellierung eine literarische Gestaltungsstrategie untersucht, mit der epikureische (Stereo-)Typen17 etabliert und eingesetzt werden, um bestimmte Bewertungsmuster zu bestärken oder auch zu kritisieren. Nicht zuletzt geht es also um die Frage, wie die römischen Dichter in besagtem Zeitraum jeweils die epikureische Lehre wahrgenommen und in ihr Werk integriert haben.

Die Leitziele, die mit dieser Studie verfolgt werden, lassen sich also wie folgt zusammenfassen:

Ermittlung literarischer Figuren mit epikureischer ‚Färbung‘ in der spätrepublikanischen und vor allem frühkaiserzeitlichen Literatur mit Schwerpunkt auf den poetischen Texten;

inhaltliche und sprachliche Analyse der einzelnen Textpassagen zur kontextuellen Anbindung an die weitgehend orthodoxe Lehre des (griechischen) Epikureismus;

Analyse der funktionalen Einbettung der einzelnen Protagonisten bzw. der entsprechenden Textpassagen im jeweiligen Gesamtwerk;

Ermittlung von Kontinuitäten und Brüchen im literarischen Epikureer-Typus.

Um sich diesen Leitzielen systematisch anzunähern, sollen in den ausgewählten Werken zentrale Philosopheme untersucht werden, die mit der epikureischen Lehre in Abgrenzung zu anderen griechischen Philosophieschulen assoziiert und in Rom rezipiert und weiterentwickelt werden. Mit diesen distinktiven Merkmalen des Epikureismus können Kontrastierungen innerhalb der römischen Epikureer-Darstellung, aber auch in Abgrenzung zu Stoa und Akademie verdeutlicht werden. Im Vergleich von Autoren und den von ihnen vertretenen literarischen Gattungen können zudem über intertextuelle Beziehungen Entwicklungslinien im Einsatz dieser Gestaltungsstrategien erkennbar werden.

1.2Forschungsstand

Insgesamt betrachtet hat die internationale Epikureismus-Forschung die römische Kaiserzeit in den letzten Jahren deutlich verstärkt in den Blick genommen. Dies ist im deutschen Raum vor allem zahlreichen Publikationen von Michael Erler zum Epikureismus im kaiserzeitlichen Rom zu verdanken, aber auch neueren Dissertationsprojekten wie etwa Susanne Gatzemeiers Studie Ut ait Lucretius. Die Lukrezrezeption in der lateinischen Prosa bis Laktanz (2013). Die vorliegende Arbeit möchte dagegen den Blick gerade auch auf Autoren – vor allem auf Dichter der römischen Kaiserzeit – lenken, die in diesem Zusammenhang – mit Ausnahme von Vergil und Horaz – bislang weniger beachtet worden sind.

Seit der Jahrtausendwende hat das Forschungsinteresse für den römischen Epikureismus deutlich zugenommen, wie zahlreiche Arbeiten über historisch nachweisbare Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Politik und Literatur belegen:1 Dieter Timpe hat in seinem Aufsatz über den römischen Epikureismus der Kaiserzeit, der im von Michael Erler herausgegebenen Sammelband Epikureismus in der späten Republik und der Kaiserzeit (2000) erschienen ist,2 zum einen den schulinternen Entwicklungen des Kepos mit seiner soteriologischen Grundausrichtung und zum anderen den politischen und sozialen Rahmenbedingungen im spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom als Voraussetzungen für eine Verbreitung und Etablierung des Epikureismus in der römischen Gesellschaft und Literatur Rechnung getragen. Dabei erweist sich gerade die epikureische Ethik in großen Teilen als salonfähige Lebenspraxis im kaiserzeitlichen Rom.

Unter dem Dachthema von römischen Wertbegriffen in der römischen Literatur (O tempora, o mores!Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, 2003) hat auch Andreas Haltenhoff die sozialen Entstehungsbedingungen und die historischen Anfänge des römischen Epikureismus untersucht. Im Mittelpunkt seiner Studie steht der Einfluss des lukrezischen Lehrgedichts auf die soziale Etablierung der Kepos-Lehre in Rom und damit auch die Frage nach der Kompatibilität des epikureischen Weltbilds mit dem römischen mos maiorum. Diese Problematik löst Haltenhoff, indem er „eine gewisse Wandlungsfähigkeit des römischen Traditionsbewusstseins“ zu bedenken gibt und in Orientierung an Erlers Erkenntnissen insbesondere „eine[r] Anpassung der epikureischen Doktrin an ihren kulturellen Kontext“ hervorhebt.3

Eine Neubetrachtung des römischen Epikureismus leisten David Sedley (römische Republik) und Michael Erler (römische Kaiserzeit) im 2009 publizierten Cambridge companion to Epicureanism: Sedley betont darin die Bedeutung Philodems als Wegbereiter des römischen Epikureismus und daneben auch die Leistung des Lukrez, der die epikureische Lehre in poetischem Gewand für die römische Welt systematisch darstellt;4 Erler zeichnet die vielschichtigen Gründe für die zunehmend polemische Behandlung epikureischer Lehrinhalte in der Literatur der Kaiserzeit nach, ohne die ‚wohlwollende‘ Rezeption bei Lukian oder Diogenes von Oinoanda außer Acht zu lassen.5

In seinem Beitrag, der zusammen mit Jürgen Malitz’ Aufsatz über römische Epikureer im 1. Jahrhundert v. Chr. im Sammelband Athen, Rom, Jerusalem (2012) erschienen ist, knüpft Erler sowohl an Timpes als auch an Haltenhoffs Fragestellungen an. Ausgehend von Philodems De bono rege stellt er vor allem die ethische Allegorese6 traditionsreicher Figuren aus Mythos und Literatur, die Erler als „epikureische προκόπτοντες“7 bezeichnet, als wichtigen Bestandteil einer Konvergenzstrategie des römischen Epikureismus heraus. Der angesprochene Beitrag von Malitz richtet den Fokus dagegen erneut auf die schwierigen Rahmenbedingungen für den römischen Epikureismus im politischen Spannungsfeld der späten Republik.

Neben dieser Vielzahl an hilfreichen Arbeiten zur Ausbreitung des Epikureismus in Rom und seiner weiteren Entwicklung in Kaiserzeit und Spätantike ist auch eine Zunahme an Studien zur Prosopographie römischer Epikureer festzustellen:8 Catherine Castner (Prosopography of Roman Epicureans between the second century B.C. and the second century A.D., 21991) versucht durch eine Zusammenstellung der jeweils wichtigsten literarischen Belege zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. bekannte römische Persönlichkeiten, die immer wieder mit dem Epikureismus assoziiert werden, in verschiedene Kategorien (Epicurei certi – Epicurei incerti – Epicurei dubii) einzuordnen. Dagegen verfolgt Mark Morfords Arbeit The Roman philosophers. From the time of Cato the Censor to the death of Marcus Aurelius (2002) über die römischen Philosophen von Cato dem Älteren bis Marc Aurel einen literarhistorischen Ansatz, der von der Ausbildung der philosophia togata bzw. der Integration griechischer Philosophie in Rom über die Blütezeit des Epikureismus (bei Lukrez und in der augusteischen Dichtung) bis zur Dominanz der stoischen Philosophie im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. reicht.9 Die Dissertation Cives Epicurei.Les épicuriens et l’idée de monarchie à Rome et en Italie de Sylla à Octave (2005) von Yasmina Benferhat konzentriert sich in einem enger gesteckten Zeitrahmen auf die prosopographische Darstellung der cives Epicurei im Zentrum der politischen Macht bis zu Caesars Ermordung. Damit verbindet sie das (vor allem durch Cicero geprägte) literarische Bild ausgewählter Epikureer (v. a. Atticus, Piso und das politische Umfeld Caesars) mit den politischen Umwälzungen des 1. Jahrhunderts v. Chr. Ein ähnlicher Forschungsansatz wird in Pierre Vesperinis Studie La philosophia et ses pratiques d’Ennius à Cicéron (2012) über die prosopographische Darstellung von griechischen und römischen Philosophen (v. a. Pythagoras, Epikur, Panaitios, Albucius, Piso, Philodem, Cassius) in der Literatur von Ennius bis Cicero erkennbar.

