Kriegspilger - Peter Frankopan - E-Book

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Peter Frankopan

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Beschreibung

«In jeder Hinsicht ein bedeutendes Buch – überwältigend und beeindruckend.» Simon Sebag Montefiore Peter Frankopan betrachtet eine der folgenreichsten kriegerischen Expeditionen der Weltgeschichte in völlig neuem Licht. Im Jahr 1096 zogen rund achtzigtausend Kreuzfahrer los, um Jerusalem und die Grabstelle Jesu nach über vierhundert Jahren wieder unter christliche Herrschaft zu bringen. Was sie in Angriff nahmen, war ein mehrjähriges, von Grausamkeit, Krankheit und Tod gezeichnetes Unterfangen, das die Welt für lange Zeit prägen sollte: Europa profitierte von der kulturellen Blüte des Morgenlandes, der Orienthandel und mit ihm die italienischen Hafenstädte florierten, vier Kreuzfahrerstaaten wurden errichtet. Auf der Grundlage von bislang kaum beachteten Quellen erzählt Peter Frankopan die Geschichte dieses «Heiligen Krieges» – und rückt erstmals Alexios, den Kaiser des Byzantinischen Reiches, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn ebenjener Herrscher aus dem Osten war der eigentliche Initiator des Kreuzzuges und nicht, wie gemeinhin angenommen, der römische Papst. Frankopan wagt eine bemerkenswerte Neuinterpretation jenes epochalen Ereignisses, die unser Verständnis der Kreuzfahrerbewegung verändern wird. Geschichtsschreibung, wie sie sein sollte: anschaulich, spannend und voller neuer Erkenntnisse.

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Peter Frankopan

Kriegspilger

Der erste Kreuzzug

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«In jeder Hinsicht ein bedeutendes Buch – überwältigend und beeindruckend.» Simon Sebag Montefiore

 

Peter Frankopan betrachtet eine der folgenreichsten kriegerischen Expeditionen der Weltgeschichte in völlig neuem Licht. Im Jahr 1096 zogen rund achtzigtausend Kreuzfahrer los, um Jerusalem und die Grabstelle Jesu nach über vierhundert Jahren wieder unter christliche Herrschaft zu bringen. Was sie in Angriff nahmen, war ein mehrjähriges, von Grausamkeit, Krankheit und Tod gezeichnetes Unterfangen, das die Welt für lange Zeit prägen sollte: Europa profitierte von der kulturellen Blüte des Morgenlandes, der Orienthandel und mit ihm die italienischen Hafenstädte florierten, vier Kreuzfahrerstaaten wurden errichtet.

Auf der Grundlage von bislang kaum beachteten Quellen erzählt Peter Frankopan die Geschichte dieses «Heiligen Krieges» – und rückt erstmals Alexios, den Kaiser des Byzantinischen Reiches, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn ebenjener Herrscher aus dem Osten war der eigentliche Initiator des Kreuzzuges, und nicht, wie gemeinhin angenommen, der römische Papst. Frankopan wagt eine bemerkenswerte Neuinterpretation jenes epochalen Ereignisses, die unser Verständnis der Kreuzfahrerbewegung verändern wird. Geschichtsschreibung, wie sie sein sollte: anschaulich, spannend und voller neuer Erkenntnisse.

Über Peter Frankopan

Peter Frankopan, geboren 1971, zählt zu den profiliertesten Historikern Großbritanniens. Er ist Leiter des Zentrums für Byzantinische Studien an der Universität Oxford und lehrte als Gastdozent unter anderem an den Universitäten Cambridge, Harvard, Yale und Princeton. Als Experte für die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens äußert sich Frankopan regelmäßig in der nationalen und internationalen Presse. Sein letztes Buch «Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt» stand lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste.

Meiner Frau Jessica

Aus dem Land Jerusalem und der Stadt Konstantinopel kam schlimme Nachricht und drang schon oft an unser Ohr: Das Volk im Perserreich, ein fremdes Volk, ein ganz gottfernes Volk … hat die Länder der dortigen Christen besetzt, durch Mord, Raub und Brand entvölkert.

Robert von Reims

Zu dieser Synode kam eine Gesandtschaft des Kaisers von Konstantinopel, welcher den Herrn Papst und alle Gläubigen Christi inständig bat, Hilfe zu bringen gegen die Heiden zur Verteidigung der heiligen Kirche, die in jenen Gegenden schon beinahe vernichtet war von den Heiden, die sie bis vor die Mauern Konstantinopels erobert hatten. Zu dieser Hilfeleistung rief der Herr Papst viele auf, dass sie eidlich versprachen, mit Gottes Willen dorthin [nach Jerusalem] zu ziehen und dem Kaiser gegen die Heiden nach Kräften getreueste Hilfe zu bringen.

Bernold von Konstanz

[Er] brachte die Kelten in sämtlichen Ländern dazu, sich von allen Richtungen her mit Waffen und Pferden und der übrigen Kriegsausrüstung zu versammeln. So waren sie voller Bereitschaft und Begeisterung, und alle Straßen waren voll von ihnen. Zusammen mit diesen keltischen Kriegern zog aber auch eine unbewaffnete Menge, zahlreicher als der Sand und die Sterne, welche Palmzweige und Kreuze auf den Schultern trug … Und man konnte sehen, wie sie Flüssen gleich von überallher zusammenströmten und sich … als riesige Armee unseren Gebieten näherten.

Anna Komnene

Er [der Kaiser] machte es wie der Skorpion, bei dem du, wenn du vorn nichts siehst, das du zu fürchten hast, klug tust, wenn du dem Schaden ausweichst, den er dir von hinten mit seinem Schwanze beibringen kann.

Wilhelm von Tyrus

EinleitungKriegspilger

Am 27. November 1095 erhob sich Papst Urban II. in der Stadt Clermont im Herzen von Frankreich, um eine der elektrisierendsten Reden der Geschichte zu halten. In der vergangenen Woche hatte er den Vorsitz über ein Kirchenkonzil innegehabt, an dem zwölf Erzbischöfe, achtzig Bischöfe und andere hohe Geistliche teilnahmen, und nun kündigte er an, dass er vor den Gläubigen eine Rede von besonderer Bedeutung halten wolle. Statt von der Kanzel der Kirche in Clermont zu predigen, beschloss Urban, sich auf einen benachbarten Acker zu begeben, damit alle, die sich voller Erwartung versammelt hatten, ihn hörten.

Der Rahmen war geradezu spektakulär. Der Papst hatte eine prächtige Kulisse ausgesucht: Im Hintergrund lag eine Reihe erloschener Vulkane, wobei der mächtigste Lavadom, der Puy-de-Dôme, in nur acht Kilometern Entfernung unübersehbar aufragte. Die Menge gab sich alle Mühe, seine Worte zu verstehen, als Urban II. an diesem kalten Herbsttag zu sprechen anfing: «Liebe Brüder», sagte er, «ich, Urban, oberster Pontifex und mit Gottes Erlaubnis Prälat der ganzen Welt, bin in dieser Zeit arger Bedrängnis zu euch, den Dienern Gottes in dieser Region, als Botschafter für die himmlische Ermahnung gekommen.»[1]

Der Papst war im Begriff, einen dramatischen Ruf zu den Waffen auszusprechen: Männer mit militärischer Erfahrung sollten tausende Meilen bis zur Heiligen Stadt Jerusalem marschieren. Die Reaktion auf seine Rede war beispiellos. Keine vier Jahre später hatten westliche Ritter ihre Lager an den Mauern jener Stadt aufgeschlagen, vor der man einst Jesus Christus gekreuzigt hatte, und standen kurz davor, sie im Namen Gottes zu erobern. Zehntausende hatten ihre Heimat verlassen und ganz Europa durchquert, angetrieben von Urbans Worten in Clermont und fest entschlossen, die Heilige Stadt zu befreien.

«Wir wollen euch wissen lassen», erklärte der Papst in seiner Rede in Clermont, «welcher traurige Anlass uns in euer Gebiet geführt, welche Not uns hierher gezogen hat; sie betrifft euch und alle Gläubigen.» Beunruhigende Nachrichten, so Urban, hätten ihn sowohl aus Jerusalem als auch aus der Stadt Konstantinopel erreicht: Die Muslime, «ein fremdes Volk, ein ganz gottfernes Volk … [haben] die Länder der dortigen Christen besetzt, durch Mord, Raub und Brand entvölkert». Viele seien grausam ermordet worden; andere habe man gefangen genommen und verschleppt.

