Melodie der Erinnerung - Katja Maybach - E-Book
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Melodie der Erinnerung E-Book

Katja Maybach

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Beschreibung

Getrennt, und doch verbunden: der Familien-Schicksalsroman »Die Melodie der Erinnerung« von Katja Maybach jetzt als eBook bei dotbooks. In dieser Lebensgeschichte hallt das Echo ihrer eigenen Vergangenheit wider … Die New-York-Times-Journalistin Kate Johnson stößt bei einer Reise nach Buenos Aires auf die Familiengeschichte des ehemaligen Freiheitskämpfers Carlos Campora. Sein Großvater hatte 1933 Berlin verlassen, um sein Glück in Argentinien zu suchen – auch wenn dies bedeutete, dass er seiner Geliebten Tatjana von Stetten das Herz brechen musste. Als Kate ein altes Foto von Tatjana und ihren bildschönen Schwestern findet, eröffnen sich plötzlich Parallelen zu ihrer eigenen Herkunft. Nur Carlos selbst kann die Lücken ihrer Familiengeschichte für sie füllen – und ihr das unglaubliche Schicksal enthüllen, das sie beide nach Amerika führte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: der bewegende Roman »Die Melodie der Erinnerung« von Katja Maybach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 598

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Über dieses Buch:

In dieser Lebensgeschichte hallt das Echo ihrer eigenen Vergangenheit wider … Die New-York-Times-Journalistin Kate Johnson stößt bei einer Reise nach Buenos Aires auf die Familiengeschichte des ehemaligen Freiheitskämpfers Carlos Campora. Sein Großvater hatte 1933 Berlin verlassen, um sein Glück in Argentinien zu suchen – auch wenn dies bedeutete, dass er seiner Geliebten Tatjana von Stetten das Herz brechen musste. Als Kate ein altes Foto von Tatjana und ihren bildschönen Schwestern findet, eröffnen sich plötzlich Parallelen zu ihrer eigenen Herkunft. Nur Carlos selbst kann die Lücken ihrer Familiengeschichte für sie füllen – und ihr das unglaubliche Schicksal enthüllen, das sie beide nach Amerika führte …

Über die Autorin:

Katja Maybach hat seit jeher zwei große Leidenschaften: das Schreiben und die Mode. Nach einer langen und bewegenden Karriere in der Modebranche, unter anderem in Paris, beschloss sie, ihre zweite Leidenschaft zum Beruf zu machen und begann, erfolgreich Romane zu schreiben. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in München.

Bei dotbooks veröffentlichte Katja Maybach:

»Die Stunde der Schwestern«

»Das Haus unter den Zypressen«

»Der Duft von Rosenöl und Minze«

Die Website der Autorin: katja-maybach.de

Die Autorin im Internet: facebook.com/katja.maybach

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eBook-Neuausgabe November 2020

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt. Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Neirfy / 24Novermers / PushAnn / lapas77 / MM_photos

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-429-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Katja Maybach

Melodie der Erinnerung

Roman

dotbooks.

Für meine Kinder Mirjam und David

Kapitel 1Argentinien, 1982

Stundenlang fahren wir die endlosen einsamen Straßen entlang, bis wir die Fähigkeit verlieren, die Zeit zu spüren oder die Landschaft wahrzunehmen.

Erst kurz vor Buenos Aires habe ich die Kraft, mich aus meiner Lethargie zu lösen. Ich wende meinen Kopf und werfe einen verstohlenen Blick auf Carlos. Er sitzt aufrecht da, seine Hände zwischen die Oberschenkel gepresst. Mit angespanntem Gesicht starrt er durch das Fenster. Nimmt er Abschied von seinem Land, seiner Heimat? In ein paar Stunden werde ich mit ihm Argentinien verlassen. Erkennt er das Ausmaß seines Verlustes?

Sein Gesicht ist aufmerksam, wach, misstrauisch, ohne die geringsten Anzeichen von Müdigkeit. Wird er jemals die sechs Jahre im Gefängnis vergessen können, wird er irgendwann das Gefühl von Freiheit neu empfinden?

Ich beobachte ihn, sein blasses Gesicht, in das sich Entbehrung und durchlittene Qualen tief eingegraben haben, ich sehe den kahlgeschorenen Kopf, seinen mageren, ausgemergelten Körper.

Ich kenne seine ganze Lebensgeschichte. Carlos war als Kind schon der verträumte Einzelgänger, zu verschlossen, um Freundschaften zu schließen. Höflich hatte ich seiner Mutter zugehört und mir Fotos von ihm angesehen: Carlos als Zweijähriger auf dem Arm seines Vaters, Carlos am ersten Schultag, Carlos als Student in Yale. Erst allmählich wuchs mein Interesse an seinem Schicksal, ich begann, mich in Gedanken mit ihm zu beschäftigen. Was ging in ihm vor, als er sich nach seiner Rückkehr von der Universität einer Gruppe von Regimegegnern anschloss? Carlos, ein schüchterner junger Mann, elitär erzogen und aufgewachsen, einer, dem ein Dasein in Glück und Reichtum bestimmt schien, setzte sein Leben ein, um den aussichtslosen Kampf gegen Ungerechtigkeit und Gewalt zu führen.

Gegen General Rafael Videla, der 1976 durch einen Militärputsch an die Macht kam. Tausende von Regimegegnern wurden hingerichtet, Zehntausende inhaftiert. Dreißigtausend Menschen verschwanden in Gefängnissen und Straflagern. Man nennt sie die Desaparecidos, die Verschwundenen.

Als freie Journalistin der »New York Times« kam ich vor einem Jahr nach Buenos Aires, um mich mit einer der Mütter der Plaza de Mayo zu treffen. Jahr für Jahr, am 30. April, prangern sie auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude das Unrecht an, das ihre Familien auseinanderriss und ihnen die Söhne und Töchter nahm. Jahr für Jahr fordern sie Aufklärung über das Schicksal ihrer Kinder und die Bestrafung der Schuldigen.

Zum ersten Mal hörte ich von den Müttern der Plaza de Mayo, als ich die Witwe eines Onkels in Deutschland besuchte. Ich sollte einen Bericht über die schönsten deutschen Städte schreiben, und die Idee, Kontakt zu ihr aufzunehmen, kam mir, als ich auf der Fifth Avenue in einem Geschäft ein zart geblümtes Teeservice aus der deutschen Porzellanmanufaktur von Stetten entdeckte. Das Firmenlogo: zwei kleine hellblaue Rehe auf der Unterseite jedes Teils. Erst da fiel mir ein, dass mein Onkel mit der Inhaberin dieser Firma verheiratet gewesen war. Ich hatte Robert nicht besonders gut gekannt, ich wusste nur, er hat als Anwalt in München gearbeitet. In Erinnerung war mir geblieben, dass er mir auf der Hochzeit einer Cousine erzählte, seine Frau sei zur Unternehmerin des Jahres 1978 gewählt worden.

Ich wurde neugierig auf Anna von Stetten und wollte unbedingt meine Reise durch Deutschland mit einem Besuch bei ihr verbinden. Sie lud mich in ihre Villa am Starnberger See ein, und ich war beeindruckt von dieser Frau, die mein Onkel in einem Tangokurs kennengelernt hatte. Wir mochten uns sofort, doch ich war auf der Durchreise und hatte nur zwei Stunden Zeit. Anna zeigte mir ein Foto und bat mich um Unterstützung für ihren Neffen Carlos, einen der Desaparecidos. Vielleicht, meinte sie, könnte ich als amerikanische Journalistin etwas für ihn tun? Ich war wie elektrisiert. Sofort witterte ich die Story, die Chance, wie man sie nur einmal im Leben bekommt. Einem solchen Moment hatte ich jahrelang entgegengefiebert. Ich hatte Journalismus studiert, um Missstände aufzudecken, politische Korruption zu entlarven. Die meisten Artikel schrieb ich bisher allerdings für die wöchentlichen Beilagen. Aber diese Story wird mir Anerkennung und Bewunderung einbringen. Vielleicht endlich auch von meiner Mutter, die mir seit meiner Kindheit das Gefühl gibt, eine Versagerin zu sein.

Einige Tage nach dem Besuch in der alten Villa stellte Anna den Kontakt zu Carlos’ Mutter her. Auf Kosten der »New York Times« flog ich nach Buenos Aires. Vom ersten Moment an war ich fasziniert von dieser Frau, ich bewunderte ihre Kraft und die Energie, mit der sie um die Freilassung ihres Sohnes kämpfte. Nach Einschaltung einer Organisation und Zahlung hoher Bestechungsgelder sollte Carlos nach sechs Jahren endlich aus dem Gefängnis entlassen werden. Die letzten Wochen durfte er auf der Krankenstation verbringen, und von dort aus konnte er mit Hilfe eines bestechlichen Wärters zwei Telefonate mit seiner Mutter führen, die nicht abgehört wurden.