Der Verbindung von philosophischem Gedankengut und römischer Dichtung, die auch im Mittelpunkt der vorliegenden Dissertation steht, haben sich in den letzten Jahren unter anderem Diskin Clay, Régine Chambert, Gregson Davis, Walter Johnson und David Armstrong in ihren Beiträgen zu dem Sammelband Vergil, Philodemus, and the Augustans (2004) gewidmet.10 Hinzu kommen die noch jüngeren Studien in den Sammelbänden The philosophizing muse (2014) von Myrto Garani und David Konstan bzw. Philosophie in Rom – römische Philosophie? (2018) von Gernot Michael Müller und Fosca Mariani Zini: Für den Einfluss des Epikureismus auf das Werk römischer Dichter sind davon insbesondere die Beiträge von Joseph Farrell (2014) zu Vergil und David Armstrong (2014) und Sergio Yona (2018) zu den horazischen Satiren bzw. von Gernot Michael Müller (2018) zu den horazischen Episteln11 und Michael Erler (2018) zum Verhältnis von Philosophie und Rhetorik bei Lukrez zu nennen. Diese kleine, aber doch repräsentative Auswahl an Forschungsliteratur zur epikureischen Philosophie in der römischen Dichtung macht deutlich, dass der Fokus der Forschung in dieser Hinsicht weiterhin vor allem auf Philodem, Lukrez, Vergil und Horaz liegt.

Der letzte Aspekt in diesem knappen Überblick über Forschungstendenzen bildet die (Einzel-)Analyse epikureischer Philosopheme bzw. Leitbegriffe, die ebenfalls in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt untersucht wurden.12 So ist die epikureische Göttervorstellung zuletzt vor allem im Sammelband Epicurus and the Epicurean tradition (2011) von Jeffrey Fish und Kirk Sanders mehrfach thematisiert und wirft erneut den Konflikt zwischen der ‚idealistischen‘ (David Sedley) und ‚realistischen‘ Theorie (David Konstan) auf:13 Dieser Konflikt geht auf die unterschiedliche Auslegung der epikureischen πρόληψις zurück, die entweder eine Vorstellung von den Göttern als idealisierten und imaginären oder vielmehr als real existierenden Wesen beinhaltet.14 Die Anwendung des epikureischen λάθε-βιώσας-Konzepts auf die römische Dichtung hat insbesondere Geert Roskams Monographie ‚Live unnoticed‘ (Λάθε βιώσας). On the vicissitudes of an Epicurean doctrine (2007) mit je einem Kapitel über Lukrez und Philodem sowie einem Appendix zu Vergil, Horaz und Ovid überprüft. Bei der Untersuchung relevanter Textstellen in der augusteischen Dichtung kommt Roskam zu dem Ergebnis, dass in weniger Fällen als bisher vermutet tatsächlich das epikureische Verständnis des λάθε βιώσας als philosophischer Hintergrund nachzuweisen ist.

Die größte Aufmerksamkeit hat zuletzt allerdings der ‚Lust‘-Begriff des Kepos erfahren: Boris Nikolsky hat sich in seinem Aufsatz Epicurus on pleasure von 2001 mit der Problematik auseinandergesetzt, die die Differenzierung von katastematischer und kinetischer Lust mit sich bringt, und dabei die Authentizität dieser Differenzierung zumindest infrage gestellt. Daraufhin hat zunächst Julia Annas (Epicurus on pleasure and happiness, 2003) unter Einbeziehung des Zusammenhangs zwischen virtus und voluptas in der epikureischen Ethik nachzuweisen versucht, dass Epikur zu Unrecht im Ruf eines rigorosen Hedonisten steht.15 Raphael Woolf (What kind of hedonist was Epicurus?, 2004) hat in diesem Zusammenhang eine psychologische Deutung des epikureischen Hedonismus vorgeschlagen. Katharina Held hat in ihrer Dissertation Hēdonē und Ataraxia bei Epikur (2007) die klassischen Textzeugnisse für eine möglichst vollständige und präzise Definition der epikureischen Leitprinzipien ἡδονή und ἀταραξία zusammengetragen und ausgewertet. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat sich insbesondere in den Sammelbänden von Erler und Rother (Philosophie der Lust, 2012) bzw. von Harris (Pain and pleasure in classical times, 2018) eine Vielzahl an Referentinnen und Referenten zu verschiedenen Aspekten des antiken Hedonismus und seiner Entwicklung in Mittelalter und Neuzeit geäußert.16

1.3Methodisches Vorgehen

Nach diesem Überblick zu ausgewählten Aspekten der neueren Epikur-Forschung gilt es im Folgenden, näher auf das methodische Vorgehen, auf die daraus abgeleitete Auswahl und Strukturierung des umfangreichen Textcorpus und auf die literarischen Werke und Textgattungen zu sprechen zu kommen, die für diese Untersuchung von Belang sind. Ein erstes Ziel ist es, eine systematische Ordnung für die Untersuchung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren nach bestimmten Philosophemen zu finden, die üblicherweise mit der epikureischen Ethik assoziiert werden. Die Ordnungskriterien sollen nicht anachronistisch wirken und daher aus zwei frühen, aber einflussreichen Textzeugnissen der epikureischen Lehre in Rom abgeleitet werden: Hierbei handelt es sich zum einen um die berühmte Kineas-Episode, die bei Plutarch, Cicero und Valerius Maximus überliefert ist und als literarischer Nachweis für den ersten Kontakt zwischen Römern und der epikureischen Lehre gilt,1 zum anderen um die von Epikur begründete und bei Philodem und Diogenes Laertios überlieferte τετραφάρμακος-Lehre.2

Den thematischen Rahmen der Kineas-Anekdote bildet ein Bankett bei Pyrrhos, dem König der Molosser, das im Jahr 280 v. Chr. nach der römischen Niederlage in der Schlacht bei Heraclea in Anwesenheit des römischen Gesandten C. Fabricius Luscinus stattgefunden haben soll.3 Dabei berichtet Kineas, der Berater des Pyrrhos, bei einem Gespräch über griechische Philosophen von den wesentlichen Lehrinhalten in der epikureischen Schule:

[…] ἐνδὲτῷδείπνῳλόγωνπαντοδαπῶνγενομένων, πλείστωνδὲπερὶτῆςἙλλάδοςκαὶτῶνφιλοσοφούντων, ἔτυχέπωςὁΚινέαςἐπιμνησθεὶςτοῦἘπικούρου, καὶδιῆλθενἃλέγουσιπερὶθεῶνκαὶπολιτείαςκαὶτέλους, τὸμὲνἐνἡδονῇτιθέμενοι, πολιτείανδὲφεύγοντεςὡςβλάβηνκαὶσύγχυσιντοῦμακαρίου, τὸδὲθεῖονἀπωτάτωχάριτοςκαὶὀργῆςκαὶτοῦμέλεινἡμῶνεἰςἀπράγμοναβίονκαὶμεστὸνεὐπαθειῶνἀποικίζοντες.

