Die Nachtigall - Silke Kipper - E-Book

Die Nachtigall E-Book

Silke Kipper

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Beschreibung

Eigentlich ist Die Nachtigall ein unscheinbarer kleiner, brauner Vogel. Von Aussehen, Gewicht, Verhalten absoluter Durchschnitt. Doch wenn die Männchen in lauen Frühlingsnächten zu singen anfangen, dann schlagen die Herzen der Verliebten ebenso höher wie die der Ornithologen. Denn der Gesang der Nachtigall ist alles andere als Durchschnitt und stellt in seiner Komplexität mit sage und schreibe zweihundert verschiedenen Strophentypen den anderer Singvögel komplett in den Schatten. Doch was singt Die Nachtigall eigentlich und warum? Und was sahen Generationen von Dichtern und Komponisten in ihrem Gesang? Die Biologin Silke Kipper beforscht Die Nachtigall seit mehr als zwanzig Jahren, sie hat unzählige Frühlingsnächte lauschend in Berliner Parks verbracht und geht in ihrem Buch dem Nachtigallengesang und unserer Faszination daran auf den Grund.

Ein kenntnisreiches und doch leichtfüßiges Porträt des wohl beliebtesten Singvogels, seines Gesangs, und zugleich ein fundierter Einblick in die Nachtigallforschung und -rezeption.

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Seitenzahl: 161

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Titel

Silke Kipper

Die Nachtigall

Ein legendärer Vogel und sein Gesang

Mit Illustrationen von Nils Hoff

Insel Verlag

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eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagillustration: Nils Hoff, Berlin

eISBN 978-3-458-77325-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung – Wie ich auf die Nachtigall kam

I.

Luscinia und Philomele

Ein Steckbrief

Die Entstaubung der Artenkommode

Der Name der Nachtigall – Namenskunde und Interpretationen

Gestalt und Gefieder, Alter und Adresse

Familienleben – Monogamie oder Patchwork, Brüten und Nachwuchs

Zugzeiten

Idealtypischer Jahresverlauf einer Nachtigall

II.

Gesang 

Von wegen Liebesduett ...

Unzählige Strophen – Die Einzigartigkeit des Nachtigallgesangs

Wie die Nachtigall ihre Lieder lernt

Chor, Hip hop battle oder Duett – Die Nacht als Bühne

Liebe, Trauer, Eifersucht – Wie es wirklich ist, Nachtigallisch verstehen zu wollen

Die Nachtigall und der Sprosser – Schwesternarten, Hybriden und Mischsänger

III.

Nachtigall und Mensch

Die »romantische« Nachtigall in Sagen und Dichtung

Die Nachtigall in der Musik

Die Nachtigall als Haustier

Die technische Nachtigall – Notation, Aufzeichnung und Wiedergabe

Finale

Nachwort

Anmerkung: die ethische Note

Dank

Quellen

Nachweis der verwendeten Zitate

Weitere Quellen

Biologie

Kultur, Historie, Rezeption

Informationen zum Buch

Einleitung – Wie ich auf die Nachtigall kam

»Tiuu tiuu tiuu tiuu, Spe tiu zqua. Tio tio tio tio tio tio tio tix. Qutio qutio qutio qutio, Zquo zquo zquo zquo; Tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzi. Quorror tiu zqua pipiqui. Zozozozozozozozozozozozo Zirrhading …« Und so weiter und so weiter …

Die ganze Nacht lang. So singt sie, die Nachtigall. Vielmehr, so oder so ähnlich versuchten Generationen von Vogelkundlern (in diesem Fall Johann Matthäus Bechstein 1789), ihren Gesang schriftlich festzuhalten.

Jahrhunderte später leben wir im Zeitalter des Glaubens an quantifizierte Daten als Maß aller naturwissenschaftlichen Dinge und gesangskundige Ornitholog:innen würden den Gesang der Nachtigall eher so beschreiben: Der vielseitige Gesang eines Männchens besteht aus durchschnittlich einhundertachtzig verschiedenen Strophentypen. Dabei werden identische Strophen nicht direkt hintereinander wiederholt, aber die Abfolge der Strophen unterliegt dennoch bestimmten Ordnungsprinzipien. Die etwa vier Sekunden dauernden Strophen wechseln mit etwa ebenso langen Pausen ab. Eine Strophe besteht zumeist aus einem variablen Anfangsteil und einem aus wiederholten Elementen bestehenden Trill oder Schlag, der häufig von einem kontrastierenden finalen Element beendet wird …

Klingt ähnlich unpassend wie Zozozozo Zirrhading?

