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Peter Frankopan

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Beschreibung

Die Seidenstraßen, die den fernen Osten mit Europa verbanden, waren vor dem Aufstieg des Westens jahrhundertelang die Lebensadern der Welt – und genau das werden sie, wie Peter Frankopan zeigt, auch in Zukunft wieder sein. Die asiatischen Staaten investieren derzeit Milliarden, um Die neuen Seidenstraßen zu errichten, und an diesen liegen die Orte, wo künftig die Weichen der globalen Entwicklung gestellt werden: Peking, Delhi, Islamabad, Riad, Moskau. Asien rückt zusammen und drängt immer entschiedener nach Westen. Doch was bedeutet das für uns? Mit der Weitsicht des Globalhistorikers und dem Scharfsinn des politischen Analysten führt uns Frankopan vor Augen, was wir gerade erleben: die Entstehung einer neuen Welt und den Beginn einer neuen Epoche.

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Seitenzahl: 412

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Peter Frankopan

Die neuen Seidenstraßen

Gegenwart und Zukunft unserer Welt

 

 

Aus dem Englischen von Henning Thies

 

Über dieses Buch

Die Seidenstraßen, die den Fernen Osten mit Europa verbanden, waren vor dem Aufstieg des Westens jahrhundertelang die Lebensadern der Welt – und genau das werden sie, wie Peter Frankopan zeigt, auch in Zukunft wieder sein. Die asiatischen Staaten investieren derzeit Milliarden, um die alten Handelswege wiederzubeleben. An den neuen Seidenstraßen liegen Krisenherde der Weltpolitik – wie Syrien, Türkei, Palästina, Afghanistan –, aber vor allem die Orte, an denen künftig die Weichen der globalen Entwicklung gestellt werden: Peking, Delhi, Islamabad, Riad, Moskau. Donald Trumps Handelskrieg dagegen ist nur ein Symptom des Abstiegs, und während die USA und die EU mit großen Problemen konfrontiert sind, rückt Asien zusammen und drängt immer entschiedener nach Westen.

Eine neue Welt entsteht vor unseren Augen – nun gilt es, die Zeichen der Zeit zu lesen. Wer könnte das besser als Peter Frankopan, der in seinem internationalen Bestseller «Licht aus dem Osten» die Weltgeschichte aus einer neuen, einer östlichen Perspektive erzählt hat? Mit der Weitsicht des Globalhistorikers und dem Scharfsinn des politischen Analysten lässt er uns verstehen, was wir gerade erleben: Der Wiederaufstieg der Seidenstraßen bedeutet nichts anderes als den Beginn einer neuen Epoche.

Vita

Peter Frankopan, geboren 1971, zählt zu den profiliertesten Historikern unserer Tage. Er ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Oxford und lehrte als Gastdozent unter anderem an den Universitäten Cambridge, Harvard, Yale und Princeton. In der internationalen Presse, etwa der «New York Times», dem «Guardian» oder auch «China Daily», bezieht Frankopan regelmäßig Stellung zu aktuellen welt- und geopolitischen Fragen. Sein Buch «Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt» wurde zu einem internationalen Bestseller und stand auch in Deutschland lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt·Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «The New Silk Roads: The Present and Future of the World» im Verlag Bloomsbury, London

Copyright © 2018 by Peter Frankopan

Karte Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung Frank Ortmann

Umschlagabbildung Antikwar / Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-7371-0001-4 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-00303-3

www.rowohlt.de

Louis Frankopan,

meinem wunderbaren geliebten Vater

(1939–2018)

Einleitung

Als vor wenigen Jahren «Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt» erschien, traf das Buch offenbar einen Nerv. Als Autor hatte ich natürlich gehofft, dass es den Lesern gefallen würde; doch als Historiker hatte ich des Öfteren feststellen müssen, dass meine Forschungsinteressen bei anderen nur begrenzt auf Zuspruch stießen. Gespräche über meine Forschungen bei einem Glas Bier oder am Esstisch dauerten meistens nicht lange, und selbst bei meinen Kollegen beschränkte sich das Interesse in der Regel auf jene Epochen oder Regionen, mit denen auch sie sich beschäftigten.

Dass «Licht aus dem Osten» so gut angenommen wurde, kam für mich daher völlig überraschend. Offensichtlich wollten etliche Leute mehr über diese Welt erfahren – über andere Völker, Kulturen und Regionen und über deren ruhmreiche Vergangenheit. Sie wollten eine Geschichtsdarstellung lesen, deren Schwerpunkt, abweichend von den vertrauten Erzählungen über Europa und den Westen, in Asien und allgemein im Osten lag.

Eine besondere Rolle spielen dabei die Handels- und Verkehrsverbindungen, die jahrtausendelang die Kontinente verbanden. Im späten 19. Jahrhundert prägte der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen einen Begriff für die Netzwerke des Austausches zwischen dem China der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) und der Außenwelt: «Seidenstraßen». Dieser Begriff beflügelte die Phantasie der Gelehrten ebenso wie die des allgemeinen Publikums.[1]

In welchen geographischen Dimensionen sich Güter, Ideen und Menschen zwischen Asien, Europa und Afrika hin- und herbewegten, blieb in Richthofens Vorstellung allerdings vage. Auch die Seewege zwischen Pazifik und Südchinesischem Meer auf der einen sowie Mittelmeer und später Atlantik auf der anderen Seite legte er nicht genauer fest. Diese Unbestimmtheit des Begriffes «Seidenstraßen» kann hilfreich sein – nicht zuletzt, weil es sich dabei ja nicht um Straßen im modernen Wortsinne handelte. Der Unterschied zwischen Nah- und Fernhandel verschwimmt, und schließlich wurden neben teuren Textilien wie Seide auch andere Waren und Güter gehandelt, bisweilen sogar mit größerem Handelsvolumen.

In der Tat lässt sich mit den «Seidenstraßen» vor allem beschreiben, wie Völker, Kulturen und Kontinente miteinander verwoben waren. Wir verstehen damit besser, wie sich in der Vergangenheit Religionen und Sprachen ausbreiteten; wie Ideen von Ernährung, Mode und Kunst weitergegeben wurden, wie sie miteinander konkurrierten und voneinander profitierten. Und welch zentrale Bedeutung die Kontrolle über Ressourcen und der Fernhandel als Hintergrund und Motivation für Expeditionen durch Wüsten und über Ozeane hatten. Die Seidenstraßen trugen wesentlich zur Entstehung und zum Aufstieg von Reichen bei; sie zeigen, wie über Tausende von Kilometern hinweg technologische Innovationen angeregt wurden, aber auch, wie Gewalt und Krankheiten oft denselben Wegen folgten. Die Seidenstraßen lassen uns die Vergangenheit nicht als eine Abfolge von klar abgegrenzten Epochen und Regionen verstehen, sondern sie rücken die Rhythmen der Geschichte in den Blick, die über Jahrtausende Teil einer um- und in sich fassenden globalen Vergangenheit waren.

***

Aus meiner Sicht als Historiker gab es, was unser Verständnis der Vergangenheit betrifft, in den letzten Jahren eine Reihe außerordentlich spannender Fortschritte. Wissenschaftler, die in unterschiedlichen Gebieten verschiedene Epochen und Regionen erforschen, haben Ergebnisse vorgelegt, die so neuartig wie überzeugend sind. Archäologen konnten mit Hilfe von Satellitenbildern und räumlichen Analysen Bewässerungssysteme aus Zisternen, Kanälen und Dämmen aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. identifizieren, die erklären, wie im unwirtlichen Nordwesten Chinas Getreideanbau möglich war – zu einer Zeit, als der Austausch mit der Welt jenseits der eigenen Grenzen erst allmählich begann.[2]

Andere Forscher erhielten bei ihrer Arbeit für Afghan Heritage Mapping Partnership (Partnerschaft für die kartographische Erfassung des afghanischen Kulturerbes) Zugang zu den Daten von kommerziellen und Spionagesatelliten sowie von Drohnen, die bei der militärischen Überwachung Afghanistans eingesetzt wurden. Auf diese Weise konnte ein detailliertes Bild der Infrastruktur aus Wohnkomplexen, die einst in Zentralasien Reisende beherbergten, Karawansereien und Bewässerungskanälen entwickelt werden. Solche Erkenntnisse helfen uns erheblich zu verstehen, wie die Seidenstraßen der Vergangenheit vernetzt waren.[3] Die Tatsache, dass diese Arbeiten zum großen Teil an abgelegenen Orten stattfinden, zeigt außerdem, dass und wie sich auch die Forschung im frühen 21. Jahrhundert weiterentwickelt.[4]