Anschaulich beschrieb der Papst die Gräueltaten, die im Osten von den «Persern» – womit er die Türken meinte – begangen wurden: «Sie beflecken die Altäre mit ihren Abscheulichkeiten und stürzen sie um; sie beschneiden die Christen und gießen das Blut der Beschneidung auf die Altäre oder in die Taufbecken. Denen, die sie schändlich misshandeln und töten wollen, schlitzen sie den Bauch auf, ziehen den Anfang der Gedärme heraus, binden ihn an einen Pfahl und treiben sie mit Geißelhieben so lange herum, bis die Eingeweide ganz herausgezogen sind und sie am Boden zusammenbrechen. Sie binden manche an Pfähle und erschießen sie mit Pfeilen. Sie ziehen manchen den Hals lang, gehen mit bloßem Schwert auf sie los und versuchen, ob sie sie mit einem Streich köpfen können. Was soll ich von der ruchlosen Schändung der Frauen sagen? Davon reden ist schlechter als schweigen.»[2]

Urban wollte die versammelte Menge aufrütteln: «Nicht ich, sondern Gott ermahnt euch als Herolde Christi immer wieder, und zwar Männer jeglichen Ranges, Ritter ebenso wie Fußsoldaten, arm und reich, sich zu eilen, um dieses boshafte Geschlecht aus unseren Ländern zu vertreiben und rechtzeitig den christlichen Bewohnern zu Hilfe zu eilen.»[3]

Die Ritterschaft Europas sollte sich erheben und so schnell wie möglich der östlichen Kirche zu Hilfe eilen. Eine Schlachtreihe christlicher Ritter sollte sich formieren, nach Jerusalem marschieren und unterwegs die Türken aus dem Land vertreiben. «Mögt ihr es für etwas Wunderbares halten, für Christus in jener Stadt zu sterben, in der er für uns starb.»[4] Gott habe die Ritter Europas mit einer außerordentlichen Tüchtigkeit im Kampf, großer Tapferkeit und Stärke gesegnet. Es sei für sie an der Zeit, so Urban, ihre Kräfte einzusetzen, die Leiden der Christen im Osten zu rächen und das Heilige Grab in die Hand der Gläubigen zu bringen.[5]

Die verschiedenen Überlieferungen der Worte, die Urban in Clermont sprach, lassen keinen Zweifel daran, dass die Rede des Papstes ein rhetorisches Meisterstück war – seine Ermahnungen waren sorgfältig abgewogen, die grausamen Beispiele für die türkische Unterdrückung wohl gewählt.[6] Anschließend beschrieb er den Lohn, der diejenigen erwartete, die zu den Waffen griffen: Die Krieger sollten bis in alle Ewigkeit gesegnet sein. Jedermann wurde ermuntert, dieses Angebot anzunehmen. Schwindler und Diebe wurden gedrängt, zu «Soldaten Christi» zu werden, während all jene, die bislang gegen ihre Brüder und Verwandten gekämpft hatten, aufgefordert wurden, sich zu vereinen und sich rechtmäßig gegen die Barbaren zu wenden. Wer immer sich auf den Weg machte, getrieben von seiner Frömmigkeit statt von der Liebe zu Geld oder Ruhm, dem sollten sämtliche Sünden erlassen werden. Es war, mit den Worten eines Augenzeugen, «ein neuer Weg, das Heil zu erlangen».[7]

Die Menge reagierte begeistert auf Urbans Rede. Es ertönte der Ruf: «Deus vult! Deus vult! Deus vult!» – «Gott will es! Gott will es! Gott will es!» Aufmerksam horchten die Zuhörer, was der Papst als Nächstes zu sagen hatte: «Dieser Ruf soll euch nun im Kampf das Losungswort sein, denn dieses Wort hat Gott gesprochen. Wenn ihr den Feind angreift und bekämpft, werden alle vom Heere Gottes dies eine rufen: ‹Gott will es! Gott will es!›»[8]

Viele der Anwesenden wurden von Euphorie gepackt und begaben sich schleunigst nach Hause, um mit den Vorbereitungen zu beginnen. Geistliche schwärmten in alle Richtungen aus, um die Nachricht zu verbreiten, während Urban selbst einen überaus harten Zeitplan auf sich nahm. Er reiste kreuz und quer durch Frankreich, um für die Expedition zu werben, schickte aufrüttelnde Briefe in Regionen, die er zeitlich bedingt nicht besuchen konnte. Schon bald befand sich ganz Frankreich im Kreuzzugsfieber. Adlige und Ritter schlossen sich eilig dem Zug an. Männer wie Raimund von Toulouse, eine der reichsten und mächtigsten Personen in Europa, sagten zu, ebenso Gottfried, der Herzog von Lothringen, der so euphorisch war, dass er noch vor Beginn der Reise Münzen schlugen ließ mit der Aufschrift: «GODEFRIDUS IEROSOLIMITANUS» – Gottfried der Jerusalempilger.[9] Die Nachricht von der Expedition nach Jerusalem verbreitete sich wie ein Lauffeuer.[10] Der Erste Kreuzzug nahm seinen Gang.

 

Vier Jahre später, Anfang Juli 1099, bezog ein übel zugerichtetes, dezimiertes, aber bis zum Äußersten entschlossenes Ritterheer vor den Mauern Jerusalems Stellung. Der heiligste Ort der Christenheit sollte in Kürze angegriffen und den Muslimen entrissen werden. Belagerungsgerät war gebaut worden und stand bereit zum Angriff. Alle Teilnehmer hatten feierliche Gebete gesprochen. Die Ritter waren im Begriff, eine der erstaunlichsten Heldentaten der Geschichte zu vollbringen.

Der hehre Anspruch des Ersten Kreuzzugs basierte zum Teil auf dem Ausmaß des Unternehmens. Auch in der Vergangenheit waren Heere große Strecken marschiert und hatten wider Erwarten gewaltige Gebiete erobert. Die Feldzüge der großen Kriegsherren der Antike, etwa jene von Alexander dem Großen, Julius Cäsar und Flavius Belisarius, demonstrierten, wie riesige Landstriche von gut geführten, disziplinierten Soldaten eingenommen werden konnten. Was den Kreuzzug davon unterschied, war die Tatsache, dass das Heer der Westeuropäer keine Armee der Eroberung, sondern der Befreiung war. In Clermont drängte Urban die Ritterschaft Europas nicht, auf ihrem Weg nach Osten die Ressourcen der durchquerten Städte und Regionen zu erbeuten; vielmehr lautete das Ziel, Jerusalem – und die Kirchen im Osten – von der Unterdrückung der sogenannten Heiden zu befreien.[11]

Die Angelegenheit hatte sich jedoch als nicht ganz so einfach erwiesen. Die Reise über Tausende Meilen hatte furchtbares Leid und Entbehrungen mit sich gebracht und unzählige Verluste und große Opfer gefordert. Von den siebzig- bis achtzigtausend Soldaten Christi, die dem Aufruf des Papstes gefolgt waren, erreichte allenfalls ein Drittel Jerusalem. Der Gesandte Urbans, der mit den wichtigsten Führern des Zuges reiste und im Herbst 1099 nach Rom Bericht erstattete, schätzte die Zahl der Überlebenden noch niedriger ein. Er deutete an, dass nicht einmal zehn Prozent derjenigen, die aufgebrochen waren, jemals die Mauern der Heiligen Stadt zu Gesicht bekamen.[12]

Pontius Rainaud und sein Bruder Peter, «die edelsten Fürsten», wurden beispielsweise von Räubern ermordet, nachdem sie von der Provence aus entlang der dalmatinischen Küste durch Norditalien gereist waren; sie schafften nicht einmal die halbe Strecke nach Jerusalem. Walter von Verva kam erheblich weiter, bis er eines Tages mit einer Bande aus Rittern in der Nähe von Sidon (im heutigen Libanon) auszog, um Lebensmittel zu beschaffen. Er kehrte nie zurück. Womöglich geriet er in einen Hinterhalt und wurde getötet; oder er wurde gefangen genommen und ins Herz der muslimischen Welt verschleppt, auf dass man nie wieder etwas von ihm hörte; oder sein Ende war viel banaler: Ein Fehltritt eines schwer beladenen Pferdes auf gebirgigem Gelände konnte leicht tödlich enden.[13]

Oder nehmen wir Godehilde, eine Adlige, die beschloss, ihren Mann Graf Balduin von Boulogne auf seiner Reise in den Osten zu begleiten. In der Nähe von Marasch (in der heutigen Türkei) verstarb sie nach kurzer und heftiger Krankheit. Die aus England stammende Adlige wurde in einem dunklen und abgeschiedenen Winkel Kleinasiens bestattet, fern ihrer Heimat, an einem Ort, von dem ihre Ahnen und Verwandten wohl noch nie gehört hatten.[14]

Und es gab noch andere wie Raimbold Cretons, ein junger Ritter aus Chartres, der Jerusalem erreichte und am Sturm auf die Stadt teilnahm. Er kletterte behände die Leitern hoch, die man gegen die Mauer gelehnt hatte, zweifellos um den Ruhm zu ernten, als Erster die Stadt zu betreten. Doch Raimbolds Aufstieg war von einem Verteidiger der Befestigungsmauer beobachtet worden, der ebenso eifrig war. Er versetzte ihm einen Hieb, der einen Arm vollständig und den zweiten fast ganz abtrennte; Raimbold lebte immerhin noch so lange, dass er den Fall Jerusalems sah.[15]

Und schließlich waren da noch die Männer, deren Mission ruhmreich endete. Die Namen der großen Heerführer des Ersten Kreuzzugs – Bohemund, Raimund von Toulouse, Gottfried von Bouillon und Balduin von Boulogne, Tankred und andere – waren in ganz Europa bekannt. Ihrer Heldentaten wurde in unzähligen Geschichten, in Reimen und Liedern gedacht sowie in einer neuen Form der Literatur: der mittelalterlichen Romanze. Ihr Erfolg sollte die Messlatte für alle späteren Kreuzzüge sehr hoch legen. Es war nicht einfach, dem Beispiel zu folgen.

 

Der Erste Kreuzzug zählt zu den bekanntesten und am häufigsten beschriebenen historischen Ereignissen. Die Geschichte der Ritter, die zu den Waffen greifen und Europa durchqueren, um Jerusalem zu befreien, begeisterte die damaligen Schriftsteller und hat seither Historiker und Leser immer wieder in den Bann gezogen. Erzählungen von dem erstaunlichen Heldenmut bei den ersten Begegnungen mit den muslimischen Türken, von den Nöten, welche die bewaffneten Pilger auf ihrer Reise nach Osten erduldeten – die mit dem Massaker an der Bevölkerung von Jerusalem 1099 endete –, klangen fast tausend Jahre lang in der westlichen Kultur nach. Bildsprache und Motive aus dem Kreuzzug breiteten sich in der Musik, Literatur und Kunst Europas aus.

