Die neuesten Fortschritte der Zuschneidekunst. - Lilly-Britt Weiß - E-Book

Die neuesten Fortschritte der Zuschneidekunst. E-Book

Lilly-Britt Weiß

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Beschreibung

Das traditionelle und geheime Erfahrungswissen des Schneiders im Bereich der Zuschneidekunst war bis ins 19. Jahrhundert in der Meisterwerkstatt situiert. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung wurde diesem technisch-gestalterischen Wissen bis zur Jahrhundertwende ein formalisiertes Wissen an die Seite gestellt, das universell anwendbar sein sollte. Dieses besitzt bis heute Gültigkeit, ersetzt jedoch nicht das implizite, auf Erfahrungen beruhende Wissen. In dieser Studie werden die historische Vielfalt der Wissensformen der Zuschneidekunst und der Formalisierungsprozess dieses Wissens nachgezeichnet. Im Zentrum der Betrachtung stehen konkrete historische Prozesse, Örtlichkeiten und Personen im Wirkungskreis der 1850 in Dresden gegründeten Europäischen Moden-Akademie, der ersten höheren Bildungseinrichtung für das Schneidergewerbe im deutschsprachigen Raum. Die Systematisierung des Wissens erfolgte in einem konstruktiven Dialog unter den Schneidern und lebte von der Rückschau, der Identifizierung des Gegenwärtigen sowie von der Motivation, die Zukunft des Gewerbes zu gestalten. Hierbei bildete sich eine Forschungs- und Lehrpraxis heraus, die auch heute noch die Grundlage für die Ausbildung eines, nun als Ingenieurwissenschaft definierten Wissens im Bereich der Bekleidungstechnik ist. Als Historikerin, Ingenieurin und Gestalterin leistet die Autorin mit dieser Arbeit einen Beitrag zur Bewahrung und Nutzbarmachung handwerklichen Wissens als essentielles und konstituierendes Element der technisierten Welt.

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Seitenzahl: 643

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Lilly-Britt Weiß ist promovierte Historikerin, Diplom-Ingenieurin und Gestalterin.

Ihr besonderes Interesse gilt der Bewahrung und Vermittlung von handwerklichem Wissen und Können. 2019 gründete sie den Lilly-Britt Weiß Verlag und gibt Fach- und Sachbücher zum Thema Handwerk heraus.

Bei diesem Werk handelt es sich um eine an der KIT-Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) angenommene Dissertation. Tag der mündlichen Prüfung: 21.01.2020.

Für meine Familie

Inhaltsverzeichnis

Abstract

Einleitung

1.1 Einführung in den Forschungsgegenstand

1.2 Stand der Forschung

1.3 Methodisches Vorgehen

1.4 Kategorien der Analyse und Quellenmaterial

Über die Technik und das Wissen der Schnittgestaltung

2.1 Die Funktionsprinzipien und die Praxis der Schnittgestaltung

2.2 Die historische Entwicklung der Zuschneidekunst von ihren Anfängen bis ins 19. Jahrhundert

2.3 Die Technisierung und Spezialisierung der Schnitttechnik im 20. Jahrhundert

Die technisch-künstlerische Ausbildung der Zuschneidekunst im 19. und 20. Jahrhundert

3.1 Transformationsprozesse der gewerblichen Ausbildung im Zeitalter der Industrialisierung

3.2 Vom Schneiderhandwerk zur Konfektionsindustrie vom 12. Jahrhundert bis in die Gegenwart – ein Überblick

3.3 Von der Auflösung der Meisterwerkstatt bis zu heutigen bekleidungstechnischen und gestalterischen Ausbildungsmöglichkeiten

3.4 Die Nischenposition der Zuschneideschulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die erste höhere Bildungseinrichtung für das deutsche Schneidergewerbe – Die Europäische Moden-Akademie

4.1 Institutionengeschichte der Europäischen Moden-Akademie (1850-1900)

4.1.1 Standes- und bildungspolitische Zielsetzungen der Europäischen Moden-Akademie

4.1.2 Das Schulprogramm der Deutschen Akademie für Höhere Bekleidungskunst (1850-1900)

4.1.3 Der Verlag Europäische Modenzeitung

4.2 Die Deutsche Fachschule für das Schneidergewerbe in Dresden (1910-1945)

4.3 Die Europäische Moden-Akademie als Raum des Wissens

Die historische Vielfalt der Wissensformen der Zuschneidekunst

5.1 Personengebundenes Wissen

5.1.1 Wendelin Mottl (1837-1916)

5.1.2 Johann Heinrich Klemm (1819-1886)

5.1.3 Gustav Adolf Müller (1818-1884)

5.1.4 Lehrende an der Europäischen Moden-Akademie – Anton Gunkel, Josef Zeischke, Rudolf Tiesler und Alfred Schrödter

5.2 Die Bedeutung der Wissensformen der Zuschneider des 19. Jahrhunderts aus heutiger Perspektive

Die Zirkulation, Darstellung und Repräsentation des Wissens der Zuschneidekunst

6.1 Der Schnittmusterbogen

6.2 Fach- und Austauschorgane des Schneidergewerbes im 19. Jahrhundert

6.3 Fachwissenschaftliche Literatur im 19. Jahrhundert

6.4 Speicher und Träger des Wissens der Zuschneidekunst

Schlussbetrachtungen

7.1 Der integrative Ansatz einer ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung im Schneiderhandwerk an der Europäischen Moden-Akademie

7.2 Die Formalisierung des Wissens der Zuschneidekunst

7.3 Forschungsperspektiven

7.4 Fazit

Anhang

Anhang A: Die Rekonstruktion der historischen Schnittmethoden

Anhang B: Konstruktionsanleitungen für den Gehrock nach Wendelin Mottl

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Archivquellen

Publizierte historische Quellen

Publizierte Sekundärquellen

Zeitschriften

Internetquellen

Unveröffentlichte Quellen

Danksagung

Abstract

Das Ziel dieser Forschungsarbeit ist es, einen fundierten Beitrag zur Bewahrung des Wissens und zur Rekonstruktion der Praxis der Zuschneidekunst im Schneiderhandwerk im 19. Jahrhundert zu leisten. Durch den Blick auf die historische Vielfalt ihrer Wissensformen werden technisch-gestalterische Spielräume auf dem Gebiet der Bekleidungstechnik als handwerkliche Kunst eröffnet und hinterfragt. Bisher unbekannte historische Bedeutungszusammenhänge der Entfaltung, Aneignung und Anwendung dieser (handwerklichen) Technik werden hierbei aufgedeckt und neue methodische Ansätze der Technik- und Wissensgeschichte in der Auseinandersetzung mit historischen Quellen erstmals auf das bislang in der technikhistorischen Forschung unberücksichtigte Gebiet der Zuschneidekunst angewendet.

Im Folgenden werden die Formalisierung und Verbreitung des technisch-künstlerischen Wissens der Zuschneidekunst untersucht. Dem bis dahin in der Meisterwerkstatt situierten und weitergegebenen Erfahrungswissen wurde bis zur Jahrhundertwende ein formalisiertes Wissen an die Seite gestellt, das universell anwendbar sein sollte. Dieses besitzt bis heute Gültigkeit und bildet die Grundlage für die Schnittkonstruktion. So wird jedoch nicht nur ein explizierbares, auf mathematisch-geometrischem Wissen basierendes Regelwerk analysiert, sondern zudem die impliziten Wissensformen der Praxis der Zuschneidekunst erörtert. Untersucht wird der historische Kontext, in dem das (wissenschaftliche) Wissen der Zuschneidekunst generiert und formalisiert wurde und der Frage nachgegangen, wer die Akteure und Adressaten dieses Wissens waren und wie das Wissen verbreitet, überprüft und schließlich universalisiert wurde – ohne dass das implizite Wissen jemals verloren ging bzw. überflüssig wurde.