(Plut. Pyrrhus 20, 6)

 

Beim Abendessen, als Gespräche aller Art geführt wurden, am meisten aber über Griechenland und die Philosophen, erinnerte Kineas irgendwie zufällig an Epikur und ging durch, was sie über Götter, Staat und höchstes Gut sagen: Letzteres setzen sie in die Lust, meiden aber den Staat, weil er für den glücklichen Menschen Schaden und Verderben bringe, das Göttliche aber entfernen sie am weitesten weg von Gunst und Zorn und der Fürsorge für uns in ein Leben, das frei von Tätigkeit und voller Annehmlichkeiten ist.4

Bei seiner Präsentation der epikureischen Lehre konzentriert sich Kineas in Plutarchs Darstellung also auf drei Bereiche: Theologie, Politik (Engagement) und Ethik (höchstes Gut).5 Während die Epikureer das Göttliche frei von jeglicher Emotion und von jeglichem Interesse für menschliche Belange sehen und ihnen stattdessen ein zurückgezogenes Leben ohne Verantwortung für andere zuweisen, entscheiden sie sich auch selbst gegen jede Beteiligung an der Politik, da sie den Menschen unglücklich mache (indem sie ihm die Ruhe raubt). Als ethisches Leitziel für eine glückliche Lebensführung rufen sie schließlich die ἡδονή aus.Plut. Pyrrhus20, 6

Diese zentralen Lebensmaximen, die Kineas den Epikureern zuschreibt, lassen sich auch im ‚Katalog‘ der sogenannten τετραφάρμακος wiederfinden, der als wichtigstes Dokument der epikureischen Ethik gilt. Darunter versteht man die ersten vier Lehrsätze von Epikurs κύριαι δόξαι,6 die auch Diogenes Laertios in seinen Philosophenviten überliefert:7

Die τετραφάρμακος fasst die zentralen Aspekte der epikureischen Ethik zusammen, die in der römischen Rezeption Bestand hatten. Philodems Vermittlung zeigt, dass sie für römische Anhänger des Epikureismus ebenfalls von fundamentaler Bedeutung in ihrer philosophischen Bildung waren.8 Im ersten der oben zitierten Lehrsprüche wird die Idealvorstellung der vollkommenen ἀταραξία veranschaulicht, wie sie der epikureische Weise oder, wie in diesem Fall, die fern von den Menschen lebenden Götter (τὸ μακάριον καὶ ἄφθαρτον) im Rahmen des μακαρίως ζῆν verkörpern. Diese ἀταραξία erfolgt zum einen wechselseitig (οὔτε αὐτὸ πράγματα ἔχει οὔτε ἄλλῳ παρέχει) und zeigt sich zum anderen immun gegen jegliche denkbaren Affekte (οὔτε ὀργαῖς οὔτε χάρισι). Die zweite Sentenz erhebt in diesem Zusammenhang den Anspruch der vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, da sich Körper und Seele nach dem Leben auflösten und keinerlei Empfindungen mehr zuließen. Während im dritten Merksatz das summum bonum bzw. die μεγίστη ἡδονή als Aufhebung von allem Schmerzenden definiert wird, sodass die Begriffe τὸ ἡδόμενον und τὸ ἀλγοῦν ἢ λυπούμενον ἢ τὸ συναμφότερον kontradiktorische Gegensätze bilden, lehrt der vierte Punkt den vorübergehenden, kurzfristigen Bestand des Schmerzes als summum malum.Epik.sent. rat. 1–4

Im Wesentlichen lässt sich die τετραφάρμακος in abgewandelter Form auch in Epikurs Brief an Menoikeus entdecken, wenn das Ideal des epikureischen Weisen beschrieben wird:9

Ἐπεὶ τίνα νομίζεις εἶναι κρείττονα[I]τοῦ καὶ περὶ θεῶν ὅσια δοξάζοντος[II]καὶ περὶ θανάτου διὰ παντὸς ἀφόβως ἔχοντος καὶ τὸ τῆς φύσεως ἐπιλελογισμένου τέλος[III]καὶ τὸ μὲν τῶν ἀγαθῶν πέρας ὡς ἔστιν εὐσυμπλήρωτόν τε καὶ εὐπόριστον διαλαμβάνοντος,[IV]τὸ δὲ τῶν κακῶν ὡς ἢ χρόνους ἢ πόνους ἔχει βραχεῖς […];

(Epik. Men. 133)

 

Denn wer, glaubst du, ist stärker als derjenige, [I] der über die Götter ehrfürchtige Vermutungen hegt, [II] sich im Hinblick auf den Tod ganz und gar furchtlos verhält und das Ziel unserer Veranlagung durchdacht hat und [III] klar erfasst, dass das Höchstmaß der Güter leicht zu erfüllen und leicht zu beschaffen ist, [IV] das Höchstmaß der Übel aber nur kurze Phasen oder Qualen hat?Epik. Men. 133

(Übersetzung nach Hans-Wolfgang Krautz, mit leichten Änderungen)

Beim Vergleich mit den ersten vier Lehrsätzen der κύριαι δόξαι fällt auf, dass sich in der rhetorischen Frage Epikurs nahezu dieselben Aspekte wie in der τετραφάρμακος finden und dies zudem in der gleichen Abfolge: der rechte Glaube an die Götter, die in Epik. sent. rat. 1 als τὸ μακάριον καὶ ἄφθαρτον bezeichnet werden; die völlige Angstfreiheit gegenüber dem Tod; die Vorstellung vom summum bonum; die Einsicht über das flüchtige summum malum.

