Eine Nacht im November - Katja Maybach - E-Book
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Eine Nacht im November E-Book

Katja Maybach

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Beschreibung

Warum verließ ihre Mutter vor Jahren die Familie? Die mitreißende Familiensaga »Eine Nacht im November« von Katja Maybach als eBook bei dotbooks. Erst vier war Sarah an dem Tag, als ihre Mutter ohne Erklärung aus ihrem Leben verschwand – jetzt, dreißig Jahre später, erreicht sie die Nachricht von ihrem Tod. Um endlich zu erfahren, was damals geschehen ist, fliegt Sarah nach Paris zur Beerdigung. Doch dort schlägt ihr offener Hass entgegen: Eine alte Frau beschimpft sie als ›Tochter des Nazis‹. Sarah versteht die Welt nicht mehr, ist nun aber umso entschlossener, die Wahrheit zu finden, egal wie schmerzhaft sie sein mag. Schon bald stößt sie im Haus ihrer Mutter auf das alte Foto eines Liebespaars aus dem Jahr 1932, das der Schlüssel zu all ihren Fragen sein könnte – und gleichzeitig ihre ganze Welt aus den Angeln zu reißen droht ... »Sehr facettenreich, dramatisch und voller Liebe.« Das Magazin Doppelpunkt Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Familiengeheimnisroman »Eine Nacht im November« von Bestsellerautorin Katja Maybach wird Fans von Micaela Jary, Kate Morton und Claire Winter begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 538

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Über dieses Buch:

Erst vier war Sarah an dem Tag, als ihre Mutter ohne Erklärung aus ihrem Leben verschwand – jetzt, dreißig Jahre später, erreicht sie die Nachricht von ihrem Tod. Um endlich zu erfahren, was damals geschehen ist, fliegt Sarah nach Paris zur Beerdigung. Doch dort schlägt ihr offener Hass entgegen: Eine alte Frau beschimpft sie als ›Tochter des Nazis‹. Sarah versteht die Welt nicht mehr, ist nun aber umso entschlossener, die Wahrheit zu finden, egal wie schmerzhaft sie sein mag. Schon bald stößt sie im Haus ihrer Mutter auf das alte Foto eines Liebespaars aus dem Jahr 1932, das der Schlüssel zu all ihren Fragen sein könnte – und gleichzeitig ihre ganze Welt aus den Angeln zu reißen droht ...

»Sehr facettenreich, dramatisch und voller Liebe.« Das Magazin Doppelpunkt

Über die Autorin:

Katja Maybach hat seit jeher zwei große Leidenschaften: das Schreiben und die Mode. Nach einer langen und bewegenden Karriere in der Modebranche, unter anderem in Paris, beschloss sie, ihre zweite Leidenschaft zum Beruf zu machen und begann, erfolgreich Romane zu schreiben. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in München.

Katja Maybach veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Familiengeheimnisromane »Melodie der Erinnerung«, »Die Stunde der Schwestern«, »Das Haus unter den Zypressen«, »Der Duft von Rosenöl und Minze« und »Eine Nacht im November«.

Die Website der Autorin: katja-maybach.de

Die Autorin im Internet: facebook.com/katja.maybach

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eBook-Neuausgabe Januar 2024

Copyright © der Originalausgabe 2007 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Adobe Stock / Bondgofoto sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-927-7

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Katja Maybach

Eine Nacht im November

Roman

dotbooks.

Kapitel 1Sarah

Das kleine Mädchen rennt den Kiesweg hinunter zum See. Seine langen blonden Haare flattern im Wind, und als es sich bückt, um die glänzenden Kastanien aufzuheben, leuchtet das rote Kleidchen hell in der Sonne des frühen Herbstes. »Mama«, ruft es, »Mama, schau, was ich gefunden habe ... Mama, wo bist du?« Suchend wendet das Kind sich um. Und plötzlich sieht es die Mutter. Sie sitzt in einem alten Holzkahn und fährt langsam über den See, immer weiter weg von dem Ufer, weg von der Tochter, weg aus deren Leben.

Der Himmel wird dunkel, die Wellen des Sees schlagen düster gegen den schaukelnden Kahn. Die Mutter reagiert nicht auf die Rufe der Tochter, die nun in lautes Schluchzen übergegangen sind, sie wendet sich ab, ergreift die beiden Ruder, und langsam verschwindet der Kahn in der Düsternis des herbstlichen Nebels. Die Mutter ist gegangen.

*

Das eigene Schluchzen hatte Sarah geweckt, und zwischen Nacht und Tag schien es, als ströme das Leben von ihr fort, bis sie begriff, dass sie nur geträumt hatte.

Vorsichtig richtete sie sich auf. Sie konnte ihren Herzschlag in den Ohren hämmern hören, als sie sich mit beiden Händen durch die schweißnassen Haare fuhr. Doch vielleicht war es gar kein Traum gewesen, sondern die Erinnerung, die plötzlich nach fast dreißig Jahren aus dem schwarzen Nichts zurückgekehrt war. Sarah wusste noch vieles aus der Kindheit, doch der Tag, an dem ihre Mutter den Vater und sie verlassen hatte, war in ihrem Gedächtnis ausgelöscht, als hätte es diesen Tag nie gegeben. »Sie ist nach Frankreich zurückgegangen«, hatte ihr Vater damals erklärt und sie fest in die Arme genommen. Mehr sagte er nicht, und Sarah hatte auch nicht gefragt. »Die Kleine ist wirklich sehr tapfer«, hatte sie eines Abends ihr neues Kindermädchen zur Haushälterin sagen hören. Doch Sarah war nicht tapfer. Sie weinte nur, wenn niemand es sah. Sie war sicher, ihre Mutter hatte sie verlassen, weil sie, Sarah, es nicht wert war, geliebt zu werden.

Im Alter von dreizehn Jahren hatte sie sich plötzlich ein vermeintliches Unglück der Mutter zurechtgelegt, ein trauriges, geheimnisvolles Frauenschicksal vermutet, bedingt durch einen gefühllosen Ehemann. Für kurze Zeit war die Mutter zur romantischen Heldin und der Vater zu einem romanhaften Bösewicht geworden, der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts entstiegen. Doch diese Phase hatte nicht lange gedauert, und allmählich verblasste die Erinnerung an die schöne Frau, die oft so abweisend und unnahbar gewesen war. Nie sprach sie mit ihrem Vater darüber, und obwohl sie sich sehr nahestanden, hielt eine unüberwindbare Scheu beide davor zurück, über die Vergangenheit zu reden. Vater und Tochter waren sich zu ähnlich, beide konnten sie Gefühle weder zeigen noch darüber sprechen. Heute war Sarah davon überzeugt, dass er den wahren Grund kannte, warum seine Frau gegangen war. Vielleicht wollte er mit seinem Schweigen die Tochter schützen, aber nach so vielen Jahren war auch das scheinbar bedeutungslos geworden.

*

Sarah erhob sich und öffnete weit das große Fenster. Auf den Wiesen lag glitzernder Tau, und so sah der Garten aus wie nach einem Regen, obwohl die Nacht klar gewesen war und der Himmel jetzt in dem intensiven Blau eines frühen Herbstmorgens erstrahlte. Sarah blieb vor dem offenen Fenster stehen, und ihr Herz umfasste das Bild vor ihren Augen, den vertrauten Ausblick auf den Garten und die Allee mit den alten Kastanienbäumen, die hinunter zum See führte. Sarah atmete tief den Geruch von nassem Laub ein, bevor sie leicht fröstelnd das Fenster wieder schloss. Für einen Moment lehnte sie ihr Gesicht an die kühle Scheibe und hing ihren Gedanken nach. Vor einer Woche hatte sie ihren vierunddreißigsten Geburtstag gefeiert, und sie war endlich zufrieden mit ihrem Leben. Auch wenn ihre Kopfschmerzen in den vergangenen Monaten wieder verstärkt aufgetreten waren. Migräne, hatte ein Arzt vor vielen Jahren erklärt. Sie begann mit Augenflimmern und Übelkeit, bis starke Kopfschmerzen einsetzten. Psychisch bedingt, können sie immer in starken Stresssituationen auftreten, lautete damals die Diagnose des Neurologen.

Michael hatte sie vor einigen Tagen scherzend gefragt, ob das mit ihrer bevorstehenden Heirat zusammenhänge, doch als er sie dabei lachend umarmte, hatte sie in seinen Augen Unsicherheit und Sorge gesehen.

Sarah löste sich von dem Fenster, ging mit raschen Schritten hinüber in ihr Badezimmer und stellte sich unter den heißen Strahl der Dusche. Mit zugekniffenen Augen tastete sie nach dem Shampoo und erinnerte sich an den warmen Sommertag vor acht Jahren, an dem Michael sie auf der Treppe des Justizpalastes angesprochen und voller Respekt gefragt hatte, ob sie die Tochter des berühmten Anwalts Rolf von Schröder sei. Sie hatte seine Frage mit einem spöttischen Lachen bejaht, doch sie hatte sich sofort in den gutaussehenden jungen Mann verliebt.