Die 1850 gegründete Europäische Moden-Akademie in Dresden als Raum des Wissens ist zentraler Gegenstand der Forschung. Die Gründung der ersten höheren Bildungseinrichtung für das Schneidergewerbe im deutschsprachigen Raum gibt Aufschluss darüber, dass im 19. Jahrhundert, als Reaktion auf die Herausforderungen der im Rahmen der Industrialisierung bedrohten handwerklichen Strukturen, die Notwendigkeit gesehen wurde, das Wissen des Schneiders auf dem Gebiet der Zuschneidekunst zu systematisieren. Dabei bilden die Aktivitäten der Akademie nicht nur den Prozess der Formalisierung des Wissens der Zuschneidekunst ab, sondern zeigen eine Forschungs- und Lehrpraxis, die auch heute noch die Grundlage für die Ausbildung eines, nun als „Ingenieurwissenschaft“ definierten Wissens im Bereich der Bekleidungstechnik ist.

Figur 1

Abb. 1: Figur 1 – Schnittzeichnung nach der Konstruktionsanleitung für den Gehrock nach Wendelin Mottl. Entwicklungsstufe 1. Quelle: Grafik von Lilly-Britt Weiß, 2018 (Legende: siehe Anhang B)

„Wise is the cutter who prepares for the future by

studying both the past and the present“1

„The Practical Cutter and Tailor“, 1900

1. Einleitung

Ein immerwährendes und wesentliches Bestreben des Menschen ist der „Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen“2. Unabhängig davon, um welche Arbeit es sich handelt, ist dieser Wunsch gepaart mit der Aneignung von Wissen und der Ausbildung von Fertigkeiten, die sich in einer kontinuierlichen Beschäftigung verfeinern. Handelt es sich um eine in der materiellen Sphäre eingebettete handwerkliche Tätigkeit, ist diese verbunden mit praktischem Tun und das Begreifen handwerklicher Herstellungsprozesse ist gestützt durch ein technisch-gestalterisches Verständnis. Die Motivation, ein Objekt herzustellen, geht einher mit dem Stolz, dieses in den Händen zu halten und dabei den Entstehungsprozess durchdrungen zu haben.3 Dieses von Sennet gezeichnete Idealbild trifft gewiss nicht auf alle handwerklich Tätigen in ihrer realen Berufspraxis zu, ermöglicht jedoch, das Erlernen und Durchdringen eines Handwerks offenzulegen. So ist das „Handwerken, das Arbeiten mit den Händen, [ist] eine fundamentale menschliche Fertigkeit zur Bewältigung der Herausforderungen des Alltags, gleichgültig, ob diese im privaten Rahmen oder im beruflichen Arbeitszusammenhang zur Anwendung kommt.“4 Als Beispiel für ein spezifisches technisches und künstlerisches Wissen und Können steht die Zuschneidekunst des Schneiderhandwerks, die bisher in technik- und wissenshistorischen Fragestellungen kaum Berücksichtigung findet, obgleich auch die „Entwicklung der Schnitttechnik [einhergeht] mit der Technisierung der Welt und der Herausbildung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes“5. Eine Art Schattendasein fristen die Schnitttechnik und ihre Geschichte als selbstverständlicher Bestandteil der Herstellung von Bekleidung und nicht eindeutig bestimmt werden können die Ursprünge. So schrieb Edward B. Giles 1887: „The origin of the art of cutting by system is unknown, and it seems almost impossible to discover it. We shall most probably find that it grew by degrees. First a simple rule, the result of experience, then other and more complex ones were introduced. Afterwards, these were compared and combined, and something like a system or method was evolved.“6

Die Kunstfertigkeit, zweidimensionale Vorlagen für unsere dreidimensionalen Kleidungsstücke zu konstruieren, steht im Fokus dieser Forschungsarbeit. Diese rekonstruiert unter sowohl technik- und wissensgeschichtlichen als auch unter bildungshistorischen Gesichtspunkten die Entstehung, Formalisierung und Verbreitung des technisch-künstlerischen Wissens der Zuschneidekunst im 19. Jahrhundert. Dem bis dahin in der Meisterwerkstatt situierten und weitergegebenen Erfahrungswissen wurde bis zur Jahrhundertwende ein formalisiertes Wissen in Form von schriftlich und bildlich niedergelegten systematischen Regeln und Anweisungen an die Seite gestellt, das universell anwendbar sein sollte. Dieses besitzt bis heute Gültigkeit und bildet die Grundlage für die Schnittkonstruktion – unabhängig davon, welche technischen Mittel und Werkzeuge für die praktische Umsetzung und Vervielfältigung von Schnittmustern bis heute entwickelt wurden. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch nicht nur ein explizierbares, auf mathematischgeometrischem Wissen basierendes Regelwerk analysiert, sondern zudem die impliziten Wissensformen erörtert. Kern der Untersuchung ist demnach nicht das fertige Kleidungsstück oder kostümgeschichtlich relevante Aspekte der Mode und damit verbundene gestalterische Ausformungen, sondern das Wissen um die Technik der Schnittgestaltung.

Um den Prozess der Formalisierung und Zirkulation des Wissens der Zuschneidekunst nachzuzeichnen, wird im Folgenden deren historischer Kontext im deutschsprachigen Raum untersucht und der Frage nachgegangen, wer die Akteure und Adressaten dieses Wissens waren und wie das Wissen verbreitet und überprüft und schließlich in eine dem Anspruch nach allgemeingültige und anwendbare Form gebracht wurde. Die 1850 gegründete Deutsche Akademie der Höheren Bekleidungskunst in Dresden als Raum des Wissens ist in diesem Zusammenhang zentraler Gegenstand der Untersuchung.7 Die Gründung dieser ersten höheren Bildungseinrichtung für das Schneidergewerbe im deutschsprachigen Raum gibt Aufschluss darüber, dass im 19. Jahrhundert, als Reaktion auf die Herausforderungen der im Rahmen der Industrialisierung bedrohten handwerklichen Strukturen, die Notwendigkeit gesehen wurde, das Wissen des Schneiders auf dem Gebiet der Zuschneidekunst zu systematisieren. Dabei bilden die Aktivitäten der Akademie nicht nur den Prozess der Formalisierung des Wissens der Zuschneidekunst ab, sondern zeigen eine Forschungs- und Lehrpraxis, die auch heute noch die Grundlage für die Ausbildung der Bekleidungstechnik und Bekleidungsgestaltung bildet. Die Tradierung des handwerklichen Wissens und die praktische Ausführung, die Identität der Akteure im Schneidergewerbe und die Einbettung in ökonomische und soziale Rahmenbedingungen werden in dieser Fallstudie, im Sinne eines Bottom-up Ansatzes, rekonstruiert, bei dem konkrete historische Prozesse, Örtlichkeiten und Personen im Zentrum der Betrachtung stehen.8 Die Geschichte einer solchen Institution ermöglicht damit, „gleichzeitig eine historische Berufssoziologie, die nach Berufsfeldern von Technikern und Ingenieuren fragt, sowie Prozesse der Professionalisierung zwischen Ausbildungsgängen, Berufsanforderungen und Statusinteressen“9 abzuleiten.