Um die vielleicht beste Botschaft dieses Buches schon vorwegzunehmen: Wissenschaftlich vollständig ergründet oder gar entzaubert ist der Nachtigallgesang noch lange nicht. Er bleibt einstweilen akustischer Sehnsuchtsort und Projektionsfläche. Das gilt auch für mich, obwohl diesem Gesang und dem Liebesleben der Nachtigall zwanzig Jahre lang meine ganze wissenschaftliche Aufmerksamkeit galt. Erst die Nachtigall hat mich zur begeisterten Naturkundlerin gemacht.

Ich bin ein Kind der großen Stadt. Zwar fuhren wir mit der Familie an jedem Wochenende auf die Datsche außerhalb Berlins in unmittelbarer Wald-, Feld- und Seenähe, doch die Liebe zur echten, wilden Natur weckte das nicht. Natur kam nicht wild, sondern in von Menschen geordneten Verhältnissen daher. Dass die brandenburgische Kiefernmonokultur nicht der ›Inbegriff‹ eines Waldes ist, verstand ich erst als Biologiestudentin.

Die Spatzen und Tauben in der Stadt sahen allzu schmuddelig und verwahrlost aus, um gemocht zu werden, und meine in den Kinderhygiene-gläubigen Siebzigern erziehenden Eltern warnten ohnehin vor jedem Kontakt mit lebenden oder toten Vögeln oder Teilen davon. Bis heute kann ich – wider besseres Wissen – ein ungutes Gefühl nicht ganz abstellen, wenn Kinder begeistert Federn aufsammeln. Mein Verhältnis zu Federtieren war pragmatisch: ich konnte einen Broiler zerlegen und liebte meine Daunendecke. Aber auf Vogelstimmen achten oder sie gar zuordnen können? Fehlanzeige!

Als meine Eltern uns im Schulalter endlich den Wunsch nach einem Haustier erfüllten, zog bei uns eine Reihe putziger Hamster ein, die im Monatstakt verstarben. Schließlich kam Kleinpapagei Bobbie, ein Rosenköpfchen, ins Haus. Die gehören zu den sogenannten »Unzertrennlichen«. Wie der Name schon sagt, eine Vogelgattung, die extrem sozial ist und unbedingt einen Partner braucht. Das wussten wir wohl nicht. Bobbie war Single. Er wurde viele Jahre alt, aber nie zahm, und sein kräftiger Schnabel verursachte blutende Wunden, wenn meine Mutter ihn in den Transportkäfig steckte. Erst später begriff ich, dass der arme Kerl vermutlich der einsamste Vogel unter der Sonne war. Er hat so viel Krach gemacht, dass sich der sensible Nachbar im hellhörigen Plattenbau ständig beschwerte. Auch Bobbie brachte mich dem Wohlklang des Vogelgesangs nicht näher.

Wann sich meine persönlichen Leitsätze im Umgang mit Tieren entwickelten, weiß ich nicht mehr. Sie lauten: ›Nicht anfassen, nur gucken‹ und ›Der Abstand zwischen einem Tier und mir wird vom Tier bestimmt‹. Während des Biologiestudiums waren diese Verhaltensregeln jedenfalls bereits geformt. Sie brachten Freundinnen mit Schweinebürsten-, Affenfüttern- und Delphinstreicheln-Neigungen manchmal zur Verzweiflung. Erst im Berufsleben als Biologin biss ich in den sauren Apfel der Erkenntnis und akzeptierte, dass wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn mitunter auch das »Anfassen« und »Annähern« nötig macht.

Wie konnte unter diesen Voraussetzungen eine Verhaltensbiologin aus mir werden? Wie so oft entschied der Zufall. Im ersten Semester des Hauptstudiums waren die Kurse, die mich interessierten, sofort ausgebucht – auch alle anderen wollten den Elektronenmikroskopierkurs oder die Teneriffa-Exkursion belegen. Das Los entschied, und ich landete in einem Moosbestimmungskurs und einem zur Bioakustik der Nachtigall. Während der Moosbestimmungskurs keine sichtbaren Spuren hinterlassen hat, weckte die Bioakustik irgendetwas in mir. Bioakustik – was war das denn jetzt wieder? Und eine Nachtigall meinte ich noch nie gehört zu haben. Doch wohl nicht in Berlin!