Verbesserte wissenschaftliche Methoden tragen dazu bei, die Beziehungen zwischen Nomaden und Stadtbewohnern im Herzen des vormodernen Asien zu erhellen. Die Analyse von Kohlenstoff- und Stickstoffisotopen in 47 menschlichen Gebeinen aus 14 Bestattungsplätzen in Zentralasien belegt Unterschiede in den Ernährungsgewohnheiten zwischen Menschen in festen Siedlungen und solchen in nomadischen Gemeinschaften – wobei auch deutlich wird, dass den Nomaden ein weiteres Spektrum an Nahrungsmitteln zur Verfügung stand als den Bewohnern der Dörfer, Klein- und Großstädte. Das wirft wiederum die wichtige Frage auf, welche Rolle wandernde Bevölkerungsgruppen bei der Einführung neuer Trends und des kulturellen Wandels über Hunderte und manchmal Tausende von Kilometern hinweg spielten.[5]

Inzwischen konnte durch Rückgriff auf genetische und ethnolinguistische Befunde gezeigt werden, wie sich die Verbreitung von Walnusswäldern und die Sprachentwicklung in großen Teilen Asiens überlappten. Fossile Überreste vertrockneter Walnüsse belegen, dass Walnussbäume von Händlern und anderen Reisenden bewusst als langfristige landwirtschaftliche Entwicklungsmaßnahme entlang der Seidenstraßenrouten angepflanzt wurden. Dadurch ergeben sich wiederum neue Möglichkeiten, die Wechselbeziehungen zwischen der natürlichen Welt und den Auswirkungen des zunehmenden Austausches zu verstehen – auf lokaler und regionaler Ebene, und darüber hinaus. Die Seidenstraßen fungierten auch als «Genkorridore» für Menschen, Pflanzen und Tiere.[6]

Neuere Forschungen führen das Jiddische auf den Handelsaustausch in Asien zurück und legen den Schluss nahe, dass die Sprache entwickelt wurde, um die Sicherheit von Handelstransaktionen zu gewährleisten: Man schuf ein Idiom, das nur von einigen wenigen verstanden wurde.[7] Hier ergeben sich offensichtliche Parallelen zur Welt des 21. Jahrhunderts, in der Kryptowährungen und Blockchain-Technologien den Händlern ermöglichen sollen, Transaktionen sicher abzuschließen. Auf einem anderen Gebiet ist man dabei, mit Hilfe verblüffender neuer Erkenntnisse aus der Eisbohrkern-Technologie die verheerenden Folgen der Pestepidemien zu erhellen; das ganze Ausmaß des Zusammenbruchs der Metallproduktion um die Mitte des 14. Jahrhunderts lässt sich so belegen.[8]

Im Jahr 2017 freigegebene US-Dokumente, die die Gespräche des Jahres 1952 zwischen dem britischen Botschafter in Washington, Sir Christopher Steele, und dem stellvertretenden US-Außenminister Henry Byroade darüber festhalten, wie ein Staatsstreich zur Absetzung des iranischen Premierministers Mossadegh initiiert werden könne, vermitteln uns ein klareres Bild davon, wie diese unheilvollen Pläne Gestalt annahmen.[9] Auch die Freigabe zuvor geheimer US-Pläne für einen Atomschlag aus den Anfängen des Kalten Krieges ermöglicht uns wichtige Einblicke in amerikanische Militär- und Strategieplanungen. Diese Dokumente enthalten zudem zeitgenössische Einschätzungen, wie man im Kriegsfall die Sowjetunion am besten neutralisieren könnte.[10]

Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie Historiker und andere an der Vergangenheit interessierte Forscher mit unterschiedlichen Techniken weiter daran arbeiten, die Vergangenheit genauer und umfassender zu begreifen. Genau darum ist Geschichte ja so aufregend und belebend: Man wird immer wieder veranlasst, einmal ganz anders über die Dinge nachzudenken und Verbindungen zwischen Völkern, Regionen, Ideen und Themen zu entdecken.

In den letzten Jahren ist auch klargeworden, dass es – so traumatisch oder seltsam das politische Leben im Zeitalter von Brexit, Europapolitik und Trump auch erscheinen mag – im 21. Jahrhundert vor allem die Länder der Seidenstraßen sein werden, die wahre Bedeutung erlangen. Die wirklich relevanten Entscheidungen in der heutigen Welt werden nicht – wie vor hundert Jahren – in Paris, London, Berlin oder Rom getroffen, sondern in Peking und Moskau, Teheran und Riad, Delhi und Islamabad, in Kabul und in den von Taliban kontrollierten Gebieten Afghanistans, in Ankara, Damaskus und Jerusalem. Die Welt der Vergangenheit wurde durch das Geschehen entlang der Seidenstraßen geprägt. Das wird auch in Zukunft wieder so sein.

Es folgt eine detaillierte Momentaufnahme der zeitgenössischen Verhältnisse – aber mit einem Weitwinkelobjektiv und in der Hoffnung, den erforderlichen Kontext für das Weltgeschehen herstellen zu können. Zugleich wollte ich einige der Themen beleuchten, von denen unser aller Leben und Auskommen abhängt. Die Seidenstraßen sind der Mittelpunkt dieses Gesamtbilds – sie sind in der Tat so zentral, dass sich ohne den Blick auf die Region zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Pazifik unmöglich verstehen lässt, was Gegenwart und Zukunft für uns bereithalten. Dieses Buch soll also die Geschichte auf den neuesten Stand bringen und deuten, was in den letzten Jahren geschehen ist – in einer Zeit grundlegenden Wandels.

Denn in den letzten Jahren hat sich die Welt dramatisch verändert, und der Westen steht vor großen Herausforderungen. Wie der Brexit vonstattengehen und die Zukunft der Europäischen Union aussehen wird, ist ungewiss. Die USA befinden sich nach der Wahl von Donald Trump anscheinend auf einem neuen Weg – einem Weg, dessen Richtung noch nicht klar und der deshalb schwer zu beurteilen ist. Das Problem sind nicht so sehr die ständigen Twitter-Nachrichten des Präsidenten, die den Kommentatoren so viel Anlass zu Scherzen bieten, sondern die Schwierigkeit einzuschätzen, ob sich das Weiße Haus nun aus den globalen Zusammenhängen der Weltpolitik ganz zurückziehen oder ob es die Welt neu ordnen will – und weshalb. Auch darum wird es im vorliegenden Buch gehen.

Hinzu kommt, dass Russland ein neues Kapitel in seinem Verhältnis zum Westen aufgeschlagen hat, obwohl Präsident Putin und sein innerer Zirkel den Kurs des Landes schon seit zwei Jahrzehnten bestimmen. Die militärische Intervention in der Ukraine, die mutmaßliche Einmischung in die Wahlkämpfe der USA und Großbritanniens sowie der Mordversuch an einem ehemaligen russischen Geheimdienstagenten in England haben die Beziehungen Russlands zum Westen auf einen Tiefpunkt gebracht. Seit dem Fall der Berliner Mauer waren sie nicht mehr so schlecht – und es wurde damit, wie wir noch sehen werden, die Grundlage für eine Neuausrichtung Moskaus in Richtung Süden und Osten gelegt.

Im Herzstück der Welt erscheint die Zukunft angesichts der andauernden Probleme in Afghanistan, des Zusammenbruchs Syriens nach jahrelangem Bürgerkrieg und des quälend langsamen Wiederaufbaus im Irak nicht gerade hoffnungsvoll – wenngleich beträchtliche Mittel für die finanzielle, militärische und strategische Stabilisierung aufgewendet wurden, um die Lage in allen genannten Ländern nachhaltig zu verbessern. Die Rivalitäten und Spannungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien sowie zwischen Indien und Pakistan lassen nur selten nach; wütende Vorwürfe drohen die Situation zu eskalieren, indem sie weit Ernsteres als nur Widerworte provozieren.