Und in genau einer Woche wollten sie nun heiraten. Sarah hatte sich nach langen Diskussionen endlich zu einem festen Termin überreden lassen. Damit gab sie nicht nur Michaels Drängen nach, sondern sie erfüllte auch den größten Wunsch ihres alten Vaters, der noch vor Ende des Jahres seine Kanzlei an sie und Michael übergeben wollte. Sarah arbeitete als Anwältin bei ihm, und auch Michael war Mitglied der Sozietät. Ihr Vater hatte den ehrgeizigen jungen Anwalt vor sieben Jahren in seine Kanzlei genommen und sah in ihm den geeigneten Nachfolger, denn Michael arbeitete hart, flößte seinen Gegnern Respekt ein und gab seinen Mandanten Sicherheit.

Diese Sicherheit und das starke Gefühl, nie von ihm enttäuscht zu werden, vermittelten Sarah die Beständigkeit und Harmonie, nach denen sie sich immer gesehnt hatte. Doch tief in ihrem Innern lauerte eine Unzufriedenheit, die sie nicht zuordnen konnte und die sie stets sofort wieder aus ihren Gedanken verdrängte. Genauso wie sie ihre heimlichen Träume von einer leidenschaftlichen Liebe verbannte. Solche Wünsche waren unreif und kindisch für eine Frau von vierunddreißig. Als sie sich jetzt die langen Haare wusch und das Pflegeshampoo in die Spitzen einmassierte, überlegte sie, ob sie überhaupt eine Frau war, die große Leidenschaft empfinden konnte.

»Mein Leben ist perfekt«, murmelte sie beschwörend vor sich hin, »es muss einfach perfekt sein.« Daran würde auch der morgendliche Traum nichts ändern, selbst wenn er sie verunsichert hatte und alte Ängste aufflackern ließ.

Sie stellte die Dusche ab, schlüpfte in ihren weißen Bademantel und ging in das Schlafzimmer zurück. Es war noch sehr früh am Morgen, sie hatte noch Zeit.

Wieder dachte sie an die Mutter, an die schöne dunkelhaarige Frau. Sie hatte traurig ausgesehen, daran erinnerte sich Sarah genau. Hatte sie ihren Mann nicht geliebt? Hatte es vielleicht sogar einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben? Einem plötzlichen Impuls folgend, verließ Sarah den Raum und schlich sich leise wie ein Einbrecher die Treppe hinauf in ihr altes Kinderzimmer. Lange war sie nicht mehr hier gewesen. Sarah sah sich in dem Halbdunkel um, es war still hier oben, und für einen kurzen Moment schien es, als erwache die Kindheit wieder zum Leben.

Suchend blickte sie umher. Vielleicht fand sie etwas, irgendetwas, das an die Mutter erinnerte und das sie früher übersehen hatte. Sie kniete sich auf den Boden vor die alte, bemalte Spielzeugkiste, auf der ihr großer Teddybär saß. Mit sechs Jahren hatte sie ihn geschoren und ihm dann eine hellblaue Hose gehäkelt, damit er ohne Fell nicht frieren musste. Mit einem kleinen Lächeln strich sie ihm über die Schnauze und setzte den Gefährten ihrer Kindheit neben sich auf den Boden. Sie öffnete die Kiste und griff nach einem großen Foto, das obenauf lag. Eine riesige Schultüte, dahinter ein trauriges Kindergesicht. Ihr Gesicht.

Sarah wühlte in den Spielsachen, in den Büchern, den Puppen, den Kleidchen und den winzigen Schühchen, doch sie fand nicht, wonach sie suchte. Mühsam richtete sie sich wieder auf. Es war sinnlos. Wieso durchwühlte sie die alten Sachen, obwohl sie doch genau wusste, dass es nichts, absolut gar nichts gab, was an die Mutter erinnern würde?

Ihr Vater hatte ganze Arbeit geleistet, als er damals alle persönlichen Sachen seiner Frau wegbringen ließ. Kleider, Möbel, Fotos, alles war abtransportiert worden. Eine Woche nach dem Weggehen seiner Frau schien es, als habe Mirjam von Schröder nie gelebt. Lange sah Sarah sich um, bevor sie das Zimmer wieder verließ und auf Zehenspitzen hinunter in die Küche ging.

Immer noch bemüht, keinen Lärm zu machen, kochte sie sich einen Tee und setzte sich an den kleinen Tisch unter dem Bogenfenster. Auch von hier aus hatte man den Blick auf den See und die alte Allee mit den hohen Kastanienbäumen. Ein Zweig mit den rotgoldenen Blättern hing so tief, dass er die Sicht zum Teil versperrte und man nur ein kleines Stück des Ufers sah. Wieder fiel Sarah der Traum ein, in dem sie die glänzenden Kastanien aufgehoben hatte. Eines wusste Sarah noch genau, es war Herbst gewesen, als ihre Mutter ging. Aber das mit dem Kahn ergab keinen Sinn, denn ihre Mutter war sicher durch die Haustür gegangen, hatte sich ein Taxi bestellt oder war mit dem Auto weggefahren. In einem Kahn über den See zu fahren, das hätte doch Flucht bedeutet, heimliche, angstvolle Flucht. Aber vor was, vor wem? Es war ein Traum gewesen, Sarah hatte jetzt keine Zweifel mehr.

Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie das Öffnen der Küchentür überhörte und zusammenschrak, als die Haushälterin plötzlich neben ihr stand.

»Guten Morgen!« Frau Boos beobachtete erstaunt Sarah, die sich erhoben hatte und jetzt mit der Teetasse in der Hand unruhig in der großen Küche auf und ab lief.

»Ich soll dir von deinem Vater ausrichten, dass er schon in die Kanzlei gefahren ist.«

»Ja, ja, danke ...« Zerstreut und noch ganz in Gedanken nickte Sarah Frau Boos zu, verließ die Küche und ging in das große Arbeitszimmer hinüber, um noch einige Unterlagen zu holen. Während sie einen Schriftsatz und verschiedene Briefe in ihre Mappe schob, dachte sie an ihren Vater und an die Konsequenzen für ihn, wenn er sich endgültig aus der Kanzlei zurückziehen würde. Bis zu seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr hatte Rolf von Schröder alle Fäden selbst in der Hand gehalten, ehe er dann nach und nach die Aufgaben an seine Anwälte abgab. Aber auch jetzt noch, hoch in den achtzig, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Tag als Erster im Konferenzraum zu sitzen, um an der Morgenbesprechung teilzunehmen. Anschließend zog er sich in sein Büro zurück, erledigte Anrufe und Korrespondenz, ehe er mittags mit einem der Anwälte oder mit Sarah zum Essen ging, und gegen zwei Uhr fuhr er dann zurück zu seinem Haus am Starnberger See. Wie würde ihr Vater, überlegte Sarah, es verkraften, wenn er nach der endgültigen Übergabe nicht mehr jeden Tag in die Kanzlei fahren konnte? Sie konnte ihn sich einfach nicht als Golf spielenden Pensionär vorstellen, und sie hegte große Zweifel, dass er gut mit der neuen Situation und der daraus resultierenden Einsamkeit zurechtkommen würde.

Gerade als Sarah ihre Mappe schließen wollte, surrte das Faxgerät, und sie ging hinüber, nahm das Blatt heraus und legte es zu ihren Unterlagen, um es ihrem Vater in die Kanzlei mitzubringen. Doch als sie einen kurzen Blick darauf warf, begann ihr Puls zu jagen, der Mund wurde trocken, und ihre Hand zitterte, als sie nochmals nach der Seite griff. Die Nachricht war für sie bestimmt.

Sehr geehrte Frau von Schröder,

es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter, Frau Mirjam Moses, vergangenen Freitag nach schwerer Krankheit gestorben ist.

Durch ein Versehen unserer Kanzlei, für das wir uns vielmals entschuldigen möchten und das wir zutiefst bedauern, wurden Sie leider nicht rechtzeitig über den Tod Ihrer Mutter in Kenntnis gesetzt. Da wir Sie heute Morgen telefonisch nicht erreichen konnten, hoffen wir, dass Sie dieses Fax noch rechtzeitig erhalten. Wir bitten Sie, an der Beerdigung heute Nachmittag sechzehn Uhr dreißig teilzunehmen.

Vorsorglich haben wir für Sie einen Flug München - Paris gebucht. Abflug München um zehn Uhr fünfzig, Ankunft Paris zwölf Uhr fünfundzwanzig.

Wir werden Sie am Flughafen Charles de Gaulle abholen und bitten Sie, uns kurz Ihre Ankunft zu bestätigen. Hochachtungsvoll

Serge Delmas

Sarahs Hand mit dem Blatt Papier sank kraftlos herunter. Sie hatte das Gefühl, die Welt um sie brach zusammen. Nach einer Weile bückte sie sich, um das Fax, das ihrer Hand entglitten war, aufzuheben.

Mehrmals las sie das Schreiben, das von einer Pariser Anwaltskanzlei kam, durch. Langsam richtete sie sich wieder auf, ging zu dem Tisch und setzte nur zwei Worte unter das Schreiben, bevor sie es zurückfaxte.

Ich komme.