Und damit begann das Abenteuer. Unsere Dozentin nahm uns mit auf den Berliner Teufelsberg, um Nachtigallgesänge aufzunehmen. Nachts, versteht sich. Erlebnisse mit Wildschweinen, Nachtbus-Fahrern und dem Wachpersonal der damals noch intakten riesigen Radaranlage dort fühlten sich mindestens so abenteuerlich an wie Jane Goodalls Schimpansen-Feldforschungen im Dschungel. Ich erlag also nicht dem melodisch-sehnsuchtsvollen Gesang, sondern einem Forschungsplot und einem Image.

Feldforschung sollte es sein, nachts und mitten in der Großstadt! In meiner ornithologischen Naivität machte ich selbstverständlich allerhand Anfängerfehler – etwa, als ich begeistert eine Nachtaufnahme machte und sie Henrike stolz als ›Balzgesang‹ einer Nachtigall präsentierte, denn sie hatte uns erklärt, dass die Männchen bei direkter Anwesenheit eines Weibchens zarter und weniger strukturiert singen, dieser Gesang aber kaum je aufgenommen wurde. Es war dann doch nur ein nachts flötendes Rotkehlchen. Ich denke mit Nachsicht an diese Episode angesichts meiner eigenen Studierenden, die zum Nestersuchen eine Leiter mitnehmen wollten oder versehentlich Playbacks mit Amseln statt Nachtigallen machten. Expertise entsteht erst mit der Zeit! Es dauerte sehr viele Jahre, bis mir schon ein einmaliges leises kurzes Klick oder Huit zur sicheren Detektion einer Nachtigall ausreichte.

Die Methode des Aufnehmens und Analysierens von Tierlauten begeisterte mich zudem in ihrer Kultiviertheit. Man musste die Tiere nicht einfangen oder aufschneiden. Stattdessen ging es so einfach: Man hielt sein Mikrofon mit Aufnahmegerät in die Natur. Oder noch besser: Man konnte es einfach liegen lassen. Mitten in der Stadt! Dinge, die Menschen nicht zu sehen erwarten, bleiben auf wundersame Weise unsichtbar. Später lud man die Aufnahmen auf einen Computer und setzte sie in Spektrogramme um – jedes Geräusch, jede Strophe wurde so zu einem Bild von wiederum ganz eigener Ästhetik. Da konnte man Muster wiedererkennen, Dauer und Frequenzen messen … ein Daten-Traum!

Die Mitte der Neunziger gerade aufkommende Möglichkeit der digitalen Übersetzung von Klängen in Bilder erlaubte auch einem stark visuell orientierten Menschen wie mir den Zugang zu einem Forschungsfeld, das versucht, die Sprache der Tiere zu verstehen. Ich wollte und will noch heute begreifen, warum diese kleinen braunen Vögel so viele verschiedene Gesänge singen. Um die hundertachtzig Strophen beherrscht ein Männchen, und die werden alle erlernt. Vom Vater. Oder von den anderen Männchen in der Nachbarschaft. Vorerst interessierte mich allerdings mehr, was die Nachtigallmänner mit ihrem Gesang mitteilen wollen – und wem genau. Und warum die Weibchen wohl bis auf einige Rufe stumm bleiben.

Wer an von Menschen dicht besiedelten Orten mit Mikrofon und Fernglas steht, um Tiere zu beobachten, der bekommt Kultur- und Alltagsgeschichte gratis dazugeliefert. So war auch meine Forschung von unzähligen Nebengeräuschen begleitet: Ich diskutierte nachts im Park mit einem Polizisten darüber, wie er die Nachtigall vor seinem Schlafzimmerfenster vertreiben könne und ob das erlaubt sei. Am Tag verdächtigten die Damen vom Ordnungsamt unser Feldteam der Suche nach einem entlaufenen, nicht angeleinten Hund oder sogar der Beobachtung kleiner Kinder. Die Dealer am Bahnhofseingang fühlten sich ebenfalls ungut ins Visier genommen, verstanden aber schnell, dass sie nicht im Fokus unserer Ferngläser standen. Wir entschieden uns für eine friedliche Koexistenz.