Der Erste Kreuzzug hielt wegen seiner Dramatik und Brutalität Einzug in die allgemeine Vorstellungswelt. Aber es ging nicht nur um den Schauplatz: Die Expedition hat den Westen deshalb fasziniert, weil sie die kommenden Ereignisse so stark prägte: den Aufstieg der päpstlichen Macht, die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam, die Entwicklung des Konzepts eines Heiligen Krieges, ritterliche Frömmigkeit und religiöse Hingabe, den Aufstieg der italienischen Küstenstaaten und die Gründung von Kolonien im Nahen Osten. Das alles ging auf den Ersten Kreuzzug zurück.[16]

Wie zu erwarten wächst die Literatur zum Thema noch heute. Obwohl Generationen von Historikern bereits über den Feldzug geschrieben haben, hat eine bemerkenswerte Schule moderner Forscher in den vergangenen Jahrzehnten herausragende und originelle Arbeiten vorgelegt. Themen wie die Marschgeschwindigkeit des Kreuzritterheeres, dessen Versorgung und die Münzen, die es benutzte, sind detailliert untersucht worden.[17] Die Wechselbeziehung zwischen dem Hauptnarrativ der westlichen Quellen ist untersucht worden, unlängst sehr kritisch.[18] In den letzten Jahren wird die Aufmerksamkeit auf das Verständnis des apokalyptischen Hintergrunds der Expedition nach Jerusalem und der hochmittelalterlichen Welt generell gelenkt.[19]

Auch innovative Forschungsansätze wurden auf den Kreuzzug angewandt: Psychoanalytiker haben angedeutet, dass die Ritter, die nach Jerusalem zogen, nach einem Ventil für ihre unterdrückte sexuelle Anspannung suchten, während Wirtschaftsexperten das Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage im späten 11. Jahrhundert untersuchten und die Expedition mit Blick auf die Zuteilung von Ressourcen im mittelalterlichen Europa und Mittelmeerraum erforschten.[20] Genforscher haben mitochondriale DNA aus Südanatolien untersucht, um die Bevölkerungsbewegungen im späten 11. Jahrhundert zu verstehen.[21] Andere haben darauf hingewiesen, dass die Zeitspanne um den Kreuzzug die einzige Phase vor dem Ende des 20. Jahrhunderts war, in der das Bruttosozialprodukt das Bevölkerungswachstum übertraf. Das impliziert, dass es Parallelen zwischen der mittelalterlichen und der modernen Bevölkerungsentwicklung und dem Wirtschaftsaufschwung geben dürfte.[22]

Nichtsdestotrotz, ungeachtet der anhaltenden Begeisterung für den Ersten Kreuzzug wurde bislang den eigentlichen Ursachen bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Seit fast tausend Jahren liegt der Fokus der Schriftsteller und Gelehrten auf Papst Urban II., seiner aufrüttelnden Rede in Clermont und der Elektrisierung der Ritterschaft Europas. Dabei war der eigentliche Katalysator für die Expedition nach Jerusalem nicht der Papst, sondern eine völlig andere historische Figur: Urbans Rede war Folge eines direkten Hilferufs des Kaisers von Konstantinopel Alexios I. Komnenos.

Das im 4. Jahrhundert als zweite Hauptstadt gegründete «Neue Rom», von dem aus das Römische Reich seine weitläufigen Ländereien im östlichen Mittelmeerraum regieren konnte, wurde schon bald als die Stadt ihres Gründers, des Kaisers Konstantin, bekannt. Das auf dem Westufer des Bosporus errichtete Konstantinopel wuchs in kurzer Zeit zur größten Stadt Europas heran, geschmückt mit Triumphbögen, Palästen, Statuen von Kaisern und unzähligen Kirchen und Klöstern, die man in den Jahrhunderten seit der Übernahme des christlichen Glaubens durch Konstantin gebaut hatte.

Das Oströmische Reich erlebte immer noch eine Blütezeit, als die westlichen Provinzen bereits verblassten und das «Alte Rom» im 5. Jahrhundert fiel. Im Jahr 1025 beherrschte Byzanz den größten Teil des Balkans, Süditalien, Kleinasien sowie große Teile des Kaukasus und den Norden Syriens, und in Sizilien hegte es Expansionsbestrebungen. Siebzig Jahre danach hatte sich das Bild gewandelt. Türkische Banden waren nach Anatolien eingedrungen, plünderten mehrere wichtige Städte und störten erheblich das Zivilleben in der Provinz. Der Balkan war jahrzehntelangen Angriffen mit den gleichen Konsequenzen ausgesetzt gewesen. Die Territorien in Apulien und Kalabrien waren unterdessen ganz verloren gegangen, weil normannische Abenteurer sie besetzt hatten, die Süditalien binnen weniger als zwei Jahrzehnten eroberten.

Der Mann, der zwischen dem Zusammenbruch und der Rettung des Reiches stand, war Alexios Komnenos. Der junge Heerführer hatte den Thron nicht geerbt, sondern in einem Militärputsch im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren an sich gerissen. Seine ersten Jahre an der Macht waren unruhig. Alexios bemühte sich verzweifelt, mit den äußeren Bedrohungen fertigzuwerden, denen Byzanz ausgesetzt war, während er gleichzeitig seine eigene Macht im Reich festigte. Als Usurpator griff Alexios, da ihm die Legitimierung durch die Thronfolge fehlte, zu einem pragmatischen Schritt, um seine Stellung zu halten: Er zentralisierte die Regierungsgewalt und beförderte enge Verbündete und Familienmitglieder auf die wichtigsten Posten in Byzanz. Aber Mitte der 1090er Jahre verlor er seine politische Autorität, und das Byzantinische Reich hatte mit gewaltsamen Einfällen von allen Seiten zu kämpfen.

Im Jahr 1095 schickte Alexios Gesandte mit einer dringenden Botschaft zu Urban II. Als sie den Papst in Piacenza antrafen, baten sie «den Herrn Papst und alle Gläubigen Christi inständig, Hilfe zu bringen gegen die Heiden zur Verteidigung der heiligen Kirche, die in jenen Gegenden schon beinahe vernichtet war von den Heiden, die sie bis vor die Mauern Konstantinopels erobert hatten».[23] Urban reagierte sofort darauf und erklärte, dass er nach Norden, nach Frankreich ziehen werde, um Kräfte zu sammeln, die dem Kaiser zu Hilfe kommen würden. Eben dieser Appell von Alexios löste letztlich den Ersten Kreuzzug aus.

Auf die Ankunft der byzantinischen Gesandten wird in modernen Darstellungen des Ersten Kreuzzugs zwar regelmäßig hingewiesen, aber worum der Kaiser konkret bat – und weshalb –, wird häufig übergangen. Infolgedessen wird der Kreuzzug für gewöhnlich als Initiative des Papstes gewertet; die Teilnehmer gelten als christliche Soldaten, die im Namen des Herrn den Weg nach Jerusalem frei kämpften. Gewiss ist es genau das, was aus der Geschichte wurde, fast sofort nachdem die Ritter 1099 auf den Mauern der Stadt standen, und das Bild ist seither fast einmütig von Schriftstellern, Künstlern, Filmemachern und anderen übernommen worden. Doch die wahren Ursachen des Ersten Kreuzzugs liegen in dem, was sich in und um Konstantinopel gegen Ende des 11. Jahrhunderts ereignete. Das Buch wird zeigen, dass die Wurzeln des Feldzugs nicht im Westen, sondern im Osten lagen.

Warum bat Alexios im Jahr 1095 überhaupt um Hilfe? Warum wandte er sich an den Papst, einen geistlichen Führer ohne nennenswerte eigene militärische Ressourcen? Warum war Urban, nach einem spektakulären Schisma zwischen der katholischen und den orthodoxen Kirchen im Jahr 1054, eigentlich bereit, dem Kaiser zu helfen? Warum wartete Alexios mit seinem Hilfsgesuch bis zum Jahr 1095, obwohl die Türken doch schon 1071 nach der vernichtenden Niederlage des byzantinischen Heeres in der Schlacht von Mantzikert zu den Herren Kleinasiens geworden waren? Kurzum, warum gab es überhaupt den Ersten Kreuzzug?

 

Aus zwei Gründen ist die Geschichte des Kreuzzugs so verzerrt worden. Zum Ersten gab sich nach der Eroberung Jerusalems eine einflussreiche Schule der Geschichtsschreibung in Westeuropa, die fast ausschließlich von Mönchen und Geistlichen dominiert wurde, alle Mühe, die zentrale Bedeutung der Rolle, die der Papst bei der Planung der Expedition gespielt hatte, zu unterstreichen. Das wurde wiederum durch die Gründung einer Kette von Kreuzfahrerstaaten in der Levante verstärkt, die sich auf Jerusalem, Edessa, Tripolis und vor allem Antiochia stützten. Diese neuen Staaten brauchten Geschichten, die erklärten, wie sie unter die Herrschaft von Rittern aus dem Westen gekommen waren. In beiden Fällen waren die Ursachen des Kreuzzugs und sein Nachspiel, nämlich die Rolle von Byzanz und Alexios I. Komnenos, außerordentlich unbequem – nicht zuletzt weil viele Erfolge der Kreuzritter auf Kosten des Oströmischen Reiches gegangen waren. Es schien den westlichen Historikern opportun, die Expedition aus der Sicht des Papsttums und der christlichen Ritterschaft zu schildern und den östlichen Kaiser einfach unter den Tisch fallen zu lassen.

Der zweite Grund für den westlichen Fokus geht auf die Probleme mit den historischen Quellen zurück. Die lateinischen Quellen für den Ersten Kreuzzug sind wohlbekannt – und überaus anschaulich. Narrative Darstellungen wie die anonyme Gesta Francorum liefern einseitige Berichte über den persönlichen Wagemut einzelner Akteure wie den heldenhaften Bohemund auf der einen Seite und über die Niederträchtigkeit des «hinterlistigen» Kaisers Alexios, der vorhatte, mit Heimtücke und Betrug die Kreuzritter zu übertrumpfen, auf der anderen. Autoren wie Raimund von Aguilers, Albert von Aachen und Fulcher von Chartres schildern ebenso lebendig wie voreingenommen die Expedition, deren Anführer dank ihres übergroßen Selbstbewusstseins wiederholt aneinandergerieten und während derer doppeltes Spiel und Verrat an der Tagesordnung waren. Sie dokumentieren Konflikte, die häufig um ein Haar in die Katastrophe geführt hätten; sie berichten, wie die Moral einen Tiefstand erreichte, als die Köpfe von Gefangenen in die Kreuzfahrerlager vor den belagerten Städten katapultiert wurden; sie schildern ihr Entsetzen darüber, dass Priester an den Füßen aufgehängt und ausgepeitscht wurden, um die Abendländer abzuschrecken; sie erzählen von Adligen, die sich mit ihren Geliebten in Obstgärten vergnügten, dabei in einen Hinterhalt gerieten und von türkischen Kundschaftern grausam ermordet wurden.