Dann stolperte sie die Treppe hinauf, stopfte einige Sachen in ihre Reisetasche und bestellte ein Taxi. Schon zum Gehen gewandt, ließ sie ihre Tasche fallen, griff noch einmal nach dem Telefon und wählte Michaels Nummer in der Kanzlei. Sie vermutete, dass er bereits hinter seinem Schreibtisch saß, um zum letzten Mal die Akten für einen wichtigen Gerichtstermin am Nachmittag durchzugehen. Michael war ein Perfektionist, und Sarah wusste, dass er auch diesen Prozess bis ins Kleinste vorbereitete, nichts durfte dem Zufall überlassen werden.

»Hallo, wo steckst du denn? Ich warte schon auf dich, wir wollten doch zusammen noch einmal die Unterlagen ...«

»Michael«, unterbrach ihn Sarah hastig, »Michael, hör mir bitte jetzt genau zu! Ich komme heute nicht in die Kanzlei, in zwei Stunden fliege ich nach Paris zu der Beerdigung meiner Mutter. Sie ist vor ein paar Tagen gestorben.«

Michael schwieg, dann antwortete er unsicher: »Das tut mir leid, aber ich denke, sie hat deinen Vater und dich vor vielen Jahren verlassen und sich nie mehr gemeldet. Außerdem«, hier machte er eine bedeutungsvolle Pause, »heiraten wir in einer Woche.«

Unwillkürlich musste Sarah lachen. »Michael, ich bin spätestens morgen wieder zurück. Und für unsere kleine Hochzeit ist doch schon längst alles vorbereitet. Ich habe eine Bitte«, fuhr sie schnell fort, bevor Michael etwas entgegnen konnte, »kannst du meinem Vater die Nachricht schonend beibringen. Ich habe jetzt einfach keine Zeit und keinen Nerv mehr dazu. Vielleicht regt ihn die Nachricht vom Tod seiner Frau doch auf, auch wenn es schon dreißig Jahre her ist, dass sie uns verlassen hat.«

»Sarah, ich verstehe wirklich nicht, warum du dir das antun willst. Und ich bin mir sicher, dass es deinem Vater nicht recht ist, wenn du so Hals über Kopf fliegst. Wäre heute nicht ...«, hier zögerte Michael einen Moment, bevor er weitersprach, »dieser Gerichtstermin mit Hübner, dann würde ich dich ...«

»Dr. Mayer könnte ihn für dich wahrnehmen, er ist in den Fall eingearbeitet, das weißt du ...«, fiel ihm Sarah rasch ins Wort, glücklich darüber, dass er offensichtlich in Erwägung zog, sie zu begleiten. Michael war kein Mann der großen Worte, aber er wollte sie jetzt nicht im Stich lassen, da sie ihn wirklich brauchte.

»Lass mich bitte ausreden, Sarah! Ich wollte sagen, dass ich dich begleiten würde, wenn es den Termin heute Nachmittag nicht gäbe, aber ich möchte ihn unbedingt selbst wahrnehmen. Ich denke, das ist ganz im Sinne deines Vaters.«

Sarah fühlte sich verletzt, doch nach kurzem Zögern überspielte sie diese Regung und antwortete mit betonter Munterkeit: »Also, ich muss jetzt los, mein Taxi wartet sicher schon. Und viel Erfolg dann heute Nachmittag! Sicher wird mein Vater mit dir zufrieden sein«, setzte sie noch nach.

Michael überhörte den ironischen Unterton in ihrer Stimme. »Melde dich, wenn du angekommen bist, Sarah ... und ... ich liebe dich.«

»Aber das weiß ich doch.«

Schnell legte sie auf und hastete die Treppe hinunter. Kurz sah sie noch einmal in die Küche, wo Frau Boos an dem kleinen Tisch vor dem Fenster saß, ihren Kaffee trank und Zeitung las. Auf dem großen Tisch in der Mitte der Küche hatte sie frisches Gemüse ausgebreitet, um zu demonstrieren, dass sie bereits einkaufen gewesen war.

»Hallo, ich gehe dann«, erklärte Sarah der Haushälterin und überlegte kurz, ob sie ihr von dem Fax erzählen sollte und dass sie im Begriff war, nach Paris zu fliegen. Frau Boos kümmerte sich bereits seit fünfundzwanzig Jahren um Vater und Tochter, erledigte den Haushalt und ertrug seit einiger Zeit mit stoischer Ruhe die wachsende Kritik an ihrer Kochkunst und die immer öfter auftretende Übellaunigkeit des alten Rolf von Schröder. Sie kannte die Familiengeschichte, vier Jahre nach Mirjam von Schröders Verschwinden war sie ins Haus gekommen, und für sie war Sarah immer das kleine Mädchen geblieben, das man verwöhnen musste, um ihm über den Verlust der Mutter hinwegzuhelfen.

Sarah entschloss sich, nichts zu erzählen, sie hätte dadurch nur eine endlos lange Diskussion entfacht. Und so verließ sie schnell das Haus.

Für einen Moment blieb sie stehen und wartete ab, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Plötzlich hatte sie es nicht mehr eilig wegzukommen, nach Paris zu fliegen, vielleicht endlich Antwort auf die Fragen zu bekommen, die auch heute noch wie eine unsichtbare Wand zwischen ihr und ihrem Vater standen. Sie hatte Angst vor der Wahrheit, Angst vor dem, was sie in Paris erwartete. Wie ein kalter Hauch streifte sie die Endgültigkeit des Todes, der ihrem heimlichen Traum von einer Rückkehr der Mutter unbarmherzig und für alle Ewigkeit ein Ende gesetzt hatte. Und als Sarah zu dem wartenden Taxi ging, wusste sie, der Moment war gekommen, um endlich das Schweigen zu durchbrechen, das über dem Leben ihrer Mutter lag.

*

Am Pariser Flughafen wurde Sarah von einem jungen Angestellten der Sozietät Delmas erwartet. Er hielt mit beiden Händen ein Schild hoch, auf dem in großen Lettern ihr Name stand. Als sie auf ihn zuging, begrüßte er sie hastig, stellte sich als Pierre Dupont vor, griff nach ihrer Reisetasche und eilte ihr schweigend voraus zum Ausgang. Er wurde auch nicht gesprächiger, als sie in seinem Auto saßen und er den Wagen auf die Autobahn lenkte. Erst hier erklärte er Sarah, dass die Beerdigung nicht in Paris, sondern in der Normandie stattfinden werde. »Und zwar in dem kleinen Dorf, in dem Ihre Mutter ein Haus besessen hat.« Ein forschender Blick traf Sarah von der Seite, so als erwarte er einen Einspruch von ihr. Doch Sarah schwieg. Sie hätte nichts dazu sagen können, außer dass sie sich plötzlich müde fühle und daran zweifle, mit ihrem spontanen Kommen die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Der Mann neben ihr räusperte sich, bevor er unsicher weitersprach: »Leider ist Dr. Delmas heute Nachmittag verhindert, er bedauert es sehr, nicht an der Beerdigung teilnehmen zu können. Doch Sie werden ihn dann morgen bei der großen, der eigentlichen Trauerfeier für Ihre Mutter kennen lernen.«

Sarah erwiderte nichts darauf. Was sollte das bedeuten, die »große, die eigentliche Trauerfeier«? Als sie sich weiterhin in Schweigen hüllte, nahm der junge Mann ein längliches Kuvert aus dem Handschuhfach und legte es auf ihren Schoß. »Das ist Ihre persönliche Einladung«, erklärte er. Sarahs Schweigen irritierte ihn. »Leider spreche ich kein Deutsch, aber ich hoffe, Sie verstehen mein Französisch, ich weiß, ich spreche sehr schnell.«

Sarah schüttelte lächelnd den Kopf: »Machen das nicht sämtliche Franzosen?« Sie hatte alles verstanden, wenn sie es auch nicht ganz begreifen konnte. Für ihre Mutter wurde morgen eine große Trauerfeier veranstaltet. Was sollte das bedeuten, wer war sie gewesen, und wie hatte sie gelebt? In ihrer Vorstellung hatte sie ihre Mutter stets in einer kleinen, bescheidenen Wohnung gesehen, allein, bekümmert und nicht sehr glücklich.

Sarah atmete tief durch, sie spürte, wie lang gehütete Vorstellungen ihr entglitten, sich plötzlich auflösten. Die Dinge nahmen einen beunruhigenden Verlauf. Ihre Stimme klang belegt, als sie unsicher sagte: »Ich wollte morgen nach München zurückfliegen.«

»Nein.« Pierre Dupont wurde plötzlich lebhaft. »Nein, das dürfen Sie nicht! Monsieur Delmas hat mir eingeschärft, Sie nach der Beerdigung in das Haus Ihrer Mutter zu bringen. Morgen hole ich Sie dort gegen Mittag ab, sodass Sie rechtzeitig zu der Trauerfeier in Paris sind.«

Sarah erschrak. Sie sollte die Nacht in einem einsamen Haus verbringen, in dem ihre Mutter vielleicht sogar gestorben war? Sarah bedauerte es heftig, Michael nicht so lange bedrängt zu haben, bis er den Prozess Hübner seinem Kollegen Dr. Mayer überließ, um mit ihr hierherzufliegen. »Ich weiß noch nicht ...«, sie zögerte, »ob ich bleiben werde.« Als der junge Mann Sarahs Unsicherheit bemerkte, versuchte er sie zu überreden: »Die Haushälterin Ihrer Mutter, Frau Schneider, erwartet Sie bereits. Es ist alles für Ihre Ankunft vorbereitet. Sie freut sich schon auf Sie.«

Das beruhigte Sarah etwas. Sie würde nicht allein in dem Haus der Verstorbenen sein. Vielleicht konnte sie mit dieser Frau reden, Einzelheiten über ihre Mutter erfahren. Wie hatte sie ausgesehen, war sie hier in Frankreich glücklich geworden, hatte sie vielleicht doch ihre Tochter vermisst, und ... wie war sie gestorben?