Auch in der Türkei ist die Lage angespannt: Wirtschaftliche Stagnation und Massenproteste mündeten 2016 in einen fehlgeschlagenen Staatsstreich; damals versuchte ein Teil der bewaffneten Streitkräfte, die Macht zu übernehmen. Seither wurden Zehntausende ins Gefängnis geworfen und bis zu 150000 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen – wegen angeblicher Verbindungen zum vermeintlichen Drahtzieher des Anschlags, Fethullah Gülen. Zu den Betroffenen gehören hohe Richter, Professoren, Lehrer, Polizisten und Journalisten, aber auch Militärangehörige.[11] Der Platzmangel in den Gefängnissen wurde so akut, dass die Regierung im Dezember 2017 ankündigte, in den kommenden fünf Jahren weitere 228 Haftanstalten bauen zu wollen – was nahezu eine Verdoppelung dieser Einrichtungen im ganzen Land bedeutet.[12]

***

Dennoch, für ganz Asien sind dies hoffnungsfrohe Zeiten. Es verstärkt sich der Eindruck, dass die Staaten versuchen, enger zusammenzuarbeiten, ihre eigenen Interessen beiseite- und das Trennende hinter sich zu lassen. Wie wir noch sehen werden, wurde in den letzten Jahren eine Fülle von Initiativen, Organisationen und Foren gegründet, die zu Kooperation und Meinungsaustausch ermutigen, indem sie eine identitätsstiftende Erzählung von Solidarität und einer gemeinsamen Zukunft verbreiten.

Das erkennen und nutzen auch diejenigen, deren finanzieller Erfolg davon abhängt, Trends auszumachen oder selbst zu setzen. 2015 fügte etwa Nike seiner Sportschuhpalette ein neues Design hinzu. Die Reiseerfahrungen des Basketballstars Kobe Bryant in Italien und China schufen für die Designer des Sportartikelherstellers «Verbindungen zum europäischen wie zum asiatischen Kontinent» und weckten bei ihnen Assoziationen zur «legendären Seidenstraße, der Inspiration für den neuen KOBE X Seidenschuh».[13] Eine ideale Ergänzung zu diesen Sportschuhen wäre das Parfüm «Poivre Samarcande» von Hermès mit seiner «pfeffrigen Moschusnote und dem leicht rauchigen Aroma von geschnittenem Holz», wobei «die Seele der alten Eiche, vermischt mit Pfeffer, in diesem Duft weiterlebt». Auch diese Komposition war durch die Seidenstraßen inspiriert, wie der Meisterparfümeur Jean-Claude Ellena preisgab: «Der Name ‹Samarcande› ist eine Hommage an die Stadt, durch die einst Gewürzkarawanen auf ihrem Weg von Ost nach West zogen.»[14]

Früher noch als Nike und Hermès erkannte das Werbepotenzial der Seidenstraßen kein Geringerer als Donald Trump, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten. Im Jahr 2007 ließ er sich in Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Armenien und weiteren Orten das Markenzeichen «Trump» patentieren; er beabsichtigte, einen gleichnamigen Wodka herzustellen. Das Gleiche tat er nochmals 2012, als er seinen Markennamen für Hotels und Immobilien in allen Ländern im Kernbereich der Seidenstraßen schützen ließ – einschließlich des Iran, den er seit seiner Amtsübernahme im Jahr 2017 mit allen Mitteln zu isolieren versucht. Geschäftlich war Trump auch in Georgien aktiv, wo er mit der passend benannten Silk Road Group den Bau «glamouröser Kasinos» plante – eine Firma, die anschließend in den Brennpunkt investigativer Medienrecherchen rückte.[15]

Die Seidenstraßen sind in ganz Asien allgegenwärtig. Natürlich gibt es unzählige Reisebüros, die Touristen mit dem Angebot locken, im Herzen der Welt, das im Nebel der Zeiten verloren scheint, die ruhmreichen Schätze einer geheimnisvollen Vergangenheit zu entdecken. Doch es gibt auch viele eher zeitgenössische Erscheinungen, die zeigen, welche Macht die Netzwerke gegenwärtig haben und in Zukunft haben werden. Das Mega-Silk-Way-Einkaufszentrum in Astana, Kasachstan, ist ein Beispiel dafür. Ein weiteres wäre das Hochglanz-Bordmagazin, das die Fluggesellschaft Cathay Pacific ihren Passagieren bietet. Im Flughafen von Dubai werden Reisende mit Anzeigen der Standard Chartered Bank begrüßt, in denen es heißt: «One Belt. One Road. One Bank connects your business across Africa, Asia and Middle East.»[16] (Eine Zone. Eine Straße. Eine Bank verbindet Ihre geschäftlichen Aktivitäten in ganz Afrika, Asien und im Mittleren Osten.) Und dann ist da noch das gasreiche Turkmenistan, nördlich des Iran am Ostufer des Kaspischen Meeres gelegen. Der offizielle Slogan des Staates für das Jahr 2018 lautet: «Turkmenistan – das Herz der Großen Seidenstraße».[17]

Ein Grund für den Optimismus in ganz Zentralasien sind die immensen Bodenschätze der Region. Der Ölkonzern BP schätzt, dass fast 70 Prozent der weltweit nachgewiesenen Erdölreserven und beinahe 65 Prozent der nachgewiesenen Erdgasvorkommen im Mittleren Osten, in Russland und in Zentralasien liegen – wobei Turkmenistan, zu dessen Erdgasfeldern das von Galkynysh gehört, das zweitgrößte weltweit, nicht einmal eingerechnet ist.[18] Man denke auch an den großen landwirtschaftlichen Reichtum der Region zwischen Mittelmeer und Pazifik, wo Länder wie Russland, die Türkei, die Ukraine, Kasachstan, Indien, Pakistan und China für mehr als die Hälfte der globalen Weizenproduktion verantwortlich zeichnen – sowie, nimmt man südost- und ostasiatische Länder wie Myanmar, Vietnam, Thailand und Indonesien hinzu, für fast 85 Prozent der globalen Reisproduktion.[19]

Elemente wie Silicium spielen in der Mikroelektronik und bei der Herstellung von Halbleitern eine große Rolle; hier entfallen allein auf Russland und China drei Viertel der globalen Förderung. Im Falle seltener Erden wie Yttrium, Dysprosium und Terbium, die im gesamten Bereich der Magnet- und Batterieherstellung, aber auch beim Bau von elektrischen Bauteilen (Aktoren) bis hin zu Laptops Verwendung finden und unverzichtbar sind, erfolgten 80 Prozent der weltweiten Förderung im Jahr 2016 allein in China.[20] Futurologen und Netzwerkpioniere sprechen oft darüber, wie die aufregende Welt der Künstlichen Intelligenz, der digitalisierten Erde (Big Earth Data) und des maschinellen Lernens die Art und Weise verändern wird, wie wir leben, denken und arbeiten; doch nur wenige stellen sich je die Frage, woher die Materialien, auf denen diese neue digitale Welt basiert, kommen sollen – oder was geschehen würde, wenn die Vorkommen erschöpft wären oder von denen, die quasi ein Monopol auf die weltweiten Lieferungen besitzen, als kommerzielle oder politische Waffe eingesetzt würden.

Es sind noch weitere Schätze im Überfluss vorhanden, die denen, die sie kontrollieren, reichen Lohn versprechen. Dazu gehört zum Beispiel Heroin, das den Taliban in Afghanistan seit mehr als einem Jahrzehnt als überlebenswichtige Ressource dient. 2015 berichtete ein UN-Abgesandter, dass eine Fläche von «rund 200000 Hektar oder rund 1000 Quadratkilometern dem Opium-Mohnanbau gewidmet» sei. Zur Veranschaulichung fügte er hinzu, das entspreche der Fläche von 400000 Fußballfeldern.[21] Eine massive Zunahme der Mohnfelder führte 2017 zu einer Gesamtanbaufläche von 320000 Hektar – mit einer Rekordernte, die 80 Prozent des Weltmarktes versorgte. Marktwert: mehr als 30 Milliarden US-Dollar.[22]

Ressourcen haben weltweit schon immer eine zentrale Rolle gespielt. Die Fähigkeit eines Staates, seine Bürger mit Nahrung, Wasser und Energie zu versorgen, ist ebenso wichtig wie diejenige, sie vor äußeren Bedrohungen zu schützen. Dieser Elementarzusammenhang verleiht der Kontrolle über die Seidenstraßen mehr Bedeutung denn je. Zugleich bietet er eine Erklärung dafür, warum die Menschenrechtssituation in ganz Asien so prekär geworden ist. Kürzlich schrieb der stellvertretende UN-Generalsekretär für Menschenrechte, Andrew Gilmour: «Einige Regierungen fühlen sich durch jede abweichende Meinung bedroht. Sie betrachten die Sorge um Menschenrechtsbelange als ‹illegale Einmischung von außen› in ihre inneren Angelegenheiten, als Versuch, das Regime zu stürzen oder dem Land fremdartige ‹westliche› Werte aufzuzwingen. Die Entscheidung darüber, welche Stimmen Gehör finden und welche nicht, ist eng verbunden mit der Festigung und dem Erhalt von Macht in einer sich wandelnden Welt wie auch mit der Angst vor den Folgen, sollte man alternative Ansichten zulassen.»[23]