Die Primärquellen aus dem Osten sind hingegen vielschichtiger. Das Problem ist nicht etwa der Mangel an Quellenmaterial, denn es gibt viele Schilderungen, Briefe, Reden, Berichte und andere Dokumente, die auf Griechisch, Armenisch, Syrisch, Hebräisch und Arabisch verfasst wurden und wertvolle Einblicke in das Vorspiel des Kreuzzugs bieten. Der Punkt ist vielmehr, dass diese Quellen weit weniger als ihre lateinischen Gegenstücke zu Rate gezogen wurden.

Der bedeutendste und schwierigste Text aus dem Osten ist die Alexias. Die Mitte des 12. Jahrhunderts von Anna Komnene, der ältesten Tochter Alexios’, verfasste Darstellung der Herrschaft des Kaisers ist ebenso missbraucht wie missverstanden worden. Der in blumigem Griechisch gehaltene Text steckt voller Nuancen, Anspielungen und versteckter Bedeutungen, die man leicht übersehen kann. Insbesondere ist die zeitliche Abfolge, welche die Autorin angibt, häufig unzuverlässig: Ereignisse sind oftmals falsch eingeordnet, aufgeteilt oder doppelt wiedergegeben.

Da Anna Komnene ihre Schilderung fast fünf Jahrzehnte später niederschrieb, kann man es ihr nachsehen, dass ihr gelegentlich Fehler in der Chronologie der Ereignisse unterliefen – ein Punkt, den die Autorin selbst im Text einräumt: «An diesem Punkt meines Berichts, während ich zur Stunde, da man die Lampen anzündet, die Feder dahingleiten lasse, merke ich, dass ich beim Schreiben ein wenig müde geworden bin und mir die Darstellung zerfließt. Denn wo es unerlässlich ist, barbarische Namen zu verwenden und verschiedene aufeinanderfolgende Ereignisse zu berichten, da scheinen die Einheit der historischen Darstellung und der Zusammenhang des Berichts in einzelne Teile zu zerfallen; doch werden diejenigen, die meinen Bericht mit Wohlwollen lesen, Verständnis dafür haben.»[24]

Das Bild des Geschichtsschreibers, der bis tief in die Nacht arbeitet, mag faszinierend sein; doch hier handelt es sich um ein literarisches Stilmittel, genau wie die Entschuldigung der Autorin für ihre Fehler – eine Standardfloskel der Autoren des klassischen Altertums, deren Schriften eine Vorlage für die Alexias bilden. Tatsächlich ist Anna Komnenes Werk außerordentlich gut recherchiert, da sich die Autorin auf einen beeindruckenden Fundus von Briefen, offiziellen Dokumenten, Notizen aus dem Feldzug, Familiengeschichten und anderem schriftlichen Material stützen kann.[25]

Die Historiographie erkannte zwar einige Probleme in der Chronologie der Alexias, viele hingegen nicht. Das führte wiederum zu gravierenden Fehlern, was die Abfolge der Ereignisse während der Herrschaft des Alexios anbelangt. Der wichtigste Irrtum betrifft den Zustand von Kleinasien am Vorabend des Kreuzzugs. Das von Anna Komnene präsentierte Bild ist irreleitend; in Wirklichkeit führt eine sorgfältige Neubewertung der Alexias – zusammen mit anderem Quellenmaterial – zu verblüffenden Schlussfolgerungen, die etablierten Anschauungen eklatant widersprechen. In der Vergangenheit ging man davon aus, dass der byzantinische Kaiser militärischen Beistand aus dem Westen suchte, um aus einer Position der Stärke heraus eine ambitionierte Rückeroberung von Kleinasien zu starten. Die Realität sah ganz anders aus. Sein Hilferuf war der letzte Strohhalm für Alexios, dessen Herrschaft am seidenen Faden hing.

Die Tatsache, dass die Lage in Kleinasien am Vorabend des Ersten Kreuzzugs in der Vergangenheit nicht richtig eingeschätzt wurde, ist außerordentlich wichtig. Die Ritter zogen nach Osten, um es mit den Türken aufzunehmen – einem eindrucksvollen Gegner, der das Byzantinische Reich in die Knie gezwungen hatte. Die Türken, die ursprünglich der Stammeskonföderation der Oghusen – deren Heimat laut arabischen Historikern östlich des Kaspischen Meeres lag – angehört hatten, waren ein Steppenvolk, dessen militärische Tüchtigkeit ihm wachsenden Einfluss auf das Kalifat in Bagdad verschaffte, als es im späten 10. Jahrhundert zerfiel. Seit den 1030er Jahren, nicht lange nach ihrer Konvertierung zum Islam, waren die Türken die beherrschende Kraft in der Region. Kaum eine Generation später wurden sie zu den Herren Bagdads selbst, nachdem ihr Führer Tughril Beg vom Kalifen zum Sultan mit allen exekutiven Vollmachten ernannt worden war.

Ihr Drang nach Westen war kaum aufzuhalten. Wenig später kam es zu ersten Überfällen im Kaukasus und in Kleinasien, die unter der einheimischen Bevölkerung Chaos und Panik auslösten. Die Türken konnten sich schneller fortbewegen und hinterließen auf ihren stämmigen zentralasiatischen Pferden, die sich wegen ihrer Stärke und Ausdauer hervorragend für das bergige Gelände der Region eigneten, keine Spuren; sie waren «so schnell wie Adler, mit Hufen so hart wie Stein». Wie Wölfe, die über ihre Beute herfallen, so hieß es, griffen die Türken alle an, die ihnen in die Quere kamen.[26]

Zum Zeitpunkt der Rede Urbans in Clermont hatten die Türken bereits die Provinz- und Militärverwaltung von ganz Anatolien zerschlagen, die jahrhundertelang intakt geblieben war und der einige der wichtigsten Städte des frühen Christentums angehörten: Orte wie Ephesus, die Heimat des Evangelisten Johannes, Nicäa, der Schauplatz des berühmten Kirchenkonzils, und Antiochia, der ursprüngliche Sitz des heiligen Petrus selbst, waren in den Jahren vor dem Kreuzzug allesamt an die Türken gegangen. Da wundert es nicht, dass der Papst in seinen Reden und Briefen in den 1090er Jahren um die Rettung der Kirche im Osten flehte.

Der Kontext des Ersten Kreuzzugs ist weder am Fuß der Berge von Clermont noch im Vatikan zu finden, sondern in Kleinasien und in Konstantinopel. Viel zu lange ist die Schilderung des Kreuzzugs von westlichen Stimmen dominiert worden. Dabei reagierten die Ritter, die sich im Jahr 1096 auf den Weg machten, auf eine sich verschärfende Krise am anderen Ende des Mittelmeers. Ein militärischer Zusammenbruch, Bürgerkrieg und Putschversuche hatten das Byzantinische Reich an den Rand einer Katastrophe gebracht. Notgedrungen wandte sich Alexios an den Westen, und sein Appell an Papst Urban II. wurde zum Katalysator aller folgenden Ereignisse.

Erstes KapitelEuropa in der Krise

Der Erste Kreuzzug prägte das Mittelalter wie kaum ein anderes Ereignis. Mit ihm etablierte sich eine gemeinsame Identität der Ritter Europas, die sich massiv auf den christlichen Glauben stützte. Er beeinflusste den abendländischen Wertekanon; Frömmigkeit und Dienstbarkeit waren nun hoch gepriesene Eigenschaften, die in Versen und Prosa, im Gesang und in der Kunst gerühmt wurden. Die Vorstellung des gläubigen Ritters, der für Gott kämpfte, wurde zum Ideal erhoben, und der Papst erlangte nicht nur große geistige, sondern auch beträchtliche politische Macht. Die westlichen Fürstentümer hatten mit einem Mal ein gemeinsames Ziel vor Augen: die Verteidigung ihres Glaubens, die nicht nur wünschenswert, sondern eine Verpflichtung war. Aus dem Ersten Kreuzzug gingen die Ideen und Strukturen hervor, die Europa bis zur Reformation formten.

Ironischerweise war der Kreuzzug selbst das Produkt von Zwietracht und Uneinigkeit, denn Europa wurde in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts von Unruhen und Krisen erschüttert. Es war eine Zeit der Eroberungen und Aufstände auf dem ganzen Kontinent. England befand sich unter normannischer Besatzung, nachdem es zuvor mit knapper Not gelungen war, die anhaltenden Angriffe aus Skandinavien abzuwehren. Apulien, Kalabrien und Sizilien standen ebenfalls unter dem Einfluss der Einwanderer aus der Normandie – anfangs Söldner und dann Glücksritter, die vom winkenden Lohn nach Süden gelockt wurden. Spanien befand sich in einer Übergangsphase, da seine muslimischen Besatzer nach mehr als drei Jahrhunderten Herrschaft über die Halbinsel aus einer Stadt nach der anderen vertrieben wurden. Auch die deutschen Ländereien befanden sich im Aufruhr, und es kam immer wieder zu Aufständen gegen die Krone. Das Byzantinische Reich stand unterdessen chronisch unter Druck, da seine Grenzen im Norden, Osten und Westen von immer aggressiveren Nachbarvölkern bedroht, angegriffen und überrannt wurden.