»Gut. Ich bleibe«, flüsterte sie nach längerem Schweigen. Sie würde versuchen, durch ihre Nachforschungen die vergangenen Jahre zu rekonstruieren, vielleicht sogar verstehen zu lernen, warum ihre Mutter ihr einziges Kind und den Mann verlassen hatte und warum sie nie mehr zurückgekehrt war. Sarah spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen und wie die Traurigkeit ihrer Kindertage mit Macht zurückkam. Sie fuhr der Wahrheit entgegen, doch war sie auch bereit, den Nebel der Heimlichkeiten, der das Leben ihrer Mutter einhüllte, zu durchdringen? Sarahs Herz klopfte bei diesem Gedanken. Die Jahre ihrer Kindheit hatten sie verwundbar gemacht, ließen sie nun wehrlos dem Augenblick der Wahrheit gegenübertreten.

Der junge Mann wurde jetzt redseliger. »Ich muss nach der Beerdigung sofort nach Paris zurück in die Kanzlei. Ich hole Sie aber morgen rechtzeitig ab.«

Während der weiteren Fahrt unterhielten sie sich über belanglose Dinge, über das Wetter in Paris, in München und über die Unpünktlichkeit verschiedener Fluggesellschaften. Erst kurz vor Deauville stellte ihm Sarah endlich die Frage, die ihr schon während der ganzen Fahrt auf der Seele brannte. »Haben Sie meine Mutter gekannt?« Doch Pierre Dupont schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein, Madame, ich weiß nur, dass Ihre Mutter seit vielen Jahren Mandantin der Sozietät war und dass sie eine langjährige Freundschaft mit Monsieur Delmas verband. Ich selbst arbeite erst seit kurzem dort.«

Sarah war über seine Antwort enttäuscht, doch gleichzeitig wuchs ihre Erregung, als der junge Mann nun von der Autobahn abfuhr und den Wagen auf eine schmale Landstraße lenkte. Hier hielt er bald darauf an und zog ein großes Blatt Papier aus der Tasche, auf dem mit schwarzem Filzstift ein Plan mit Straßen und Ortsangaben aufgezeichnet war. Schweigend stieg er aus, sah sich lange um, bis er ein Schild entdeckte, dann stieg er wieder ein, fuhr auf einer geraden Landstraße weiter, hielt wieder an, sah auf das Papier, fuhr ein Stück zurück und bog dann endlich in einen holprigen Weg ein. Ein Schild führte sie zu dem höher gelegenen Dorffriedhof. Pierre Dupont bremste mit quietschenden Reifen und hielt abrupt vor einer alten Kapelle mit einem kleinen, spitzen Turm.

»So, hier sind wir! Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell herfinden würde«, erklärte er und wandte sich Sarah zu. »Ich warte mit dem Wagen dort drüben«, er zeigte auf einen freien Platz, auf dem bereits einige Autos parkten. Sarah nickte ihm beim Aus steigen kurz zu. Nur verschwommen nahm sie die grau verwitterte Fassade der Kapelle wahr, als sie mit klopfendem Herzen auf die hohe Tür zuging, sie aufdrückte und hastig hineinschlüpfte. Langsam und geräuschvoll fiel das schwere Eisentor hinter ihr zu. Die wenigen Trauergäste, die sich gerade erhoben hatten, drehten sich nach ihr um und taxierten neugierig die junge Frau in dem eleganten schwarzen Hosenanzug, die unsicher am Eingang stehen geblieben war und sich dann rasch in die hinterste Bank drückte. Eine kurze Stille trat ein, bis die Totenglocke zu läuten begann und vier schwarz gekleidete Männer den mit weißen Lilien geschmückten Sarg hochhoben. Sie folgten dem Pfarrer, der allen voran mit langsamen Schritten die Kirche verließ und dabei ein Ave Maria betete. Schweigend zog die kleine Trauergemeinde an der bewegungslos in der letzten Bank verharrenden Sarah vorbei. Sie spürte einen Stich im Herzen, und für einen Augenblick wünschte sie sich verzweifelt, noch einen letzten Blick auf ihre tote Mutter werfen zu können. Hier in diesem Sarg lag sie, greifbar nahe, und doch für immer entfernt durch den Tod.

Einen langen Moment blieb Sarah sitzen, ließ die Stille des Raumes auf sich wirken und atmete tief den Geruch von Weihrauch und weißen Lilien ein, mit denen die einfache Kapelle üppig geschmückt war. Zögernd stand sie auf, und fast widerwillig verließ sie die Kapelle. Ein kalter Wind blies ihr ins Gesicht, verfing sich in den Haaren und zerrte an der Jacke ihres dünnen Hosenanzugs. Mit leichtem Schaudern hörte sie das eintönige, entfernte Rauschen des Meeres und die Schreie der Möwen, als sie in großem Abstand dem Sarg ihrer Mutter folgte. Während sich die wenigen Trauergäste um das offene Grab gruppierten, blieb Sarah in einiger Entfernung stehen und lehnte sich an einen knorrigen alten Baum, fast so, als könnte er ihr Kraft geben.

Wer waren diese Leute, waren es Freunde, Bekannte oder Geschäftspartner ihrer Mutter? Die offenkundige Feindseligkeit, die ihr entgegenschlug, hinderte sie daran, sich von dem Baum zu lösen und sich ebenfalls an das offene Grab zu stellen. Wie so oft litt Sarah auch jetzt unter ihrer Schüchternheit und der Scheu, auf andere Menschen zuzugehen. Auch war sie die Einzige, die ohne Blumen hier war, jeder der Anwesenden hielt einen Strauß in der Hand, nur sie war mit leeren Händen gekommen. So faltete sie in einem Gefühl der Unsicherheit ihre eiskalten Hände und blieb verkrampft an den Baum gelehnt stehen. Der Wind blies jetzt noch heftiger, dunkle Wolken ballten sich zusammen, ein paar dicke Regentropfen fielen herab. Einer der Trauergäste spannte einen Schirm auf und hielt ihn schützend über den schmächtigen Pfarrer, dessen Worte vom heftigen Wind weggetragen wurden und für Sarah nur in Bruchstücken zu verstehen waren. Einmal nannte er den Namen ihrer Mutter: Mirjam Moses. Und als sie ihn hörte, lag für sie etwas Vertrautes darin, etwas, das ihr Herz berührte und die Erinnerung an ein anderes, an ein schöneres Leben hervorrief. Sarah hatte gelacht, als sie mit vier Jahren einmal zufällig den Mädchennamen ihrer Mutter erfuhr, sie wollte es nicht glauben, dass die Mama genauso hieß wie der Mann aus der Bibel, der auf einen hohen Berg gestiegen war, um den lieben Gott zu treffen. Im Kindergarten hatte ihnen die Leiterin die Geschichte erzählt, und Sarah erinnerte sich noch an die Illustration in dem Bilderbuch: Moses, der Mann in dem langen Kleid und mit dem wallenden weißen Bart, der mit einem brennenden Busch sprach, in dem sich ihm Gott offenbarte.

Ihr Blick glitt über die Anwesenden. Etwas abseits stand eine kleine Gruppe von zwei Frauen und vier Männern, die ihre schwarzen Hüte krampfhaft festhielten, um sie gegen die Gewalt des Windes zu verteidigen. Ihre Gesichter waren sonnengebräunt, sie waren einfach gekleidet, und Sarah vermutete, dass es Leute aus dem Dorf waren.

Direkt neben dem Pfarrer stand ein elegant gekleideter junger Mann mit gesenktem Kopf. Er starrte auf das offene Grab, hilflos drehte er einen kleinen Strauß rosa Heckenröschen in der Hand. Interessiert beobachtete ihn Sarah, und als er den Kopf hob, begegneten sich ihre Blicke. Hastig und zutiefst erschrocken wandte Sarah ihren Kopf zur Seite. Auf so viel Hass war sie nicht vorbereitet gewesen. Noch im gleichen Moment durchzuckte Sarah die Gewissheit, ihn zu kennen, es schien, als trage sie sein Bild tief in ihrem Innern und als blickten diese dunklen Augen aus der Vergangenheit zu ihr herüber. Aber wieso erinnerte sie sich nicht wirklich an ihn, an das schöne Gesicht, die vollen Lippen, das schwarze Haar? Er war von fast vollkommener Schönheit, wäre er nicht etwas zu klein und zu zierlich gewesen.