Ich erlebte einen Saxophonspieler aus den USA, der meinte, dass Nachtigallen mit ihm und seinem Instrument kommunizierten. Gut möglich – aber warum musste er ausgerechnet mit dem Männchen jammen, für das wir in jener Nacht ein individuell zugeschnittenes Playback-Experiment vorgesehen hatten? Das Experiment war im Eimer, die Nacht vertan.

Ich beantwortete dutzendmal die Frage, ob es in Berlin überhaupt Nachtigallen gibt. Und ich diskutierte immer wieder, warum Menschen eigentlich wissen wollen, wie Tiere kommunizieren. Manche dieser Diskurse mündeten in erstaunlichen Seitenwegen. Eine Soziologin forschte darüber, wie in unserer Forschung die Technik den Ton angibt. Und eine Linguistik-Arbeitsgruppe begeisterte sich dafür, nach welchen Prinzipien wir unsere Nachtigallen benennen und wie wir diese Namen anwenden. Die Beforschung der Forschung.

All diese Episoden illustrieren, wie sich in meinen Jahren mit der Nachtigall auch Wissen zur eigentümlichen und besonderen Rolle, die ihr Gesang für viele Menschen spielt, anhäufte. Angeregt davon, begann ich, mich mehr und mehr auch für die Geschichte der Nachtigall als »Sehnsuchtsvogel« zu interessieren.

Und dann bin ich doch wieder froh, wenn die Gesangssaison im Frühjahr losgeht. Wenn ich mit Kolleg:innen im April nachts draußen sitze, um die ersten Nachtigallen des Jahres zu hören und aufzunehmen.

Als Wissenschaftlerin hatte ich das Privileg, das Leben einiger Nachtigallmännchen im Berliner Treptower Park über viele Jahre zu verfolgen. Nicht zuletzt von den Erkenntnissen, die ich ihnen verdanke, soll in diesem Buch die Rede sein.

Dabei geht es zunächst um den Lebenslauf der Nachtigall. Der ist schnell erzählt im Vergleich zu dem, was über menschliche Nachtigall-Deutungen zu berichten ist. Schon die Namensgebung der Vogelart zog sich über Jahrhunderte hin. Und mancherorts schwärmten die Leute vom Nachtigallgesang, hörten aber tatsächlich ganz andere Vögel singen.

So viel Ehre, so viel Ballast wäre dem unscheinbaren braunen Vogel wohl nie angehängt worden ohne sein »Alleinstellungsmerkmal«: seinen Gesang. Für wen singen denn die Herren Nachtigall nun? Und wer hört zu? Wie schaffen sie es, knapp zweihundert Strophen zu lernen? Dreht die Evolution hier frei? Häufig ist es gar nicht nur ein Männchen, das in der Stille der Nacht vor sich hin flötet – Nachtigallen messen sich gesanglich miteinander auf eine Art, die durchaus an einen Sängerstreit oder an Rap-Battles erinnert. Und damit sind wir wieder bei der menschlichen Deutung des tierischen Treibens.

Die Nachtigall war und ist Protagonistin in der Volkspoesie und generell Projektionsfläche für Literaten. Was so verzaubert, das weckt Sehnsucht danach, es zu besitzen – und so muss auch von Nachtigallenjagd, -handel und -besteuerung berichtet werden. Was macht denn den Gesang der Nachtigall überhaupt so wohlklingend für das menschliche Ohr? Reichlich Beispiele lassen sich für unbekümmerte Interpretationen nachtigallischen Singens quer durch die Musikgenres finden, ebenso wie Versuche, dessen musikalische Quintessenz naturnah zu vertonen. Letztlich bleibt die Aufzeichnung von Nachtigallstrophen per Notensystem wohl ähnlich unbefriedigend wie die per Sprachsilben. Alternativ gab es Versuche, den Gesang nicht ›aufzuschreiben‹, sondern einfach beständig verfügbar zu machen. Singt die eingefangene Nachtigall im Käfig? Oder soll’s doch lieber gleich ein Automat sein? Einen Versuch schien es wohl wert.