Nuancen ergeben sich dabei am ehesten für das erste und das dritte Philosophem: Die allgemeinere und kürzere Formulierung über das Wesen der Götter im Brief an Menoikeus lässt einen größeren Spielraum für die Deutung der epikureischen Göttervorstellung zu (z. B. die Ansicht, dass sich die Götter ganz im Sinn ihrer ἀταραξία mitnichten um menschliche Belange kümmern); das dritte Merkmal des epikureischen Weisen, das im Brief an Menoikeus beschrieben wird, umfasst im Vergleich mit Epik. sent. rat. 3 einen zusätzlichen Aspekt: die Einsicht, dass das höchste Gut auf einfache Weise erreicht werden kann. Diese Differenzierungsmöglichkeiten führen allerdings zu keinem Widerspruch zwischen den beiden herangezogenen Textzeugnissen, sondern lassen lediglich Rückschlüsse auf einen unterschiedlichen Abstraktionsgrad bzw. einen variierenden Fokus bei der Formulierung von Epikurs ethischer Doktrin zu.10

Auch der für den römischen Epikureimus einflussreiche Philosoph Philodem von Gadara vermittelt die Lehrsprüche der τετραφάρμακος, wenn auch wiederum in leicht abgewandelter und stark verkürzter Form.11 Damit erscheint es umso mehr gerechtfertigt, in Orientierung an dieser Zusammenstellung der Hauptpunkte epikureischer Lehre die Untersuchungsparameter auszuwählen, die der systematischen Erfassung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren im bereits angesprochenen Zeit- und Gattungsspektrum dienen. Da sich die epikureische ‚Lust‘ (griech. ἡδονή; lat. voluptas) vor allem auch ex negativo als Abwesenheit von ‚Schmerz‘ (griech. τὸ ἀλγοῦν; lat. dolor) definiert und eine separate Thematisierung der beiden Begriffskonzepte nicht nur kaum möglich wäre, sondern überdies der epikureischen Lehre nicht gerecht würde,12 werden die beiden komplementären Begriffskonzepte zu einem Untersuchungsparameter zusammengefasst und in Kapitel 3 gemeinsam behandelt. Somit ergibt sich bei der Zusammenstellung der Untersuchungskriterien folgende Einteilung:

der Umgang mit der Lehre von der voluptas als erstrebenswertem summum bonum (Kap. 3);

die Umsetzung einer angstfreien Götter- und Todesvorstellung (Kap. 4);

die Realisierung des ἀταραξία-Ideals in einem zurückgezogenen Lebensstil (Kap. 5).

Je nach Autor und Textpassage werden Schwerpunkte gesetzt, die für den Kontext bzw. die übergeordnete Intention des jeweiligen Werkes nutzbar gemacht werden, auch wenn eine trennscharfe thematische Zuordnung natürlich nicht möglich ist. Überhaupt steht die funktionale Einbettung der Textstellen, die in dieser Arbeit herangezogen werden, im Mittelpunkt, um eine oberflächliche und isolierte Präsentation rezipierten Epikur-Gedankenguts zu vermeiden.13

So lassen sich beispielsweise Rückschlüsse auf einen stark divergierenden Umgang mit dem epikureischen voluptas-Konzept aus Ciceros Piso-Invektiven (Kap. 3.1.), dem Auftritt des Torquatus in De finibus bonorum et malorum (Kap. 3.2.), der Verwendung des Begriffs im horazischen Briefcorpus (Kap. 3.3.), der Personifizierung zur göttlichen Allegorie im Kriegsepos des Silius Italicus (Kap. 3.4.) und in den Silven des Statius (Kap. 3.4.3.; Kap. 5.3.) ziehen: Während Cicero den Konsul seines Verbannungsjahres, L. Calpurnius Piso, als beluus immanis Epicureus mit einer simulata tristitia darstellt, der zur Legitimierung seines unmoralischen Lebenswandels als Privatmann und Politiker die epikureische voluptas-Lehre missversteht und für seine eigenen Zwecke missbraucht, bemüht sich der ciceronische Torquatus um eine sachliche und argumentative Auseinandersetzung mit dem summum bonum, das er nicht erfolgreich zugunsten der epikureischen Position zu verteidigen versteht, weil die Definition der voluptas angreifbar bleibt und Cicero seine rhetorische Überlegenheit im Dialog inszeniert.

Dagegen greift Horaz auf den philosophischen voluptas-Begriff im ersten Epistel-Buch zurück, um das epikureische Lustkalkül zu empfehlen. Dazu führt die Sprecher-persona in epist. 1, 2 und 1, 6 jeweils eine ethische Allegorese durch: Es ist jeweils der homerische Odysseus, der etwa bei gefährlichen Verführungen wie dem Gesang der Sirenen oder den Zaubergetränken der Kirke rational kalkulierend agiert und mit diesem Lustkalkül zur idealen Verkörperung von virtus et sapientia werden kann. In den Satiren – dargestellt an sat. 1, 2 und sat. 2, 2 – löst sich der voluptas-Terminus mitunter ein wenig aus seinem epikureischen Gewand, da der Fokus dort nicht zuletzt auf der Sozialkritik liegt, wenn moralisch nur schwer vertretbare Gesellschaftsphänomene angeprangert werden. Eine geradezu poetologische Dimension hingegen haftet der Thematisierung der voluptas in den ersten beiden Briefen des zweiten Epistel-Buchs an.

Im Gegensatz dazu tritt die Voluptas im Epos des Silius Italicus als weibliche Allegorie im Rahmen der Lebenswahl antiker Helden in Erscheinung: Die Personifizierung des mit altrömischen Werten unvereinbaren Lebensweges, die einen berühmten Helden der römischen Geschiche wie Scipio Africanus natürlich ebenso wenig vereinnahmen kann wie den Herakles des Xenophon bzw. des Prodikos, steht in der langen Tradition eines Erzählmotivs, das bis zu Hesiod zurückzuverfolgen ist.

Im enkomiastischen Gedicht auf Manilius Vopiscus und seine villa Tiburtina (silv. 1, 3) setzt Statius schließlich die Voluptas zusammen mit Venus als göttliche Instanz und Schutzherrin eines architektonisch bemerkenswerten Gebäudes ein, das sowohl einen philosophischen Idealort der fecunda quies darstellt, auf den sogar Epikur selbst erpicht wäre, als auch ein optimales Umfeld für literarische Betätigung im Sinn der docta otia bietet. Ähnlich lässt Statius auch in silv. 2, 2 (Pollius Felix, seine Gattin und die villa Surrentina) die voluptas als omnipräsenten Effekt mehrfach erscheinen, der nicht nur die Villenbesitzer, sondern auch die Besucher des Anwesens erfasst.

Ein nicht minder distinktives Merkmal der epikureischen Lehre stellt das Ideal einer von Angst befreiten Götter- und Todesauffassung dar: Gemeint ist damit die Vorstellung, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist und ohne Todesangst und unabhängig von den Göttern handelt, die zwar existieren, aber in sogenannten Intermundien14 leben und sich nicht um das Schicksal der Sterblichen kümmern.15 Für die Rezeption dieses epikureische Philosophems wird zunächst die Darstellung des Velleius in Ciceros De natura deorum analysiert, der ein geradezu musterhaftes exemplum für die Figurenmodellierung im Kontext der epikureischen Theologie bildet (Kap. 4.1.).

Im Anschluss daran wird der Fokus mit den horazischen Oden auf die Verarbeitung epikureisch ‚gefärbter‘ Götterapparate und Todesszenarien in der römischen Dichtung gelegt (Kap. 4.2.). Die vergilische Zusammenführung von Totenklage und Apotheose in der fünften Ekloge knüpft in erster Linie an Theokrit und Lukrez an und lässt die traditionsreiche Figur des Daphnis nach seinem Tod zu einem epikureisch ‚gefärbten‘ Schutzgott der bukolischen Lebenswelt werden (Kap. 4.3.).