Heute im Morgengrauen habe ich zusammen mit dem Chauffeur der Familie Carlos an der angegebenen Bushaltestelle abgeholt. Er war in einem verdunkelten Wagen und mit verbundenen Augen dorthin gebracht und aus dem Auto gestoßen worden. Niemals wird er wissen, wo das Gefängnis liegt, in dem er jahrelang den grausamsten Folterungen ausgesetzt war. Nun ist er frei, und alles läuft so, wie er mit seiner Mutter vereinbart hat: Die Fahrt nach Buenos Aires mit mir, einer Frau, die er nicht kennt und von der er nur weiß, dass sie ihn nach New York begleiten wird. Das Weitere ist genau festgelegt: NBC will eine Sondersendung mit Carlos bringen, und er wird über die Straflager und über die Folterungen sprechen. Er will »auspacken«, wie er seiner Mutter erklärte, und ich bin die Kontaktperson, ich habe das Recht auf das erste Interview mit ihm. Endlich habe ich die Chance, die mich aus dem Mittelmaß meiner Karriere herausheben wird.

Mit Carlos’ Mutter hatte ich vereinbart, dass die Familie zum Aeroporto de Ezeiza kommen würde, um ihn zu begrüßen, sich aber auch gleichzeitig von ihm zu verabschieden. Sie weiß, dass er sein Land verlassen will, um in New York über die Verschwundenen, über die Gefängnisse und über die Straflager zu berichten. Er will die Welt aufrütteln. Sein Kampf sei noch nicht zu Ende, sein Hass ungebrochen. Als wir gegen Mittag an einer Tankstelle anhielten und ich mir einen Kaffee kaufte, unterhielt er sich mit dem Chauffeur, der daraufhin zum Telefonautomaten ging und ein langes Gespräch führte. Wen hat er angerufen?

Vor Buenos Aires fahren wir die Autobahn in östlicher Richtung zum Flughafen, doch kurz vor Terminal A biegt das Auto ab. »Halt!«, sage ich und lege meine Hand energisch auf das Lenkrad. »Sehen Sie nicht?« Es ist das erste Mal, dass ich den Chauffeur anspreche. »Wir sind falsch gefahren. Wir fliegen mit American Airlines nach New York.« Doch der Chauffeur schiebt meine Hand beiseite wie eine lästige Fliege und fährt schweigend weiter. Wir biegen wieder ab, und mit Erstaunen erkenne ich, dass der Wagen durch eine geöffnete Schranke direkt auf das Rollfeld fährt und vor einem kleinen Privatflugzeug hält. Verwirrt sehe ich die Aufschrift »Philip Winter Enterprises«, aber bevor ich reagieren kann, öffnet eine Flugbegleiterin die Autotür, und ich steige befremdet aus. Carlos steht bereits auf dem Rollfeld, und der Pilot will ihn herzlich willkommen heißen. Doch Carlos weicht zurück, ein wenig verloren sieht er aus in seinem Anzug, der ihm um den dünnen Körper schlottert. Verwirrt, fast widerwillig erwidert er den Händedruck des Piloten, dann dreht er sich zu mir um und fordert mich auf, einzusteigen. Jetzt lächelt er, zum ersten Mal.

Im Flugzeug sehe ich mich erstaunt um: holzverkleidete Wände, eine Sitzgruppe, ein kleiner Schreibtisch. »Wohin fliegen wir?« Ich wende mich beunruhigt an Carlos, denn mir ist klar, dass uns dieses kleine Flugzeug nicht nach New York bringen wird.

»Gleich«, vertröstet er mich, während wir aufsteigen und den Flughafen hinter uns lassen.

Ich sitze Carlos stumm gegenüber, ich spüre, es läuft nicht nach Plan. Ich bin verunsichert, irgendwie weiß ich, dass ich allein nach New York zurückkehren werde. Das bedeutet das Ende meines Karrieretraums, denn diese Story sollte mir exklusiv gehören.

»Sehen Sie!«, unterbricht Carlos meine Gedanken. »Sehen Sie hinunter!«

Wir überfliegen einen Ozean von endlos scheinenden Wiesen, dessen Farbe von hellem Grün in ein tiefes Schwarz wechselt. Wir sind jetzt so tief, dass ich ein großes Haus im alten Kolonialstil erkennen kann, dann ein langgezogenes rechteckiges Gebäude, vor dem Pferde weiden. Sie werden unruhig, sie werfen den Kopf in den Nacken und laufen nervös in verschiedene Richtungen. Dann kreisen wir über einer Herde von Rindern, die sich gemächlich in Bewegung setzt. In der Ferne kann ich leuchtende Weizenfelder sehen, schimmernd im letzten Licht der untergehenden Sonne.

»Herrlich«, flüstere ich, denn ich kann mich der Schönheit dieses Landes nicht entziehen. Und dann begreife ich.

»Es ist die Estancia Ihrer Familie, nicht wahr?«

Carlos nickt. »Hier bin ich aufgewachsen, hier bin ich zu Hause, und hier werde ich für den Rest meines Lebens bleiben.«

»Aber Ihr Hass?« Ich schreie jetzt voll aufsteigender Wut, da er mir mit dieser Entscheidung alle Träume zunichtemacht. »Der Hass, den Sie verspüren?«

»Ich habe nachgedacht«, erwidert Carlos ruhig. »Aller Hass bringt mir die vergangenen sechs Jahre nicht zurück. Ich will in Ruhe leben, ich will nicht Angst haben müssen, verhaftet oder hinterrücks erschossen zu werden, weil ich mich der Presse gestellt habe und ins Fernsehen habe drängen lassen.«

»Aber Sie wollten doch für die Gerechtigkeit kämpfen!« Ich wage einen letzten, verzweifelten Versuch. »Denken Sie an Ihren Großvater! Philip Winter war doch Ihr Vorbild, das hat mir Ihre Mutter erzählt.«

»Mein Großvater« – Carlos bleibt weiterhin gelassen – »war ein Träumer, ein hoffnungsloser Idealist.«

»Nein!«, rufe ich leidenschaftlich. »Philip Winter wurde hier in Argentinien zum Mythos. Er hat Großes bewirkt.«

Ich weiß alles über die Familie, auch über den Großvater, der sich bereits in Deutschland politisch gegen einen »Terroristen« engagiert hatte, bevor er vor fünfzig Jahren nach Argentinien auswanderte.

Carlos scheint mir nicht zuzuhören. »Argentinien« erzählt er, »wurde für meine Familie zur Heimat. Ich gehöre hierher. Nicht nach Amerika, auch nicht nach Deutschland, wo unsere Familiengeschichte begann. Hierher«, betont er noch einmal. »Ich will hier leben. Nirgends sonst. Ich liebe das Land, seine Sprache und sein großherziges, lebensfrohes Volk.«

Verbittert und verzweifelt lache ich auf. »Vor ein paar Tagen dachten Sie noch anders, haben Sie das vergessen?« Noch einmal versuche ich, ihn an sein Versprechen zu erinnern.

Aber Carlos hört mir nicht zu. »Im Gefängnis«, sagt er leise, »half mir mein Hass zu überleben, jetzt brauche ich ihn nicht mehr. Wenn ich in New York vor der amerikanischen Presse über meine Erfahrungen rede, kann ich nicht mehr hierher zurückkommen. Ich habe mich entschieden«, fügt er nach einer kleinen Pause hinzu.

Seine Worte klingen unwiderruflich, und ich stelle fest, dass wir im Anflug auf den Landeplatz der Estancia sind. Unter mir sehe ich ein Gebäude, davor einen Helikopter und ein zweites Flugzeug.

»Aber Ihr Großvater war doch immer Ihr Vorbild!«, setze ich zu einem allerletzten Versuch an.

Carlos schüttelt den Kopf. »Es gab nicht nur meinen Großvater, es waren auch die Frauen meiner Familie, die gekämpft und Mut bewiesen haben. Sie hatten freilich andere Ziele, sie kämpften für ihre Liebe und das Glück der Menschen, die ihnen nahestanden. Ich denke, sie verdienen die Achtung und die Bewunderung eher als ein Mann, der sich in Visionen verrannte und letztendlich scheiterte.«

Ich weiß, wovon er spricht. Während des kurzen Landeanflugs schweige ich, denn alles, was ich noch sagen könnte, ist umsonst.

Nach der Landung bleibe ich sitzen. Der Pilot wird mich, denke ich, zum Flughafen zurückbringen, damit ich meine Maschine noch erreiche. Carlos bedankt sich und verspricht mir eine großzügige finanzielle Entschädigung. Im Gegenzug fordert seine Familie von mir eine beglaubigte Erklärung, über alles zu schweigen, was ich gesehen und erfahren habe. Sie wollen nichts riskieren.

»Kommen Sie, seien Sie unser Gast!«, fordert er mich dann freundlich auf. Da stehe auch ich zögernd auf.

Während wir das Flugzeug verlassen, sehe ich, wie stark Carlos zittert. Seine Hände suchen Halt, umklammern das Geländer, und er stößt flach und keuchend den Atem aus.

Allein stehen wir da, fast verloren in der Stille der weiten Pampa. Da öffnet sich die Tür des kleinen Flughafengebäudes, und eine Frau kommt auf uns zu. Carlos geht langsam, unsicher auf steifen Beinen, doch plötzlich fängt er an zu laufen. Dann rennt er und stürzt sich fast verzweifelt in die Arme seiner Mutter. Sie hat nie aufgegeben, wenn andere längst resignierten. Sechs Jahre hat sie gehofft und an diesen Moment geglaubt. Mir schießen die Tränen in die Augen, und ich wende mich schnell ab. Ich sehe die Sonne blutrot am Horizont untergehen, ich nehme die Stille wahr, nur unterbrochen vom Wiehern der Pferde oder dem fernen Ruf eines Mannes. Es ist ein schönes Land, das jeden, der es betritt, in seinen Bann zieht und dessen Zauber keinen loslässt. Ich fühle mich klein und der riesigen Dimension dieser Landschaft preisgegeben. Da wende ich mich an den Piloten und bitte ihn, mich nach Buenos Aires zu fliegen. Mein Entschluss steht fest: Ich werde heute nach New York zurückkehren.