Wir leben bereits im asiatischen Jahrhundert – einer Zeit, in der sich das globale Bruttoinlandsprodukt erstaunlich schnell von den entwickelten Volkswirtschaften des Westens hin zu denen des Ostens verschiebt. Manche Projektionen gehen davon aus, dass bis 2050 das Pro-Kopf-Einkommen in Asien, gemessen an der Kaufkraft, um das Sechsfache wachsen könnte; damit wären zusätzliche drei Milliarden Asiaten nach gegenwärtigen Maßstäben wohlhabend. Durch die Verdoppelung seines Anteils am globalen Bruttoinlandsprodukt auf nahezu 52 Prozent würde Asien, wie es in einem neueren Bankbericht heißt, «die wirtschaftliche Vorherrschaft zurückgewinnen, die es vor rund dreihundert Jahren, vor dem Zeitalter der Industriellen Revolution, bereits innehatte».[24] Der Transfer globaler wirtschaftlicher Macht nach Asien könnte «schneller oder langsamer vonstattengehen», hält ein anderer Bericht fest, «aber die grundsätzliche Richtung des Wandels und die historische Bedeutung dieser Verschiebungen sind eindeutig».[25] Die Schlussfolgerung lautet ähnlich: Wir erleben eine Um- und Rückkehr zu den Verhältnissen, die vor dem Aufstieg des Westens herrschten.

Das akute Bewusstsein dafür, dass hier eine neue Welt zusammengefügt wird, hat den Anstoß geliefert für Pläne, aus den sich wandelnden Strukturen der wirtschaftlichen und politischen Macht Kapital zu schlagen und diese Prozesse zu beschleunigen. Hier ist an erster Stelle die chinesische «Belt and Road»-Initiative zu nennen, ein gewaltiges internationales Infrastrukturprojekt des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, das die Wirtschafts- und Außenpolitik des Landes bestimmt; das System der alten Seidenstraßen – einschließlich seiner Erfolge – dient dabei als Matrix für Chinas langfristige Zukunftsperspektive. Seit der Verkündung dieses Projekts im Jahr 2013 wurden fast eine Billion US-Dollar für Infrastrukturinvestitionen zugesagt, hauptsächlich in Form von Krediten für rund eintausend damit verbundene Einzelmaßnahmen. Manche glauben, dass die Summen, die in Chinas Nachbarstaaten und darüber hinaus in jene Länder fließen, die an den Land- und Seewegen des Seidenstraßen-Projekts liegen, sich letztlich auf ein Vielfaches dieser Investitionssumme belaufen werden. Ziel ist es, ein Netzwerk aus Eisenbahnstrecken, Autobahnen, Tiefseehäfen und Flughäfen zu schaffen, das immer stabilere und schnellere Handelsverbindungen ermöglicht.

China ist allerdings selbst mit Herausforderungen konfrontiert, nicht zuletzt mit dem Problem geburtenschwacher Jahrgänge. Das Geburtendefizit, so ein führender Wirtschaftswissenschaftler, führt dazu, dass die Bevölkerung zunehmend altert und sich auch deshalb nicht mehr ausreichend reproduziert.[26] Zudem hat sich in China inzwischen eine ungeheure Kreditblase gebildet. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hielt 2017 fest, das Schuldenniveau des Landes sei nicht mehr nur besorgniserregend, sondern «gefährlich».[27] Die Kreditblase hat einen so massiven Immobilienboom befeuert, dass Schätzungen inzwischen von einem Leerstand von einem Fünftel der neuen Wohneinheiten ausgehen – das sind rund 50 Millionen Wohnungen.[28] Hinzu kommen die Herausforderungen einer schnellen Urbanisierung, etwa die Probleme, die die Integration großer Migrantengruppen mit sich bringt; dabei geht es dann um die unterschiedlichen Ambitionen und Bildungsgrade von Stadt- und Landbevölkerungen, aber auch um die landesweit einheitliche Durchsetzung von Geschlechterrollen.[29]

Es gibt jedoch weitere Aspekte, die helfen zu verstehen, was in der Welt von heute vorgeht – und in der Welt von morgen. Gegenwärtig findet eine ganze Reihe von «Great Games» statt. Diesen Begriff popularisierte Anfang des 20. Jahrhunderts der Schriftsteller Rudyard Kipling mit seinem Roman «Kim»; gemeint war das viele Jahrzehnte andauernde politische, diplomatische und militärische Ringen zwischen Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien. Heute spielt sich ein vielfältiger Wettbewerb um Einfluss, Energie und Rohstoffe ab, ein Wettbewerb um Nahrung, Wasser und saubere Luft, um strategische Positionen, ja sogar um Daten. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung werden in den kommenden Jahrzehnten tiefgreifenden Einfluss auf die Welt haben, in der wir leben.

Die Seidenstraßen, schrieb ich vor etwa vier Jahren, befänden sich im Aufschwung. Das ist weiterhin der Fall. Und darum lohnt es sich, sorgfältig zu untersuchen, welche Auswirkungen das auf uns alle haben wird.

Die Straßen in den Osten

Vor fünfundzwanzig Jahren, als ich kurz vor dem Abschlussexamen an der Universität stand, sah die Welt noch ganz anders aus. Der Kalte Krieg war Vergangenheit, was der Hoffnung auf Frieden und Wohlstand Auftrieb gab. «Die heldenhaften Taten Boris Jelzins und des russischen Volkes» hätten Russland auf den Weg der Reformen und der Demokratie gebracht, sagte US-Präsident Bill Clinton 1993 bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten in Vancouver. Die Aussicht auf ein «produktives und prosperierendes Russland» sei gut für alle.[1]

Auch in Südafrika schienen die Zeiten hoffnungsvoll. Die nervenaufreibenden Verhandlungen zur Beendigung der Apartheid waren weit genug vorangeschritten, um das Osloer Nobelpreiskomitee zu veranlassen, den Friedensnobelpreis für 1993 an F.W. de Clerk und Nelson Mandela zu vergeben. Gewürdigt wurde ihr «Einsatz für die friedliche Ablösung des Apartheidregimes sowie für die Schaffung der Grundlagen eines neuen demokratischen Südafrika».[2] Die Verleihung des prestigeträchtigen Preises war ein Zeichen der Hoffnung für Südafrika, ganz Afrika und die ganze Welt – auch wenn später herauskam, dass viele der engsten Vertrauten Mandela gedrängt hatten, den Preis abzulehnen, um ihn nicht mit dem Mann teilen zu müssen, den sie «seinen Unterdrücker» nannten. Mandela jedoch bestand darauf, dass Vergebung ein zentraler Bestandteil der Versöhnung sei.[3]

Die Lage auf der koreanischen Halbinsel sah ebenfalls vielversprechend aus, denn damals wurde – eine Parallele zu den Diskussionen des Jahres 2018 – mit großer Geste eine Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea über die friedliche Wiedervereinigung Koreas und einen Weg zur Denuklearisierung getroffen, die als wichtiger Schritt hin zum Atomwaffensperrvertrag, zu mehr Sicherheit in der Region und darüber hinaus in der ganzen Welt gefeiert wurde.[4] Südkoreas Transformation war zu dieser Zeit schon weit fortgeschritten. Noch in den 1960er Jahren hatte das Land zu den ärmsten der Welt gehört – ohne Bodenschätze und am östlichen Ende Asiens nicht gerade vielversprechend gelegen. Die Verwandlung in eine ökonomische Supermacht, die Weltfirmen wie Samsung, Hyundai Motor und Hanwha Corporation beheimatet (alle mit Vermögenswerten von über 100 Milliarden US-Dollar), hat einige Kommentatoren dazu verleitet, von Südkorea als dem «erfolgreichsten Land der Welt» zu sprechen.[5]