In scharfem Gegensatz dazu steht der rasende Gottesleugner Capaneus in der Thebais des Statius, der auf Seiten der Argiver gegen die Thebaner kämpft und mangels Furcht vor den Göttern letztlich sogar Jupiter zum Duell herausfordert (Kap. 4.4.). Interessant scheint dabei die Frage nach einer Aktualisierung philosophischer Konzepte des griechischen Hellenismus im Kontext des römischen Epos: Was bewirkt der Dichter, indem er diese Konzepte in eine bestimmte Gattungstradition integriert? Was passiert, wenn epische Helden wie Capaneus zumindest teilweise ihr Verhalten an philosophischen Konzepten orientieren, sofern sich eine solche Behauptung überhaupt stützen lässt?

In seinen Silven thematisiert Statius auch das von Epikur proklamierte λάθε-βιώσας-Prinzip vor dem Hintergrund des ἀταραξία-Ideals, das natürlich eng mit der epikureischen voluptas verknüpft ist (Kap. 5.3.).16 Im Hintergrund steht dabei vor allem der Kontrast zwischen der epikureischen Empfehlung eines ruhigen und zurückgezogenen Lebensstils und der stoischen Aufforderung zu politischem Engagement. Dieser philosophische Konflikt geht nicht selten mit der traditionsreichen Stadt-Land-Motivik einher. Diese kommt etwa bei Vergil in den Georgica zur Geltung, wenn man an das Lob des Landlebens am Ende von Buch II oder an das vorgeführte Lebensideal des Corycius senex in Buch IV denkt (Kap. 5.1.). Im Hinblick auf Vergils Bucolica und Georgica mit den jeweils stadtfernen Schauplätzen erscheint dabei insbesondere die Frage reizvoll, inwiefern die Entpolitisierung im Stadt-Land-Kontrast als epikureisches Konzept eingestuft werden kann und soll und wie sich in Vergils Werken die Ablehnung aktiver politischer Initiative durch den Kepos manifestiert. Ziel ist dabei keinesfalls zu klären, ob Vergil ein Epikureer war, sondern inwiefern bei Vergil möglicherweise ein neuer Umgang mit Epikur und seiner Lehre erkennbar wird und auf welche Kontexte, auf welche Weise und aus welchen Motiven heraus dort gegebenenfalls Epikur-Bilder im Gegensatz zu Lukrez und Horaz angewandt werden.17

Im Mittelpunkt steht das Ideal des Landlebens auch in den Satiren und Episteln des Horaz, das dort wiederum in Kontrast zum Stadtleben gestellt wird (Kap. 5.2.). Trotz einer erkennbaren Offenheit für alternative Lebensmodelle hält die horazische Sprecher-persona an ihrem Plädoyer für das zurückgezogene Leben auf dem Land fest und macht es zum Mittelpunkt seiner moralphilosophischen Ausführungen. Dass diese deutlich gemachte Präferenz für das Landleben nicht unproblematisch ist, zeigt vor allem die Lektüre des ersten Epistel-Buchs.

 

Im Vorfeld der Textuntersuchungen ist es unerlässlich, den Begriff des color Epicureus bzw. der epikureischen ‚Färbung‘ von Texten und Figuren näher darzulegen und durch eine präzisere Skalierung fassbarer zu machen. Für die Identifizierung und Auswertung geeigneter Texte ist der Nachweis intertextueller Referenzen ein wichtiges Kriterium. Dabei gelten als Prätexte vor allem Werke, die die epikureische Lehre in ihrer Orthodoxie dokumentieren und auf die römische Literatur nachweislich einen großen Einfluss ausgeübt haben (v. a. Epikurs Briefe und Spruchsammlungen in den Ratae sententiae und Sententiae Vaticanae, Lukrez und z.T. auch Philodems Schriften).

Mit Hilfe der Kriterien, die Ulrich Broich und Manfred Pfister systematisiert für die Intertextualitätsforschung in anglistischer Literaturwissenschaft vorgestellt haben, lässt sich das Ausmaß der epikureischen Prägung eines Textes deutlicher beschreiben. Broich/Pfister unterscheiden zunächst zwischen Einzeltext- und Systemreferenz.

Mit der Systemreferenz kann der intertextuelle Bezug eines Autors z. B. auf eine Gattungstradition, auf die mythische Überlieferung, aber eben auch auf die philosophische Tradition bestimmt werden, ohne dass ein bestimmter Prätext benannt werden kann oder muss. Die Art der Einzeltextreferenz wiederum kann durch ein modellhaftes Skalierungsmodell präzisiert werden. Dabei kann die Intensität intertextueller Bezüge durch quantitative Kriterien (die Dichte und Häufigkeit intertextueller Bezüge und die Zahl und Streubreite der Prätexte) sowie durch sechs qualitative Kriterien bestimmt werden:18

REFERENTIALITÄT: Dabei geht es um die Frage, wie stark der Metatext den Prätext thematisiert und seine Eigenart kenntlich macht. Dies wird besonders an der Art der Einbindung eines Zitats aus dem Prätext ersichtlich: Von einem hohen Grad an Referentialität spricht man, wenn „der Zitatcharakter hervorgehoben und bloßgelegt und damit auf das Zitat und seinen ursprünglichen Kontext verwiesen wird […]“19.

In antiker Kunstprosa und Dichtung wird man in den seltensten Fällen markierte Referentialität finden. Selbst dort, wo Ciceros Sprecher tatsächlich Lehrsätze Epikurs in lateinische Sprache übersetzen und zitieren (v. a. in Ciceros De finibus bonorum et malorum I + II und De natura deorum I), ist die Zitation nicht immer markiert. Schon die Nennung eines Namens ist ein ungewöhnlich hoher Grad an Referentialität in antiker Dichtung. So finden sich bereits in Fragmenten der Komödiendichter Damoxenos und Baton, die bei Athenaios überliefert sind, mehrfach namentliche Verweise auf Epikur (Damox. fr. 2 Kassel/Austin; Bat. fr. 3; 5 Kassel/Austin).

Die ‚alexandrinische Fußnote‘ wurde erstmals in der Studie von David O. Ross jr. zum Verhältnis von Gallus und den augusteischen Dichtern Vergil und Properz beschrieben: Der römische Autor gibt einen Hinweis auf seine Prätexte nur dadurch, dass er selbst Formulierungen wie „man sagt“ oder „es ist überliefert“ einfügt (z. B. fama est; dicitur).20 Stephen Hinds (1998) hat diese Hinweise auf metaphorische Ausdrucksweisen ausgeweitet. Auch Figuren, wie Ovids Ariadne, benutzen den Ausdruck memini, um auf die Tradition ihrer eigenen literarischen Modellierung zu verweisen; und Figuren wie der Papagei oder Echo stehen bei Ovid selbst metaphorisch für literarische Wiederholungen.21

Gerade bei Cicero sind dagegen solche Ausdrücke, die auf die epikureische Lehre verweisen, mit konkreten Namen verbunden. Seine Rede gegen Piso enthält beispielsweise Formulierungen wie audistis profecto dici philosophos Epicureos (Cic. Pis. 68)Cic.Pis. 68, dicit, ut opinor (Cic. Pis. 69Cic. Pis. 69) und ceteris studiis quae fere ceteros Epicureos neglegere dicunt (Cic. Pis. 70Cic. Pis. 70).22

KOMMUNIKATIVITÄT: Darunter verstehen Broich/Pfister den „Grad der Bewusstheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten, der Intentionalität und der Deutlichkeit der Markierung im Text selbst“23. Für ein hohes Maß an Kommunikativität muss der intertextuelle Bezug also sowohl dem Autor selbst als auch dem Rezipienten (des Metatextes) klar sein, weshalb Verweisen auf kanonisierte (Prä-)Texte der Weltliteratur bzw. auf damals aktuelle und weit verbreitete Texte eine große Bedeutung zukommt.