Ein zentrales Motiv der Forschungsarbeit ist es, mit der historischen Analyse auch einen fundierten Beitrag zu einer ganzheitlichen technologischen und kulturellen Aufklärung im Hinblick auf die Ausübung der Schnitttechnik zu leisten. Ziel ist es, bisher unbekannte historische Bedeutungszusammenhänge der Aneignung und Anwendung dieser Technik aufzudecken. Durch den Blick auf die historische Vielfalt ihrer Wissensformen sollen neue technisch-gestalterische Spielräume und Potenziale auf dem Gebiet der Bekleidungstechnik als Ingenieurwissenschaft wie auch für den Bereich der Bekleidungsgestaltung und der handwerklichen Ausbildung im Schneiderfach eröffnet werden. Zugleich sollen neue methodische Ansätze der Technik- und Wissenschaftsgeschichte in der Auseinandersetzung mit historischen Quellen erstmals auf das bislang in der technikhistorischen Forschung unberücksichtigte Gebiet der Zuschneidekunst angewendet werden. Die Geschichte des Schnittes, in der Geschichte der Mode wie des Textilwesens bisher weitgehend unbeachtet, gilt es zu bewahren und der Schnitttechnik als Kulturtechnik Anerkennung zu verleihen.10

1.1 Einführung in den Forschungsgegenstand

Die Transformationsprozesse der Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts, die mit einem Wandel sowohl technischer und struktureller Formen der Herstellung von Produkten als auch mit der Ausweitung des Handels verbunden waren, bedrohten den Arbeits- und Lebensraum der Werkstatt des Handwerkers und so auch die Existenz des Schneiderhandwerks. Die fortwährenden Entwicklungen, die Organisation der Arbeit zu zergliedern, sprich die Idee von der Konstruktion, der Fertigung und der Vermarktung zu trennen, führten dazu, dass das Wissen und Können, bis dahin situiert in der Meisterwerkstatt, aus einem ganzheitlichen Arbeitsprozess herausgelöst wurde. Die „ökonomisch getriebene Vereinheitlichung von Praxen und Produkten“11 zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Funktionsfähigkeit ging zugleich einher mit dem Verlust der Wertschätzung der innovativen Kraft des Handwerks. Diese wurde nicht nur gehemmt, sondern war Teil der zunehmenden Diskreditierung handwerklicher Berufszweige. Der Handwerker als Banause, von altgriechisch bánausos, nahm somit die letzte Position hinter dem Wissenschaftler und dem Ingenieur ein, wobei die Hierarchisierung gleichermaßen die Trennung von Theorie und Praxis und die damit verbundene Anerkennung widerspiegelt. 12 Anzumerken ist hierbei auch, dass den Industriezweigen, die durch eine retardierende fertigungstechnologische Entwicklung und eine anhaltende Beibehaltung handwerklicher Elemente gekennzeichnet sind, in der Forschung bisher weniger Beachtung geschenkt wird.13

Das Handwerk des Schneiders zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es den lebendigen und beweglichen Menschen bedient. „Auf dem Umweg der zweiten Haut war die bekleidete Illusion perfekter Nacktheit zu schaffen, deren materielle Umsetzung dem Kunsthandwerk alsbald Macht und Ansehen verschaffte.“14 Die Existenzsicherung des Handwerks und die Versicherung der kulturell bedeutsamen technisch-gestalterischen Leistungen motivierten die Schneider im Verlauf des 19. Jahrhunderts dazu, ihre Kunstfertigkeit zu verfeinern und zu verwissenschaftlichen. Basis der Formalisierung des Wissens der Zuschneidekunst ist der menschliche Körper, für den dreidimensionale Kleidungsstücke gestaltet und entwickelt werden. Diese bestehen aus zweidimensionalen textilen Flächen, die nach Vorlage, d. h. Schnittmustern, zugeschnitten und wieder zusammengesetzt werden. Die Schnitttechnik folgt dabei gewissen Funktionsprinzipien, die im Fortgang erörtert werden und die Gestaltungsmöglichkeiten des Schneiders sowie den Grad der Übersetzung eines erfahrungsbasierten Wissens in ein formalisiertes Regelwerk bestimmen.15 Der Formalisierungsprozess der Zuschneidekunst bezieht sich dabei auf die Übertragung des Erfahrungswissens des Schneiders und die damit verbundene Anwendung auf den lebenden, beweglichen und kaum zu vereinheitlichenden menschlichen Körper auf ein allgemeingültiges Regelwerk für die Herstellung von Bekleidung. Als Beispiel steht die Zuschneidekunst für ein genuin handwerkliches Wissen und Können, das diesem Regelwerk noch immer innewohnt. Die Untersuchung des Formalisierungsprozesses und das dabei verfügbar gemachte Ergebnis der Bestrebungen der Schneider wird Grenzen und Variablen der Berechenbarkeit der Natur aufzeigen. Die Verwissenschaftlichung des Schneidergewerbes und die damit verbundene Theoretisierung unterstützte auch laut Daniela Döring die Professionalisierung und Legitimierung des Handwerks als Kunst. Der menschliche Körper sollte dabei auf Basis mathematisch-geometrischer Prinzipien berechenbar, begreifbar und messbar gemacht werden, um die Praktiken des Maßnehmens und des Zuschnitts zu optimieren und zu rationalisieren.16 „Über die Zahl wird der Körper zum Wissensobjekt“17 und die Zuschneidekunst spiegelt die Möglichkeiten der Ver- und Bearbeitung der Zahl wider. So wird sich zeigen, „daß bis heute das Maß aller Dinge noch nicht gefunden und ein unermeßlicher Rest geblieben ist – Freuen wir uns daran!“18. Jahrhundertelang hatte der Schneider gelernt, in räumlichen Dimensionen zu denken und war nicht abhängig von Maßen, die in abstrakten Einheiten kodiert waren. Der Zuschnitt war eine individualisierte intuitive Kunst, die nicht beiläufig kommuniziert werden konnte.19 „Die geschneiderte Kleidung hat die Drapierung verdrängt und an Stelle zufälliger Wirkungen fest berechnete gesetzt“20, so dass im Fortgang die Schnittmethoden Ergebnisse der Systematisierung praktischer Erfahrungen waren. Auch dem Prinzip der Drapierung liegt ein komplexes Wissen über die Wirkungen der textilen Fläche am Körper zugrunde, während der Faltenwurf jedoch nur annährend vorausgesagt werden kann und so dem Zufall überlassen bleibt. Einen technischen Ursprung spricht Elke Domke dem Schnitt zu, der jedoch ebenso ein hohes Maß an kreativem Vermögen impliziert, das sich durch Phantasie und Spontanität auszeichnet und somit ein „Produkt dieses Denkens und Handelns“21 ist. Der technische Ursprung bezieht sich hierbei auf die Anwendung von systematischen Anleitungen unter Berücksichtigung der Parameter und Funktionsprinzipien der Zuschneidekunst als Basis für die Konstruktion. „Der wahre Künstler des Bekleidungsfaches, der am höchsten geschätzte und am höchsten bezahlte, ist ja auch der Zuschneider.“22 So ist das Ergebnis enttäuschend, wenn das Kleidungsstück nicht passt, wenn die gestalterische Idee, die Auswahl des feinsten Stoffes oder die Raffinesse der Verarbeitung die unzureichende Passform nicht ausgleichen können.23 Das Befolgen einer Konstruktionsanleitung alleine ist somit kein Garant für ein angemessenes Ergebnis und ist gebunden an das kreative Vermögen und die Erfahrung des Konstrukteurs.