Doch der Pilot reagiert nicht, sein Blick geht an mir vorbei, und als ich mich umdrehe, sehe ich einen Jeep, der in beängstigend schneller Fahrt auf uns zurast. Bevor er noch ganz zum Stehen kommt, springt eine ältere Frau heraus. Sie trägt eine abgewetzte Lederjacke, verwaschene Jeans, ein dunkelrotes Hemd und einen verbeulten Hut auf ihrer graumelierten Mähne. Die kurzen Beine stecken in hohen, staubigen Lederstiefeln. Erstaunt über ihr abenteuerliches Aussehen, warte ich, bis sie vor mir steht.

»Kate Johnson?« Bevor ich nicken kann, umarmt sie mich herzlich. Darauf war ich nicht gefasst, und ich werfe dem Piloten einen fassungslosen Blick zu. Doch der zuckt nur grinsend die Schultern.

»Wir sind so glücklich, dass Carlos wieder da ist. Bitte bleiben Sie! Er und die ganze Familie würden sich so sehr freuen.«

Ich muss gestehen, ich bin gerührt von der Herzlichkeit dieser Frau. Doch sie macht mich auch verlegen, denn ich habe nicht wirklich Entscheidendes zu Carlos’ Freilassung beigetragen. Durch meine Kolumne »Menschen«, in der ich sein Schicksal beschrieb, wurde eine Schweizer Organisation auf ihn aufmerksam. Erst deren Nachforschungen führten dann zu seiner Freilassung. Plötzlich sehe ich aber Carlos’ Schicksal in einem ganz anderen Licht. War bis jetzt nur die Rede von Exklusivinterviews, Absprachen und beglaubigten Erklärungen, spüre ich plötzlich eine Freude, die auch mich erfasst. Habe ich nicht dazu beigetragen, dass ein Sohn zu seiner Mutter und zu seiner Familie zurückkehren konnte? Ein Happy End, wie es nicht schöner sein kann. Vielleicht doch noch eine lohnende Geschichte? Nein, es geht mir nicht mehr um die Story, die mich dank meiner Exklusivrechte aus dem Mittelmaß meines Journalistendaseins herausheben sollte. Plötzlich begreife ich, dass es hier um Menschlichkeit geht, ich habe durch meinen Beruf etwas Sinnvolles bewirken können.

So lächle ich die Frau an, die mich umarmt hält. Endlich gibt sie mich frei und greift nach meiner Reisetasche, die ihr die Stewardess bereitwillig übergibt.

»Ich heiße Violetta«, stellt sie sich vor. »Meine Eltern haben mich zu den Klängen von Verdis ›La Traviata‹ gezeugt.« Sie lacht schallend und zwinkert mir vertraulich zu. »Daher der Name. Sie wissen schon, Violetta Valery«, fügt sie ungeduldig hinzu, da ich sie verständnislos ansehe. Mit leisem Spott sieht sie mich an. Eine Amerikanerin, ich verstehe. Ihre Gedanken sind ihr ins Gesicht geschrieben. Keine Kultur, keine Ahnung von klassischer Musik. Ich schäme mich ein wenig, denn sie hat recht. Ich muss gestehen, ich bin kein Fan von klassischer Musik, und die Metropolitan Opera von New York kenne ich nur von außen.

»Violetta Poli,« fährt sie ergänzend fort. »Meine Großeltern sind aus Italien eingewandert wie viele Einwohner von Buenos Aires.« Ich nicke kurz, ich bin etwas verwirrt, während ich ihr zu dem Jeep folge und sie sich hinter das Steuer wirft. Bevor ich einsteige, drehe ich mich noch einmal um und sehe gerade noch, wie Carlos und seine Mutter in ein Auto einsteigen, das sie wohl zur Casa Alemán, der Villa der Estancia, bringen wird.

»Ich bin hier ›das Mädchen für alles‹, erklärt mir Violetta während der Fahrt und lacht schallend dazu. Ein wenig erstaunt, aber auch amüsiert frage ich mich, ob hier viele Frauen aussehen wie weibliche Cowboys. Das muss ich mir merken, vielleicht ist das ein Anhaltspunkt für eine Geschichte über Argentiniens Frauen. Beginnend bei Evita Perón über Carlos’ Mutter Patrizia Campora bis zu ... Ja, vielleicht Violetta Poli? Oder der schönen Großmutter von Carlos?

Wir verlassen das Rollfeld und biegen in einen holprigen Weg ein. Während der Fahrt erzählt Violetta, dass sie eines der Dienstmädchen angewiesen habe, mir eine Flasche Rotwein und ein Platte empanadas in das Gästehaus zu bringen. »Sie werden Ihnen schmecken«, erklärt sie diktatorisch, »es sind Teigtaschen, gefüllt mit Hackfleisch, Rosinen, Käse und Oliven. Eine Spezialität aus der Gegend um Córdoba. Sie schmecken köstlich«, versichert sie mir noch einmal. »Der Rotwein kommt aus Mendoza, dem besten Weingebiet Argentiniens am Fuße der Anden.«

Was soll das werden? Eine kulinarische Reise durch Argentinien? Doch ich nicke und lächle höflich. Das harmlose Geplapper trägt mich durch die Dunkelheit des fremden Landes, entfernt mich von dem Leben in New York und meiner Wohnung in Brooklyn, die so klein ist, dass ich auf meinem Bett sitzend arbeiten muss, gestört vom nie endenden Lärm der Straße, der zu mir in den zweiten Stock heraufdringt und mich nachts kaum schlafen lässt.

Wir biegen von dem Weg ab und halten vor einem weißen Bungalow mit grünen Fensterläden, den eine Laterne strahlend hell anleuchtet. Fast bedaure ich, aussteigen zu müssen, nicht mehr Violettas dunkler Stimme zuzuhören, die mich ruhig werden ließ und mich am Nachdenken hinderte.

Auf dem gefliesten Weg folge ich Violetta. Gibt es hier Anakondas? Ich bin die freie Natur nicht gewöhnt und habe Angst vor Schlangen, Fröschen und Spinnen, auch wenn sie harmlos sind.

»Das ist das Gästehaus, früher wohnten die Camporas hier, bis Carlos zehn Jahre alt war. Dann zogen sie in das Haus von Philip Winter.«

Ich nicke und betrete auf Zehenspitzen hinter Violetta den Bungalow, vorbei an großen Töpfen mit wild wuchernden Azaleen. Hier empfangen mich ein warmes Feuer im Kamin, die Flasche Wein auf dem Tisch und eine riesige Platte mit den angekündigten empanadas.

»Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie an, bei der Zwei sind Sie direkt mit mir verbunden. Alle Nummern finden Sie hier auf der Liste.« Violetta hebt eine abgegriffene Klarsichthülle hoch und schwenkt sie ein paarmal durch die Luft. Dann wartet sie noch und beobachtet mich neugierig, während ich mich umsehe.

Ein wenig befangen, gehe ich durch den großen Wohnraum mit den rauh verputzten Wänden, den dunklen Balken an Decke und Wänden. Mein Blick bleibt an dem breiten Sofa hängen, es ist mit Kuhfell bezogen.

Violetta hat mein Staunen bemerkt. »Als Carlos’ Mutter ihren Miguel heiratete, fand sie dieses Sofa abstoßend«, erzählt sie. »Doch sie gewöhnte sich daran, denn Miguel wollte es behalten. Er war immer ein solcher Macho – wenn Sie mich fragen.«

Da ich nicht reagiere, scheint sie zu spüren, dass ich jetzt allein sein möchte. Schnell verabschiedet sie sich, und als die Tür hinter ihr zufällt, schlüpfe ich erleichtert aus meinem alten Trench und werfe ihn achtlos über einen Sessel.

Ich bin müde, denn der Tag war lang, schon um drei Uhr morgens hatte mich der Fahrer in meinem Hotel abgeholt. Während ich mir mein erstes Glas Rotwein einschenke, sehe ich mich weiter um. Über dem Kamin hängt ein riesiges Geweih. Von welchem Tier es wohl sein mag? Ich werde Violetta fragen. Im Schlafzimmer, dessen Tür weit offen steht, sehe ich ein großes Himmelbett mit dunklen, gedrehten Pfosten und zarten weißen Vorhängen. Ich bin entzückt, ich kann nicht anders: Ich werfe mich auf die weißen Spitzenkissen.

Doch dann verspüre ich Hunger und gehe zurück in den Wohnraum, um gierig nach den köstlich aussehenden Teigtaschen zu greifen. Sie schmecken in der Tat herrlich, und nach langer Zeit denke ich nicht mehr an die Kalorien. Ich überlasse mich meinem Hunger und dem Gefühl einer ganz neuen Leichtigkeit, nachdem ich mir von dem feinen, herben Wein nachgeschenkt habe. Mit dem Glas in der Hand gehe ich zum Kamin und sehe mir die Familienfotos an, die auf dem breiten Sims stehen.