Ebenfalls 1993 wurde ein Rahmenabkommen für die Verhandlungen zwischen China und Indien über Grenzstreitigkeiten geschlossen, die seit drei Jahrzehnten zu erbitterter Rivalität geführt hatten; zudem einigte man sich an der Grenze die Truppen zu reduzieren und gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten.[6] Das war für beide Länder ein wichtiger Schritt, zu einer Zeit, als wirtschaftliche Expansion und Liberalisierung für ihre Führer oberste Priorität hatten. In China hatte Deng Xiaoping gerade die südlichen Provinzen des Landes bereist, um auf schnellere soziale, politische und finanzielle Reformen zu drängen und sich mit den Hardlinern auseinanderzusetzen, die eine Liberalisierung der Märkte ablehnten. Symbol dieser Liberalisierung war die Eröffnung der Wertpapierbörse in Shanghai im Jahr 1990.[7]

In Indien wurde Anfang der 1990er Jahre wie auch anderswo das Wirtschaftswachstum forciert – doch die Erwartungen bezüglich einer kleinen Softwarefirma, die im Februar 1993 um die Platzierung ihrer Aktien an der Börse in Mumbai rang, waren so gering, dass die Investoren fürchteten, bei einem solchen Unternehmen ihr Kapital zu verlieren. Trotz seiner Größe und seines Potenzials war Indien wirtschaftlich gesehen noch ein kleiner Fisch, sein Technologiesektor winzig und unerprobt. Doch all jene, die damals tapfer Aktien von Infosys Technologies kauften, profitierten enorm, sofern sie ihre Wertpapiere behielten. Für das am 31. März 2018 endende Geschäftsjahr meldete das Unternehmen ein Betriebsergebnis von über 2,6 Milliarden US-Dollar. Die Aktien sind inzwischen viertausendmal so viel wert wie vor fünfundzwanzig Jahren.[8]

Auch die Gründung einer neuen Fluggesellschaft in einem kleinen Golfstaat schien damals eine eher aussichtslose Geschichte zu sein. Qatar Airways, gegründet im November 1993, nahm den Flugbetrieb zwei Monate später auf, wobei die meisten davon ausgingen, dass es bei ein paar Regionalrouten ohne große Nachfrage bleiben würde. Heute betreibt die Gesellschaft eine Flotte von mehr als 200 Flugzeugen und hat mehr als 40000 Mitarbeiter; Qatar Airways fliegt mehr als 150 Ziele an – und sammelt überall Auszeichnungen, die vor zweieinhalb Jahrzehnten niemand für möglich gehalten hätte.[9] Im April 2018 erwarb die Gesellschaft einen 25-prozentigen Anteil am Moskauer Internationalen Flughafen Wnukowo, dem drittgrößten Flughafen Russlands.[10]

Natürlich gab es 1993 nicht nur gute Nachrichten. In der Tiefgarage des New Yorker World Trade Center explodierte eine Bombe in einem Lastwagen, und bei einer koordinierten Serie von Bombenanschlägen in Mumbai kamen mehr als 250 Menschen ums Leben. Sarajewo, eine Stadt, die es als Schauplatz des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand im Jahr 1914, das den Ersten Weltkrieg auslöste, schon zu einigem Ruhm gebracht hatte, wurde 1992 bis 1996 von Streitkräften der bosnischen Serben belagert – eine Belagerung, die somit deutlich länger dauerte als die Schlacht um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg. Heckenschützen, die Zivilisten beim Überqueren der Straße erschossen, waren in der täglichen Berichterstattung ebenso zu sehen wie die schrecklichen Verwüstungen, die der Artilleriebeschuss von den umliegenden Bergen aus in der Stadt anrichtete. Dass es in Europa nun wieder Konzentrationslager gab, war wie der Genozid in Srebrenica und Goražde Mitte der 1990er Jahre eine brutale Erinnerung daran, wie leicht selbst die schrecklichsten Lektionen der Vergangenheit in Vergessenheit geraten können.

Einige der politischen Turbulenzen der frühen 1990er Jahre kommen einem heute irgendwie bekannt vor. In Großbritannien etwa wurde der politische Diskurs durch vergiftete Debatten über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und den Ruf nach einer Volksabstimmung geprägt. Diese Debatten führten beinahe zum Sturz der Tory-Regierung und dazu, dass Premierminister John Major Mitglieder seines eigenen Kabinetts als «bastards» bezeichnete.[11]

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All diese Ereignisse gehören zur jüngeren Vergangenheit und sind noch nicht allzu lange her. Trotzdem wirken sie heute ziemlich weit entfernt, wie aus einem völlig anderen Zeitalter. Als ich mich im Sommer 1993 auf mein Abschlussexamen an der Universität vorbereitete, hörte ich ständig das Album «Pablo Honey» einer vielversprechenden jungen Band namens Radiohead. Damals ahnte ich noch nicht, dass der prophetischste Song jenes Jahres nicht – das bei Spotify noch immer millionenfach gestreamte – «Creep» sein würde, sondern ein Stück, das in jenem Jahr bei den Oscar-Verleihungen prämiert wurde: «Eine ganz neue Welt» versprach Aladdin im gleichnamigen Disney-Zeichentrickfilm seiner Jasmin, «eine phantastische neue Perspektive». Und sie stimmte ein mit den Worten: «Eine ganz neue Welt, ein strahlender Ort, wie ich ihn noch niemals kannte.» Es war ein Song, der auf einem Märchen aus «Tausendundeine Nacht» basierte und im Zeichen der Vergangenheit der Seidenstraßen deren Zukunft voraussah.

Diese «ganz neue Welt» zeigt sich besonders deutlich, wenn man die englische Fußballwelt des Jahres 1993 mit der heutigen vergleicht. Einen Tag vor dem Beginn meines Abschlussexamens in Cambridge sah ich das Wiederholungsspiel des Pokalfinales zwischen Arsenal London und Sheffield Wednesday – ein Spiel, das fast genauso zäh und langweilig war wie das erste, das unentschieden geendet hatte (damals gab es noch kein Elfmeterschießen, daher mussten unentschiedene Spiele wiederholt werden). Von den Spielern, die zum Einsatz kamen, und den Ersatzspielern stammten bis auf drei alle von den Britischen Inseln. Fünfundzwanzig Jahre später war das Endspiel zwischen Arsenal und Manchester United nicht viel spannender, aber die Zusammensetzung beider Teams radikal anders: Nur sechs der 26 Spieler, die im Wembley-Stadion auf dem Feld standen, waren im Vereinigten Königreich oder in Irland zur Welt gekommen. Die anderen kamen aus der ganzen Welt, unter anderem aus Spanien, Frankreich, Nigeria und Ecuador.

Während schon hier die Geschwindigkeit der Globalisierung innerhalb einer einzigen Generation markant zum Ausdruck kommt, stellt sich der Wandel bei den Besitzverhältnissen englischer Fußballvereine im selben Zeitraum sogar noch dramatischer dar. Vor nicht allzu langer Zeit wäre der Gedanke, die Vereine der Spitzenmannschaften könnten einmal ausländischen Besitzern gehören, noch als Hirngespinst abgetan worden – damals hätte schon ein ausländischer Akzent in der Führungsetage die Herren Direktoren dazu gebracht, sich an ihrem Pausentee zu verschlucken und die dazugehörigen Fleischpasteten nicht mehr herunterzubekommen. Heutzutage haben einige der berühmtesten Clubs im englischen und europäischen Fußball ausländische Besitzer. Viele davon kommen aus den Ländern der Seidenstraßen.

In mancher Hinsicht ist das nicht überraschend. Schließlich wurden zwar 1863 in London erstmals verbindliche Regeln des Spiels festgelegt, aber erfunden wurde es nicht in England. Laut dem internationalen Dachverband FIFA wurde Fußball zum ersten Mal im China der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) nachgewiesen. Dort war das Spiel, bei dem die Teilnehmer einen mit Federn gefüllten Lederball in ein zwischen zwei Bambusstangen gespanntes Netz kickten, unter dem Namen «cuju» bekannt.[12] Dennoch liegt ein langer Weg zwischen den Anfängen des Spiels und der Feststellung, dass in den letzten Jahren alle großen, traditionsreichen Teams aus Birmingham und Umgebung von chinesischen Besitzern gekauft wurden: Aston Villa, West Bromwich Albion, Birmingham City und Wolverhampton Wanderers. Das Gleiche gilt seit 2017 für zwei Spitzenmannschaften des italienischen Fußballs, die sich das wunderbare Mailänder San-Siro-Stadion teilen: AC Mailand und Inter Mailand.