Die Systematisierung des Wissens der Zuschneidekunst ist zum einen begründet durch die Funktionsprinzipien der Technik, die es im Detail zu erörtern gilt. Um die wissenshistorische Entwicklung einer formalisierten Schnitttechnik zu rekonstruieren, bedarf es darüber hinaus einer Erläuterung der Rahmenbedingungen, in denen der Formalisierungsprozess eingebettet war. Die Arbeit des Schneiders in der Meisterwerkstatt zeichnete sich nicht nur durch einen ganzheitlichen, durchgängigen Arbeitsprozess aus, sondern war geprägt durch eine direkte Vermittlung der Fertigkeiten des Meisters, die dieser durch Zeigen und mündliche Anweisungen an die Lehrlinge und Gesellen weitergab. Das Milieu des Handwerks war zunächst nicht gebunden an schriftliche oder bebilderte Anleitungen. Die Erarbeitung von Schnittsystemen, basierend auf anatomischen und mathematischen Prinzipien, und die Theoretisierung des Erfahrungswissens des Schneiders spiegeln den „Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit als primärem Träger der Wissensvermittlung“24 wider. Damit verbunden war eine Zirkulation des Wissens durch Fach- und Lehrbücher und durch das Medium der Fachzeitschrift. Seit die Erstellung und Verbreitung von Fachliteratur für das Schneidergewerbe im 19. Jahrhundert florierten, ermöglichte dies eine weitflächige Weitergabe des Wissens in Form von Konstruktionsanleitungen, Zeichnungen und auch Schnittmustern. Die Entwicklungen und systematisierten Darstellungen im Bereich der Zuschneidekunst lassen darüber hinaus die Versuche erkennen, eine einheitliche Fach-, Bild- und Zeichensprache für die Schnitttechnik zu generieren – eine Fachsprache, die sowohl das erfahrungsbasierte Wissen als auch die theoretischen Grundlagen zusammenführen sollte.25 Die Systematisierung des Wissens der Zuschneidekunst geht somit einher mit einem Anstieg schriftlicher Ausdrucksformen, die darauf ausgerichtet war, Wissen zu teilen und sich darüber auszutauschen. Die Verbreitung der aufgestellten Regeln der Schnitttechnik waren diesbezüglich an allgemein verständliche fachsprachliche Beschreibungen gebunden. Der Anmerkung von Marcus Popplow folgend, dass über lange Zeiträume gesammeltes und zusammengefügtes verkörpertes Wissen dennoch in beträchtlichem Umfang nicht in Medien der Verbreitung und Vervielfältigung festgehalten wurde, wird die Analyse der Entwicklung der Fachliteratur der Schneider auch die Grenzen der Verschriftlichung aufzeigen.26

Mit der Gründung der Deutschen Akademie der Höheren Bekleidungskunst 1850 in Dresden wurde „ein Institut, welches mit der Theorie zugleich die praktische Uebung, und somit eine Garantie anerkannter Brauchbarkeit des Erlernten darbietet“27, ins Leben gerufen. Diese Institution sollte den Leistungen und Funktionen einer Akademie entsprechen – Wissen zu verteilen, zu diskutieren, zu bewahren, zu sammeln und nutzbar zu machen.28 Die Advokaten der wissenschaftlichen Methoden29, Gustav Adolf Müller und Johann Heinrich Klemm, erstrebten, das implizite Wissen des Schneiders, primär die Kunst der Schnittgestaltung, auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben. Während einerseits die Professionalisierung und Weiterbildung von Schneidern wesentliches Anliegen der Akademie war, sollte zudem der Status des Berufsstandes eine Aufwertung erfahren. Zum 50-jährigen Jubiläum formulierte eine Festschrift dazu im Jahre 1900: „Die Gründer sind von der Absicht durchdrungen gewesen, dahin wirken zu wollen, dass unser Handwerk in die Reihen der bevorzugten Gewerbetreibenden eintreten konnte. An Stelle primitiver Handwerksleistungen sollten solche treten, die sich den Kunstprodukten näherten. Dies wurde in nicht zuwiderlegender Weise als leitender Grundsatz aufgestellt, denn nur dadurch, dass die fachlichen Leistungen den Zweck erfüllten, die äussere Erscheinung des Menschen zur vorteilhaften Repräsentation, die Vorzüge des Wuchses zur vollen Geltung zu bringen und etwaige Mängel der körperlichen Beschaffenheit in geschickter Weise zu verdecken, um sie dem Auge weniger sichtbar werden zu lassen, liess es sich erreichen, dass unser Handwerk in Verbindung mit der Erreichung höherer Bildungsgrade eine Position in den ersten Reihen der Gewerbetreibenden einnehmen konnte.“30 Die Formalisierung des Wissens der Zuschneidekunst und die Zirkulation und Vermittlung des Wissens im Wirkungskreis des institutionellen und ideellen Raumes der Akademie sind eingebettet in die produktionstechnischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts, auf die das Schneidergewerbe zu reagieren hatte. Eine Erörterung der Entwicklung der Bekleidungsindustrie, d. h. der zunehmenden Verbreitung verlagsmäßig organisierter Produktionsstrukturen und der Möglichkeiten der seriellen Herstellung von Bekleidung wird zum einen verdeutlichen, dass die Notwendigkeit bestand, das Wissen und die Qualifikationen des Schneiders an neue Rahmenbedingungen anzupassen. Zum anderen waren die Fortschritte der Zuschneidekunst prägend für diese Entwicklungen.

Kaum ein anderes Kunstwerk ist so der Vergänglichkeit preisgegeben wie die Kleidung des Menschen“31 und an den Schnittmustern lassen sich zweifelsohne die einzelnen Epochen der Modegeschichte ablesen, heißt es in Ruth Sprengers Darstellung der Geschichte der Schneiderkunst.32 Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Zuschneidekunst und dem Schaffen einzelner Zuschneider und ihrer Methoden soll in der Folge dazu führen, das Wissen und Können der Schneiderkunst zu analysieren, um die Komposition aus impliziten und expliziten Elementen darzulegen und das Wesen der Kunstfertigkeit zu bewahren. Denn die Schnittmethoden, so betont es Claudia Kidwell, sind in weniger als 90 Jahren, seit der Periode ihrer größten Popularität, so gut wie in Vergessenheit geraten.33 Auch merkt Ruth Sprenger an, dass selbst diejenigen, die ein besonderes Interesse an der Mode haben, die Wahrnehmung und das Bewusstsein für die Passform unserer Kleidung und die Qualität der Verarbeitung verloren haben.34 Laut Aussage eines Lehrbuchautors der frühen 1920er Jahre, Rudolf Maurer, gab es bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts kein nennenswertes Prinzip für die Konstruktion von Schnitten. „Eigenes Genie, eine glückliche Auffassungsgabe, die sich auf langjährige Erfahrung stützte, waren die Grundlagen, die man beim Zuschneiden nötig hatte.“35 Dennoch merkte dieser an, dass seitdem eine neue Zeit, eine Zeit der Verfeinerung der Zuschneidekunst, angebrochen war, die sich in den allseits zu identifizierenden Bestrebungen der Schneiderwelt, ihre Kunst zu verwissenschaftlichen, niederschlug.36 Auch in einem aktuellen Überblickswerk heißt es mit Blick auf das Ziel, den Schnitt mathematischer aufzustellen: „Der deutsche Schneider ist in dieser Hinsicht mehr Techniker als Künstler“. 37