Besonders innerhalb von Gattungstraditionen, aber auch bei thematischen Überschneidungen wird für die antike Literatur eine hochgradige Kommunikativität angenommen. Auf Prätexte der Vorgänger Bezug zu nehmen, indem sie dem neuen Werkkontext angepasst werden, gehört zu den Grundanforderungen an anspruchsvollere Autoren. Vergils Aeneis wird in der Antike vor der Folie der beiden homerischen Prätexte gelesen, indem die Odyssee-Hälfte von der Ilias-Hälfte unterschieden wird. Vergil selbst weist unter anderem in Buch VI und VII seine Leser auf diese Stoffverteilung hin: Sibylle prophezeit Aeneas einen Krieg in Italien, der in der Personenkonstellation einem zweiten trojanischen Krieg gleicht, sodass die Referenzen auf die Ilias als Lesehinweise für Buch VII–XII angekündigt werden. Kurz vor der Ankunft in Ostia fährt Aeneas’ Schiff unbehelligt an Circes Palast vorbei: Für eine Episode der Odysseus-Irrfahrten ist in Buch VII also kein Platz mehr.

Kommunikativität kann auch in anamorphotischer Weise erfolgen, wofür Ovid berühmt ist: Er greift gerne die literarische Gestaltung eines Mythos oder einer berühmten literarischen Figur seiner Vorgänger auf, um sie in einem anderen Genre unter anderen Gattungskonventionen neu zu gestalten (z. B. eine liebeselegische Dido oder Medea in den Heroides) oder um andere Schwerpunkte in der Erzählung zu setzen, indem er Leerstellen, die die Erzählung des Prätextes gelassen hat, ausfüllt. Mit seinem Aeneas in der ‚Kleinen Aeneis‘ der Metamorphosen erleben wir Leser die privaten Verhaltensweisen außerhalb der großen repräsentativen Szenen, die Vergil gestaltet hat; für diese verzerrende Perspektive hat sich der filmtechnische Begriff ‚anamorphotisch‘ durchgesetzt. Intertextuell könnte man es als eine Sonderform der Dialogizität (siehe f) werten.

Neben den bereits erwähnten Fragmenten der griechischen Komödiendichter Damoxenos und Baton und den relevanten Philosophica Ciceros weisen auch dessen rhetorische Werke bei den Bezügen auf Epikurs Lehre einen hohen Grad an Kommunikativität auf.24 Zudem stellen vor allem die beiden Villengedichte des Statius silv. 1, 3 und silv. 2, 2, die in Kapitel 5.3. untersucht werden, anschauliche Beispiele für eine ‚anamorphotische‘ Verarbeitung epikureischen Gedankenguts dar: In der Charakterisierung der beiden Villenbesitzer und in der Beschreibung ihres Landguts werden die Ideale aus Epikurs Lehrbriefen als musterhafte Lebensform im Imperium Romanum des 1. Jahrhunderts n. Chr. widergespiegelt.

AUTOREFLEXIVITÄT: Dieses Kriterium erfüllt der Autor eines (Meta-)Textes gerade dann, wenn er „über die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit seines Textes in diesem selbst reflektiert, d. h. die Intertextualität nicht nur markiert, sondern sie thematisiert, ihre Voraussetzungen und Leistungen rechtfertigt und problematisiert“25.

Markierte Autoreflexivität ist vor allem in programmatischen und poetologischen Äußerungen zu erwarten. Besonders Metaphern werden als Hinweise auf metapoetische Aussagen gewertet; so verweist Vergil auf das benutzte Material seiner Vorgänger (u. a. Ennius), wenn er die epische Beschreibung des Bäumefällens mit itur in antiquam silvam (Verg. Aen. 6, 179aVerg.Aen. 6, 179a) beginnt.26

Auch die wiederholte Auseinandersetzung der beiden Kepos-Anhänger Velleius (in De natura deorum) und Torquatus (in De finibus bonorum et malorum) mit Epikurs Lehrbedingungen und Leistungen zeugt zumindest stellenweise von einem gewissen Grad an Autoreflexivität. Wenn etwa Torquatus in Cic. fin. 14 von den ständigen Anfeindungen gegen Epikur aufgrund seines provokanten und isolierten Standpunktes berichtet, wird nicht nur der inhaltliche Bezug seiner folgenden Ausführungen auf Epikurs Lehre markiert, sondern darüber hinaus auch die Verteidigung dieser Lehrinhalte legitimiert.

STRUKTURALITÄT: Dies betrifft „die syntagmatische Integration der Prätexte in den [Meta-]Text“27, wobei die Skalierung von einem „bloß punktuelle[n] und beiläufige[n] Anzitieren von Prätexten“28 bis zur Einbeziehung eines Prätextes als strukturelle Folie des (gesamten) Metatextes reicht (z. B. in Form einer Parodie, Travestie, Kontrafaktur, Übersetzung oder Imitation).

Ein hoher Grad an Strukturalität lässt sich an folgenden zwei Beispielen besonders gut nachweisen: In Buch XV der Punica überführt Silius Italicus den Dialog der Allegorien Virtus und Voluptas in die Epik, indem er die Dialogform als Altercatio beibehält.29 In der Archytas-Ode (carm. 1, 28) behält Horaz die Form der Grabinschrift bei, obwohl es sich eigentlich um den Wunsch nach einer Grabinschrift handelt.

SELEKTIVITÄT: Im Mittelpunkt dieses Kriteriums steht die Frage, „wie pointiert ein bestimmtes Element aus einem Prätext als Bezugsfolie ausgewählt und hervorgehoben wird und wie exklusiv oder inklusiv der Prätext gefasst ist, d. h. auf welchem Abstraktionsgrad er sich konstituiert“30. Demnach zeigt ein wörtliches Zitat eine größere intertextuelle Intensität an als ein indirekter Verweis und dieser ist wiederum ein stärkeres Indiz für Intertextualität als der Bezug auf Gattungskonventionen des Prätextes.

Selektivität wird oft dadurch erreicht, dass mit einem Stichwort, einem Schlüsselbegriff, einem Motiv oder einem Topos ein bestimmter Prätext oder Themenbereich aufgerufen wird, der für den Metatext relevant wird. Wenn etwa Horaz anaphorisch den Begriff otium zum Thema seiner Ode 2, 16 erklärt, ist damit der epikureische Zielbegriff angesprochen. Die Intensität dieser spezifischen Bedeutung kann allerdings dadurch geschwächt werden, dass der Begriff, das Motiv oder der Topos nicht nur auf einen bestimmten Prätext verweist, sondern in einem weiter gefassten motivgeschichtlichen Kontext oder auch gattungsübergreifend vorkommen kann.