In diesem Moment der Einsamkeit beneide ich Carlos heftig um seine Familie, die für ihn gekämpft hat. Gibt es in meinem Leben jemanden, der für mich diesen Einsatz bringen würde? Ich muss mir diese Frage nicht stellen, ich kenne die Antwort. Sie heißt nein. Ich bin einunddreißig Jahre alt, doch schon ziemlich verbraucht durch meinen Job; immer auf der Jagd nach der einzigartigen Geschichte, nach einem guten Honorar, das mir zumindest für ein paar Monate die Miete sichert. Im täglichen harten Kampf habe ich fast das Gefühl verloren, eine Frau zu sein, und doch trage ich Sehnsüchte in mir, die ich mir nicht eingestehe. Meine Einsamkeit verberge ich hinter burschikosen Reden, und ich trage eine Unabhängigkeit zur Schau, die ich nicht gewollt habe. Ich bin hungrig nach einer Liebe, die mich die Enttäuschung flüchtiger Begegnungen vergessen lässt. Nur nicht daran denken, nicht heute, an diesem besonderen Abend! Denn heute ist etwas passiert, nicht nur, weil ich Carlos auf seinem Weg aus dem Gefängnis hierher begleitet habe. Ich weiß nicht, warum ich dieses Gefühl habe, aber es ist da. Ich trinke mein Glas aus, dann schlüpfe ich in den Fellmantel, der an der Garderobe am Eingang hängt, hole rasch die Stiefel aus meiner Reisetasche. Ich möchte hinaus in die Nacht. Plötzlich habe ich keine Angst mehr vor kriechenden oder krabbelnden Tieren, sondern ich will dieses Land erkunden, es einatmen, es spüren.

Ich öffne die Tür, bleibe einen Moment neben den Azaleen stehen, hole tief Luft und sehe hinauf in einen Himmel voll dunkler Wolken, die sich jetzt langsam auflösen und den Blick auf glitzernde Sterne freigeben. Dann gehe ich hinaus, den gefliesten Weg entlang. Als ich das Wiehern von Pferden höre, laufe ich weiter, bis ich vor dem langgezogenen Bau stehe, den ich vom Flugzeug aus gesehen habe. Er liegt in der Nähe der Casa Alemán und scheint das berühmte Gestüt der »Philip Winter Enterprises« zu sein. Ich stoße die angelehnte Tür auf und betrete den Stall. Leises Scharren von Hufen, Schnauben von zufriedenen Pferden empfängt mich.

Und da sehe ich Carlos. Den Mann, der mir fremd ist und doch vertraut scheint. Im diffusen Licht der Deckenlampe erkenne ich sein Profil. Sofort bemerke ich die Veränderung, die mit Carlos vorgegangen ist, ich bin überwältigt von der Schönheit seines Gesichts, das in dieser Beleuchtung die Härte, das Misstrauen und den lauernden Ausdruck verloren hat. Seine Hände streichen zärtlich durch die Mähne des Pferdes, spielerisch lässt er eine Strähne durch die Finger gleiten, und er flüstert dem aufmerksam horchenden Tier leise Worte ins Ohr.

Und während ich ihn beobachte, wie er den schwachen, gequälten Körper erschöpft gegen das Tier lehnt, schnürt mir der Wunsch, ihn zu beschützen, für immer an seiner Seite zu sein und ihm die Freude am Leben zurückzugeben, die Brust zusammen. Ich möchte ihn die Jahre des Hasses, der Todesangst und der Verzweiflung vergessen lassen, ich möchte ihn glücklich sehen. Ich möchte seine Hand nehmen, an meine Lippen ziehen, sie mit zarten Küssen bedecken. Ich habe mir nie Gedanken gemacht, ob es einen Gott gibt. Doch in diesem Moment, während ich im Dunkeln verborgen Carlos zusehe und diese überwältigenden Gefühle empfinde, möchte ich glauben, dass Gott existiert.

Ohne von Carlos bemerkt zu werden, verlasse ich den Stall und gehe zurück, einen inzwischen strahlenden Sternenhimmel über mir. Im Haus schlüpfe ich aus dem schweren Mantel und lasse ihn achtlos zu Boden gleiten. Das Feuer im Kamin brennt noch. Ich bücke mich, nehme ein Stück Holz aus dem großen Korb und werfe es in die Flamme. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet habe, sehe ich mir noch einmal die vielen gerahmten Fotos dieser großen Familie an. Carlos’ Familie. Nach einem dieser Bilder greife ich: drei junge Mädchen, die Köpfe aneinandergeschmiegt. Sie tragen grobgestrickte Mützen mit Norwegermuster. Das Mädchen in der Mitte ist das schönste, das wird sogar auf diesem Schnappschuss deutlich, und ich erkenne die Ähnlichkeit mit Carlos. Ich kann nicht widerstehen, ich nehme das Foto aus dem Rahmen und drehe es um. »Tatjana, Stella und ich«, steht auf der Rückseite, »aufgenommen von Philip am 30. Oktober 1923 im Englischen Garten. Das Jahr, in dem ich meinen geliebten Carl noch heiraten werde!« Ich kann mich nicht trennen von diesen drei Mädchen, die unbekümmert lachen, verfangen in dem Glauben der Jugend, unbesiegbar und unverletzlich zu sein. 1923 – fast zärtlich streiche ich über das Foto, ein wenig traurig zwar, denn ich kenne die Geschichte Deutschlands, und ich ahne, wie schwierig die Zukunft, der sie so unbekümmert entgegenlachen, für sie sein wird.

Kapitel 2München, November 1923

»Vorläufig«, betonte Tatjana und warf den Kopf in den Nacken, »möchte ich nur einen Kaffee.«

Die Kellnerin im schwarzen Kleid und der winzigen Organzaschürze ließ ihren Block sinken und wandte sich gleichgültig ab. Tatjana, die auf dem roten Plüschsofa bis an die Kante vorgerutscht war, lehnte sich wieder zurück, stützte die Ellbogen auf die breiten Lehnen und zündete sich eine Zigarette an. Schließlich war sie einundzwanzig, also erwachsen. Die mondäne Haltung, die sie jetzt einnahm, gab ihr ein wenig Sicherheit, denn es kam selten vor, dass sie allein in einem Lokal saß. Ihre Augen waren auf die Eingangstür gerichtet, doch als sie kurz ihren Blick zur Seite wandte, blieb er an einem älteren Mann hängen, der mit einer kleinen Verbeugung zu ihr herüberlächelte. Rasch wandte Tatjana sich wieder ab. Was dachte der sich, glaubte er, sie sitze hier auf Männerfang? Sie legte die Zigarette im Aschenbecher ab, verbarg ihre Hände im Schoß und drehte dabei den Rubin ihres schmalen Rings nach innen, so dass dieser aussah wie ein Verlobungsring. Eigentlich war es der Ring ihrer Mutter, den sie sich gern heimlich auslieh, um ein wenig »verheiratete Frau« zu spielen, wenn sie den Stein nach innen drehte. Wie zufällig fuhr sie sich jetzt mit der Linken über die Wange, so konnte der Mann annehmen, sie sei verlobt. Das war sie ja eigentlich auch. Gebunden an den Mann, den sie liebte, auch wenn Philip noch nie über Verlobung oder gar Heirat gesprochen hatte. Bei diesem Gedanken erschrak Tatjana. Vielleicht hielt er sie nur hin, bis er eine andere zum Traualtar führen würde? Irgendein reiches Mädchen. Denn: Geld geht immer zu Geld, das wusste Tatjana von ihrer verstorbenen Großmutter.

Tatjanas Familie, die von Stettens, musste schon vor Jahren den großen Besitz verkaufen. Kurz nach Ende des Krieges zog Tatjana mit ihrer Mutter und den zwei jüngeren Schwestern in eine kleine Wohnung, direkt unter dem Dach eines Mietshauses, wo es im Winter kalt und im Sommer stickig heiß war. Sie lebten in einfachen Verhältnissen, ihr Vater war im Krieg gefallen, und ihre Mutter bemühte sich, die familieneigene Porzellanmanufaktur vor dem Konkurs zu retten. Iris von Stettens ständige Klagen, die schlechten Zeiten und die Inflation seien schuld am Niedergang der Firma, glaubte Tatjana längst nicht mehr. Ihre Mutter war einfach ungeeignet für das Geschäft. Das war die Wahrheit.

Der Kaffee war längst ausgetrunken, der ältere Mann gegangen, doch Philip war noch immer nicht erschienen. Das Café begann sich zu leeren. Tatjana machte sich allmählich Sorgen um ihren Freund.

Normalerweise war sie es, die zu spät zu einer Verabredung hastete. In dem Spiegel an der Wand gegenüber konnte Tatjana ihr blasses Gesicht und die unruhig aufgerissenen Augen sehen. Sie seufzte, dann aber beobachtete sie, wie sie sich durch die langen blonden Haare fuhr und den Kopf zur Seite warf. Sie konnte mit sich zufrieden sein. Wenn Philip auch das Wort Liebe noch nie ausgesprochen hatte, so wusste sie immerhin, wie sehr er ihre Schönheit bewunderte.