„Bei einer technikgeschichtlichen Betrachtung ist ein wichtiger Aspekt, daß die geschichtliche Aufarbeitung zur Erschließung der eigenen gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität führt“38, betont Almuth Bohnsack in ihrer Kulturgeschichte über das Spinnen und Weben. Somit ist die Geschichte der Zuschneidekunst begleitet von Fragen zur praktischen Ausführung und zum Erlernen der Schnitttechnik. Ist die Konstruktion von Schnittmustern leichter geworden? Was musste ein Schneider im 19. Jahrhundert lernen und auf welche Inhalte werden gegenwärtig Wert gelegt? Welche Berufsfelder haben sich im Fortgang herausgebildet? Konnte die Produktivität durch optimierte Methoden der Schnitttechnik gesteigert werden? Und welche positiven und negativen Auswirkungen können identifiziert werden?39 Die Rückbesinnung auf die historische Entwicklung der Formalisierung der Zuschneidekunst und die damit verbundene Wiedergewinnung des Wissens eröffnen dabei einen Diskurs über die Zukunft der Schnitttechnik und stellen ein „Immer-weiter“40, wie es Paul Konrad Liessmann bezeichnet, in Frage. „Wise is the cutter who prepares for the future by studying both the past and the present“41, heißt es bereits in einem Artikel der Zeitschrift „The Practical Cutter and Tailor“, veröffentlicht im Dezember des Jahres 1900. Die innovative Kraft des Handwerks gilt es somit wieder offenzulegen und die wechselseitige Verbindung von Wissen und Können als unabdingbare Voraussetzung für die Gestaltung der Welt zu extrahieren. Dies bedeutet auch, über die Wissenschaft als primären Bezugspunkt hinaus zu denken und die Aufmerksamkeit auf Fallbeispiele zu lenken, um technologische Entwicklungen nachzuzeichnen und zu evaluieren.42 Der Fortschritt der Technisierung und so auch die zunehmende Digitalisierung, die alle Bereiche des menschlichen Lebens begleiten, haben neben der Weiterentwicklung und Nutzung technischer Geräte, die das Leben dem Anspruch nach „vereinfachen“, unmittelbare Auswirkungen auf das Wissen und die Implementation von Wissen, die diese Entwicklungsprozesse konstituieren. Diesbezüglich stellt sich die Frage, um welche Art von Wissen es sich handelt und wie dieses Wissen im Fortgang genutzt wird. Als Fallbeispiel dient hierbei nun die Technik der Schnittgestaltung – die Zuschneidekunst.

1.2 Stand der Forschung

Die Schnitttechnik wird gegenwärtig in Forschung, Lehre und Praxis aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Zu diesen Fachgebieten zählen zum einen geisteswissenschaftliche Disziplinen, die kultur-, sozial- und modegeschichtliche Aspekte berücksichtigen und zum anderen der Bereich der angewandten Wissenschaften, die den Bereich der Schnitttechnik unter produktionstechnischen und wirtschaftlichen Problemstellungen erforschen und in die Lehre integrieren. Deutlich werden durch abgegrenzte Fragestellungen einzelner Fachgebiete Bruchlinien zwischen Praxis und Theorie, Kunst und Handwerk sowie zwischen technischem Können und den daraus hervorgehenden Ausdrucksmöglichkeiten.43

Weitgehend erforscht und dokumentiert sind die historischen Entwicklungen der Produkt- und Prozessinnovationen im Bereich der handwerklichen und industriellen Textiltechniken, die der Herstellung von Bekleidung vorgelagerten Verarbeitungsstufen. Nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch in der musealen Präsentation wird der Prozess vom Rohstoff bis zum textilen Flächengebilde nachgezeichnet. Während eine historische Auseinandersetzung mit der Schnitttechnik in der Sekundärliteratur und in Industrie- und Textilmuseen kaum eine Rolle spielt, existieren umfangreiche Darstellungen bspw. zur Mechanisierung des Spinnvorgangs, zur Automatisierung der Webtechnik, zur Geschichte der Nähmaschine und der Nähtechnologie sowie Beiträge zur historischen Entwicklung des Textilgewerbes einzelner Regionen.44 Auch Daniela Döring und Ilse Schütte betonen hierbei, dass die Geschichte der Herstellung von Bekleidung und die Entwicklung der Konfektionsindustrie sowohl in der Textil- und Modegeschichte als auch im Rahmen sozial- und wirtschaftshistorischer Studien weniger erschlossen sind. Bedingt ist dieses Ungleichgewicht durch eine retardierende Entwicklung der Textil- und Bekleidungsproduktion.45 Eine umfassende Untersuchung der historischen Entwicklung des Produktionsprozesses in der Fertigkleidungsbranche, der Konfektionsindustrie, sprich die Darstellung der Transformationsprozesse von einer handwerklich-verlagsmäßigen Produktion bis zu einer industriell und fabrikmäßig organisierten Form der Herstellung von Bekleidung, legte Friedrich-Wilhelm Döring vor.46 Die Schnitttechnik, als wesentlicher Bereich der Entwicklung und Produktion von Bekleidung, klammert dieser jedoch aus und setzt seinen Schwerpunkt auf den Bereich des Nähens und die damit verbundenen technischen und strukturellen Voraussetzungen der Produktion.47

Kulturwissenschaftliche Studien zum Thema Textilien an deutschen Universitäten setzen einen Schwerpunkt auf die Kulturtechniken des Webens, Strickens und Nähens. Auch im Bereich der Textildidaktik und ästhetischen Bildung werden vorwiegend Herstellungsverfahren textiler Flächen behandelt. Im Vordergrund steht das Textile als Kommunikationsmedium zwischen dem Menschen, seiner Umwelt und der Gesellschaft. Ob und inwieweit die Schnitttechnik bzw. das Schneiderhandwerk schwerpunktmäßig berücksichtigt wird, ist nicht erkennbar.48 Bestandteil der Mode- und Kostümforschung sind die Untersuchung der Formen und Silhouetten und ihr Wandel im Laufe der Geschichte. Erforscht werden Stilepochen, regionale Kleidungscodes oder einzelne Kleidungsstücke. Neben der Präsentation der Kostüme bis in die heutige Zeit, z. B. in Modemuseen, Modesammlungen oder Sonderausstellungen, umfasst die Erforschung der Kleiderformen auch sozialwissenschaftliche Fragestellungen, die den Menschen und seine Umgangsformen mit Körper und Kleid beleuchten.49 Der Kontext der Gestaltung der zugrundeliegenden Schnittmuster wird hierbei kaum erwähnt. Die zentrale Bedeutung des Zuschnitts streicht Max von Boehn als einer der Wenigen in seiner kulturgeschichtlichen Studie zur Bekleidungskunst und Mode aus dem frühen 20. Jahrhundert heraus.50 Dagegen liegt der Fokus der Arbeiten von Brunhilde Dähn und Uwe Westphal auf der Geschichte der Berliner Konfektion, die unter vorwiegend wirtschaftlichen, sozialen und modegeschichtlichen Fragestellungen beleuchtet wird. Während Brunhilde Dähn den Aufstieg der Mode von der Stange um den Berliner Hausvogteiplatz nachzeichnete, rekonstruiert Westphal den Aufstieg und Wirkungskreis von Textil- und Konfektionshäusern in Berlin von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der 1930er Jahre. Die Bekleidungsmode deklariert dieser hierbei als Kulturgut, das alle Bereiche des kulturellen Lebens durchdringt, während die deutsche Mode fortwährend in Konkurrenz zu der Mode aus Paris oder auch London steht und sich durch ein traditionelles Kopieren etablierte.51 Jutta Zander-Seidel verweist auf eine wissenschaftsorganisatorische Differenzierung innerhalb der materiellen Kultur, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Unterscheidung einer kostüm- und stilgeschichtlichen Perspektive und einer volkstümlichen Sichtweise, die Gebrauchszusammenhänge beleuchtet, hervorgebracht hat. 52 Die Modehistorikerin Barbara Burman unterstreicht hierbei den erkenntnistheoretischen Mehrwert der Erforschung der Geschichte der Damenschneiderei, die ein weites Feld kultureller, sozialer und ökonomischer Praktiken offenlegt sowie geschlechterspezifische Fragestellungen eröffnet. Burman schreibt der Damenschneiderei die Bedeutung einer historischen Praktik zu, die dem Akt der Produktion den Akt der Konsumption entgegensetzt.53 Die Herstellung von Bekleidung wird hierbei vorwiegend in der privaten Sphäre der Frau beleuchtet, die am modischen Geschehen teilhaben möchte, und mit der Geschichte der Nähmaschine in Beziehung gesetzt.