Außerdem stand das 11. Jahrhundert im Zeichen der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen dem Papsttum und führenden Fürsten Europas. Herrscher wurden dramatisch exkommuniziert und dann in manchen Fällen wieder rehabilitiert, nur um erneut aus der christlichen Gemeinschaft verstoßen zu werden. So gut wie alle Machthaber dieser Zeit (Heinrich IV. aus Deutschland, Philipp I. von Frankreich, König Harald von England, Kaiser Alexios I. Komnenos und der normannische Herzog Robert Guiscard) wurden mindestens einmal vom Papst im Zuge seiner Bestrebungen, die Autorität über die säkulare Welt zu behaupten, exkommuniziert.

Die Spaltungen selbst innerhalb der Kirche waren so tief, dass es Ende des 11. Jahrhunderts sogar rivalisierende Päpste gab, die jeder für sich beanspruchten, der legitime Erbe des Heiligen Stuhls zu sein. Sie wurden von konkurrierenden Geistlichen unterstützt, die sich jeweils zum legitimen Wahlgremium erklärt hatten. Nicht zu vergessen die byzantinische Kirche, die die Bräuche und Lehren, die im Westen üblich waren, vehement ablehnte; zwischen ihr und dem Papsttum war es gar zum Schisma gekommen. Der erbittertste und nachhaltigste Streit, der damals Europa erfasste, bedrohte jedoch die Lebensfähigkeit der Kirche insgesamt: Eine heftige Auseinandersetzung hatte das Verhältnis zwischen Papst Gregor VII. und dem mächtigsten Mann Europas, Heinrich IV. aus Deutschland, vergiftet. Heinrichs Vorgänger auf dem Thron hatten die Regentschaft über Norditalien gefestigt und waren in den 960er Jahren die Herrscher von Rom geworden; als Folge behielten sie den Papst sehr genau im Auge und beanspruchten das Recht, an der Papstwahl beteiligt zu werden. Die Beziehungen zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. begannen nach der Ernennung Gregors im April 1073 vielversprechend. Der neue Amtsinhaber war «ein frommer und kirchlicher Mann, ausgezeichnet durch seine Kenntnis in beiden [den geistlichen und den säkularen] Wissenschaften, ein vortrefflicher Verehrer von Gerechtigkeit und Billigkeit, der stark im Unglück, maßvoll im Glück, … ehrbar, bescheiden, besonnen, keusch und gastfreundlich» war.[1] Der Papst fasste Mut aufgrund der Botschaften, die ihm der König nach der Wahl hatte zukommen lassen. Heinrich habe, schrieb Gregor an einen Anhänger, «uns Worte voller Freundlichkeit und Gehorsam geschickt, und solche, die, wie wir wissen, weder er noch seine Vorgänger jemals dem römischen Pontifex geschickt hatten».[2]

Nicht lange danach verschlechterte sich die Beziehung jedoch. Schon vor seiner Wahl zum Papst war Gregor Pragmatiker gewesen, mit klaren Ansichten zur Reform der Kirche und zu einer wirkungsvolleren Zentralisierung der Macht Roms. Besonderen Wert legte er auf die Frage der Berufung in hohe Kirchenämter. Viele dieser Posten wurden verkauft, was fast schon der organisierten Kriminalität gleichkam. Einige Ämter brachten dem Inhaber lukrative Zuwendungen ein, dazu Einfluss und Autorität, sodass sie zu heißersehnten Pfründen wurden – nützliche Belohnungen, die von mächtigen Herrschern verliehen wurden.[3]

Gregors Reformversuche, die dem ein Ende setzen sollten – er sorgte dafür, dass er allein das Recht hatte, Ernennungen auszusprechen –, brachten ihn auf Kollisionskurs mit Heinrich. Dem König waren sämtliche Versuche des Papstes, sich in die Angelegenheiten der deutschen Kirche einzumischen, zutiefst verhasst. Im Jahr 1076 hatte sich das Verhältnis so sehr abgekühlt, dass der Papst Heinrich sogar exkommunizierte. Er erklärte: «… im Namen des allmächtigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, kraft deiner Gewalt und Vollmacht spreche ich König Heinrich, des Kaisers Heinrich Sohn, der sich gegen deine Kirche mit unerhörtem Hochmut erhoben hat, die Herrschaft über Deutschland und Italien ab, und ich löse alle Christen vom Eid, den sie ihm geleistet haben oder noch leisten werden, und untersage [allen], ihm fürderhin als König zu dienen».[4]

Wie zu erwarten, heizte dies die Spannungen zusätzlich an. Prompt erklärten die Anhänger Heinrichs den Papst zum Verbrecher, und Bischöfe, die dem deutschen Monarchen loyal gegenüberstanden, belegten den Pontifex selbst mit der Strafe der Exkommunikation.[5] Ende der 1070er Jahre – nach Heinrichs Gang nach Canossa – versöhnten die beiden Männer sich zwar für kurze Zeit, doch als sich der Papst überreden ließ, mächtige Gegner des Königs in Deutschland zu unterstützen, war das Zerwürfnis endgültig. Nachdem Gregor die Ansprüche eines Rivalen auf den Thron ausdrücklich gebilligt, dessen Demut, Gehorsam und Wahrheitsliebe gerühmt und Heinrichs Stolz, Ungehorsam und Betrug verurteilt hatte, griff der Herrscher zu drastischen Maßnahmen.[6]

Die Bischöfe Deutschlands und Norditaliens wurden im Juni 1080 zu einem Kirchenkonzil in Brixen einberufen. Man beschloss, Gregor gewaltsam aus Rom zu vertreiben und durch einen «rechtgläubigen» Papst zu ersetzen. Wilbert, der Erzbischof von Ravenna, wurde zum Papst ernannt, seine Inthronisation sollte im nächsten Frühjahr in Rom stattfinden.[7] Von Aufständen im Reich aufgehalten, marschierte Heinrich ein Jahr später in Italien ein, belagerte Rom und nahm die Stadt im Jahr 1084 ein. Wilbert wurde unverzüglich im Petersdom als Papst Clemens III. eingesetzt. Eine Woche danach ließ Heinrich sich zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches krönen. «Wir sind von Papst Clemens geweiht worden», schrieb er, «und durch Billigung aller Römer am Heiligen Ostertag unter dem Jubel der ganzen römischen Bevölkerung zum Kaiser gekrönt worden.»[8]

Die Ernennung von Clemens zum Gegenpapst, der von einem großen Teil des hohen Klerus unterstützt wurde, drohte die römische Kirche zu spalten. Gregor selbst nahm zwar im Lateranpalast Zuflucht und entkam schließlich aus Rom nach Salerno – wo er 1085 im Exil starb –, aber Unsicherheit und Verwirrung belasteten weiterhin das Amt des Papstes. Es dauerte fast ein Jahr, bis ein Nachfolger Gregors ernannt wurde, und selbst dann musste der auserwählte Kandidat, Viktor III., mehr oder weniger mit Gewalt eingesetzt werden. Sein Tod nach knapp achtzehn Monaten im Amt führte zu einer erneuten Wahl und löste weitere Unruhen aus. Im März 1088 wurde Odo, der Kardinalbischof von Ostia, zum Papst ernannt und nahm den Namen Urban II. an. Er wurde jedoch in deutschen und norditalienischen Territorien, die Heinrich IV. unterstanden, nicht anerkannt. In der katholischen Kirche herrschte Chaos.

In den folgenden Jahren deutete nichts darauf hin, dass die Spaltung der westlichen Kirche beendet werden könnte. Vor dem Konzil von Clermont anno 1095 war Clemens III. – nicht Urban II. – in der stärkeren Position. Immerhin gelang es Letzterem in den ersten Jahren seines Pontifikats kaum, die Mauern Roms zu überwinden: Auch seine Wahl hatte in Terracina stattgefunden, in sicherer Entfernung zu Rom, die noch von Kräften gehalten wurde, die dem Kaiser loyal waren. Zwar schaffte Urban es im Jahr 1089, Rom für kurze Zeit zu betreten (er feierte eine Prozession sowie eine Krönungsmesse und verkündete eine Enzyklika), doch er wagte es nicht, sich längere Zeit in der Stadt aufzuhalten.[9] Als er in den Jahren 1091 und 1092 zum Weihnachtsfest zurückkehrte, war er gezwungen, vor der Stadtmauer sein Lager zu errichten, und sah sich außerstande, die elementarsten Pflichten des Papstes wahrzunehmen, er las nicht einmal die Messe im Petersdom.[10]

Die Vorstellung, dass es ausgerechnet Urban gelingen könnte, die christlichen Ritter in ganz Europa dazu zu bringen, sich zu erheben, zu den Waffen zu greifen und nach Jerusalem zu marschieren, wäre zum Zeitpunkt seiner Wahl geradezu lachhaft erschienen. Der Papst verfolgte zwar aufmerksam die jüngsten Ereignisse in Spanien, wo die Muslime zurückgedrängt wurden, aber er konnte kaum mehr tun, als begeisterte Worte der Unterstützung und Aufmunterung zu schicken.[11] Doch in Anbetracht der schwierigen Position Urbans im eigenen Land hätte seine Sorge um das Schicksal der Gläubigen im Osten, so tiefempfunden sie sein mochte, wohl wenig Gewicht und kaum Einfluss gehabt. Er hatte selbst in Rom alle Mühe, Anhänger um sich zu scharen, von Europa ganz zu schweigen.

Im Gegensatz dazu baute Clemens III. unablässig seine Machtstellung aus. Ende der 1080er Jahre sandte er eine Flut von Briefen an Lanfranc, den Erzbischof von Canterbury, in denen er ihn nach Rom einlud, um den symbolischen Peterspfennig bat und sich erbot, bei Streitigkeiten in England zu intervenieren. Er drängte darüber hinaus den König von England und die Bischöfe, der Mutterkirche zu helfen.[12] Clemens tauschte sich mit den Serben aus, bestätigte geistliche Berufungen und schenkte dem Erzbischof von Antivari ein besonderes kirchliches Gewand, ein Pallium.[13] Er nahm Kontakt zum Oberhaupt der Kirche in Kiew auf, der Hauptstadt des mittelalterlichen russischen Staates, und schickte ihm Gunsterweisungen.[14] Kurzum, er verhielt sich genauso, wie ein Papst es sollte: offizielle Kontakte knüpfen, Ratschläge erteilen und führende Figuren der christlichen Welt unterstützen. Von Clemens III. und nicht von Urban hätte man erwartet, dass er so eine Rede halten und eine derartige Reaktion auslösen würde, die Mitte der 1090er Jahre die Kirche vereinigen sollte.