Es war Schicksal gewesen, dass sie sich begegnet waren. Anders konnte man es nicht nennen. Mit nackten Füßen hatte sie am Strand der Nordsee gestanden und gefühlt, wie der Sog des Wassers den Sand unter ihren Sohlen wegzog. Mit geschlossenen Augen hatte sie den Geruch des Meeres eingeatmet, den Wind gespürt, der durch ihre Haare fuhr und über ihr Gesicht strich. Eine schwache Bewegung, fast nur ein Hauch an ihren Beinen, ließ sie die Augen wieder öffnen, und als sie hinunter auf das Wasser blickte, sah sie zwei große Füße direkt neben den ihren, die Zehen fröstelnd nach innen gekrümmt. Tatjana blickte überrascht an den entblößten braungebrannten Beinen hoch, bis sie in das Gesicht eines hübschen jungen Mannes mit dunklen Augen und vom Wind zerzausten braunen Haaren sah.

»Das Wasser ist Ihnen wohl zu kalt.« Sie lachte verlegen und ließ hastig den Saum ihres Rockes fallen, den sie bis zu den Schenkeln hochgehoben hatte.

Das war ihre erste Begegnung mit Philip gewesen. Vor genau zweieinhalb Jahren, am 8. Juni 1921, als sie mit ihrer Mutter und den Schwestern Ferien bei ihrer Tante Leni gemacht hatte.

Die Kellnerin kam jetzt an den Tisch und fragte herablassend, ob die junge Frau noch etwas bestellen wolle? Tatjana schüttelte den Kopf, wobei ihr mit Entsetzen einfiel, dass sie gar kein Geld bei sich hatte. Wenn Philip etwas zugestoßen war oder er womöglich gerade in den Armen einer anderen Frau lag, würde man sie zu allem Unglück auch noch der Zechprellerei beschuldigen. Wenigstens hatte sie keinen Kuchen gegessen, obwohl sie vor Hunger fast umkam.

Ihr Täschchen glitt vom Stuhl auf den Boden, und als sie sich hinunterbeugte, um es aufzuheben, ließ eine ungeduldige Stimme sie hochfahren: »Schnell, komm! Ich nehme dich zu einer politischen Versammlung im ›Bürgerbräukeller‹ mit.«

Energisch winkte Philip die Kellnerin heran und bezahlte den Kaffee, dann zog er das verblüffte Mädchen vom Stuhl hoch. Tatjana war zutiefst enttäuscht, denn Philip hatte ihr einen Theaterbesuch mit anschließendem romantischem Abendessen versprochen. Und jetzt sollte sie in ein verrauchtes Bierlokal? Sie interessierte sich nicht für Politik. Hungrig und enttäuscht hastete sie hinter Philip aus dem Café.

Aber es war immer noch besser, sich mit ihm bei einer politischen Versammlung zu langweilen, als den Abend über in der Küche zu sitzen und ihrer Mutter bei der Buchhaltung zuzusehen. Tatjana bekam jedes Mal ein schlechtes Gewissen und bot halbherzig ihre Hilfe an. Iris von Stetten wehrte dann lachend ab, nannte ihre Tochter eine unfähige Chaotin, die möglichst schnell heiraten solle, um versorgt zu sein. Philip war der Sohn eines vermögenden Anwalts und studierte Jura.

»Das ist ein guter Beruf«, meinte Iris, »denn gestritten wird immer.«

Einige Male bereits hatte Tatjana ihrem Freund die drängende Frage gestellt, ob sie sich nicht verloben könnten, doch seine ausweichende Antwort blieb immer die gleiche:

»Wir haben Spaß miteinander, das genügt doch im Moment.«

***

Auf ihren hohen Absätzen stolperte Tatjana hinter Philip her, der mit seinem Tempo keine Rücksicht auf sie nahm. Mehrmals drehte er sich verärgert nach ihr um, bis sie beide atemlos vor dem »Bürgerbräukeller« standen.

»Es sind hauptsächlich geladene Gäste da, hochrangige Leute aus Politik und Gesellschaft«, erklärte Philip. »Warte hier draußen, bis ich dich hole! Rühr dich nicht von der Stelle!«, schärfte er ihr ein, bevor er sich suchend umsah. »Ich bin mit Otto verabredet. Als Pressemann nimmt er uns mit hinein. Das ist heute ein wichtiger Abend.« In belehrendem Ton redete er auf seine Freundin ein, während er seinen Blick unruhig über die vielen Leute schweifen ließ, die in den Festsaal hineindrängten.

»Erst am 26. September ist Gustav von Kahr zum Generalstaatskommissar ernannt worden. Heute Abend wird er die Richtlinien seiner Amtsführung erläutern und über seine Einstellung zum Marxismus sprechen.«

»Aha«, antwortete Tatjana, um höfliches Interesse bemüht, und blieb folgsam stehen, während Philip davonhastete. Es war ein kühler Novemberabend, und sie fror erbärmlich in ihrem schwarzen Seidenkleid und dem leichten Mantel, den sie darüber trug. Für den geplanten Theaterbesuch hatte sie sich besonders hübsch angezogen, und nun stand sie hier vor dem Bräu, aus dem Lärm und laute Rufe herausdrangen.

»Es hat bereits angefangen«, rief eine ältere Frau einer Gruppe von Studenten zu, die direkt neben Tatjana standen. Ohne zu überlegen, schloss sie sich ihnen an und drängte sich gemeinsam mit ihnen durch den Eingang. Niemand fragte sie in dem überfüllten, stickigen Lokal nach ihrer Einladung, aber vorsichtshalber blieb sie in der Nähe der Tür stehen. Suchend blickte sie sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber in dem Gedränge Philip nirgends entdecken. Unruhig wanderte ihr Blick über die Gesichter und die Köpfe der Leute hinweg und blieb an einem Mann mit kunstvoll gezwirbeltem Schnurrbart hängen, der an dem erhöhten Rednerpult stand, vor sich das Manuskript seiner Ansprache.

Während Tatjana gerade überlegte, ob sie ihren kleinen Hut absetzen sollte, entstand Unruhe neben ihr, und ein Trupp bewaffneter Männer stieß sie brutal zur Seite. Angeführt wurde er von einem Mann im dunklen Cut, der zu dem Rednerpult stürmte. Schlagartig setzte Ruhe ein, als er sich mit einem Pistolenschuss in die Decke Gehör verschaffte. Mit Kommandostimme erklärte er die Bayerische Regierung für abgesetzt und rief eine provisorische Nationalregierung unter seiner Führung aus.

In dem losbrechenden Tumult drückte sich Tatjana mit dem Rücken gegen die Wand, ihr schwarzes Paillettentäschchen ängstlich gegen die Brust gedrückt. Plötzlich tauchte Philip neben ihr auf, packte sie unsanft am Arm und schob sie durch das Gedränge zur Tür hinaus.

»Was machst du hier?«, herrschte er sie an. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst draußen auf mich warten? Du verschwindest sofort nach Hause!«

Noch nie zuvor hatte Tatjana ihren Freund so aufgeregt gesehen. »Wer ist dieser Mann, der in die Decke geschossen hat? Kennst du ihn?«, wollte sie wissen und hielt Philip krampfhaft an seiner Jacke fest. Sie ließ ihn nicht los, sie wollte nicht, dass er ging, aus Angst, ihm könnte etwas passieren.

Doch Philip schüttelte ihren klammernden Griff mit verletzender Ungeduld ab ... »Er heißt Hitler«, antwortete er, bevor er sich abwandte und seinem Freund zuwinkte. Otto war an der Tür erschienen und überragte mit seiner Größe von über einem Meter neunzig die meisten Leute, die neugierig in den Saal hineindrängten, nachdem dort der Schuss gefallen war. Andere bahnten sich mühsam einen Weg aus dem Saal ins Freie, in panischer Angst, es könne Gewalt ausbrechen.

»Komm schnell!«, schrie Otto. »Du verpasst das Beste. Hitler und seine Leute wollen Kahr und seine Regierung zur Aufgabe der Staatsgewalt zwingen.« Seine Stimme überschlug sich. »Heute wird Geschichte geschrieben!«

Ohne Tatjana weiter zu beachten, rannte Philip los und bahnte sich energisch einen Weg in den Saal.

Verärgert blieb Tatjana vor dem Lokal stehen. Schließlich verspürte sie keine Lust mehr, weiter zu warten, und sie machte sich langsam auf den Heimweg. Was da drinnen vor sich ging, interessierte sie sowieso nicht. Sie hatte nach wie vor Hunger, fror erbärmlich und ahnte, dass Philip so schnell nicht wieder auftauchen würde.

Unterwegs kam sie an einer Litfaßsäule vorbei, an die zwei junge Männer, hastig und ängstlich um sich blickend, ein Plakat anschlugen. Neugierig blieb Tatjana stehen.

»Proklamation an das deutsche Volk.

Die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin

ist heute für abgesetzt erklärt worden. Eine provisorische

deutsche Nationalregierung ist gebildet worden.

Diese besteht aus

General Ludendorff, Adolf Hitler, General von Lossow,

Oberst von Seißer.«

***

Iris von Stetten blickte von den Geschäftsbüchern auf, als ihre Tochter Tatjana die Wohnungstür hinter sich zuwarf und in die Küche stürmte.

»Was ist los?«, fragte sie erstaunt. »Ich dachte, du bist mit Philip im Theater.«

»Daraus wurde nichts. Er wollte unbedingt zu einer politischen Versammlung.« Tatjana stellte sich dicht neben ihre Mutter an den Tisch, und als sich Iris von Stetten wieder ihrer Buchführung zuwenden wollte, beugte sie sich rasch vor und schob die Unterlagen beiseite.