Indessen sind Arbeiten zu nennen, die sich unter verschiedenen Fragestellungen mit der Schnitttechnik befassen. Hierbei können die Forschungen von Ruth Oldenziel und Mikael Hård angeführt werden. Unter dem Titel „Copying and Pasting Paris“ stellen diese das transnationale Netz der Zirkulation, Adaption und Neugestaltung der Mode im 19. Jahrhundert dar. Dieses war geprägt durch den Wirkungskreis von Warenhäusern, durch das Wachstum des Zeitschriftenwesens, die Entwicklung des Versandhandels, der Einführung der Nähmaschine für den Hausgebrauch und die Bereitstellung von Schnittmustern auf Papier. Als modische Vorreiter, die sowohl in den Vereinigten Staaten als auch auf dem europäischen Kontinent kopiert und zur Entfaltung nationaler Moden beitrugen, führen Oldenziel und Hård die französische Aristokratie für die Damenmode und die britische Mittelklasse für die Mode des Herren an. Hierbei spielt insbesondere die Verbreitung von Schnittmustern eine Rolle.54 Auch Barbara Burman thematisiert im Rahmen ihrer Forschungen die Geschichte der Schnitttechnik im Hinblick auf die Verfügbarkeit und Nutzung von Schnitten, insbesondere für die Anfertigung von Damenkleidung für den privaten Bereich. Burman merkt hierbei an, dass der Schnitt jedoch unten in der Hierarchie der materiellen Kultur steht.55 Der Schwerpunkt der Arbeit von Joy Spanabel Emery liegt dagegen auf der Analyse der historischen Entwicklung des Handels mit Schnittmustern in den USA. Die Kommerzialisierung von Papierschnitten erörtert Emery ebenso anhand der Rekonstruktion des Netzwerkes der am wirtschaftlichen Geschehen beteiligten Akteure und Medien. Die Herausbildung des Zeitschriftenwesens für das Schneiderhandwerk und für den Bereich der Bekleidungsmode setzt Emery in unmittelbare, wechselseitige Beziehung zur Entwicklung der massenhaften Produktion und Verbreitung von Schnittmustern aus Papier. Insbesondere behandelt Emery hierbei die Erfolgsgeschichten einzelner Unternehmen wie Ebenezer Butterick & Co und Mme Demorest, die u. a. über das Medium der Zeitschrift und der damit verbundenen Werbung und Promotion ihre Schnittmuster flächendeckend vermarkten konnten. Diesbezüglich spricht Emery auch die größenmäßige Standardisierung oder auch die Verfügbarkeit von Schnittmustern, die nach individuellen Maßen konstruiert wurden, an.56 Emery thematisiert hierbei nicht die historische Rekonstruktion der Wissensbestände der Zuschneidekunst. Unter Mitwirkung der Wissenschaftlerin wurde jedoch ein elektronisches Archiv historischer Schnitte ins Leben gerufen, das seinen Sitz in Rhode Island hat. Dieses dient zugleich der Forschung und der Bewahrung von Schnittmustern. „There is nothing so cheap and yet so valuable; so common and yet so little realized; so unappreciated and yet so beneficial as the paper dress pattern. Truely one of the great elemental inventions in the world history – The tissue of Dreams“57, heißt es bereits in der Oktober-Ausgabe der Zeitschrift The Designer aus dem Jahr 1916. Einem anderen kulturtheoretischen Ansatz folgend findet die Schnitttechnik – insbesondere das Maß, das in den Schnitt einfließt – Berücksichtigung u. a. in den Arbeiten von Gabriele Mentges und Heike Jenß. Das Maß wird hierbei als Spiegel gesellschaftlicher und kultureller Normen hinsichtlich des Umgangs mit Kleidung und Moden herangezogen. Die Formalisierung der Schnitttechnik, die den Weg einer massenhaften Produktion durch die Entwicklung standardisierter Maßtabellen ebnete, steht hierbei im Fokus. Von einer Konstruktion von Gleichheit durch Uniformierung, einer Gleichheit, die durch technische und maschinelle und mathematische Verfahren ermöglicht wird, spricht Mentges. 58 Das Maß fungiert dabei nicht nur als universell anwendbare, sondern auch als uniforme Einheit, die Fragen der Massenhaftigkeit und des Konformismus gegenüber eines modischen Individualismus aufwirft. Eine materielle Ausprägung von Uniformität spiegelt sich in der Kleidung und im Umgang mit dem Körper wider.59 Das Bedürfnis des Andersseins gleicht laut Heike Jenß einem Massenbedürfnis, so dass die Individualisierungsbestrebungen zu einer vermeintlichen Vielfalt des modischen Ausdrucks führen. Eine Mode der Vielfalt ist jedoch dadurch durch Konformität gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang erörtert Jenß die technischen Möglichkeiten im Rahmen von Mass-Customization-Konzepten, die an ein Baukastenprinzip im Bereich der Schnittkonstruktion gebunden sind.60 Mentges verweist zudem auf Johann Georg Sulzer, der bereits im 18. Jahrhundert das Verständnis und die Ästhetik der Schönheit im Hinblick auf Uniformität, Ordnung und Regelhaftigkeit thematisierte und sich hierbei auf die Vermessung des Körpers und die Standardisierung idealer Körpermaße bezog.61

Gabriele Mentges und so auch Daniela Döring erörtern in ihren Arbeiten den historischen Kontext der Formalisierung der Zuschneidekunst in Bezug auf die serielle Herstellung von Bekleidung. Wegbereitend für die Konfektionsindustrie sei die Herstellung von Uniformen für das Preußische Heer im 18. Jahrhundert gewesen. Zunächst wurde diese einheitliche, in Serien hergestellte Kleidung auf Basis der Körpergröße der Soldaten entwickelt, die in Gruppen eingeteilt wurden.62 Das entscheidende Moment für die Herausbildung der Konfektionsindustrie und Massenproduktion war laut Jutta Zander-Seidel und Friedrich-Wilhelm Döring zunächst der Handel mit Altkleidern. Der Handel mit vorgefertigten Kleidungsstücken war dem Schneiderhandwerk durch die Regelungen der Zünfte verboten, so dass die Altkleiderhändler dadurch einen Markt erschließen konnten. Seit dem 14. Jahrhundert sind laut Zander-Seidel Belege für den Handel mit textilen Gebrauchtwaren zu finden, während sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Manufaktur- und Verlagswesen herausbildete. Noch im 16. und 17. Jahrhundert war der Schneider ausschließlich mit der kundenindividuellen Fertigung von Kleidung betraut. Die schnitttechnischen Möglichkeiten und

Verfahrensweisen, die grundlegend für die Herstellung standardisierter Massenartikel sind, werden hierbei jedoch nicht explizit erwähnt.63