Hinzu kommen Clubeigentümer aus den Golfstaaten bei einigen der ersten Adressen in England und auf dem europäischen Kontinent. Manchester City, das 2018 die englische Meisterschaft in der Premier League mit einem Rekordabstand gewann, gehört Mansour bin Zayid Al Nahyan, dem stellvertretenden Premierminister der Vereinigten Arabischen Emirate. Der Parallelfall ist der französische Fußballmeister des Jahres 2018, Paris Saint-Germain, der ebenso leichtfüßig durch die französische Erste Liga spazierte. Die katarischen Eigentümer des Vereins hatten dem Team im vorangegangenen Sommer zwei neue Spieler, Neymar und Kylian Mbappé, spendiert, deren Transfersummen – ohne Gehälter und Bonuszahlungen – den Betrag von 350 Millionen Euro überstiegen.

Haupteigentümer des Liverpooler Clubs FC Everton ist Farhad Moshiri, im Iran geboren, aber jetzt in Monaco lebend. Sein Vermögen machte Moshiri gemeinsam mit dem usbekischen Geschäftsmann Alischer Usmanow, dem Investitionen in Russland, Zentralasien und andernorts ein Vermögen von mehr als 15 Milliarden Euro einbrachten – was Usmanow in die Lage versetzte, einen beträchtlichen Anteil des Londoner Fußballclubs Arsenal zu übernehmen. Eine Zeitlang wollte Usmanow Mehrheitseigner werden, was jedoch durch die komplexe Aktionärsstruktur des Vereins verhindert wurde. Arsenal-Fans beknieten Usmanow anschließend, seine Anteile nicht zu verkaufen, bevor es im Sommer 2018 doch noch zu diesem Verkauf kam. Jahrelang hing also das Schicksal eines stolzen Londoner Fußballclubs vom Willen eines usbekischen Magnaten ab.[13]

Früher brachen reiche Engländer und wohlhabende Europäer zu großen Kulturreisen nach Südeuropa auf, zur sogenannten Grand Tour. Sie vergnügten sich in Städten wie Venedig, Neapel, Florenz und Rom, bewunderten Kunst und Architektur und ließen sich davon inspirieren; einige kauften Gemälde und Zeichnungen auf, Statuen und Manuskripte, ja sogar komplette Inneneinrichtungen von Häusern, und nahmen sie mit nach Hause.[14] Es waren die Schaustücke zunehmenden Wohlstands sowie der kommerziellen und militärischen Erfolge, die eine kleine Insel im Nordatlantik in eine globale Supermacht verwandelt hatten.

Heutzutage sind die Vorzeigetrophäen Großereignisse wie Fußballweltmeisterschaften, beispielhaft inszeniert von Russland und Katar, Olympische Winterspiele wie in Sotschi 2014 oder großartige neue Kunstmuseen: etwa der neue Louvre – nicht in Paris, sondern in Abu Dhabi gelegen – oder das neue Victoria and Albert Museum – nicht in London, sondern in Shenzhen. Zu nennen sind auch das eindrucksvolle, von Rem Koolhaas entworfene Garage Museum für Zeitgenössische Kunst in Moskau und der neue Wintersportkomplex im turkmenischen Aschgabat – eine wesentlich größere Sportstätte als der Madison Square Garden in New York.

Im 18. Jahrhundert war ein britischer Reisender, der sich auf den Weg nach Italien machte, «voller Ungeduld und Sehnsucht danach, ein Land mit einer so berühmten Geschichte zu sehen, das einst der ganzen Welt Gesetze gab».[15] Das hat sich geändert, denn heute ist es die britische Geschichte, die international Bewunderung weckt, und britische Gerichte und Gesetze werden bemüht, um Streitigkeiten beizulegen und Scheidungsprozesse zu führen. Die neuen Großen und Mächtigen kaufen sich, wie gesagt, Fußballclubs oder jagen anderen Statussymbolen hinterher. Zu Letzteren gehören die weltberühmten Prestigekaufhäuser Harrods und Hamleys, Canary Wharf, das «Walkie-Talkie»-Gebäude in der Londoner City oder Zeitungshäuser wie «The Independent» und der «Evening Standard». Sie alle gehören jetzt Chinesen, Russen oder Arabern aus den Emiraten.

In den USA ist es nicht viel anders. Der Basketballclub Brooklyn Nets, die «New York Post», die New Yorker Hotels Waldorf Astoria und Plaza sowie der Musikkonzern Warner Music sind nur einige typische Spitzenunternehmen und -marken, die ganz oder teilweise von Investoren aus Russland, dem Mittleren Osten, China und anderen asiatischen Ländern aufgekauft wurden oder zumindest sehr enge Verbindungen dorthin unterhalten. Betroffen sind auch Hollywood-Studios wie Legendary Entertainment, das mit «Jurassic Park» den Kinohit des Sommers 1993 landete – der Kinobesuch war damals eine Belohnung für mein bestandenes Examen. Das Studio gehört jetzt zu dem Konzern Dalian Wanda Group, an dessen Spitze der chinesische Multimilliardär Wang Jianlin steht – wie auch die Kinoketten Odeon, UCI, Carmike und Hoyts in Europa, den USA und Australien (insgesamt mehr als 14000 Kinos) und der britische Luxusyachthersteller Sunseeker, aber auch die Sportrechteagentur Infront Sports & Media, Inhaber der exklusiven Übertragungsrechte für Sportgroßveranstaltungen wie die Fußballweltmeisterschaften 2018 und 2022.

Natürlich sind einige dieser Firmen Milliardärsspielzeug, aber hinter vielen Käufen stehen ernsthafte Investitionsstrategien und Großinvestitionen. Sie basieren auf einer immensen Verschiebung des Bruttoinlandsprodukts in den letzten fünfundzwanzig Jahren; allein in China haben seit den 1980er Jahren mehr als 800 Millionen Menschen die Armutsschwelle überwunden.[16] Was unter «Armut» zu verstehen ist, wird unter Entwicklungsexperten und anderen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern zwar kontrovers diskutiert, doch besteht kein Zweifel daran, dass das Tempo des wirtschaftlichen Wachstums genauso erstaunlich ist wie dessen Ausmaß. 2001 betrug Chinas Bruttoinlandsprodukt, gemessen an der Kaufkraft, noch 39 Prozent des US-amerikanischen. 2008 waren es schon 62 Prozent. 2016 belief sich Chinas Bruttoinlandsprodukt dann nach denselben Kriterien auf 114 Prozent des US-amerikanischen – und es wird in den kommenden fünf Jahren weiter stark wachsen.[17]

Dieser Wandel bedeutet nicht nur für China eine echte Transformation, sondern auch für den Rest der Welt. Ein Unternehmer aus Peking hat vor kurzem in Zentralfrankreich 3000 Hektar Land erworben, um die Mehlversorgung einer Kette von einigen tausend Boulangeries zu sichern, die er in ganz China eröffnen will. Er erwartet, dass sich der Geschmack der Chinesen von reisbasierter Nahrung wegentwickeln werde. Wenn dies geschehe, so Hu Keqin, besagter Unternehmer, dann werde das «Potenzial riesig» sein.[18]

Während man sich in Frankreich wegen des zu erwartenden Preisdrucks Sorgen macht, weil das Mehl exportiert wird, statt in einheimischen Bäckereien zu landen, lässt sich Ähnliches auch für die französische Weinwirtschaft sagen: Die Exporte nach China stiegen allein 2017 um 14 Prozent auf fast 220 Millionen Liter. Man rechnet damit, dass die französischen Weinexporte nach China in fünf Jahren mehr als 20 Milliarden US-Dollar wert sein werden; das ist eine gute Nachricht für französische Weinbauern, weniger allerdings für französische Weintrinker.[19]

Viele der berühmtesten Bordeaux-Weingüter haben in den letzten Jahren den Besitzer gewechselt und gehören nun Prominenten wie der chinesischen Schauspielerin Zhao Wei oder dem Unternehmer Jack Ma, dem Gründer des Internet-Handelsriesen Alibaba (Ma besitzt gleich vier davon, darunter das berühmte Château de Sours). Dazu kommt, dass manche Weingüter ihren Namen geändert haben, um für chinesische Weintrinker interessanter zu werden. Château Sénilhac im Médoc wurde umbenannt zu Château Antilope Tibetaine («Tibetische Antilope»), aus dem Château La Tour Saint Pierre wurde das Château Lapin d’Or («Goldener Hase»), und das Château Clos Bel Air heißt jetzt Château Grande Antilope.[20]