Wenn Urban II. einen Vorteil gegenüber seinem Rivalen hatte, so war es sein Verhältnis zur östlichen Kirche – obwohl auch diese Beziehung nicht ganz unproblematisch war. Ursprünglich waren Rom und Konstantinopel zwei der fünf Hauptbischofssitze des Christentums gewesen, neben Antiochia, Alexandria und Jerusalem. Da die letzten drei den islamischen Eroberungen im 7. Jahrhundert zum Opfer gefallen waren, entstand zwischen den anderen beiden Städten große Rivalität. Meinungsverschiedenheiten über ihren jeweiligen Status sowie über Fragen der Lehre und der Riten flackerten regelmäßig auf, und wutentbrannte Briefwechsel zwischen Papst Nikolaus I. und Patriarch Photios, dem Oberhaupt der Kirche in Konstantinopel, hatten die Beziehungen im 9. Jahrhundert auf einen Tiefpunkt sinken lassen.

Für gewöhnlich linderte die Zeit jedoch die Spannungen, und diese Streitigkeiten wurden durch eine lange Phase der Zusammenarbeit unterbrochen. Ein byzantinischer Leitfaden aus dem 10. Jahrhundert zeigt, wie die Briefe des Kaisers in Konstantinopel an den Papst begonnen werden sollten: «Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, unseres einen und alleinigen Gottes, [Lücke für Name] und [Lücke für Name], Kaiser der Römer, in Treue zu Gott, an [Lücke für Name] den heiligsten Papst in Rom und unseren geistlichen Vater». Ganz ähnlich wurden den Botschaftern in Rom respektvolle Wendungen vorgegeben, mit denen sie den Kaiser ansprechen mussten.[15] Diese Formeln lassen vermuten, dass eine Kooperation zwischen dem Osten und dem Westen eher die Regel als die Ausnahme war.

Mitte des 11. Jahrhunderts verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel jedoch gravierend. Eine von Papst Leo IX. im Jahr 1054 entsandte Delegation, die gemeinsame Interessen in Italien ausloten sollte, wo Byzanz die Regionen Apulien und Kalabrien kontrollierte, scheiterte sensationell. Die Verhandlungen hatten schon ungünstig begonnen; es wurde über die Unterschiede bei den lateinischen und griechischen Riten zur Feier der Eucharistie gesprochen und nicht über eine mögliche Allianz. Wie aus den überlieferten Quellen hervorgeht, gab es hitzige Diskussionen darüber, ob gesäuertes oder ungesäuertes Brot für den Leib Christi verwendet werden sollte. Am allerwichtigsten war jedoch die sogenannte filioque-Klausel, mit der die westliche Kirche das Glaubensbekenntnis ergänzt hatte und die behauptete, der Heilige Geist gehe nicht allein aus dem Vater, sondern auch aus dem Sohn hervor. Erstmals wurde dieses Konzept auf einem Kirchenkonzil in Spanien im 6. Jahrhundert präsentiert, an dem, bezeichnenderweise, nicht allzu viele führende Geistliche teilgenommen hatten. Ursprünglich wurde die Verwendung sogar vom Papst selbst verurteilt. Die umstrittene filioque-Klausel wurde jedoch in einer Welt, in der es eher schwierig war, die Bräuche zu regulieren, immer beliebter. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts war sie so geläufig, dass sie formal als Standardbestandteil des Glaubensbekenntnisses akzeptiert wurde. Dieser Schritt wurde im östlichen Mittelmeer heftig abgelehnt, vor allem in Konstantinopel.

Nach Eintreffen der Delegation in der byzantinischen Hauptstadt spitzte sich die Angelegenheit rasch zu. Am 16. Juli 1054 betrat der päpstliche Legat Kardinal Humbert von Silva Candida gemeinsam mit anderen Gesandten aus Rom die Hagia Sophia, während die Eucharistie gefeiert wurde. In einem außerordentlich dramatischen Auftritt schritten sie direkt nach vorn, ohne zum Gebet innezuhalten. Vor den Geistlichen und der Gemeinde zogen sie ein Dokument hervor und legten es auf den Altar. Der Patriarch von Konstantinopel, so hieß es dort, habe sein Amt missbraucht und sich unzähliger «Irrtümer» in seinen Überzeugungen und Lehren schuldig gemacht. Er werde hiermit exkommuniziert, um mit den schlimmsten Ketzern in der Hölle zu schmoren, die anschließend gewissenhaft aufgezählt wurden. Der Patriarch und seine Anhänger wurden zu ewiger Verdammnis verurteilt, «um mit dem Teufel selbst und seinen Engeln zu leiden, bis sie bereuen sollten. Amen, Amen, Amen.» Damit drehte sich Humbert um und marschierte aus der Kirche. Erst als er die Türen der Hagia Sophia erreicht hatte, machte er kurz Halt, um den Staub von seinen Sandalen abzuklopfen. Dann wandte er sich noch einmal zur Gemeinde und erklärte feierlich: «Möge Gott sehen und richten.»[16]

Das war der Tiefpunkt im Verhältnis zwischen Rom und Konstantinopel, der zur Spaltung von orthodoxer und römisch-katholischer Kirche, zum Großen Schisma, führte. Die Feindschaft zwischen Ost und West wurde geradezu institutionalisiert. Im Jahr 1078 verfasste beispielsweise Gregor VII. eine Note, die Nikephoros III. Botaneiates exkommunizierte, obwohl der neue byzantinische Kaiser noch überhaupt keinen Kontakt zu Rom gehabt hatte; und nachdem Alexios Nikephoros abgesetzt hatte, erging es ihm genauso.[17] Zur gleichen Zeit befürwortete der Papst nicht nur einen Angriff auf Byzanz, sondern übergab dem Heerführer auch ein Banner, das er bei der Schlacht gegen die kaiserlichen Truppen tragen sollte. Er ging sogar so weit, dass er Robert Guiscard, den Architekten des Angriffs, als legitimen Kandidaten für den Thron von Konstantinopel selbst billigte, obwohl der Normanne weder einen echten Anspruch noch eine realistische Chance hatte.[18]

Das lässt den Hintergrund von Urbans Ruf zu den Waffen in Clermont klar hervortreten. Wie die zeitgenössischen Quellen Ende 1095 und Anfang 1096 deutlich machen, lenkte der Papst mit Bedacht die Aufmerksamkeit auf das Leid der Christen in Kleinasien und auf die Unterdrückung der Kirche im Osten – also jener Kirche, die sich an den griechischen Ritus hielt.[19] Was hatte zu dieser bemerkenswerten Kehrtwende in den Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel geführt? Die Gründe dafür lagen im Machtkampf der Kirche im späten 11. Jahrhundert insgesamt und, vor allem, in der schwachen Stellung Urbans im Westen.

Als Urban Papst wurde, war er sich schmerzlich bewusst, dass er von Clemens III. und dessen Schirmherr Heinrich IV. ausmanövriert worden war. Er war gezwungen, wo immer er es vermochte, Brücken zu bauen: Zu den ersten Schritten, die er unternahm, zählte eine Annäherung an Konstantinopel. Nicht lange nach seiner Wahl im Jahr 1088 schickte der Papst eine kleine Delegation in die Hauptstadt, um über die heiklen Themen zu sprechen, die drei Jahrzehnte zuvor zur Spaltung geführt hatten. Nachdem der Kaiser sie empfangen hatte, legten die Gesandten die Punkte, etwa die griechische Verwendung des gesäuerten Brotes, «auf sanfte und väterliche Weise» dar, wie ein zeitgenössischer Kommentator schrieb. Außerdem wurde der Umstand angesprochen, dass man den Namen des Papstes aus den heiligen Diptychen Konstantinopels entfernt hatte, der Liste jener Persönlichkeiten, die als im Einklang mit der Kirche galten.[20]

Kaiser Alexios I. war ein ehemaliger General mit spartanischer Lebensweise und einer nüchternen Haltung zum Glauben. Er hörte die Gesandten des Papstes an und befahl, eine Synode einzuberufen, um deren Vorwürfe zu erörtern, etwa die Beschwerde, dass in der Hauptstadt Kirchen, die sich an den lateinischen Ritus hielten, geschlossen worden seien. Der Kaiser leitete persönlich eine Sitzung, an der die Patriarchen von Konstantinopel und Antiochia, zwei Erzbischöfe und achtzehn Bischöfe teilnahmen, und verlangte, die Dokumente selbst einzusehen, die über die Streichung des Papstes aus den Diptychen Auskunft gaben. Als man ihm mitteilte, dass es keine gebe, und darüber hinaus auch keine kanonische Grundlage für das Fehlen des Papstnamens, ordnete er an, dass er gemäß dem Brauch wieder eingefügt werde.[21]

Alexios ging noch weiter. Über die Gesandten drängte er den Papst, nach Konstantinopel zu kommen, um den Streit, der der Kirche in der Vergangenheit so sehr geschadet hatte, zu beenden. In einem mit dem kaiserlichen Goldsiegel versehenen Dokument schlug er vor, ein Sonderkonzil einzuberufen, das aus hohen griechischen und lateinischen Geistlichen bestehen und die Hauptstreitpunkte beilegen sollte. Für seine Seite versprach der Kaiser, sich im Dienste der Einheit der Kirche an die Beschlüsse des Konzils zu halten.[22]