Die Geschichte der Zuschneidekunst unter Aspekten, die die Weiterentwicklung der schnitttechnischen Errungenschaften thematisieren, ist u. a. in der kulturhistorischen Abhandlung von Otto Niemann dargelegt. Neben der Darstellung unterschiedlicher Schnittmethoden, zu denen auch die Arbeiten von Johann Heinrich Klemm und Gustav Adolf Müller zählen, behandelt Niemann zudem die Entwicklung und inhaltliche Konzeption der fachwissenschaftlichen Literatur für das Schneiderhandwerk.64 Auch hierbei findet eine Rekonstruktion der Wissensbestände der Zuschneidekunst keine wesentliche Berücksichtigung. Hinsichtlich der Technik der Schnittgestaltung sind vor allem die Forschungen der Textilwissenschaftlerin Kerstin Kraft zu nennen, die in ihrer 2001 veröffentlichten Arbeit mit dem Titel „kleider.schnitte“ die Wichtigkeit der Geschichte des Schnittes für die Geschichte der Bekleidung betont hat.65 Der Zuschnitt von Kleidung, der die Drapierung ablöste, hatte seinen Ursprung im 12. Jahrhundert, während sich die ersten Grundformen aus dem Kreis entwickelten, bevor Ärmel oder der Kragen abgelöst wurden. Das Prinzip des Schneidens, in der materiellen Ausprägung der Zerteilung der textilen Fläche, fungiert bei Kraft als Allegorie für die Entwicklung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes.66 Wie auch bei Otto Niemann und Daniela Döring sind bei Kerstin Kraft Darstellungen über die Entwicklung und den Aufbau der Schnittsysteme zu finden.67 Daniela Döring zeichnete im Rahmen ihrer Dissertation die Geschichte der Vermessung des Körpers und die der Konfektionsgrößen nach. Ausgangspunkt ist hierbei die wissenstheoretische Konzeption des mittleren Körpers, die sie in einen alltagsrelevanten Kontext setzt.68 Im Fokus steht hierbei die kulturtheoretische Konzeption des Maßes und des Körpers und die damit verbundene Wechselbeziehung. Während laut Döring das Wissen nicht mehr im geheimen Erfahrungsschatz der Schneider, sondern in der instrumentellen Technik des Vermessens lag, werden die Wissensformen jedoch nicht weiter erörtert. 69

Ein Überblick über die im anglo-amerikanischen Raum entwickelten proportionalen Schnittmethoden, von Systemen basierend auf direkten Maßen oder auch Mischformen ist bei Claudia Kidwell zu finden, die ihrer kulturhistorischen Arbeit über die Geschichte der Schnitttechnik eine umfassende Bibliographie der fachwissenschaftlichen Literatur beifügt.70 Im Fokus stehen dabei die schnitttechnischen Errungenschaften für das Damenschneiderhandwerk. Auch Kevin L. Seligman stellte eine umfangreiche Sammlung amerikanischer und englischer Fachbücher, Anleitungen, Kataloge und Fachzeitschriften für die Schneiderkunst zusammen, während dieser hierbei die Entwicklung der Schnittmethoden nur erwähnt und diesbezüglich auf die Arbeiten von Kidwell und Patricia A. Trautman verweist. Letztere erarbeitete eine Bibliographie unter Angabe der Standorte der amerikanischen Schnittsysteme des 19. Jahrhunderts.71 In zwei übergreifenden Kategorien unterteilt Seligman die fachwissenschaftlichen Schriften in England und den USA. Zum einen handelte es sich um Unterrichtsanleitungen für Frauen und Mädchen für den Hausgebrauch und zum anderen beinhaltet seine Sammlung Fachliteratur für den professionellen Schneider und die professionelle Schneiderin, zu welcher auch Konstruktionsanleitungen für die Schnittgestaltung zählen. Bei diesen Arbeiten handelt es sich im Prinzip um eine systematische Darstellung bzw. Zusammenstellung von Schnittmethoden und der fachwissenschaftlichen Literatur für das Schneiderfach.

Einen, um einen praktischen Nutzen erweiterten Ansatz verfolgt Janet Arnold. Diese rekonstruierte und stellte historische Schnittmuster in Form von nachvollziehbaren Diagrammen dar, um einerseits einen Überblick über die modegeschichtlichen Elemente und Formen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zu geben und andererseits durch die praktischen Anleitungen die Kunst des Zuschnitts zu bewahren. Als eine zeitaufwändige Beschäftigung bezeichnet Arnold dabei den Prozess, die Formen und Ausstattung der Kleidungsstücke in konstruktive Elemente zu übersetzen.72 Ableiten lässt sich hierbei die Wertschätzung für die handwerkliche Schneiderkunst und die Bedeutung, das Wissen und Können so zu rekonstruieren, dass es nicht nur bewahrt, sondern auch angewendet werden kann. Anzumerken gilt es in diesem Kontext, dass es neben Kostümbildnern insbesondere interessierte Laien sind, die sich mit der Sammlung historischer Schnittmuster beschäftigen und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Zudem zeigt die florierende Do-it-yourself-Bewegung, dass sich eine Vielzahl von Menschen zunehmend mit textilen Handwerkstätigkeiten auseinandersetzt.73 Eine wachsende Anzahl von Publikationen, die sich mit Anleitungen zum Selbermachen beschäftigen, bestätigt diese Entwicklung. Neben der Einführung ins Nähen, Stricken oder Häkeln können Laien lernen, eigene Schnitte nach einer Vorlage oder Anleitung zu erstellen. So scheint es eine intrinsische Motivation zu sein, sich im privaten Bereich Zeit und Raum für das Erlernen und Üben von Fertigkeiten für das Herstellen maßgeschneiderter, individueller Produkte zu nehmen.74

Im Vergleich zu den skizzierten historisch orientierten Arbeiten verfolgen dagegen die Technik- und Ingenieurwissenschaften in Praxis und Lehre das Ziel, praxisnahe, zukunftsorientierte Lösungen zu entwickeln, um Verfahren und Werkzeuge an die Bedingungen der fortschreitenden Globalisierung anzupassen und den Nachwuchs möglichst schnell und effizient auf die Herausforderungen in der Textil- und Bekleidungsindustrie vorzubereiten. Die Fragestellungen beziehen sich dabei zum Beispiel auf die 3D-CAD Produktentwicklung, auf die Erarbeitung einer durchgängigen Prozesskette zur Kopplung von virtuellen 3D-Modellen und 3D-Basiskonstruktionen an die 2D-Modellschnittentwicklung75 oder auf Technologien für die Empfehlung von Konfektionsgrößen im Online-Geschäft.76 In unterschiedlichen Ausbildungswegen werden die manuelle und die CAD-gestützte Schnittgestaltung gelehrt und erst im Laufe der praktischen Tätigkeiten geübt. Im Fokus stehen vorwiegend Produkt- und Prozessinnovationen zugunsten einer möglichst reibungslosen Produktion für die kurzen Produktlebenszyklen. Dennoch ist es zunehmend schwieriger für die Kunden, etwas Passendes zu finden. So fallen nicht nur Konfektionsgrößen unterschiedlich aus, und das sogar bei Angeboten eines einzelnen Bekleidungsunternehmens, auch die Passformen leiden.77 So stellt sich nicht nur die Frage nach den technischen Verfahren, sondern auch nach den Methoden, wie die Fertigkeiten gelehrt und geübt werden. Am Beispiel der 3D-CAD-Entwicklung von Avataren, durch die am Bildschirm virtuelle Anproben durchgeführt werden können, lässt sich zudem eine Distanz zum leiblichen Körper, zum Bekleidungserzeugnis und zu Körperproportionen ablesen.78 Tendenziell müssen dafür IT-Experten ausgebildet werden, die nicht zwangsläufig bekleidungstechnisches Wissen mitbringen.79 Zunehmend liegt der Fokus auf der Beherrschung von CAD-Anwendungen und die handwerklichen Tätigkeiten, die essentiell für das Verständnis der Schnittkonstruktion sind und auch die Basis für eine virtuelle Produktentwicklung bilden, treten in den Hintergrund. Nichtsdestotrotz ist es noch immer ein wesentlicher Schwerpunkt der Forschung, die Umsetzung und wechselseitige Bedingung von Körpermaßen und Körperhaltungen in der Schnittkonstruktion zu analysieren, um „optimale Möglichkeiten zur Erstellung paßformsicherer, größenunabhängiger Kleidungsschnitte“80 zu erarbeiten. „Die Forschungsgemeinschaft Bekleidungsindustrie beschäftigt sich in einem ihrer Forschungsschwerpunkte mit Fragen der Systematisierung der Schnittkonstruktion.“81 Thematisiert werden in diesem Zusammenhang u. a. der Bereich der industriellen Maßkonfektion, die Verfahren der berührungslosen Ermittlung von Körpermaßen und die Systematisierung von Körperhaltungsdaten.82 Zudem sei an dieser Stelle auf die Versuche des Deutschen Instituts für Normung verwiesen, internationale, allgemein anwendbare und systematisierte Regelungen für die Vermessung des Körpers für die Schnittkonstruktion, die Vereinheitlichung von Maßtabellen und Größenbezeichnungen oder auch entsprechende Spezifikationen für die virtuelle Produktentwicklung zur Verfügung zu stellen.83 Ein Überblick mit Angaben zur Geschichte über die technologischen Entwicklungen und den Bedingungen eines wissenschaftlichen Verständnisses für den Bereich der Passform und des Erscheinungsbildes von Kleidung und Körper sind in der Monographie von Jintu Fan, Lawrance Hunter und Winnie Yu zu finden, die diese ansatzweise in einen internationalen Kontext setzen. Die Autoren betonen hierbei einen Mangel an einer umfassenden Behandlung der Bekleidungstechnologie aus einer wissenschaftlichen und technologischen Perspektive. 84 Im Jahr 2010 erschien darüber hinaus der Bericht eines Forschungsprojektes des MIRALab der Universität Genf, das darauf abzielte, eine Lösung für eine wirklichkeitsgetreue virtuelle Anprobe von Kleidungsstücken zu entwickeln. Hierbei wurden geometrisch und physisch bedingte anthropometrische und anatomische Ansätze für die Modellierung von Körpern und die Parameter für die Simulation von textilen Flächen erörtert. Zudem wurden hierbei die Tools im Bereich der dreidimensionalen Gestaltung und Konstruktion von Kleidungsstücken und die Anwendung von entsprechenden Technologien in der Produktentwicklung in der Bekleidungsindustrie dargestellt.85