»Du musst mir zuhören!« Das junge Mädchen war aufgeregt und wollte über ihre Erlebnisse sofort berichten. »Es ist etwas ganz Unglaubliches passiert«, fuhr sie fort. »Da kam ein Kerl rein, feuerte einen Schuss in die Decke ab und erklärte die Regierung für abgesetzt. Sich selbst ernannte er zum Oberhaupt einer neuen Nationalregierung.«

»Was redest du da für einen Unsinn?« Iris von Stetten schüttelte missbilligend den Kopf über ihre Tochter, deren Phantasie offenbar mit ihr durchging. »Da hast du sicher etwas falsch verstanden.«

»Nein«, beharrte Tatjana, »so ist es gewesen, und auf dem Heimweg habe ich auf einem Plakat gelesen, dass eine provisorische Regierung unter Ludendorff, anderen Militärs und einem Mann namens Hitler ausgerufen wurde. Das war derjenige, der in die Decke geschossen hat. Du kannst es mir glauben«, fügte sie gekränkt hinzu, als sie die Skepsis auf dem Gesicht ihrer Mutter wahrnahm.

Iris von Stetten dachte nach. »Der Name kommt mir bekannt vor. In der Firma hat Frau Schmolz von ihm erzählt. Er ist der Führer der NSDAP und verspricht den Leuten neue Arbeitsplätze. Scheint ein guter Mann zu sein. »Das blieb ihre einzige Reaktion auf die Ereignisse des Abends, kein Entsetzen, nicht einmal Erstaunen. »Sollen die da oben doch machen, was sie wollen!«, schloss sie gleichgültig. »Hauptsache ist doch, es gibt keinen Krieg mehr.« Damit war für sie das Thema beendet.

»Philip hat mich heimgeschickt«, beklagte sich Tatjana, »und jetzt habe ich schrecklichen Hunger.«

»Nimm dir Brot, Käse ist auch noch da.«

Das junge Mädchen schnitt sich eine dicke Scheibe von dem Brotlaib ab und belegte sie mit Camembert-Käse. Während sie heißhungrig aß, setzte sie sich auf die Tischkante und beobachtete ihre Mutter beim Addieren langer Zahlenreihen. Iris von Stetten hatte den Kopf tief über das Geschäftsbuch gebeugt, und zum ersten Mal bemerkte Tatjana den grauen Haaransatz an deren Scheitel. Iris von Stetten spürte den Blick und hob den Kopf. »Was ist?«

Tatjana reagierte nicht, sie fühlte sich ertappt und zudem angespannt und nervös. Unablässig wippte sie mit dem rechten Fuß gegen den kleinen Küchenschrank.

»Ich denke, für heute habe ich genug getan.«

Iris von Stetten klappte das Buch zu und verschränkte die Hände darauf. »Bist du mit Philip glücklich?«, fragte sie unvermittelt. Rasch wandte Tatjana ihr Gesicht ab. Ihre Mutter sollte die Tränen nicht sehen, die ihr bei dieser Frage sofort in die Augen schossen. Sie wollte nichts preisgeben von ihren Ängsten, Philip zu verlieren, auch nicht über die Eifersucht sprechen, die sie Tag und Nacht quälte. »Ich bin ein Mann, ich bin verführbar«, hatte er erklärt. Ein Satz, der ihr nicht aus dem Kopf ging.

Ihrer Mutter war Tatjanas heftige Reaktion nicht entgangen. »Seit über zwei Jahren bist du mit ihm zusammen, und wenn er dich jetzt nicht glücklich macht, wird er es nie tun.« Die Stimme Iris von Stettens klang kühl. Mit forschendem Blick beobachtete sie ihre Tochter, die in eigensinnigem Schweigen auf ihren wippenden Fuß hinunterstarrte und mit der Hand nervös über den Tisch strich. Dabei stieß sie an einen Teller aus der kostbaren Serie »Romantica«, der mit lautem Krach zu Boden fiel.

Hastig hob Tatjana ihn auf, er war direkt in der Mitte entzweigebrochen. Schuldbewusst legte das Mädchen die beiden Teile auf den Tisch. »Man kann ihn wieder kitten«, schlug sie vor. »In der Firma gibt es doch sicher einen Spezialkleber.«

Doch Iris von Stetten strich zart über den zerbrochenen Teller. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn etwas Kostbares zerbricht, kann man es nicht mehr kitten.« Und Tatjana hatte das Gefühl, ihre Mutter meinte damit nicht das Porzellan. Unbehaglich beobachtete sie Iris von Stetten, die traurig auf den Teller starrte, doch dann den Kopf hob und weiter auf ihre Tochter einredete. »Ich verstehe nicht«, sagte sie, »warum du auf diese unverbindliche Art mit Philip weitermachst. Er sollte dich heiraten.«

»Heirat ist auch nicht alles«, entgegnete Tatjana patzig.

Aber ihre Mutter ließ sich nicht beirren. »Ich sehe doch, dass die Beziehung dein ganzes Leben beeinträchtigt. Du bist nicht glücklich, sondern wirkst ständig gereizt und nervös.«

Mit einer heftigen Bewegung löste sich Tatjana von der Tischkante. »Ich bin müde, ich gehe ins Bett.« Sie wollte ihrer Mutter nicht zeigen, wie sehr ihre Worte sie getroffen hatten.

Besorgt beobachtete Iris von Stetten ihre Tochter. Sie ahnte, wie es um die Gefühle des labilen Mädchens stand. »Ich hoffe, er wird dich heiraten, und du wirst mit ihm glücklich werden.«

Tatjana schoss die Röte ins Gesicht. Längst hatte sie erkannt, dass Philip ihr nicht die Liebe entgegenbrachte, die sie sich ersehnte. Seit Monaten schlief sie schlecht, war am Tag übermüdet und nur besessen von dem Wunsch, Philip zu halten. Bevor sie die Küche verließ, schenkte sie sich Pfefferminztee in eine der zarten Tassen aus der elterlichen Porzellanmanufaktur ein, handbemalt mit anmutigen Flamingos und farbenprächtigen Pfauen. Nachdem sie ausgetrunken hatte, stellte sie die Tasse achtlos zurück auf den Tisch.

»Also dann, gute Nacht!«

»Gute Nacht, mein Schatz!« Besorgt klangen die Worte ihrer Mutter in Tatjanas Ohr nach, als sie leise die Türklinke zum Mädchenzimmer hinunterdrückte.

***

Der blasse Mond schien durch den kleinen Fensterausschnitt und beleuchtete mit mattem Schein die drei schmalen Betten der Schwestern, den hohen Schrank, auf dem mehrere alte Puppen saßen und zerfledderte Pappkartons bereits seit dem Umzug in diese Wohnung auf das Auspacken warteten.

In die Ecke gerückt, stand die Nähmaschine von Stella, der jüngsten der drei Schwestern. Auf den Stühlen lagen achtlos hingeworfen Kleider, Pullover und Röcke.

Obwohl Tatjana sich bemühte, kein Geräusch zu machen, hob die neunzehnjährige Fee sofort den Kopf: »Ich habe auf dich gewartet.«

Rasch zog sich Tatjana im Dunkeln aus und schob sich frierend zwischen die kalten Laken. »Ich bin schrecklich müde«, seufzte sie gähnend. »Ich will schlafen. Morgen früh erzähle ich dir, was heute Abend ...«

Ohne auf die Worte der Schwester zu achten, setzte sich Fee auf und umschlang ihre Knie mit den Armen. »Hast du es mit Philip schon gemacht?«

Ihre Stimme erstarb zu einem leisen Flüstern, aus Angst, Stella könne aufwachen und ihrem Gespräch lauschen. »Ich muss es wissen, bitte, sage mir die Wahrheit!«, bat sie eindringlich.

Tatjana überlegte angestrengt. Sollte sie ihrer Schwester erzählen, dass sie keine Jungfrau mehr war? Wie weit wusste Fee über diese Dinge Bescheid? Iris von Stetten hatte ihre Töchter nicht aufgeklärt, alles, was Tatjana über die körperliche Liebe wusste, hatte ihr Philip beigebracht. Sollte sie ihrer Schwester anvertrauen, dass ihr Freund sie faszinierend und erotisch fand, ihr gesagt hatte, sie sei auf diesem Gebiet ein Naturtalent? Tatjana hob den Kopf und wandte sich Fee zu, deren Gesicht sie im schwachen Licht des Mondes mehr erahnen als sehen konnte.

»Warum willst du das wissen?«, fragte sie.

Einen Moment zögerte Fee. »Carl meint, es wäre schöner, wenn wir bis zur Hochzeitsnacht warten. Aber vielleicht sagt er das nur, weil er mich nicht begehrenswert findet. Was meinst du?« Ihre Stimme drückte kindliche Unsicherheit aus, als sie leise weitersprach. »Er meint, ein Mann sollte es aus Respekt vor seiner Verlobten nicht vorher von ihr verlangen. Glaubst du das auch?«

Tatjana wollte sich schon spöttisch über den Spießer Carl äußern, doch der ängstliche Ton in der Stimme ihrer Schwester hielt sie davor zurück. Sie wusste, wie sehr Fee ihren Carl liebte.

»Ich denke, für euch beide ist das die richtige Entscheidung.«

»Meinst du, Carl liebt mich? Ich meine, fürs ganze Leben?« Fees banges Flüstern rührte Tatjana.