Der Patriarch von Konstantinopel, Nikolaus III. Grammatikos, schrieb danach, im Oktober 1089, unabhängig davon an den Papst und brachte seine Freude zum Ausdruck, dass Urban den Kirchenstreit beenden wolle. Der Papst irre sich, schrieb Nikolaus höflich, wenn er glaube, der Patriarch hege einen persönlichen Groll gegen lateinische Christen. Und es treffe auch nicht zu, dass Kirchen in Konstantinopel, die sich an den westlichen Ritus hielten, geschlossen worden seien; in Wirklichkeit sei es allen hier lebenden Westeuropäern gestattet, ihren Glauben zu praktizieren. «Wir wünschen von ganzem Herzen, mehr als alles, die Einheit der Kirche», schrieb Nikolaus.[23]

Diese Schritte leiteten wiederum einen Dialog mit Rom ein und machten den Weg frei für eine umfassende Neuorientierung des Byzantinischen Reiches am Vorabend des Ersten Kreuzzugs. Der hohe byzantinische Geistliche Theophylakt Hephaistos wurde beauftragt, ein Dokument vorzubereiten, das ganz bewusst die Unterschiede zwischen griechischen und lateinischen Bräuchen herunterspielen und Bedenken in der Ostkirche beschwichtigen sollte. Lateinische Priester würden an Samstagen statt an Sonntagen einen Fastentag einhalten; in der Fastenzeit würden sie nicht richtig fasten; im Gegensatz zu orthodoxen Priestern hielten sie nichts davon, Ringe zu tragen, und schnitten auch ihr Haar und rasierten den Bart; sie trugen während der Feier der Liturgie keine schwarzen, sondern bunte Seidengewänder; sie knieten nicht richtig nieder; und im Gegensatz zu griechischen Mönchen, die sich streng vegetarisch ernährten, aßen lateinische Mönche allzu gerne Schmalz und verschiedene Sorten Fleisch. All diese Punkte ließen sich ohne weiteres lösen, argumentierte der Kleriker, ebenso wie die Frage, ob das Brot, das in der Eucharistie verwendet wird, gesäuert sei oder nicht.[24] Die Hinzufügung der Klausel filioque zum Glaubensbekenntnis sei allerdings ein schwerer wiegendes Problem, räumte er ein, und all jene, die diese Wendung akzeptierten, würden ins Fegefeuer der Hölle kommen.[25] Dennoch sei er voller Hoffnung, dass der Zusatz gestrichen werde.[26]

Diese sorgsame Neupositionierung sollte die Kluft zwischen Konstantinopel und Rom überbrücken, nicht nur in religiösen Angelegenheiten, sondern auch, um den Weg zu einem politischen und sogar militärischen Bündnis frei zu machen. Sie war eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Ersten Kreuzzug und gleichzeitig eine Voraussetzung dafür, dass der Papst wenige Jahre danach überhaupt an die Ritterschaft Europas appellieren konnte, zum Schutz von Byzanz in den Krieg zu ziehen.

Urban reagierte rasch auf die positiven Signale aus Konstantinopel. Er reiste nach Süden, um sich mit einem seiner wenigen Anhänger, Graf Roger von Sizilien, zu treffen und dessen Zustimmung zur Neuausrichtung der Beziehung zu Byzanz einzuholen. Roger war schon seit langem wegen des aggressiven Vorgehens von Heinrich IV. in Italien besorgt. Bereits Mitte der 1080er Jahre hatten einige seiner Anhänger den deutschen Kaiser aufgefordert, nach Konstantinopel und anschließend nach Jerusalem zu marschieren, wo ihn ruhmreiche Krönungen erwarteten; unterwegs sollte er sich auch noch zum Herrscher über die Normannen machen, indem er Apulien und Kalabrien unter seine Kontrolle brachte – Letzteres auf Kosten Rogers.[27] Als Roger von der Einladung Alexios’ erfuhr, ein Konzil zur Verbesserung der Beziehungen zu veranstalten, gab er eine unmissverständliche Antwort: Der Papst sollte daran teilnehmen und das große Kirchenschisma beenden.[28]

Genau das wollte Urban hören. Es verschaffte ihm die Gelegenheit, die Rolle des Vereinigers der Kirche zu spielen. Vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Clemens III. war dieser Durchbruch für Urban von unschätzbarem Wert – und das wusste Clemens genau. Letzterer erfuhr davon durch Basileios von Kalabrien, einen überzeugten byzantinischen Geistlichen, der verärgert war, weil Urban ihn daran gehindert hatte, sein Bischofsamt in Süditalien anzutreten. Basileios hatte im Herbst 1089 an dem Konzil von Melfi teilgenommen, wo klargestellt wurde, dass man ihn nur dann in Reggio einsetzen würde, sofern er die Autorität des Papstes anerkannte. Als er voller Abscheu beobachtete, wie zwei seiner Kollegen genau dies taten, platzte ihm der Kragen.[29] In seinen Augen war Urban des Heiligen Stuhls nicht würdig, genau wie sein «drei Mal verfluchter» Vorgänger Gregor VII. In einem Brief an den Patriarchen von Konstantinopel bezeichnete er den Papst als einen feigen Wolf, der davonlaufe, sobald er mit den grundlegendsten Fragen der christlichen Lehre konfrontiert werde. Er sei ein Ketzer, der sogar angefangen habe, kirchliche Ämter an die Meistbietenden zu verhökern.[30]

Basileios’ persönliche Bedenken verbergen, wie wichtig das Konzil von Melfi für die Erneuerung der Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel gewesen war. Was Basileios als unverzeihliche Unterwerfung seiner Kollegen ansah, die ihre Stühle in Rossano und Santa Severina sichern sollte, waren in Wirklichkeit viel eher Beweise für die Kooperation zwischen dem Papst und Byzanz in Süditalien.[31]

Nichtsdestotrotz nahm Basileios die Angelegenheit selbst in die Hand. Kaum hörte er von den versöhnlichen Schritten in Konstantinopel, da setzte er sich mit Clemens III. in Verbindung. Der Gegenpapst antwortete sofort: «Schicke mir bitte rasch den Brief von unserem heiligen Bruder, dem Patriarchen von Konstantinopel, den du erwähnt hast» – eine Anspielung auf die Anweisungen, die man Basileios erteilt hatte, um sich mit Rom zu versöhnen. «Des Weiteren müssen wir ihm auch zu dem Thema antworten, das von so großer Bedeutung ist; er sollte wissen, dass von uns alles pflichtgetreu vorbereitet worden ist – denn auch wir wünschen und begrüßen Frieden und Einheit.»[32] Clemens bestätigte Basileios in seinen Bedenken und versprach ihm, dass sie rasch zu seinen Gunsten gelöst würden.[33] Aber wenn Clemens tatsächlich versucht haben sollte, einen eigenen Dialog mit Konstantinopel in die Wege zu leiten, so kam er nicht weit. Er hatte zwar bereits bekundet, Brücken zur griechischen Kirche bauen zu wollen (indem er an Johannes, den in Byzanz geborenen Metropoliten oder Erzbischof von Kiew schrieb), doch seine Offerten führten zu nichts. Für Alexios war Urban ein viel reizvollerer Bündnispartner als sein vom deutschen Kaiser unterstützter Widerpart.[34]

Zum einen hatte Urban immer noch Einfluss in Süditalien, einer Region, die jahrhundertelang unter byzantinischer Herrschaft gestanden hatte, bis zu einer Reihe verheerender Rückschläge in den 1050er und 1060er Jahren gegen die normannischen Eroberer, deren Macht sich, laut Anna Komnene, wie eine Gangräne ausbreitete – die, «wenn sie einmal einen Körper befallen hat, nicht eher haltmacht, als bis sie ihn ganz durchwandert und zugrundegerichtet hat».[35] Obwohl der Fall von Bari im Jahr 1071 an die Normannen die byzantinische Herrschaft in Apulien und Kalabrien unrühmlich beendet hatte, waren die Provinzen immer noch das Zuhause einer überwiegend griechisch sprechenden Bevölkerung, die sich in geistlicher Hinsicht naturgemäß Konstantinopel zuwandte. Diese Verbindung wurde nunmehr im Zuge der Annäherung zwischen Rom und Konstantinopel wiederbelebt. Seit der normannischen Eroberung trugen Testamente, Kaufurkunden und andere offizielle Dokumente den Namen des normannischen Herzogs, um sie zu datieren. Aber seit Beginn der 1090er Jahre tauchten der Name von Alexios und seine Regierungszeit wieder häufiger auf, ein sicheres Indiz, dass die Einheimischen wiederum erwarteten, dass der Kaiser eine Führungsrolle übernehme.[36] Die Rehabilitierung von Byzanz ging noch einen Schritt weiter, als Urban die Exkommunikation aufhob, die im Jahr 1081 gegen Alexios verhängt worden war.[37]

Es gab noch weitere Anzeichen für eine Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Ost und West. Anfang der 1090er Jahre profitierte das griechisch-orthodoxe Kloster San Filippo di Fragalà in Sizilien von einer Flut von Vergünstigungen. Mehrere Kirchen wurden ihm unterstellt, und Graf Roger gewährte ihnen zusätzliche Ländereien für die Gemeinschaft der Mönche. Er erließ ferner ein Dekret, das das Kloster von jeglicher Einmischung des lateinischen Klerus befreite.[38] Außerdem gab es Beispiele für wichtige Kooperationen anderswo, insbesondere mit Blick auf militärische Angelegenheiten. Angesichts massiver Invasionen in den frühen 1090er Jahren auf dem ganzen Balkan schickte Alexios I. Appelle in alle Himmelsrichtungen, seine Truppen zu unterstützen. Kaiserliche Gesandte erreichten auch Urban in Kampanien, der im Frühjahr 1091 prompt Männer ausschickte, um Alexios im Kampf gegen die Petschenegen zu helfen. Diese Nomaden waren von der Donauebene aus bis nach Thrakien tief ins Reich vorgedrungen. Die folgende Schlacht von Levounion, bei der der gefürchtete Nomadenstamm fast vollständig vernichtet wurde, zählte zu den wichtigsten in der Geschichte des Byzantinischen Reiches.[39]