Für Puristen mag es ein Ärgernis sein, wenn sie miterleben müssen, wie stolze Namen, die jahrhundertelang Respekt und Ruhm erwarben, plötzlich fallengelassen werden. Aber der Aufstieg des Ostens hat noch ganz andere Auswirkungen auf den scheinbar banalen Alltag der Welt um uns herum. Qatar Airways ist nur eine von einer ganzen Reihe Fluggesellschaften, deren Flugbetrieb die Nachfrage nach zivilen Flugzeugen enorm beflügelt hat – und dieser Bedarf wird weiterhin stark zunehmen. Der internationale Branchenverband IATA (International Air Transport Association) geht davon aus, dass sich die Zahl der Flugpassagiere bis 2036 auf 7,8 Milliarden fast verdoppeln wird, wobei dieser Anstieg zunehmend auf das Konto der wachsenden und immer wohlhabender werdenden Bevölkerungen Chinas, Indiens, der Türkei und Thailands geht.[21]

Das bedeutet nach einer davon unabhängigen Analyse des Luftfahrtkonzerns Boeing, dass im Verlauf der nächsten zwanzig Jahre 500000 neue Piloten gebraucht werden.[22] Doch die Folgen dieses Zuwachses machen sich bereits jetzt bemerkbar, es herrscht schon heute ein Mangel an Piloten. Das hat die Pilotengehälter in ungeahnte Höhen getrieben; die Fluggesellschaft Xiamen Air bietet ihren 737 Piloten Jahresgehälter von 400000 US-Dollar – in manchen Kreisen wird sogar schon über Pilotengehälter von bis zu 750000 US-Dollar berichtet.[23] Derartige Gehaltssteigerungen haben natürlich Einfluss auf die Reisekosten. Zudem hat der durch den weltweiten Pilotenmangel erzeugte Druck bereits dazu geführt, dass etablierte und gut aufgestellte Fluggesellschaften Flüge streichen mussten.[24] Man mag es kaum glauben, aber wenn eine Geschäftsreise im Mittleren Westen der USA, der Rückflug aus dem Skiurlaub in den Alpen oder der Weg in einen Traumurlaub am anderen Ende der Welt wegen eines gestrichenen Flugs zum Problem wird, dann hat das womöglich auch mit dem Aufstieg der Seidenstraßenländer zu tun.

Dieselben Faktoren werden auch Einfluss darauf haben, wie das Hotelzimmer aussieht, welche Musik in der Hotellobby erklingt und welche Drinks man an der Hotelbar bekommt. 1990 war die Zahl der chinesischen Besucher im Ausland noch minimal und prinzipiell auf staatliche oder quasistaatliche Aktivitäten beschränkt; diese Besucher gaben im Ausland insgesamt rund 500 Millionen US-Dollar aus.[25] 2017 hatte sich dieser Betrag um das 500-Fache auf mehr als 250 Milliarden US-Dollar erhöht – und betrug damit rund das Doppelte dessen, was amerikanische Reisende jährlich im Ausland ausgeben.[26] Diese Zahlen werden sich in Zukunft weiterhin drastisch erhöhen. Gegenwärtig besitzen nur 5 Prozent der chinesischen Bürger einen Reisepass; Schätzungen zufolge werden 2020 rund 200 Millionen Chinesen ins Ausland reisen. Marktforschungsstudien legen nahe, dass sich hier besonders gute Chancen für Spielcasinos und die Kosmetikindustrie ergeben werden; florieren werden auch Fluggesellschaften, sofern sie die richtigen Ziele anfliegen, Hotels, die sich auf den Geschmack der Chinesen einstellen, und Online-Reiseportale, die Auslandsreisen organisieren – wie zum Beispiel Skyscanner, das Ende 2016 von der chinesischen Firma Ctrip aufgekauft wurde; der Deal belief sich auf 1,7 Milliarden US-Dollar.[27]

Die Welt im Wandel hält auch Herausforderungen bereit – oft an unerwarteten Orten und in überraschender Weise. Chinas Aufstieg hat etwa außerordentliche Probleme für Esel und Eselzüchter von Zentralasien bis Westafrika mit sich gebracht. Die chinesische Nachfrage nach Eselshäuten hat gewaltig zugenommen, denn diese sind Bestandteil eines populären alternativen Heilmittels, «ejiao», das gut sein soll, um Schmerzen zu mindern, Akne zu behandeln, Krebs zu verhindern und die Libido zu stärken. Die Eselpopulation in China hat sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren halbiert, also suchte man anderswo nach neuen Bezugsquellen.[28] In Tadschikistan haben sich die Preise für Esel vervierfacht, auch in Afrika war ein rasanter Preisanstieg zu verzeichnen.

Esel werden jedoch als Lasttiere benötigt, unter anderem für den Transport von Nahrungsmitteln zu den Märkten, und sie spielen auch in der landwirtschaftlichen Produktion eine wichtige Rolle. Die plötzliche und massive Abnahme der Eselbestände bedroht und destabilisiert die landwirtschaftlichen Strukturen in Ländern, deren Balance im gesamten Bereich der Landwirtschaft ohnehin schon prekär ist. Aus diesem Grund wurden in Niger, Burkina Faso und anderen afrikanischen Ländern Exportverbote für Esel nach China verhängt.[29] Eine der wohl eher unerwarteten Auswirkungen des Aufstiegs der Seidenstraßen ist also die Entstehung eines Schwarzmarkts für Eselshäute.[30]

Um von dort auf die britische Hauptinsel zurückzukehren: Die Unsummen ausländischen Kapitals, die in den Zentrallondoner Immobilienmarkt gepumpt wurden, haben dazu geführt, dass Wohneigentum hier fast unerschwinglich geworden ist. Der rasante Anstieg des ausländischen Kapitaleinsatzes zwischen 1999 und 2014 hat die Preise für teure Eigenheime maßlos in die Höhe getrieben, was sich dann mit einem Preisanstieg auch in den unteren Marktsegmenten fortsetzte. Ohne die ausländischen Investitionen, die in diesem Zeitraum in die Londoner City drängten, wären die Immobilienpreise heute um 19 Prozent niedriger.[31]

Zwischen 2007 und 2014 kamen fast 10 Prozent aller Immobilieninvestitionen in London aus Russland – wobei dieser Anteil im Preissegment der Häuser, die über zehn Millionen Pfund wert sind, sogar bei mehr als 20 Prozent lag.[32] Auch der Kapitalzufluss aus China in ausländische Wohnimmobilienmärkte ist stark gestiegen; 2016 kauften chinesische Staatsbürger Wohnungseigentum im Ausland für mehr als 50 Milliarden, 2017 für 40 Milliarden US-Dollar.[33] Dabei ist in diesen Zahlen nicht das Kapital enthalten, das für ein Drittel aller Investitionen in Londoner Gewerbeimmobilien im Jahr 2017 eingesetzt wurde.[34]

Anderswo läuft es ähnlich. Chinesische Käufer erwarben 2016 in Vancouver derart viele Immobilien, dass die Preise im Vergleich zum Vorjahr monatlich um 30 Prozent stiegen; dies veranlasste die Stadt, den Immobilienerwerb durch ausländische Käufer mit 15 Prozent zu besteuern – ein Versuch, den überhitzten Markt wieder abzukühlen. Ähnlicher Marktdruck herrscht auch im übrigen Kanada, außerdem in Australien, Neuseeland und neuerdings in Südostasien.[35] Wenn ein Eigenheim unerschwinglich wird, weil die Immobilienpreise so drastisch gestiegen sind, dann rührt dieser Umstand vielleicht nicht direkt vom Aufstieg der Seidenstraßen her; aber er ist auf jeden Fall Teil der Erzählung, dass sich der ökonomische Schwerpunkt der Welt von Westen nach Osten verschiebt.