»Michael«, flüsterte sie verzweifelt, »Michael, warum bist du jetzt nicht bei mir?«

Sie lehnte sich noch fester gegen den Baumstamm und versuchte, tief durchzuatmen, als sie wieder ein paar Worte des Pfarrers auffing: »Der Herr erlöst die Seele seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen, werden keine Schuld haben.«

Schuld. Die Worte des Priesters trafen Sarah mitten ins Herz. Hatte der Priester ganz bewusst diesen Psalm ausgewählt? Doch hatte sich Mirjam Moses jemals schuldig gefühlt, weil sie ihre Familie verließ? Sarah betrachtete die vielen Blumen und Kränze, Zeichen von Anteilnahme und Trauer über den Tod dieser Frau, die ihre Mutter gewesen war.

Hier auf dem kleinen Friedhof endete nicht nur das Leben von Mirjam Moses, sondern auch die heimliche Hoffnung der Tochter, die Mutter jemals wiederzusehen, mit ihr zu sprechen und ihr Handeln vielleicht sogar verstehen zu können. Langsam löste sie sich von dem Baum, sie wollte nicht warten, bis die Beerdigung zu Ende war, sie wollte weg von diesem traurigen Ort, weg von diesen feindseligen Menschen. Zögernd und unsicher machte sie ein paar Schritte auf drei ältere Frauen zu, die dicht beieinanderstanden und an denen sie vorbeimusste, um den Friedhof zu verlassen. Bereitwillig traten sie zur Seite, und wieder spürte Sarah ihre Unsicherheit. Mit steifen Knien ging sie weiter und versuchte, den Blicken der Frauen standzuhalten. Es kostete sie große Überwindung.

»Sie ist dem Nazi wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Sarah erstarrte. Für einen kurzen Moment blieb sie stehen und drehte sich um. Das konnte nicht sein. Nicht sie konnte gemeint sein. Oder doch? Vielleicht hatte sie es nur falsch verstanden, immerhin hatte sie seit längerer Zeit nicht mehr Französisch gesprochen. Was sollte dieser Satz bedeuten? Wer war diese zierliche alte Frau mit den grell blond gefärbten Haaren, eingehüllt in einen riesigen, bodenlangen Wildnerzmantel? Was bezweckte sie mit ihrer Bemerkung? Wollte sie Sarah auf sich aufmerksam machen oder sie sogar verletzen? Aber warum, wer war sie? Die Frauen bildeten eine Mauer der Ablehnung, und schweigend beobachteten sie, wie Sarah sich wieder umdrehte und mit hölzernen Schritten und steifem Rücken auf das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs zusteuerte. Wen hatte diese alte Frau als Nazi bezeichnet, hatte diese Frau über ihren Vater gesprochen? Sarah wusste, dass sie ihm sehr ähnlich sah. Sie war nicht so groß wie er, hatte aber seine blonden, vollen Haare und die tiefblauen Augen geerbt.

Fieberhaft dachte Sarah nach. Die Frau schien zwischen achtzig und fünfundachtzig zu sein.

Also konnte sie Rolf von Schröder kennen. Aber woher und seit wann? Als Sarah geboren wurde, war ihr Vater zweiundfünfzig Jahre alt gewesen und hatte einen großen Teil seines Lebens bereits gelebt. Jenen Teil seines Lebens, über den sie nichts wusste und den er nicht preisgab. Sarah bedauerte in diesem Moment besonders heftig, dass sie seine Vergangenheit nicht kannte. Sie wusste, dass er im Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen war, aber schließlich hatte er keine andere Wahl gehabt. Er war für Deutschland in den Krieg gezogen, aber sicher war er kein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen. Mit Beschämung dachte sie daran, dass sie mit ihrem Vater nie über diese Zeit gesprochen hatte, zu weit lag sie für sie zurück. Doch seit dem heutigen Morgen schien sich ihr Leben umzukehren, in eine Richtung zu steuern, die ihr Angst einflößte. Sie fühlte ihr Herz dumpf und schwer gegen die Rippen schlagen, als sie den kurzen Weg zum Auto hinunterhastete, die Tür aufriss und sich auf den Sitz fallen ließ.

»Bitte fahren Sie schnell weg!«, stammelte sie. Wortlos folgte Dupont ihrer Anweisung, und es dauerte nur wenige Minuten, bis der Wagen in einen Privatweg einbog, der zu einem stattlichen Haus führte. Spätestens in diesem Moment wurde es Sarah bewusst, wie falsch ihre Vorstellung von dem Leben ihrer Mutter gewesen war. Sie fuhren eine gepflegte Auffahrt hoch, die von hohen Rosensträuchern gesäumt war, an denen sich noch letzte Blüten einsam im Herbstwind bogen. Als das Auto vor dem Haus hielt, ging fast gleichzeitig die Tür auf, und heraus trat eine kleine ältere Frau mit weißen wuscheligen Haaren. Sie trug ein schwarzes Kleid, eine Kittelschürze, die an der Stelle stark spannte, wo ihr Busen in den Bauch überging. Sie nahm Pierre Dupont Sarahs Reisetasche ab, begrüßte sie lebhaft und erzählte ihr bereits im ersten Satz, dass sie und ihr Mann vor zehn Jahren aus dem Elsass gekommen seien, um hier das Haus und den Garten ihrer Mutter zu versorgen. Ihre Herzlichkeit tat gut, denn Sarah musste zugeben, dass die feindseligen Blicke gewisser Trauergäste sie mehr verletzt hatten, als sie wahrhaben wollte. Nachdem sie sich von dem jungen Mann verabschiedet hatte, betrat sie mit Herzklopfen das Haus und sah sich zögernd um. Das Erste, was ihr auffiel, war seine anheimelnde Atmosphäre. Die Diele erweiterte sich zu einem großen Wohnraum mit einem Kamin, in dem ein Feuer prasselte. Dunkle Holzbalken trugen die Decke, und eine breite Treppe führte zu einer Galerie, die um das gesamte obere Stockwerk lief. Auf den blank polierten dunklen Böden lagen Kelims in schönen Farben und Mustern. Tief atmete Sarah den Geruch des Hauses ein, der ihr seltsam vertraut schien.

Frau Schneider zog sich, lebhaft plaudernd, in die Küche zurück, um den Kalbsbraten zu übergießen. »Ich war in der Kapelle und auch noch am Grab, bin aber vorzeitig gegangen, um für Sie zu kochen«, rief sie durch die offene Tür, während sie geräuschvoll mit einem Topf hantierte und das Zischen der Soße zu hören war. »Das Essen dauert leider noch. Ich komme gleich, um Ihnen das Haus zu zeigen. Mein Mann ist noch auf der Beerdigung, fährt aber dann ...« Sarah hörte kaum auf die Ausführungen von Frau Schneider, es interessierte sie auch nicht, wo ihr Ehemann hinfuhr. Unsicher machte sie ein paar Schritte durch die Wohnhalle und blieb dann wie angewurzelt stehen. Eine Uhr schlug sechs Mal, voll und tief erfüllte ihr Klang das ganze Haus. Ungläubig ging Sarah zu einer angelehnten Tür und stieß sie auf. Und da stand sie, die alte, vertraute Uhr, deren letzter Schlag noch melodisch nachhallte. Langsam löste sich Sarahs Blick, glitt an der Uhr vorbei hin zu einem roten Jugendstilsofa und einem Sessel.

Hier also standen die Möbel, die damals nach dem Verschwinden der Mutter weggebracht worden waren! Hier also befanden sie sich, die stillen Zeugen eines vergangenen Glücks, voller Geborgenheit und kindlichem Wohlbehagen. Sarah entdeckte einen schmalen Schreibtisch, auf dem einzelne Bücher, gebündelte Briefe und Papiere lagen. Fotos in silbernen Rahmen waren auf ihm in loser Reihe gruppiert. Langsam durchquerte Sarah das Zimmer und blieb vor dem Schreibtisch stehen. Eines der Fotos zeigte einen jungen Mann, der lachend seinen Tennisschläger in die Höhe warf. Sarah erkannte ihn sofort: Es war der Mann, der sie auf der Beerdigung voller Hass angestarrt hatte. Auf dem nächsten Foto konnte sie die alte Frau mit den blond gefärbten Haaren erkennen, die ihren Vater als Nazi bezeichnet hatte. Daneben stand in einem besonders verzierten Rahmen das Foto eines älteren Mannes mit Schnurrbart und schütterem Haar. Zögernd griff sie nach dem letzten Bild und hob es hoch. Es zeigte ein schönes Paar, die junge Frau hatte sich bei dem Mann eingehängt, die Gesichter waren einander zugewandt. Im ersten Moment dachte Sarah, es sei ihre Mutter, das zarte Gesicht, die großen Augen, die vollen Lippen. Doch dazu schien das Foto zu alt zu sein. Das Kleid, das diese Frau trug, entsprach der Mode der frühen dreißiger Jahre; das musste noch vor der Geburt ihrer Mutter gewesen sein. Der Mann, dessen Gesicht man nicht erkennen konnte, schien ebenfalls jung zu sein. Er war sehr groß, schlank und trug einen eleganten Anzug.