Somit war im Jahr 1095 bereits viel unternommen worden, um den langjährigen Bruch zwischen Rom und Konstantinopel zu kitten. Das von Alexios einige Jahre zuvor angeregte Konzil stand zwar noch aus, jedoch hatten Kaiser und Papst bereits ein gutes Arbeitsverhältnis geknüpft. Wenn man der späteren Ergänzung einer Quelle aus dem 12. Jahrhundert Glauben schenken darf, so hatten die beiden sogar gemeinsam einen Plan ausgearbeitet. Dem Vernehmen nach trafen Anfang 1090 Gesandte am Hof des kroatischen Königs Zvonimir ein, die Urban und Alexios gemeinsam ausgeschickt hatten. Sie appellierten an die Ritter, der belagerten Kirche in Byzanz zu Hilfe zu eilen und gegen die muslimischen Unterdrücker in Jerusalem zu kämpfen. Wenn dies zutrifft, so war es ein Probelauf für den Appell des Papstes in Clermont: ein Hilferuf des Alten und Neuen Roms, der Lockreiz Jerusalems, Militärdienst verstanden als frommer Akt. Im Falle Zvonimirs hatte der Appell jedoch nicht den gewünschten Effekt: Laut besagter Quelle seien seine Ritter so entsetzt darüber gewesen, dass Zvonimir bereit war, für einen anderen Herrscher in den Krieg zu ziehen, dass sie ihn kurzerhand ermordeten (andere Quellen behaupten allerdings, der König sei friedlich im hohen Alter gestorben).[40]

Indem Urban eine Versöhnung mit Konstantinopel anstrebte, positionierte er sich ganz bewusst als Führer der christlichen Welt, die von Jahren der Auseinandersetzung und des Kampfes arg mitgenommen war. Nach der Beschreibung eines zeitgenössischen Chronisten befand sich die Kirche am Ende des 11. Jahrhunderts in chaotischem Zustand. «In allen Teilen Europas», schrieb Fulcher von Chartres, «wurden Frieden, Tugend und Glaube durch stärkere Männer und weniger starke, innerhalb und außerhalb der Kirche, grausam mit Füßen getreten. Es war notwendig, all diesen Übeln ein Ende zu bereiten.»[41] Aber Urban brauchte ein größeres Projekt, um sich im Herzen der Christenheit zu etablieren. Die Fortschritte, die er bei seinen Gesprächen mit der griechischen Kirche erzielt hatte, reichten allein nicht aus, um die Rivalität zu Clemens III. in Rom zu seinen Gunsten zu entscheiden, ganz zu schweigen von seiner Stellung anderswo in Europa.

Mitte der 1090er Jahre veränderte sich die Lage jedoch allmählich. Unvermutete Entwicklungen in Deutschland boten die seltene Gelegenheit, den Gegenpapst und seinen Hauptunterstützer, Kaiser Heinrich IV., auszumanövrieren. Urbans Position wurde von hochkarätigen Überläufern aus Heinrichs Lager gestärkt, die von der Unbarmherzigkeit des Kaisers enttäuscht waren. Zu ihnen zählte Heinrichs wunderschöne junge Frau, die den Papst aufsuchte und beklagte, dass man sie gezwungen habe, so viele «außergewöhnlich hässliche Akte der Unzucht mit so vielen Männern [zu begehen], dass selbst ihre Feinde ihr die Flucht [vor dem Kaiser] verziehen. Alle Katholiken müssten … von Mitleid erfüllt sein.»[42] Die Anhänger Urbans stürzten sich verzweifelt auf alles, womit sie Heinrich in Verruf bringen konnten. Hässliche Gerüchte wurden verbreitet.[43] Noch wichtiger als Heinrichs Gemahlin war Konrad, sein Sohn und Erbe, ein ernster junger Mann, der beschloss, sich von seinem Vater loszusagen. Zusammen mit seinen Vasallen bot er Urban Unterstützung an. Der Thronfolger war der endlosen Streitigkeiten in der Kirche überdrüssig und machte sich nach einigen militärischen Rückschlägen, die sein Vater in Norditalien erlitten hatte, Sorgen um seine Aussichten.

Diese Entwicklungen gaben dem Papst sofort starken Auftrieb. Urban kündigte an, im März 1095 in Piacenza ein Konzil zu veranstalten, im Herzen jener Region, die bislang Heinrich IV. die Treue gehalten hatte, und des ursprünglichen Erzbistums von Clemens III. Mit der verstoßenen Frau Heinrichs an seiner Seite trat Urban vor das Konzil und verurteilte ihren Ehemann. Der Gegenpapst wurde heftig verunglimpft, ehe man jenen Klerikern, die bislang den Kaiser unterstützt hatten, eine Amnestie in Aussicht stellte. Unmittelbar nach dem Konzil traf sich Konrad in Cremona mit Urban, wo er als rituelle Geste der Ehrerbietung und öffentlichen Demut das Zaumzeug seines Pferdes hielt.[44] Bei einem zweiten Treffen wenige Tage danach legte Konrad einen Eid ab, den Papst, sein Amt und seinen Besitz zu schützen. Im Gegenzug versprach Urban, Konrads Anspruch auf den Kaiserthron anzuerkennen.[45] Er schlug ferner eine Heirat zwischen seinem neuen Verbündeten und der Tochter des Grafen Roger von Sizilien vor, dem Hauptunterstützer Urbans in Italien. Es wäre eine große Ehre für Roger und würde ihm künftig sehr nützen, schrieb der Papst dem Grafen. Die Trauung wurde in Pisa mit dem gebührenden Prunk gefeiert, und Konrad wurde von seinem reichen Schwiegervater mit Geschenken überschüttet.[46] Das trug dazu bei, dass sich Urbans Stellung drastisch verbesserte: Aus dem isolierten Einzelkämpfer, der gezwungen gewesen war, vor den Mauern Roms zu lagern, war eine Figur von zentraler Bedeutung für die europäische Politik geworden.

In Piacenza sollte jedoch noch etwas anderes passieren, das die Position des Papstes für immer veränderte. Während die Teilnehmer des Konzils über kirchliche Fragen diskutierten – die Definition von Ketzerei, die Exkommunikation des Königs von Frankreich unter dem Vorwurf des Ehebruchs, Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Priesterschaft –, trafen Gesandte aus Konstantinopel ein.[47] Sie brachten schreckliche Neuigkeiten: Das Byzantinische Reich stehe kurz vor dem Zusammenbruch und brauche dringend Hilfe. Urban erkannte sofort, welche Implikationen das hatte. Hier bot sich die Chance, die Kirche ein für alle Mal zu vereinen. Er kündigte an, dass er sich nach Norden begeben werde, nach Clermont.

Die Historiker der Kreuzzüge – mittelalterliche ebenso wie moderne – sind ihm dorthin gefolgt. Aber welche Katastrophen hatten sich denn im Osten ereignet? Warum brauchte Alexios so dringend Hilfe? Was war in Byzanz schiefgegangen? Um die Ursprünge des Kreuzzugs zu verstehen, müssen wir uns nicht zu den Bergen im Herzen Frankreichs begeben, sondern in die Hauptstadt Konstantinopel.

Zweites KapitelDer Aufschwung von Byzanz

Die Stadt Konstantinopel war eigens so angelegt worden, dass sie jeden Betrachter mit Ehrfurcht erfüllte. Wie das Alte Rom war auch das «Neue» riesig und enorm beeindruckend. Besucher, die sich auf dem Landweg näherten, bekamen als Erstes die massiven Mauern und die riesigen Aquädukte zu Gesicht, die Wasser in die Stadt leiteten. Die bis zu einer Höhe von zwölf Metern aufragende Stadtmauer verlief vom Goldenen Horn bis zum Marmarameer. Die von Kaiser Theodosius im 5. Jahrhundert wiederaufgebauten Befestigungen sollten selbst die erbittertsten Feinde abwehren. Die fünf Meter dicken Mauern wurden von 96 Türmen geschützt, die einen Blick über sämtliche Zugänge aus Westen und Norden boten. Hinein kam man durch neun gut bewachte Tore, doch diese gestatteten lediglich das Passieren der äußeren Mauern. Anschließend musste der Reisende einen tiefen Graben überqueren und durch einen weiteren Ring von Mauern gelangen, ehe der Weg auf einer der Hauptstraßen, die ins Zentrum führten, frei war.

Die Ankunft über das Meer war, sofern das möglich ist, noch spektakulärer. Konstantinopel lag am nördlichen Ufer des Marmarameers, wo Europa und Kleinasien vom Bosporus getrennt wurden. Die Baudenkmäler, Kirchen und Paläste der Stadt, die man vom Schiff aus erblickte, waren ehrfurchtgebietend. Die Hauptstadt erstreckte sich, so weit das Auge reichte, über eine Fläche von 30000 Hektar. Die Einwohnerzahl, die in die Hunderttausende ging, betrug rund das Zehnfache der größten Städte Europas.

Das eindrucksvollste Bauwerk war die prächtige Kirche Hagia Sophia, die Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert hatte errichten lassen. Das gewaltige Kuppelgewölbe, mit einem Durchmesser von über 30 Metern und einer Höhe von 55 Metern, schien wie «ein Himmelszelt» zu schweben. Es war ein Meisterwerk der Baukunst, und die Kirche war in ihrer Schönheit unübertroffen. Goldene Mosaike glitzerten, getroffen vom Licht, das durch die Fenster strömte.[1] Doch Konstantinopel war geradezu übersät mit herausragenden Kostbarkeiten: Hunderte Kirchen und Klöster, ein gewaltiges Hippodrom für Wagen- und Pferderennen, Badehäuser, der Große Palast und sogar ein Zoo. Ein Gedicht zu Ehren der Stadt sprach nicht von den einst sieben Weltwundern, sondern von den sieben Wundern von Konstantinopel.[2]