DIALOGIZITÄT: Das letzte qualitative Kriterium zielt auf das Spannungsverhältnis zwischen Prä- und Metatext in semantischer und ideologischer Hinsicht ab. Ist also beispielsweise eine ironische Relativierung oder eine differenzierende Neukontextualisierung des Prätextes bzw. ausgewählter Elemente des Prätextes festzustellen, wird die intertextuelle Intensität höher eingestuft als bei (weitgehend wortgetreuen) Übersetzungen und Imitationen des Prätextes.

Der Leser kann die Neugestaltung erst vor der Folie des Prätextes in vollen Zügen genießen. Dialogizität ist deshalb in antiker Literatur sehr häufig als intendiert anzunehmen: Die Spannung kann bei Horaz beispielsweise auf der Ebene der Systemreferenz dadurch erzeugt werden, dass ein Thema, das vom Leser als typisch für die epikureische Ethik (also für eine philosophische Darstellung) identifiziert werden kann, mit literarischen Mitteln gestaltet wird, die zu Epikurs Lehre in Widerspruch stehen. Ein großes Problem der Oden-Forschung ist etwa die von Epikur strikt abgelehnte Vorstellung, dass Götter in das menschliche Leben eingreifen. Trotzdem gibt es zahlreiche Stellen, an denen Horaz Götter einsetzt, die das menschliche Leben nicht nur beobachten, sondern aktiv beeinflussen (z. B. carm. 1, 10; 1, 17; 1, 21; 1, 34; 3, 1), oder Menschen die Götter um Hilfe bitten (z. B. carm 1, 3; 1, 31; 1, 32; 1, 35), ohne dass diese Vorstellung als falsch markiert wird.

Durch die Anwendung dieser Kriterien für Intertextualität soll unter Berücksichtigung von autoren- und gattungsspezifischen Charakteristika eine diachrone und die literarischen Gattungsgrenzen überschreitende Entwicklung der facettenreichen Darstellungsweisen epikureischen Gedankenguts im Kontext römischer Figurenmodellierung aufgezeigt werden. Wie kommt es etwa dazu, dass Statius zum einen in Orientierung an Horaz und seine Maecenas-Darstellung die Figur des ‚guten‘ Epikureers in einem Gedicht seiner Silvae rezipiert, während er zum anderen mit dem wilden Gottesleugner Capaneus in der Thebais eine dazu diametral entgegengesetzte Figur mit scheinbar epikureischer ‚Färbung‘ skizziert? Inwiefern knüpfen beispielweise römische Elegiker oder Epiker an moralphilosophische Gedanken und Motive an, die dem Epikureismus nahestehen und bereits bei Lukrez vorzufinden sind? Welche literarischen Funktionen lassen sich der jeweiligen Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ personae mit Blick auf ihre kontextuelle Einbindung in das Werkganze zuordnen?

2Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur

2.1Zur Tradition der Rezeption philosophischen Gedankenguts in der griechischen Dichtung vor Epikur

Auch wenn in dieser Arbeit hauptsächlich Cicero mit seiner Darstellung epikureischer Anhänger als Ausgangspunkt für die Modellierung solcher Figuren in der spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Dichtung dienen soll, ist es in der heutigen Forschung längst unumstritten, dass epikureisches Gedankengut schon vor Cicero in der römischen Literatur rezipiert worden war. In diesem Kapitel soll anhand einiger Textbeispiele dem begründeten Verdacht nachgegangen werden, dass auch in der vor- und frührömischen Literatur, die nach Epikurs Schulgründung entstanden ist, einige Indizien für eine literarische Beschäftigung mit der damals – zumindest in ihrer institutionalisierten Form – noch recht jungen Lehre des Kepos vorhanden sind.

Wenn man die Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr. als Zeitraum annimmt, in dem Epikur seinen ‚Garten‘ gegründet haben soll, lässt sich ein sinnvoller Startpunkt für eine derartige Suche frühestens ab dem Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. ansetzen. In der antiken Dichtung haben moralische Reflexionen außerhalb von philosophischen Schriften, die somit auch nicht auf eine konkrete philosophische Lehre zurückzuführen sind, zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Tradition: Schon in den homerischen Epen – verwiesen sei etwa auf die achilleische Lebenswahl im neunten Buch der Ilias – und in den Werken Hesiods finden sich zahlreiche Spuren von Phänomenen, die man nachträglich als philosophische Grundmotive bezeichnen könnte. Hinzu kommen staatsphilosophische Inhalte, die in frühgriechischen Werken wie etwa in Solons Eunomie oder bei Tyrtaios thematisiert wurden.1

Am meisten verbindet man mit der poetischen Aufbereitung und Neukontextualisierung philosophischer Fragen, Themen und Vertreter das Drama der klassischen Zeit, wenn man nur an die moralphilosophischen Problemstellungen in Tragödien – und dort gerade auch in den Chorliedern – wie den sophokleischen Ödipus-Dramen (v. a. König Oedipus und Oedipus auf Kolonnos) und den unterschiedlichen Tragödien um Elektra und Orest (Aischylos, Orestie; Sophokles, Elektra; Euridpides, Elektra) denkt oder natürlich auch an den karikierend-parodistische Philosophenspott in den Komödien des Aristophanes (z. B. Die Wolken).2 Überhaupt ist mit fortschreitender Entwicklung des Dramas als literarischer Gattung eine kontinuierlich gesteigerte Beschäftigung mit wirkmächtigen Persönlichkeiten und Schulen der Philosophiegeschichte nachweisbar: Waren etwa in der Alten Komödie noch Sokrates und sein revolutionäres Philosophieren im Blickpunkt der aristophanischen Karikierung zeitgenössischer intellektueller Strömungen, so richtete sich das Hauptaugenmerk des Philosophenspotts in der Mittleren Komödie in erster Linie auf die Pythagoreer und auf Platon mit seiner Akademie.3 In diesem Zusammenhang müssen auch unbekanntere Zeugnisse wie die Komödien-Fragmente des Pythagoreers Epicharmos berücksichtigt werden, die von zahlreichen philosophischen Motiven durchzogen sind.4

Der Verdacht liegt nahe, dass gerade nach der Gründung der beiden jüngsten hellenistischen Philosophenschulen, Stoa und Kepos, die Rezeption philosophischen Gedankenguts in der antiken Literatur einen neuen Aufschwung erfährt, deutliche Spuren hinterlässt und Aussagen über die Verbreitung und die literarische Funktionalisierung entsprechender Philosopheme ermöglicht. Bezüglich der Epikureer ist das gerade auch deshalb gut nachvollziehbar, da philosophische Schulen, die in ihrer Lebensweise – vereinfacht gesagt – mitunter hedonistische Züge aufweisen (wie die soeben angesprochenen Pythagoreer), schon zuvor mittels Figurenmodellierung, d. h. mittels karikierender Figuren(über)zeichnung, in der griechischen Komödie häufig thematisiert wurden.5 Zu diesem Zweck seien einige Textpassagen griechischer (Menander, Damoxenos, Baton, Antiphanes, Hegesipp) und frührömischer Dichter (Plautus, Terenz, Ennius, Pacuvius) vorgeführt und vor dem Hintergrund ihrer Entstehung und des inhaltlichen Kontextes in den einzelnen Werken sowie unter Einbeziehung des jeweiligen Forschungsstandes auf ihre philosophische Dimension hin untersucht.