Sarah war so in den Anblick dieses Fotos vertieft, dass sie das Klingeln ihres Handys zuerst gar nicht wahrnahm. Sie ließ es lange läuten, bis sie es langsam, fast widerwillig aus ihrer Tasche zog. Es war Michael.

»Nun? Wieso meldest du dich nicht? Wir hatten doch vereinbart, dass du anrufst, wenn du gelandet bist.« Die Stimme ihres Verlobten klang gereizt. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Übrigens war dein Vater zutiefst betroffen, als er von mir erfahren musste, was passiert ist. Wieso konntest du auch fliegen, ohne es mit ihm vorher zu besprechen.« Er machte eine erwartungsvolle Pause, doch Sarah reagierte nicht. »Hallo ... Liebes, was ist denn los, warum sagst du nichts?«

Als Sarah weiterhin stumm blieb, verlor Michaels Stimme den ungeduldigen Ton und wurde zärtlich: »Wie geht es dir, war die Beerdigung so schlimm? Ich denke, du solltest ganz schnell nach Hause kommen.«

Doch Sarah schwieg weiterhin beharrlich. Sie starrte auf die hohe Standuhr aus dunklem Kirschholz und atmete tief den vertrauten Geruch ihrer frühen Kindheit ein. »Ich weiß nicht, Michael«, flüsterte sie, »ich weiß nicht einmal mehr, wo mein Zuhause ist. Und im Übrigen«, setzte sie hinzu, »bin ich erwachsen und muss meinen Vater nicht mehr um Erlaubnis bitten, wenn ich eine Entscheidung treffe.«

Ihre Hand, die das Handy hielt, fiel wie leblos herab, sie hörte Michael noch mehrmals »hallo« rufen, doch sie drückte auf beenden und steckte das Telefon wieder in ihre Jackentasche. Sie schloss die Augen und dachte konzentriert nach. Wer war diese Frau auf dem Foto, die ihrer Mutter so ähnlich sah, und wer war der Mann, der sich ihr so zärtlich zuwandte? Wieso kam er ihr irgendwie bekannt vor, an wen erinnerte er sie?

»Ihre Großmutter war wirklich eine schöne Frau.« Erschrocken fuhr Sarah herum. Sie hatte nicht gehört, dass Frau Schneider das Zimmer betreten hatte, die jetzt dicht neben ihr stand und mit dem Kopf auf das bräunliche Foto zeigte.

»Sicher haben Sie sie erkannt, es ist Ihre Großmutter Rebecca Moses«, erklärte sie, stolz darauf, mit den Familienverhältnissen vertraut zu sein. »Doch wer der Mann ist, weiß ich nicht. Kennen Sie ihn?« Mit erwartungsvoller Neugier starrte Frau Schneider Sarah ins Gesicht.

Diese schüttelte nur den Kopf.

»Der Braten dauert doch noch etwas, inzwischen zeige ich Ihnen Ihr Zimmer«, sagte Frau Schneider, nachdem Sarah offensichtlich nicht bereit war, über ihre Familie zu sprechen oder Fragen zu stellen.

»Das macht doch nichts«, antwortete Sarah und verkniff sich noch im letzten Moment die Bemerkung, dass sie sowieso keinen Hunger habe. Sie folgte der Haushälterin, die es sich nicht nehmen ließ, ihre Tasche zu tragen, die Treppe hinauf.

»Was ist mit den anderen Trauergästen, sind sie nach der Beerdigung gleich nach Paris zurückgefahren?«

Frau Schneider warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Ich denke schon, aber sie werden morgen wieder alle auf der großen Trauerfeier sein«, erklärte sie, öffnete eine Tür und schaltete das Licht an. »Das hier ist Ihr Zimmer. Wenn das Essen fertig ist, rufe ich Sie.«

Sarah schloss hinter der Haushälterin rasch die Tür, lehnte sich dagegen und sah sich neugierig um. Das Zimmer war in hellblauen Tönen gehalten, die Tapeten, die Vorhänge und die Tagesdecke auf dem breiten Bett waren farblich aufeinander abgestimmt, und große Kissen in einem passenden zarten Blumenmuster lagen überall verteilt. Auch hier gab es einen Kamin mit einem winzigen Tisch davor, auf dem eine bauchige Vase stand, gefüllt mit Herbstblumen in leuchtenden Farben. Das Zimmer gefiel Sarah auf Anhieb. Sie ließ ihre Tasche auf einen Korbstuhl fallen und öffnete neugierig die Tür zu dem Badezimmer. Hellblaue Kacheln mit zartem Blumenrand, silberner Zahnputzbecher, ein silberner Kamm und eine entsprechende Haarbürste. Auf einem runden Marmortisch standen Cremes, eine Bodylotion, Badeöl und ein Schaumbad. Es war alles da, was man brauchte. Ein hellblauer Bademantel hing auf einem hohen Ständer. Ihre Mutter musste eine perfekte Gastgeberin gewesen sein.

Mit der Bürste fuhr sich Sarah kurz durch die Haare. Sie wusch sich die Hände und ging dann zurück, ließ sich auf das Bett fallen und griff nach ihrem Handy. Michael meldete sich sofort.

»Es tut mir leid, Michael, aber vorhin ging es mir nicht gut, und darum rufe ich dich jetzt noch einmal an.«

»Das ist schon in Ordnung. Ich bin auch müde, es war ein anstrengender Tag.«

»Wie ging der Prozess aus?« Sarah stellte die Frage nur aus Höflichkeit, es interessierte sie nicht wirklich, sie schien so weit weg zu sein von ihrem normalen Leben. War sie wirklich erst einige Stunden hier in der Normandie?

»Es lief nicht gut, der Richter schlug einen Vergleich vor, dem wir aber nicht zugestimmt haben. Selbstverständlich machen wir weiter.« Michaels Stimme klang gereizt und nervös. »Deinen Vater habe ich nach der Verhandlung nicht mehr erreicht, er weiß noch gar nicht, dass wir nicht gewonnen haben.«

Sarah schwieg. Wieso war ihr bis jetzt nie aufgefallen, wie sehr Michael von der Anerkennung seines zukünftigen Schwiegervaters abhängig war?

»Michael, ich werde gleich zum Essen gerufen und möchte mich noch frisch machen. Im Moment bin ich in der Normandie, denn meine Mutter ist hier auf einem Dorffriedhof begraben worden. Morgen findet noch eine Trauerfeier in Paris statt. Ich werde dann mit der letzten Maschine fliegen.«

Doch Michael hörte ihr nicht zu, er schien in Gedanken noch ganz mit dem verlorenen Prozess beschäftigt. Sarah war enttäuscht darüber, es drängte sie danach, mit ihm über die Ereignisse des Nachmittags zu sprechen, doch als sie Michaels Desinteresse spürte, beendete sie mit einem »also dann bis morgen!« das Gespräch. Sie blieb auf dem Bett sitzen, horchte auf den Wind, der sich allmählich zu einem Sturm auswuchs, an den Fensterläden zerrte und den Regen gegen die Scheiben warf. Sarah dachte an ihre Mutter, die jetzt in ihrem einsamen Grab auf dem kleinen Friedhof lag, und daran, dass der raue Wind vielleicht die Blumen und Kränze weggerissen und auf dem Friedhof herumgewirbelt hatte.

Sie fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen, und so erhob sie sich mit einem Ruck, schlüpfte leise aus dem Zimmer, schlich sich zur Treppe und blieb an der ersten Tür stehen. Einen Moment verharrte sie und horchte nach unten auf die Geräusche aus der Küche. Dann drückte sie kurz entschlossen die Klinke hinunter und tastete im Dunkeln nach dem Schalter. Ein angenehmes Licht flammte auf, aber Sarah zögerte, das Zimmer zu betreten, und blieb auf der Schwelle stehen. Der Raum war groß, die Einrichtung ganz in Weiß gehalten. Über das schmiedeeiserne Bett war eine weiße Tagesdecke aus grobem Leinen geworfen, die mit breiter Spitze besetzt war und bis zum polierten Holzboden hinabhing. Überall gab es weiße Kissen aus demselben groben Leinen. Ein hoher schmiedeeiserner Leuchter mit dicken weißen Kerzen stand neben einem Korbsofa, auf dem ebenfalls weiße Kissen lagen. Sarahs Blick blieb an einem Gemälde hängen: das Porträt eines Mannes.

Seine kahle Stirn war gewölbt, die tief liegenden dunklen Augen wurden durch eine kleine runde Brille betont, die schmalen Lippen schienen sich nur für den Maler ein Lächeln abzuringen, aber der Mittelpunkt des Bildes waren die schönen, feingliedrigen und doch kräftigen Hände. Sarah starrte lange Zeit auf das Porträt; dieser Mann löste bei ihr ein Gefühl der Faszination, aber gleichzeitig auch der Abneigung aus. Wer war er? Hatte ihre Mutter ihn geliebt? Lange schaute sie das Bild an, bis sie unten in der Diele Schritte hörte. Während sie hastig das Licht löschte und die Tür geräuschlos zuzog, nahm sie noch die vielen weißen Lilien wahr, die in hohen Vasen im ganzen Zimmer verteilt waren. Frische weiße Lilien wie in der Kapelle. War dies das Zimmer ihrer Mutter gewesen? Einen Moment blieb Sarah an der Treppe stehen und beugte sich horchend über das Geländer. Frau Schneider klapperte geräuschvoll mit Tellern und Besteck und summte eine traurige Melodie vor sich hin. Offensichtlich war sie in die Küche zurückgekehrt.