Wenn Sie beim letzten Kapitel des Buches angelangt sein werden, geben Sie Ihren vor Verwunderung, Zweifeln oder stellenweise auch Entsetzen hochgezogenen Augenbrauen eine Pause. Gehen Sie vor die Tür und versuchen Sie, den kleinen braunen Vogel mit dem bezaubernden Gesang da zu hören, wo er hingehört. Draußen, in der Natur. Gern auch mitten in der Großstadt.

I.

Luscinia und Philomele – Ein Steckbrief

In diesem Kapitel geht es noch nicht um den Gesang der Nachtigall. Auch wenn das bedeutet, die Nachtigall ihres »Alleinstellungsmerkmals« zu berauben. Denn das Aussehen, die Biologie, der Lebensverlauf, das Brutverhalten, einfach alles an der Nachtigall jenseits des Gesangs scheint »durchschnittlich« und mittelmäßig im Vergleich zu anderen Vogelarten.

Wie viele Nachtigallen gibt es eigentlich? Erfreulicherweise hat der Bestand in Deutschland in den letzten Jahrzehnten wieder zugenommen. Auf sehr grob geschätzt 120000 Brutpaare kam man bei den Zählungen 2011 bis 2016. Das Vorkommen der Nachtigall ist demnach weder besonders häufig noch besonders selten – in der Häufigkeitsliste der Singvögel belegt die Nachtigall Platz 51 von 117 der in unserem Land brütenden Singvogelarten. Es gibt viele Arten, die deutlich häufiger sind, sich aber in der Gunst der Vogelfreund:innen und -kenner:innen längst nicht so großer Beliebtheit erfreuen. Oder würden Sie auch ein Buch über die Haubenmeise, die Heckenbraunelle oder den Neuntöter lesen? Nicht, dass diese Arten nicht ebenso spannende Erkenntnisse bereithielten. Doch der Gesang ist es und unsere Zuschreibungen, die der Nachtigall einen Platz weit oben in der Bekanntheits- und Beliebtheitsskala der Vögel beschert. Doch bleiben wir zunächst noch bei ihren anderen Merkmalen.

Die Entstaubung der Artenkommode

Zur systematischen Einordnung der Nachtigall holen wir zunächst vor unserem inneren Auge eine riesige Kommode mit unzähligen Schubladen für die einzelnen Arten hervor, die von Naturkundler:innen jahrhundertelang gefüllt wurde. Dank Darwin sowie seinen Vorgänger:innen und Nachfolger:innen haben wir eine grundlegende Vorstellung davon, wie die Schubladen geordnet werden müssen und dass es die Evolution und nicht Gott war, die die Kommode überhaupt mit Arten gefüllt hat.

Obwohl die »Kommode« hier als Gedankenbild dient, hat sie tatsächlich Gegenstücke in der realen Welt. Die systematische Unterscheidung und Einordung von Tierarten anhand ihrer Merkmale hat Zigtausende Schubläden weltweit gefüllt. Viele Generationen von Forscher:innen und Sammler:innen haben in naturkundlichen Sammlungen und Museen ungezählte »Bälge« zusammengetragen, also Präparate von Tieren, teils Hunderte von Jahren alt. Darunter sind auch viele präparierte Nachtigallen. Was den meisten Besucher:innen solcher Sammlungen nicht bekannt ist: die allerwenigsten dieser Exemplare sind »hübsch« mit Glasaugen in möglichst natürlicher Positur für die öffentliche Zurschaustellung aufbereitet. Die meisten Bälge liegen tatsächlich in schmalen Schubkästen getrocknet und der Länge nach gestreckt. Sammlungen brauchen Platz.

Nachdem die ökologischen Zusammenhänge immer stärker in den Fokus biologischer Forschung gerieten, begann die Systematik-Kommode einzustauben. Die starren Schubladen bildeten so gar nicht die vielfältigen Beziehungen und Verbindungen im echten Leben ab. Die Rolle einer Art im Ökosystem rückte nun in den Fokus, nicht so sehr ihr wissenschaftlicher Name und ihre Abgrenzung von nahe verwandten Arten. Letztlich hätte die Ökologie die Systematik vielleicht aus dem Zentrum des biologischen Forschens und Denkens in eine Ecke verbannt. Die gänzliche Abschaffung drohte dann plötzlich aus einer ganz anderen biologischen Fachrichtung: In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden leistungsfähige Verfahren zur DNA-Sequenzierung entwickelt. Es wurde möglich, den DNA-Code eines Individuums zu entschlüsseln. Entsprechend ließ sich nun auch die Forschung zur Ähnlichkeit oder eben Abgrenzung von Arten genetisch betreiben. Dieser Logik des Sequenzierens folgend, konnte nun für jede Art ein genetischer Barcode erstellt werden. Würde bald eine digitale Sammlung von genetischen Barcodes die Systematik repräsentieren?