2.2Epikureer in der Neuen Komödie

2.2.1Zur Rolle der (epikureischen) Philosophie bei Menander

Es ist sicherlich naheliegend, dass Menander der erste Autor ist, den man in diesem Zusammenhang näher betrachten muss. Seit jeher wird in der Menander-Forschung die Frage diskutiert, ob und inwiefern die von ihm überlieferten Werke eine schlüssige und nachweisbare Nähe zu philosophischem und speziell zu peripatetischem Gedankengut aufweisen, zumal er als Schüler des Aristoteles-Nachfolgers Theophrast gilt.1 Noch weitaus umstrittener ist bis heute eine mögliche Auseinandersetzung Menanders mit epikureischem Gedankengut, von der im Grunde genommen nur recht weit zurückliegende Arbeiten wie die von Karl Büchner (1937), Max Pohlenz (1943) und Norman DeWitt (1952) ausgehen.2

Tatsächlich wird eine philosophische Komponente in Menanders Komödien in der Forschung zumeist nicht angezweifelt, eine klare Zuordnung der jeweiligen Textstellen bzw. der Äußerungen von Komödienfiguren zu einer bestimmten philosophischen Schule ist meist jedoch recht spekulativ, auch wenn die Dominanz peripatetischen Gedankenguts wohl kaum zu bestreiten ist.3 Ausgehend von der Erkenntnis, dass Menander und Epikur zwar (nahezu) Altersgenossen waren und offenbar auch gemeinsam den Ephebendienst verrichteten, ist eine Bekanntschaft der beiden relativ wahrscheinlich.4 Die Datierung von Epikurs Schulgründung auf das Jahr 306 oder 305 v. Chr. lässt allerdings den Schluss zu, dass Menander höchstens in seinem Spätwerk auf (institutionalisiertes) Gedankengut des Kepos hätte zurückgreifen können – eine wenig haltbare Annahme, die ohnehin von zahlreichen Menander-Forschern abgelehnt wird.5 Wenn man dabei von ca. 290 v. Chr. als Todesjahr des Komödiendichters ausgeht, bliebe also maximal – aber immerhin – ein Zeitraum von fünfzehn Jahren, um epikureischem Gedankengut in irgendeiner Weise einen Platz in Menanders Dichtung einzuräumen.

Als einzige Textpassage, die für eine derartige Untersuchung diskussionwürdig scheint, haben sich die Äußerungen des Onesimos in den Epitrepontes herausgestellt, was nicht nur aufgrund dieses ‚Alleinstellungsmerkmals‘ problematisch für die Annahme einer nachweisbaren und textimmanent zu begründenden Auseinandersetzung Menanders mit epikureischem Gedankengut ist: Zu den bislang schon angedeuteten Einwänden gegen eine solche Annahme kommt die fehlende Datierbarkeit des Stückes erschwerend hinzu. Trotz all dieser massiven Vorbehalte besteht für die Entdeckung von Szenen mit epikureischem Gedankengut zumindest eine theoretische Möglichkeit, die auch Casanova mit Blick auf den schmalen Zeitkorridor einräumt, in der eine solche Bezugnahme überhaupt denkbar scheint.6 Gerade (spät-)antike Zeugnisse, die eine entsprechend einflussreiche Verbindung zwischen Menander und Epikur annehmen, wie etwa der Bezug einer Verspassage aus Menanders Epitrepontes auf Epikur, den der neuplatonische Philosoph Elias (wohl 6. Jahrhundert n. Chr.) in seinem Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles herstellt, dürften dafür Rechtfertigung genug sein.7

Daher wird der betreffende Passus aus Menanders Komödie, die von dem Streit um die vermeintlich untreu gewordene Pamphile handelt, zumindest kurz in den Blick genommen, um dem vermeintlich epikureisch ‚gefärbten‘ Dialog zwischen Onesimos und Smikrines auch inhaltlich gerecht zu werden.8 Smikrines, der Vater der Pamphile, die von ihrem Gatten Charisios der Untreue beschuldigt wurde, ist darauf bedacht, die Mitgift seiner Tochter zu retten, und begibt sich aufgebracht über die offensichtlichen Mahnungen seiner Dienerin Sophrone zum Haus des Charisios, um sein ehemaliges Eigentum samt Tochter zurückzufordern:

Ον.

τίς ἐσθ’ ὁ κόπτων τὴν θύραν; ὤ, Σμικρίνης

(720)

 

ὁ χαλεπός, ἐπὶ τὴν προῖκα καὶ τὴν θυγατέρα

 

 

ἥκων.

 

Σμ.

 

ἔγωγε, τρισκατάρατε.

 

Ον.

 

καὶ μάλα

1080

 

ὀρθῶς· λογιστικοῦ γὰρ ἀνδρὸς καὶ σφόδρα

 

 

φρονοῦντος ἡ σπουδή, τό θ’ ἅρπασμ’, Ἡράκλεις,

 

 

θαυμαστὸν οἷον.

 

Σμ.

 

 πρὸς θεῶν καὶ δαιμόνων –

(725)

Ον.

οἴει τοσαύτην τοὺς θεοὺς ἄγειν σχολὴν

 

 

ὥστε τὸ κακὸν καὶ τἀγαθὸν καθ’ ἡμέραν

1085

 

νέμειν ἑκάστωι, Σμικρίνη;

 

Σμ.

 

 λέγεις δὲ τί;

 

Ον.

σαφῶς διδάξω σ’. εἰσὶν αἱ πᾶσαι πόλεις,

 

 

ὅμοιον εἰπεῖν, χίλιαι· τρισμύριοι

(730)

 

οἰκοῦσ’ ἑκάστην. καθ’ ἕνα τούτων οἱ θεοὶ

 

 

ἕκαστον ἐπιτρίβουσιν ἢ σώιζουσι;

 

Σμ.

 

πῶς;

1090

 

λέγεις γὰρ ἐπίπονον τιν’ αὐτοὺς ζῆν [βίον.

 

Ον.

οὐκ ἆρα φροντίζουσιν ἡμῶν οἱ θεοί,

 

 

φήσεις; ἑκάστωι τὸν τρόπον συν[ώικισαν

(735)

 

φρούραρχον· οὗτος ἔνδο[ν] ἐπ[

 

 

ἐπέτριψεν, ἂν αὐτῶι κακῶς χρη[σώμεθα,

1095

 

ἕτερον δ’ ἔσωσεν. οὗτός ἐσθ’ ἡμῖν θεὸς

 

 

ὅ τ’ αἴτιος καὶ τοῦ καλῶς καὶ τοῦ κακῶς

 

 

πράττειν ἑκάστωι· τοῦτον ἱλάσκου ποῶν

(740)

 

μηδὲν ἄτοπον μηδ’ ἀμαθές, ἵνα πράττηις καλῶς.

 

1094 fortasse ἐπιτεταγμένος : non fuit ἐνδελεχής (Robert) neque ἔνδονἕτερον (Lefebvre)

(Men. Epitr. 1078–1099 [720–741]Men. Epitr. 1078–1099 [720–741])

On.