Noch drei weitere Türen erregten Sarahs Neugier. Sie öffnete eine nach der anderen und warf einen kurzen Blick dahinter. Zwei Räume schienen ebenfalls für Gäste zu sein, doch das hellblaue Zimmer, in dem sie übernachten würde, gefiel Sarah am besten. In dem letzten, einem kleinen Raum, befand sich eine Bügelmaschine, und davor standen zwei große Weidenkörbe, bis an den Rand gefüllt mit Bettwäsche und Handtüchern. Einige geblümte Kittelschürzen, die sicher Frau Schneider gehörten, lagen obenauf, und an einer Kleiderstange hingen drei weiße, elegante Seidenblusen. Hatten sie ihrer Mutter gehört? Schnell zog Sarah die Tür wieder zu und schlich zur Treppe.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, fast so, als hätte man sie bei einer verbotenen Handlung ertappt. Aber sie war fest entschlossen, alles über ihre Mutter herauszufinden. Wie sie gelebt hatte und was für ein Mensch sie gewesen war. Und sie wollte noch einmal das Foto ihrer Großmutter ansehen. Sie musste herausfinden, wer dieser Mann an ihrer Seite war. Es ließ ihr keine Ruhe, er kam ihr so bekannt, fast vertraut vor, seine Haltung, die Größe, die schlanke Figur, die Form des Kopfes.

Doch unten an der Treppe wartete Frau Schneider bereits auf sie. »Ich wollte Sie gerade holen, das Essen ist fertig. Ich habe für Sie in der Küche gedeckt, Ihre Mutter hat dort oft gegessen, wenn sie allein war.« Sie begleitete Sarah in die Küche.

Sarah nahm an dem großen rechteckigen Holztisch Platz, und Frau Schneider trug den Braten, kleine Kartoffeln und glacierte Karotten auf. Sie stellte eine Flasche Weißwein und ein Glas direkt vor Sarah auf den Tisch und erklärte ihr dann, dass sie ihr leider keine Gesellschaft leisten könne, denn ihr Mann warte bereits mit hungrigem Magen auf sie. »Oder brauchen Sie mich noch?« Fragend sah sie Sarah an. »Nein, nein, gehen Sie nur!« Sarah war froh, die Haushälterin, von der sie sich beobachtet fühlte, loszuwerden. Bereits im Gehen erklärte Frau Schneider noch, dass sie mit ihrem Mann in dem kleinen Anbau hinter dem Haus wohne, und unter der Drei könne man sie jederzeit telefonisch erreichen.

Als die Haustür zufiel, atmete Sarah erleichtert auf und schenkte sich von dem Weißwein ein. Das Essen roch gut. Sarah, die den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, spürte nun doch plötzlich Hunger und aß mit großem Appetit. Als sie fertig war, räumte sie das Geschirr weg und sah sich in der funktionell eingerichteten Küche um. Sie öffnete eine schmale Tür, hinter der sich eine gut bestückte Speisekammer verbarg, eine zweite Tür führte in ein Esszimmer mit einem runden Tisch in der Mitte, einer Anrichte und hübschen Bildern an den Wänden. Auch hier war die Einrichtung elegant und gepflegt, doch ohne den Luxus, mit dem die Villa der Schröders ausgestattet war.

Hier, in diesem Haus, hatte sich ihre Mutter offensichtlich wohlgefühlt und war vielleicht auch glücklich gewesen. Und Sarah konnte es verstehen, es gab hier nichts, was ihr nicht auf Anhieb gefiel. Sie ging zurück, holte den Wein und das Glas und verließ die Küche. In der Diele blieb sie stehen. Jetzt war sie allein im Haus, und sie konnte sich in Ruhe umsehen, ohne dass sie von Frau Schneider beobachtet wurde. Plötzlich zögerte sie. War es richtig, in dem Haus ihrer toten Mutter herumzuschnüffeln? Doch, entschied sie, denn schließlich war sie aus genau diesem Grund hierhergekommen: um mehr von dem Leben ihrer Mutter zu erfahren.

Sie hätte Frau Schneider ausfragen sollen. Warum nur hatte eine tiefe Scheu sie davor zurückgehalten? Hatte sie Angst vor dem, was ihr die mitteilungsfreudige Haushälterin sicher liebend gern erzählt hätte? Wieder zauderte sie, bevor sie die angelehnte Tür zu einem Raum aufstieß, der direkt neben dem Arbeitszimmer ihrer Mutter lag. Es war eine Bibliothek, und außer den hohen Bücherregalen fanden sich hier nur ein kleiner Tisch und zwei Biedermeiersessel. Neugierig sah sich Sarah die Titel der vielen Bücher an, der größte Teil in französischer Sprache, der Rest überwiegend in Englisch. Sie überflog die Titel. Ein ganzes Regal war mit Büchern über Hautpflege bestückt. Jung bleiben, attraktiv sein, dem Alter vorbeugen. Viele medizinische Fachbücher waren darunter, Werke über Hautbeschaffenheit, Hautalterung, Krankheiten der Haut. Sarah war tief betroffen. Hatte ihre Mutter so große Angst vor dem Älterwerden gehabt?

In einem anderen Regal standen ledergebundene Ausgaben großer französischer Schriftsteller: Victor Hugo, Zola, Stendhal. Doch im Gegensatz zu den medizinischen und kosmetischen Sachbüchern schien man sie nur selten aus dem Regal genommen zu haben. Nachdenklich strich Sarah mit der Hand an den Büchern entlang, bis ihr ein dicker Band in deutscher Sprache in die Augen stach: die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Sarahs Hand zitterte, als sie das Buch herauszog, fast entglitt es ihrer Hand. Wie sehr hatte sie diese Märchen als Kind geliebt, nie konnte sie genug von ihnen bekommen. Ihre Mutter las ihr nicht oft aus diesem Buch vor, doch die Abende, an denen sie in das Zimmer ihrer Tochter kam, sich auf das Bett setzte und vorlas, waren für die kleine Sarah die schönsten gewesen. Eingekuschelt zwischen weichen Kissen, lag sie in ihrem Bett und hörte der Mutter zu. Das Licht der Lampe ließ ihre schwarzen Haare glänzen und zauberte einen zartrosa Schimmer auf ihre Wangen. Nie hatte sie die Mutter mehr geliebt als an diesen seltenen, kostbaren Abenden des Vorlesens.

Tausendundeine Nacht. Verzauberung, das Spüren einer anderen, aufregenden Welt, Geschichten über verschleierte Frauen, ihre Geheimnisse, die leuchtenden Farben des Orients, seine fremdartigen Gewürze, der Duft nach Rosen und heißen Nächten. Geschichten, die ihre Mutter und sie gleichermaßen in den Bann gezogen hatten.

Sarah drückte das Buch fest an ihre Brust, und die Tränen, die sie heute den ganzen Tag schon zurückgehalten hatte, liefen und liefen, sie konnte nichts mehr gegen ihre Gefühle tun. Sie rannte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, warf sich auf das Bett und schluchzte, bis sich allmählich ihr Atem beruhigte und die Tränen versiegten.

»Mama«, flüsterte sie, »Mama ...« Und schon flossen die Tränen aufs Neue.

Warum hatte ihr Vater nie mehr Kontakt zu seiner Frau aufgenommen? Wusste er wirklich nicht, dass sie in Paris lebte? Warum durfte sie ihre Mutter nie mehr sehen? Hatte ihr Vater es nicht gewollt, oder war es ihre Mutter gewesen, die den Kontakt abgelehnt hatte?

Lange blieb Sarah einfach so liegen, auf dem Bauch, unter sich das harte Buch, die Arme weit ausgestreckt. Als ihr kalt wurde, rappelte sie sich hoch, ging unter die heiße Dusche und kroch schnell wieder zurück in das Bett. Sie wollte lesen, das Buch durchblättern, die Stellen finden, die sie und ihre Mutter besonders geliebt hatten. Doch die Augen schmerzten vor Müdigkeit und Erschöpfung, und so löschte sie das Licht. Morgen, dachte sie, morgen ist auch noch ein Tag. Obwohl sie zerschlagen war, wollte sich der ersehnte Schlaf nicht einstellen. Die Erinnerungen bedrängten sie und ließen ihr keine Ruhe. Von einer Seite warf sie sich auf die andere, ohne jedoch die richtige Schlafposition zu finden.