»Natürlich«, beruhigte sie ihre Schwester. »Er liebt dich sehr. Das sieht jeder sofort. Außerdem ...« – Tatjana brach in leises Lachen aus – »... warum sollte er dich sonst heiraten, vielleicht wegen deines Geldes?« Auch Fee musste kichern und rollte sich beruhigt in ihre Steppdecke ein. Kurz schwiegen die beiden. Jede dachte an den Mann, den sie liebte.

Tatjana presste die Lider fest zusammen und konzentrierte sich auf Philip. Sie sah ihn vor sich, groß, schlank, elegant gekleidet. »Zu elegant für einen so jungen Mann«, war der missbilligende Kommentar ihrer Mutter gewesen, als er sich bei ihr vorgestellt hatte. Seine guten Manieren jedoch hatten sie beeindruckt. Tatjana lächelte zärtlich in Gedanken an ihn und an seine liebenswerte Schwäche, sich die Haare so schneiden zu lassen, dass sie ihm in die Stirn fielen, um damit verwegen auszusehen. »Und der will Anwalt werden?« Auch das hatte ihre Mutter spöttisch gefragt. In Iris von Stettens Augen musste ein Vertreter des Rechts seriös aussehen, ein wenig bieder sogar. Brille, kurzer Haarschnitt, korrektes, aber unauffälliges Äußeres. Tatjana drückte die Lider noch fester zusammen, versuchte, eine gedankliche Verbindung zu Philip herzustellen. Er sollte sie heute Abend schmerzlich vermissen, sich so nach ihr sehnen wie sie sich nach ihm.

Sie streckte sich, zitterte plötzlich wieder vor Kälte. »Mir ist so kalt«, klagte sie und wandte sich Fee zu. »Kannst du mir die Wärmflasche geben?« Ihre Schwester reagierte nur noch mit einem zustimmenden Murmeln, sie glitt bereits in einen ruhigen Schlaf hinüber. Also griff Tatjana träge in Fees Bett hinüber, holte sich das kupferne Wärmegefäß und presste ihre kalten Füße darauf. Doch so müde sie auch war, sie fand keinen Schlaf. In der Stille dieser Nacht begriff sie, dass die Gefühle, die Fee mit ihrem Carl verbanden, größer, schöner und auch beständiger waren als das, was sie und Philip füreinander empfanden. Traurigkeit und Verzweiflung erfassten sie, als sie ihren Kopf zur Wand drehte, damit die Schwestern ihr Weinen nicht hören konnten.

***

»Kahr, Lossow und Seißer sind mit Waffengewalt gezwungen worden, der Neubildung einer Regierung unter Hitler zuzustimmen. Als sie zum Schein auf die Forderungen eingegangen sind, hat man sie wieder auf freien Fuß gesetzt.«

Philip saß an dem kleinen Küchentisch, er wirkte erregt, wie elektrisiert von den Ereignissen des vergangenen Abends. »Noch in der Nacht ist eine Erklärung an alle deutschen Funkstationen, dass es dem sogenannten Triumvirat gelungen sei, die Regierungsgewalt wieder in seine Hand zu bekommen. Heute Morgen ist es im Radio gekommen. Habt ihr es nicht gehört?«

»Wir haben kein Radio«, antwortete Tatjana mürrisch.

Sie interessierte sich nicht weiter für die politischen Ereignisse, zumal sie einen Blick in den kleinen Spiegel über dem Spülbecken geworfen hatte. Ein müdes, blasses Gesicht mit tiefen Ringen unter den Augen sah ihr da entgegen. Die durchweinte Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Tatjana war wütend auf Philip, der gegen elf Uhr unangemeldet vor der Tür stand, nur um über die turbulenten Ereignisse zu berichten. Und sie war wütend auf Fee, die ihm arglos die Wohnungstür geöffnet hatte und ihn nicht abwimmelte, obwohl sie wusste, dass Tatjana noch im Bett lag. Fee hätte sie warnen müssen, damit sie nicht in ihrem alten Bademantel mit verquollenen Augen in die Küche tappte, in dem Glauben, es sei nur der Postbote gewesen, der geklingelt hatte.

»Die verfassungsmäßige Regierung besteht weiterhin«, hörte sie Philip dozieren, während sie sich leise aus der Küche stahl und bemerkte, dass er in ihrer Schwester eine interessiertere Zuhörerin gefunden hatte. Tatjana wollte sich beeilen, sich rasch schminken und den neuen engen Pullover anziehen, den Philip ihr geschenkt hatte.

»Die Regierung fordert die bayerische Bevölkerung auf, Ludendorff und Hitler die Gefolgschaft zu verweigern«, berichtete Philip inzwischen weiter. Er beobachtete Fee, die einen zweiten Aufguss Kaffee in eine zarte Porzellantasse füllte und diese vor ihn auf den Tisch stellte. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Fee zwar nicht die außergewöhnliche Schönheit ihrer Schwester Tatjana besaß, ihr klares Gesicht aber anziehend und ihre Zartheit berührend waren. Fee spürte seinen intensiven Blick und wandte sich verwirrt ab.

»Mein Freund Otto und ich«, fuhr der junge Mann fort und ließ dabei seinen Blick nicht von Fee, »haben im ›Bürgerbräukeller‹ alles hautnah miterlebt. Otto ist Redakteur bei der ›Münchner Post‹, noch in der Nacht hat er einen Artikel darüber geschrieben.«

»Kannst du nicht endlich aufhören, über die blöde Politik zu reden?«, maulte Tatjana, die geschminkt und gut frisiert wieder im Türrahmen stand. Aufreizend zupfte sie an dem Ärmel ihres Pullovers und zog ihn über die Schulter hinunter. Aber auch jetzt beachtete Philip sie nicht, gebannt verfolgten seine Augen Fee, die ihrer Schwester Kaffee einschenkte. Tatjana nickte ihr schlechtgelaunt zu und setzte sich auf einen Stuhl, den sie ganz dicht neben Philip rückte. Sie griff nach einer Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter und Erdbeermarmelade, doch eigentlich hatte sie keinen Hunger, und so legte sie sie angebissen auf den Teller zurück. Die Blicke, mit denen ihr Freund jede Bewegung Fees bedachte, entgingen ihr nicht. »Kannst du nicht etwas Amüsanteres erzählen?« Tatjana versuchte es auf ihre kokette Art, die Philip sonst so gern mochte, doch jetzt sprang er verärgert vom Stuhl auf.

»Du bist ein oberflächliches dummes Ding ...«, stieß er gereizt hervor.

Als er Fees erschrockenen Blick auffing, hielt er inne und zündete sich im Stehen nervös eine Zigarette an, die Augen weiterhin auf die Schwester seiner Freundin gerichtet.

»Carl hat bis zwölf Uhr dreißig Dienst«, sagte Fee jetzt, um der Situation die Peinlichkeit zu nehmen. »Anschließend wollen wir uns in unserem Café treffen. Habt ihr nicht Lust mitzukommen?« Bittend wandte sie sich Tatjana zu. Die zuckte nur vage mit den Schultern.

»Frag doch ihn!«, antwortete sie unlustig und deutete auf Philip.

Der reagierte ausweichend:« Ich bin mit Otto verabredet, mal sehen.« Er empfand wenig Sympathie für den jungen Polizisten, den Fee in einigen Wochen heiraten wollte. Mit einem Blick auf seine goldene Armbanduhr drückte er die angerauchte Zigarette achtlos auf einem Teller der Serie »Romantica« aus.

Nachdem er sich verabschiedet hatte, räumte Fee nervös das Geschirr ab, stellte es in die Spüle und ließ Wasser darüberlaufen. Sie vermied jeden Blickkontakt mit Tatjana, die auf zwei Stuhlbeinen gefährlich vor- und zurückschaukelte. Beide Schwestern schwiegen, Fee verlegen, Tatjana wütend. Während ihre Schwester das Geschirr abspülte, bediente sich Tatjana aus der Zigarettenschachtel, die Philip auf dem Tisch hatte liegenlassen.

»Alle mal herschauen!«

Überrascht folgten die Schwestern der Aufforderung und wandten sich zur Tür. Dort hatte sich Stella erwartungsvoll postiert, auf einem breiten Samtbügel hielt sie Fees Hochzeitskleid feierlich in die Höhe. Beim Anblick des weißen Kleides brachen Tatjana und Fee gleichzeitig in Entzückensschreie aus.

»Das muss ich sofort anprobieren.« Der Teller fiel krachend in das Spülbecken, rasch trocknete Fee sich die Hände ab und schlüpfte eilig aus dem karierten Wollrock und ihrem grünen Pullover. Mit Stellas Hilfe stieg sie andächtig in das Kleid und drehte sich dann unter den kritischen Blicken ihrer Schwestern um sich selbst. »Wie sehe ich aus?« Plötzlich unsicher geworden, ließ sie ihre Arme wieder senken und lief in das Schlafzimmer ihrer Mutter, um sich in dem großen Spiegel zu betrachten. Stella und Tatjana folgten ihr.