Als die Wissenschaft in ihrer Einordnung der Arten weiter vorangekommen war, machte sich eine neue Erkenntnis breit: Bei vielen Arten gab es zu den Bälgen und Barcodes gar keine lebenden Entsprechungen in der Natur mehr! Willkommen im Zeitalter des Anthropozän. Inzwischen braucht es keine wissenschaftliche Fachkenntnis mehr, um zu verstehen, dass die Bedingungen für das Leben auf der Erde sich durch das Wirken des Menschen für ALLE rasant verändert haben und dies weiter tun. Um diese Prozesse zu beschreiben, um das vorhandene erhaltens- und schützenswerte Potenzial der Arten aufzuzeigen, wurde die Biodiversitätsforschung ins Leben gerufen. Hier reichen sich die verschiedenen biologischen Disziplinen die Hand: es geht um die Katalogisierung des Lebens auf der Erde – und die Kommode rückt wieder ins Rampenlicht.

Wo werden wir nun die Nachtigall finden? Auf jeden Fall müssen wir in der Abteilung für Wirbeltiere (Merkmale: Skelett aus Knochen mit Schädel und Wirbelsäule) nachsehen. Wir gehen an den Fischen, Lurchen und Reptilien vorbei und landen – wie könnte es anders sein – bei der Klasse der Vögel (Merkmale: Federn, eierlegend). Hier müssen wir nicht lange suchen, sondern können die Nachtigall der größten Ordnung zuschlagen, den »Sperlingsvögeln« oder Passeriformes, Unterordnung »Singvögel«. Das ist bislang alles wenig überraschend. Doch auch innerhalb der Singvögel hat die molekulargenetische Codierung zu allerlei Neusortierungen geführt.

Während ich in meinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten über die Nachtigall die Art noch der Familie der Turdidae, also der Drosseln, zuordnete, muss ich sie seit der Publikation einer Studie voller molekularbiologischer Daten und Stammbäume im Jahr 2010 nun den Muscicapidae, also den Fliegenschnäppern, zuordnen. Und schon ergibt sich ein neues Problem: Auch wenn molekulargenetische Daten die Zugehörigkeit der Nachtigall zur Schnäpper-Familie erweisen, ist das aus nahrungsökologischer Sicht Unsinn. Denn die Nachtigall schnäppert nicht, sie fängt ihre Nahrung nicht im Flug! Man hätte also streng genommen mit der Neuordnung auch den Familiennamen ändern müssen.

Im Rahmen dieser familiären Umsortierung blieb wenigstens die Zuordnung der am nächsten verwandten Arten der Nachtigall zur selben Gattung erhalten. Auch Blaukehlchen und Sprosser aus dem engsten Verwandtschaftskreise gehören weiterhin zur Gattung Luscinia, jetzt eben innerhalb der Familie Muscicapidae.

Als wäre das alles nicht genug des Klassifizierens, gibt es dann auch noch innerhalb der Art »Nachtigall« geographische Variationen. Streng genommen beziehe ich mich in diesem Buch ausschließlich auf die Unterart Luscinia megarhynchos megarhynchos, die in Europa, Nordwestafrika und der westlichen Türkei brütet. Sie unterscheidet sich in subtilen Gefiedermerkmalen, in Gesangsdetails und in den Zugrouten von Luscinia megarhynchos africana (in eher westlichen Teilen Asiens lebend) und Luscinia megarhynchos golzii (in Zentralasien bis in die Mongolei lebend). Man möchte sofort die Koffer packen!

Der Name der Nachtigall – Namenskunde und Interpretationen

In Dichtung und Poesie, aber auch in alten naturkundlichen Traktaten taucht die Nachtigall immer wieder als Philomele oder Philomela auf. Philomele führt uns direkt in die griechische Antike, denn natürlich fehlt die Nachtigall auch in deren Mythologie nicht. Die Geschichte ist allerdings gar grausig. Philomele oder Φιλομήλα