Draußen legte sich allmählich der Sturm, und nur in der Ferne hörte man noch das Rauschen des Meeres. Jede Viertelstunde schrak Sarah hoch und horchte auf das dunkle Schlagen der Standuhr. Ich muss mich entspannen, schärfte sie sich ein. Doch das wollte ihr nicht gelingen. Dann fiel ihr wieder das Foto der Großmutter ein. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, konnte sie es sich genauso gut noch einmal ansehen. Vielleicht fiel ihr dann ein, wer der Mann auf dem Bild war. Denn sosehr sie sich auch das Gehirn zermarterte, sie kannte niemanden, der in Frage kam. Sarah rechnete nach. Über achtzig müsste der Mann jetzt sein. Und ihre Großmutter? War sie überhaupt noch am Leben?

Sarah griff nach dem Bademantel, zog ihn über und verließ das Zimmer. Im Dunkeln konnte sie den Lichtschalter auf dem Gang nicht finden, so tastete sie sich vorsichtig vor und stieg die Stufen hinab. Unten, das wusste sie, waren direkt an der Treppe ebenfalls Schalter.

Doch auf der untersten Stufe blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte ein Geräusch gehört. Ihre Hand krampfte sich um den Knauf am Ende des Treppengeländers. Es war keine Täuschung, jemand versuchte, gewaltsam die Haustür zu öffnen.

Licht! Du musst Licht machen!, schärfte sie sich ein. Sie tastete nach den beiden Schaltern, und im Wohnraum unten und im ersten Stock flammte helles Licht auf. Sarahs Herz raste, sie konnte sich nicht bewegen, starr blieb sie stehen. Was sollte sie machen, die Schneiders verständigen? Aber wie war die Nummer? Die Drei oder die Zwei? Sarah horchte angespannt, es war jedoch nichts mehr zu hören. Wahrscheinlich hatte sie sich doch getäuscht. Wenn jemand einbrechen wollte, würde er es sicher nicht an der Haustür versuchen.

Sie wagte kaum zu atmen. Dann hörte sie das Anspringen eines Motors unten an der Auffahrt, ein Auto fuhr weg. Sarah war schweißgebadet, sie zitterte am ganzen Körper. Es dauerte, bis sie sich allmählich wieder beruhigte. Wahrscheinlich hatte sie nur überreagiert. Es konnte irgendjemand gewesen sein, der unten an der Straße geparkt hatte, vielleicht Gäste eines Nachbarhauses. Doch Sarah hatte kein Haus gesehen, es schien in der direkten Umgebung keine Nachbarn zu geben.

Sie fror, und ihr war übel, weil sie nicht geschlafen hatte. Die Uhr schlug vier Mal, die Schläge klangen beruhigend, denn sie kündigten bereits den kommenden Morgen an. Sarah drehte sich um, lief die Treppe hoch in ihr Zimmer zurück, drehte den Schlüssel um und stellte einen Stuhl unter die Klinke, sodass man die Tür von außen nicht öffnen konnte. Sie zog den Bademantel nicht aus, ließ auch die Schuhe an und überlegte, ob sie im Falle eines Einbruchs aus dem Fenster im ersten Stock springen könnte. Verkrampft saß sie eine Weile aufrecht im Bett, doch irgendwann sank sie auf die Kissen zurück und fiel in einen leichten Dämmerschlaf. Sie träumte wirres Zeug, von einem Flugzeug, von dem jungen Mann, der sie so hasserfüllt angesehen hatte, und von ihrem Vater, der an der Anlegestelle am See stand und sich jemandem zuwandte, der neben ihm stand.

Mit einem Ruck war Sarah hellwach. Kerzengerade richtete sie sich auf. Mit beiden Beinen sprang sie aus dem Bett, schob den Stuhl unter der Türklinke weg, schloss auf und hastete nach unten in das Arbeitszimmer ihrer Mutter. Sie griff nach dem Foto und hielt es unter das helle Licht einer Stehlampe.

Er war es! Sie war sich jetzt ganz sicher, die Haltung, die Form des Kopfes, sogar der Haarschnitt war heute noch der gleiche.

In diesem Moment durchzuckte sie die Erkenntnis, es gab keinen Zweifel mehr. Sarah spürte, wie die Wärme aus ihrem Körper wich, wie ihre Beine einsackten und sie den Boden unter den Füßen verlor. Langsam ließ sie sich am Schreibtisch entlang auf den Boden gleiten. Sie kauerte, das Foto an die Brust gedrückt, unbeweglich auf dem Teppich.

»Wieso«, murmelte sie, »wieso? Das gibt es doch gar nicht, das kann nicht sein!«

Sie hörte, wie Frau Schneider das Haus betrat und ihren Namen rief, ehe sie verwundert an der Tür zu dem Arbeitszimmer stehen blieb und entgeistert auf Sarah hinuntersah. »Guten Morgen, Frau von Schröder, wieso sind Sie schon so früh auf? Geht es Ihnen nicht gut?« Besorgt kam sie näher. Sarah kauerte weiterhin auf dem Boden und reagierte nicht. Sie spürte, wie sich ihr Leben in nichts auflöste, und während sie unwillkürlich auf die Standuhr starrte, die jetzt siebenmal schlug, ließ sie sich mühsam von Frau Schneider hochziehen und das Foto abnehmen. Ohne Regung sah sie zu, wie Frau Schneider das Bild auf den Schreibtisch zurückstellte.

»Ein schönes Paar, nicht wahr?« Neugierig starrte die Haushälterin Sarah an, die blass und übernächtigt mit wirren Haaren vor ihr stand.

»Ein schönes Paar«, betonte sie noch einmal, bemüht, nur irgendetwas zu sagen, was Sarah aus ihrer Erstarrung lösen könnte. »Aber wie ich Ihnen gestern schon gesagt habe, wer der Mann neben Ihrer Großmutter ist, weiß ich nicht.« »Der Mann«, flüsterte Sarah wie in Trance, »der Mann ist mein Vater.« Ohne auf den überraschten Ausruf von Frau Schneider zu achten, griff sie noch einmal nach dem Foto, löste es vorsichtig aus seinem silbernen Rahmen und drehte es um.

Rolf, mein Leben, mein Geliebter, stand auf der eng beschriebenen Rückseite.

Erinnerst Du Dich an diesen Tag? Der Fotograf auf dem Marienplatz hat uns »sein schönstes Paar des Jahres« genannt und uns alles Gute für unsere Zukunft gewünscht. Da hast Du mich lachend umarmt und mir zärtlich ins Ohr geflüstert, dass wir auch noch unseren Enkelkindern von diesem Tag erzählen würden, von diesem Tag, an dem Du mich gebeten hast, Dich zu heiraten. Und nie war ich so glücklich wie an diesem Tag, denn heute, wenn wir zu Deinen Eltern fahren, habe ich ein bisschen Angst. Aber Du bist bei mir und wirst mich an der Hand halten, wenn ich ihnen gegenüberstehen werde.

Rolf mein Geliebter, immer werde ich Dich lieben, Rebecca.

Ganz unten am Rand des Fotos entdeckte Sarah ein Datum:

20. September 1932.

Sarahs Hand sank herab. Es gab keinen Zweifel mehr, dieser Mann auf dem Foto war ihr Vater, und er hatte diese Frau geliebt.

September 1932, überlegte sie, das war ein paar Monate vor der Machtergreifung Hitlers, eine Zeit der politischen Unruhen, Nährboden für den aufkommenden Rassismus, eine Zeit, in der diese Liebe vielleicht keine Chance gehabt hatte. »Sie ist dem Nazi wie aus dem Gesicht geschnitten«, hatte die alte Frau bei der Beerdigung über sie gesagt. Laut und deutlich und voller Hass. Ihr geliebter Vater einer von denen, die verantwortlich waren für den Tod von Millionen Juden? Ein Anhänger des Nationalsozialismus? War dies ein weiteres Geheimnis ihres Vaters, über das nicht gesprochen wurde, weil es für die von Schröders ein dunkles Kapitel der Familiengeschichte war?

Es musste viel passiert sein, damals ... als ihr Vater Rebecca geliebt hatte.

Kapitel 2Rebecca

Mit siebenundvierzig Jahren glaubte Ruth, in die Wechseljahre gekommen zu sein. Doch als sie an Gewicht zunahm, einen seltsamen Heißhunger auf die ausgefallensten Speisen entwickelte und dazu noch ständig in Tränen ausbrach, machte sich Bruno Kreisberger ernsthaft Sorgen um seine Frau. Nach endlosen Diskussionen konnte er sie endlich dazu überreden, einen Arzt aufzusuchen. Als Dr. Heinemann eine Schwangerschaft im fünften Monat feststellte, konnten Ruth und ihr Mann dieses Glück kaum fassen. Endlich, nach Jahrzehnten, schien Gott ihr tägliches Gebet erhört zu haben. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie längst nicht mehr an die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches geglaubt hatten. Schließlich war Bruno Kreisberger mit seinen fast sechzig Jahren auch kein Jüngling mehr, selbst wenn er sich so fühlte.

Ihre Tochter, der sie den Namen Rebecca gaben, erblickte am 14. Mai 1914 das Licht der Welt.

Als Bruno sie zum ersten Mal sah, rümpfte sie ihr Näschen und öffnete weit den kleinen Mund, um zu gähnen. Von diesem Moment an war Bruno Kreisberger seiner Tochter hemmungslos verfallen.