»Du siehst wundervoll aus.« Tatjana kam aus dem Staunen nicht heraus. Wie attraktiv ihre Schwester doch in diesem Kleid wirkte! »Wie hast du das nur gemacht, Stella?«

Noch vor Wochen war Fee zutiefst unglücklich gewesen, als Iris von Stetten ihrer Tochter erklären musste, dass absolut kein Geld für ein Brautkleid vorhanden war. »Du kannst meines haben«, hatte sie vorgeschlagen. Als Fee das Kleid aus dem Jahr 1902 anprobierte, war sie in Tränen ausgebrochen. Es stand ihr nicht, es passte nicht, und die Mode hatte sich inzwischen so verändert, dass man es beim besten Willen nicht mehr tragen konnte. Mit dem wehmütigen Einverständnis der Mutter hatte sich Stella darangemacht, es aufzutrennen und einen neuen Entwurf daraus zu fertigen. So war ein Kleid in der modernen Silhouette mit tiefgezogener Taille entstanden, von dem keine der Frauen geglaubt hatte, dass es so schön werden würde. Obwohl es locker herabfiel, betonte es die grazile Figur der jungen Braut. Als einzigen Schmuck hatte Stella eine weiße Stoffblume aus Organza an das Kleid gesteckt.

»Hoffentlich gefällt es Carl«, überlegte Fee laut. »Vielleicht ist es ihm zu modern, zu extravagant?« Mit aufkommender Sorge dachte sie auch an ihre zukünftigen Schwiegereltern und deren kleinbürgerlichen Geschmack. Sie konnte sich die befremdeten Kommentare des Ehepaares gut vorstellen.

Doch Tatjana wischte ihre Bedenken beiseite. »Es ist dein Tag«, sagte sie entschieden. »Du siehst wundervoll darin aus, und selbst wenn du deinen zukünftigen Schwiegereltern nicht gefällst, Carl wird dich schön finden, glaube mir! Stella hat ein einzigartiges Kleid geschaffen.«

Stella errötete bei diesem Lob, denn meist wurde sie von den älteren Schwestern kaum beachtet.

»Da hat sich ja die alte Nähmaschine gelohnt, wenn du so ein Traumkleid darauf nähen kannst«, räumte Tatjana großmütig ein, denn erst vor ein paar Wochen hatte die Nähmaschine unter ihrem heftigen Protest im Mädchenzimmer Einzug gehalten.

Frau Meier aus dem zweiten Stock hatte sie Fee geschenkt, als Dank für die vielen Stunden, die ihr das junge Mädchen Gesellschaft leistete aus Mitleid mit der alten Frau, die allein lebte und ihre Erinnerungen an die Zeit pflegte, in der sie in Paris Tänzerin gewesen war. Jeden Monat schickte ihr ein alter Verehrer ein französisches Modemagazin, und Stella konnte kaum erwarten, es durchzublättern. Inzwischen kannte sie die Namen der großen französischen Modeschöpfer Schiaparelli, Poiret und Lanvin. Ganz besonders hatte es ihr Coco Chanel angetan; diese junge Frau, die in Paris gerade Karriere machte, war Stellas großes Vorbild. Eines Tages wollte auch sie so berühmt sein wie sie und in Berlin oder Paris Kleider für die schönsten Frauen Europas entwerfen.

Stella war ehrgeizig, und im Gegensatz zu Tatjana, die mit ihrer Zeit wenig anzufangen wusste, entwickelte sie ambitionierte Pläne für die Zukunft. Erfolg haben und unabhängig sein, vor allem aber nicht von einem Mann die finanzielle Versorgung erwarten, das war Stellas Ziel.

Als sie ihrer Mutter von ihrem Vorhaben erzählte, reagierte Iris von Stetten freilich nur mit einem verächtlichen Achselzucken. »Was ist das schon: für andere Frauen Kleider nähen. Außerdem brauchst du dafür eine Ausbildung, und in diesen Zeiten bekommst du keine entsprechende Stelle. Das kannst du vergessen!« Damit war für sie das Thema abgetan.

Aber Stella hatte sich nicht so leicht von ihren Plänen abbringen lassen. Heimlich hatte sie sich nach ausführlichen Erkundungen im besten Salon Münchens, in dem die Frauen der Großindustriellen ihre Kleider kauften, eine Chance erkämpft. Bedingung für eine Lehrstelle war, dass sie am 10. November ein selbstentworfenes und selbstgenähtes Abendkleid vorführte. Es könne auch ein Brautkleid sein, hatte die Inhaberin des Salons hinzugefügt. Morgen war der 10. November, und da wollte Stella das Hochzeitskleid ihrer Schwester präsentieren.

Als sie jetzt Fee beobachtete, die sich immer noch mit leuchtenden Augen vor dem Spiegel drehte und mit den Fingern ehrfürchtig über die schmeichelnde Seide strich, schlug Stellas Herz schnell und heftig vor Freude. Dieses Kleid war der Beginn ihrer Karriere, keine Sekunde zweifelte sie mehr daran.

»Du bist wunderschön«, betonte Tatjana noch einmal, tiefe Wehmut im Herzen. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als Philip zu heiraten. Und jetzt war es ihre jüngere, unscheinbare Schwester, die als Erste vor den Traualtar trat, in diesem sensationellen Kleid, mit dem Mann, den sie so sehr liebte. Doch dann schüttelte Tatjana Eifersucht und Enttäuschung ab, warf ihre langen blonden Haare in den Nacken und bemühte sich um einen munteren Tonfall.

»Wir müssen jetzt wirklich los«, erklärte sie und wandte sich rasch ab, da ihr abermals Tränen in die Augen stiegen.

»Ja, ja ... Ich komme schon.« Vorsichtig stieg Fee mit Stellas Hilfe aus dem Kleid und schlüpfte rasch in ihre alten Sachen. »Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast«, bedankte sie sich überschwenglich bei Stella, bevor sie mit der ungeduldig wartenden Tatjana die Wohnung verließ.

Im Innenhof schlossen die beiden Mädchen ihre Fahrräder auf und schoben sie durch die große Toreinfahrt.

»Steig noch nicht auf!«, schlug Fee vor. »Ich möchte mit dir reden.«

Widerwillig gehorchte Tatjana. »Worüber denn?«

»Über Mama. So kann es nicht weitergehen, du siehst doch, wie überfordert sie ist. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.«

»Was denn?«, fragte Tatjana unlustig. »Sie ist einfach unfähig, die Firma zu leiten. Vielleicht sollte sie versuchen, sie zu verkaufen.« Fee schüttelte missbilligend den Kopf. »Wie kannst du nur so etwas sagen! Es ist ein Familienunternehmen und auch wir sollten allmählich Verantwortung dafür übernehmen.«

Tatjana wehrte ab. »Ich? Niemals! Mich interessiert das alles nicht.« Abrupt blieb sie stehen. »Hast du deswegen den Sekretärinnenkurs gemacht, um Mama in der Firma zu helfen?«

»Nein, du weißt doch, Carl möchte nicht, dass seine Frau arbeitet. Aber«, fügte sie rasch hinzu, »Mama muss doch von etwas leben.«

»Vielleicht kann sie noch einmal heiraten«, schlug Tatjana halbherzig vor. Sie dachte an das müde, verhärmte Gesicht ihrer Mutter, an den grauen Haaransatz. Falls sie einen Mann findet, fügte sie in Gedanken hinzu. »Sie sollte sich die Haare färben, ein wenig Puder auflegen ...«, dachte sie laut.

»Blödsinn«, unterbrach Fee sie verächtlich. »Ich bin sicher, Vater war ihre große Liebe, eine Liebe, die man nur einmal im Leben hat und die man nie vergessen kann.«

»Ja«, antwortete Tatjana leise, »das kann man wohl nicht.« Sie dachte an Philip und daran, dass sie niemals in ihrem Leben einen anderen Mann haben wolle. Aber wie stand es um seine Gefühle? »Ich bin verführbar.« Diesen Satz konnte Tatjana nicht vergessen. In der vergangenen Nacht hatte sie den Entschluss gefasst, ihm keine Vorwürfe mehr zu machen, ihn auch nicht ständig auszuhorchen, um ihn bei einer eventuellen Lüge zu ertappen. Sie durfte sich nicht mehr von dieser unerträglichen Eifersucht quälen lassen, die sie seit Monaten plagte. Sie musste sich verbieten, ständig daran zu denken, dass Philip auch anderen Frauen gefiel und er jedem hübschen Mädchen gegenüber schwach werden könnte.

Schweigend schoben die Mädchen ihre Räder in Richtung Siegestor. Tatjana fühlte sich unbehaglich, und sie wollte losradeln.

Fee umklammerte mit der Hand die Lenkstange ihrer Schwester, um sie am Wegfahren zu hindern. »Mama kann keine Firma leiten. Sie war immer nur Hausfrau und Mutter. Und mit der Manufaktur geht es bergab. Es muss etwas geschehen!«

»Und? Was schlägst du vor?« Tatjana war nun doch neugierig, denn Fee schien einen Plan zu haben.

»Wir werden zu unseren Großeltern an den Starnberger See hinausfahren und sie um Geld bitten.«

Die Schwestern kannten ihre Großeltern nicht, sie wussten nur, dass es zu einem Bruch zwischen ihrem Vater und seinen Eltern gekommen war, als er ihre Mutter geheiratet hatte.

Hellhörig geworden, blieb Tatjana stehen. »Weißt du etwas über sie?«

»Nicht viel. Aber vor einigen Tagen hat mir Carls Vater die Frage gestellt, ob wir mit der reichen Familie von Stetten verwandt seien. Er wusste sogar, dass Vater die Porzellanmanufaktur von seiner Tante Luise Kamp geerbt hat.«

»Seltsam«, sagte Tatjana, »fremde Leute fragen nach unserer Familie, und wir wissen nichts über sie. Was ist da passiert?«