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Die starke Zunahme des Wohlstands im Osten sollte jedem Betrachter die Augen öffnen. Im Februar 2017 gefiel Mehrdad Safari, einem iranischen Geschäftsmann, der in einem Istanbuler Hochhaus ein Apartment gemietet hatte, das Leben dort so sehr, dass er das ganze Gebäude für 90 Millionen US-Dollar (ohne Umsatzsteuer) erwarb. Einst waren es allein die Amerikaner, die gleich die ganze Firma kauften, wenn ihnen etwas sehr gefiel – dem berühmten Ausspruch von Victor Kiam entsprechend, der nach einer gelungenen Elektrorasur gleich die ganze Firma Remington kaufte. Jetzt haben auch andere Lust und die Mittel, so etwas zu tun.[36]

In der sich wandelnden Welt ändern sich Ausgaben- und Konsummuster ebenso wie Lebensgewohnheiten, zu Hause wie im Ausland. Pakistan ist heute der am schnellsten wachsende Einzelhandelsmarkt der Welt, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass sich das verfügbare Einkommen seit 2010 verdoppelt hat. In die Höhe getrieben wird die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte – prognostiziert wird zwischen 2017 und 2021 ein Anstieg um 50 Prozent – auch dadurch, dass die Bevölkerung des Landes so jung ist. Zwei Drittel der Einwohner sind unter dreißig Jahre alt. Und die Jungen haben eine andere Einstellung zum Geld; sie wollen lieber das Leben jetzt genießen, als für zukünftigen Lebensgenuss zu sparen.[37]

In Indien hält die dramatische Expansion der Mittelschicht, die die drei letzten Jahrzehnte prägte, weiterhin an, und zwar mit enormer Geschwindigkeit. 1990 gab es dort zwei Millionen Haushalte, die über ein Jahreseinkommen von mehr als 10000 US-Dollar verfügten; 2014 war die Zahl dieser Haushalte auf 50 Millionen angewachsen.[38] Und dies ist nur der Beginn einer Transformation von erderschütternden Ausmaßen und enormer Bedeutung. Neuere Studien gehen davon aus, dass die Konsumausgaben sich in den kommenden acht Jahren verdreifachen werden, ehe sie 2025 ein Niveau von vier Billionen US-Dollar erreichen. Solche Veränderungen beeinflussen den Lebensstil der Menschen in Indien: Das traditionelle Modell der Großfamilie unter einem Dach wird durch Single- oder Paarhaushalte ersetzt, egal ob mit oder ohne Kinder. Das hat natürlich wesentliche Auswirkungen auf das Familienleben und stellt für den Wohnungsmarkt eine große Herausforderung dar, aber auch für die gesamte Infrastruktur aus Verkehrswesen, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Gesundheits- und Erziehungswesen. Zugleich bieten sich hier enorme Chancen, nicht zuletzt weil kleine Haushalte pro Kopf 20 bis 30 Prozent mehr ausgeben als größere Familien.[39]

Diese Verschiebungen sind in der Luxusgüterindustrie natürlich nicht unbemerkt geblieben. Hier haben sich seit den frühen 1990er Jahren die Nachfragestrukturen fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Damals machten die chinesischen Kunden nur einen winzigen Bruchteil der Käufer von Luxusgütern aus. Jetzt sind sie weltweit für ein Drittel aller Umsätze in diesem Sektor verantwortlich – und 2025 werden sie voraussichtlich 44 Prozent aller Luxusgüter kaufen.[40] Hier liegt einer der Gründe, warum Prada 2018 in einer chinesischen Großstadt, Xian, allein sieben neue Läden eröffnen will.[41] Und so erklären sich auch Geschäftsentscheidungen wie die von Chanel, eine ganze Reihe von Seidenmanufakturen aufzukaufen, um die Versorgung für ihre Produkte sicherzustellen – was angesichts der Popularität, die Chanel-Produkte in China und anderswo in der Welt genießen, nicht weiter überrascht.[42]

Auch die Kaffeehauskette Starbucks hat China ins Visier genommen. Die ambitionierten Expansionspläne zeigen, wie hoch der Konzern die Absatzchancen im bevölkerungsreichsten Land der Erde einschätzt. 2017 kündigte Starbucks an, man werde bis 2021 zweitausend neue Läden eröffnen – oder, anders gesagt, alle 15 Stunden eine neue Starbucks-Filiale.[43] China lässt sich als Absatzmarkt einfach nicht ignorieren; mehr noch, es ist ein Markt mit Aussicht auf lukrative Gewinne.

Ähnlich sieht es in Indien, Pakistan oder Russland aus, ebenso wie am Persischen Golf – wo die Kunden allein in den Vereinigten Arabischen Emiraten jährlich drei Milliarden US-Dollar für Luxusautos ausgeben. Wer im Osten die Geschäfte richtig angeht, wird im Luxusgütermarkt zu den Marktführern zählen – oder eben, im umgekehrten Fall, zu den potenziellen Verlierern.[44] Das gilt übrigens für fast alle Sektoren der Wirtschaft und Kultur. Als zum Beispiel die chinesische Regierung Ende 2015 die Einkind-Politik beendete, schossen die Aktienkurse von Unternehmen, die Kinderwagen, Windeln und Babynahrung herstellen, rasant in die Höhe – während die der großen Kondomproduzenten massiv einbrachen.[45] Ein Bericht der Bank Credit Suisse sagte voraus, der Anstieg der Geburtenzahlen werde dazu führen, dass Hunderte Milliarden Yuan für Einzelhandelswaren ausgegeben würden, die mit Babys und Kindern zu tun haben.[46] Man kann ein Vermögen verdienen, wenn man im Zeichen veränderten Konsumverhaltens zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.

Man kann aber auch gravierende Fehler begehen. Eine wenig durchdachte Anzeigenkampagne von Dolce & Gabbana in China im Winter 2018 wurde durch Kommentare, die einer der beiden Unternehmensgründer und Namensgeber in den sozialen Medien postete, noch erheblich verschlimmert. Manche Kommentatoren sprachen gar von einem der schadensträchtigsten Missgriffe in der Einzelhandelsgeschichte der Modebranche. Die Entrüstung in China führte jedenfalls dazu, dass die Marke im ganzen Land aus den Sortimenten der führenden Läden und Online-Einkaufsplattformen genommen wurde – auch bei Net-a-porter, das alle D-&-G-Artikel von seinen chinesischsprachigen Websites nahm und damit Umsatzverluste in Höhe von zig Millionen US-Dollar in Kauf nahm – zumindest kurzfristig.[47]

Auch wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist, kann das «vermögenswirksam» sein. Als Meng Wanzhou, die Finanzchefin des Kommunikationstechnologie-Giganten Huawei, im Dezember 2018 in Vancouver verhaftet wurde, gab es in China einen gewaltigen Aufschrei. Während die chinesische Regierung Mengs Freilassung forderte, wobei ein Leitartikel im Parteiorgan «Pekinger Volkszeitung» die Festnahme als «widerwärtigen» Menschenrechtsverstoß bezeichnete, griffen andere zu drastischeren Maßnahmen.[48] Der Aktienkurs von Canada Goose fiel um mehr als 20 Prozent, wodurch die beliebte Parka-Firma rund eine Milliarde US-Dollar an Börsenwert einbüßte – infolge von Boykottaufrufen im chinesischen sozialen Medium Weibo.[49]

Im Tourismussektor werden in Zukunft Gewinner und Verlierer danach ermittelt werden, welche Orte, Hotels, Einrichtungen, Speisekarten und Touristenattraktionen der asiatischen Bevölkerung am besten gefallen, die momentan rund 4,5 Milliarden Menschen umfasst und immer weiter zunimmt – an Zahl wie an Reichtum.[50] Zum Kontext einer solchen Aussage: Nach den Daten der Weltbank und der OECD lag 2017 nicht eine der zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in der westlichen Hemisphäre, wie bereits im vorangegangenen Jahrzehnt.[51] Geschmacksrichtungen, Trends und Vorlieben werden in Zukunft im Osten bestimmt – nicht im Westen.

Wenn sich Ansprüche und Geschmäcker verändern, wird das die Nachfrage beflügeln, so war es schon immer. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Wandel vollzieht, ist jedoch bemerkenswert. Ein neuer McKinsey-Report hält fest, dass sich die Präferenzen der chinesischen Verbraucher verschieben. In fast der Hälfte der untersuchten Warensortimente, darunter Nahrungsmittel, Elektronikartikel, Hygieneartikel und Bier, brachten die Befragten klar zum Ausdruck, dass sie einheimische Produkte gegenüber ausländischen bevorzugten.[52] Auch das Firmenglück oder -scheitern wird sich in Zukunft im Osten entscheiden – nicht im Westen.

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Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum – das ist nur die eine Seite des Wandels. Es sollte nicht vergessen werden, dass mit diesem Wachstum zunehmend auch Probleme und Schmerzen verbunden sein werden. Eine ausreichende Infrastruktur für boomende Bevölkerungen aufzubauen ist logistisch schwierig und teuer. Es erfordert nicht nur eine gute Vorausplanung, sondern auch viel Glück bei den Bedarfsprognosen für die Bereiche Energie, Technologie und Verkehr.