Um bereits auf die Transformationsprozesse der Ausbildung im Schneiderhandwerk, insbesondere im Bereich der Schnitttechnik, überzuleiten, die noch im Detail erörtert werden, sei auf die bildungshistorische Forschung verwiesen. Diesbezüglich liegen nur einzelne Darstellungen zur Geschichte des Ausbildungswesens für das Schneiderhandwerk oder zu Qualifizierungsmöglichkeiten für Bekleidungstechniker und Bekleidungsgestalter vor. Umfassender, wenn auch nicht in einem ausgeschöpften Umfang, gestaltet sich die Untersuchung des Textilfachschulwesens. Aufschlussreich dabei sind u. a. die Darstellungen einzelner Schulgeschichten, wie die Rekonstruktion der Geschichte der Staatlichen Kunst- und Fachschule für Textilindustrie in Plauen, gegründet 1877 und zerstört 1945, die eingeordnet ist in einen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontext. 86

Die zuvor aufgeführten Wirkungsbereiche verfolgen zweifelsohne berechtigte Zielsetzungen und Fragestellungen, die entsprechende fachbezogene Abgrenzungen sinnvoll machen. Dennoch wird durch den skizzierten Forschungsstand deutlich, dass das Wissen über die Technik der Schnittgestaltung verloren geht, wenn diese nicht anhand ihrer historischen Entwicklung aufgearbeitet und festgehalten wird. Zudem kann betont werden, dass die Technik auch in den Bereichen, die eine Auseinandersetzung bisher weitgehend ausklammern, ein bedeutsames Themenfeld für theoretische und praktische Arbeiten bietet. Vor diesem Hintergrund ist nun die erweiterte Forschungsperspektive dieser Arbeit begründet. Unter der Zielsetzung, das ganzheitliche Wissenskonzept der Zuschneidekunst zu rekonstruieren, kann somit ein bislang ungenutztes Quellenmaterial herangezogen und ausgewertet werden. Diesbezüglich liegen historische Lehrbücher und Zeitdokumente im deutschsprachigen Raum vor, die zum einen die Entwicklung der Systematisierung der Zuschneidekunst und den damit verbundenen Forschungsprozess dokumentieren. Zum anderen bieten diese die Möglichkeit, den historischen Verlauf der Institutionalisierung der Ausbildung und die Entwicklung von Lehrinhalten nachzuzeichnen. Die Quellen, die im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden, stammen weitgehend aus dem 19. Jahrhundert und werden in der Folge in einen technik- und wissenshistorischen Kontext gesetzt. 87

1.3 Methodisches Vorgehen

In ihrer Studie über die Industrialisierung und Verwissenschaftlichung des Wissens im Klavierbau im Zeitraum von 1830 bis 1930 erörtert Sonja Petersen den Prozess der Formalisierung des handwerklichen Erfahrungswissens, das in spezifischen Räumen des Wissens generiert und bewahrt wurde. Dieses Wissen zeichnete sich durch unterschiedliche Formen aus, insbesondere geprägt durch ein personengebundenes Können und ein implizites Erfahrungswissen. Im Rahmen ihrer abschließenden Betrachtung verweist die Technikhistorikerin auf Perspektiven einer weiterführenden Forschung im Bereich des Instrumentenbaus. Von Interesse wäre zum einen eine Analyse des Klaviers als Objekt des Wissens, eine Untersuchung der Lehrbücher für den Klavierbau oder auch die Untersuchung der beruflichen Ausbildung im Hinblick auf die Frage, wie ein Handwerker zum Wissenschaftler wird.88 Im Rahmen dieser Studie werden u. a. die von Petersen aufgeworfenen Fragestellungen hinsichtlich der Formalisierung der Zuschneidekunst im Schneidergewerbe des 19. Jahrhunderts aufgenommen. Das Forschungskonzept impliziert dabei sowohl Ansätze und Methoden der Technik- und Wissensgeschichte als auch Fragestellungen im Bereich der historischen Bildungsforschung. Zudem werden sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Hintergründe berücksichtigt.

Aus welchen Gründen, durch wen und wie wurde das Wissen der Zuschneidekunst formalisiert und systematisiert und wo kann dieses Wissen verortet werden – dies gilt es im Folgenden zu erörtern. Wer sind hierbei die Akteure und die Adressaten des Wissens und wie wurde das Wissen verbreitet, überprüft und zu einem allgemein gültigen und anwendbaren Regelwerk? Die Geschichte einer Institution – in diesem Fall die Geschichte der Europäischen Moden-Akademie – ermöglicht die Rekonstruktion des Prozesses der Formalisierung der Schnitttechnik und die damit verbundene Zirkulation des Wissens. Sowohl der physische und geographische Raum als auch die gesellschaftlich geprägte Institution und ihr repräsentativer Wert für die Schneiderwelt geben Aufschlüsse über die Rahmenbedingungen der geschichtlichen Entwicklung der Zuschneidekunst. Martina Heßler konstatiert in diesem Kontext, dass „Raumstrukturen [...] die Vorstellungen über den Platz der Wissenschaft in der Gesellschaft, darüber, wie Wissen in einer Gesellschaft und welches Wissen produziert werden soll [offenbaren]“89. Die Europäische Moden-Akademie als ideeller und institutioneller Ort im Kontext der Fortentwicklung der Bekleidungskunst eröffnet hierbei den Zugang zur Geschichtsschreibung der Schnitttechnik.90 Untersucht werden verschiedene Kategorien der Analyse dieses Ortes, die Parallelen zum Begriff des Raumes nach Heßler aufweisen. Zu diesen Kategorien zählt zum einen der materielle Raum und die Ausstattung für die Ausbildung im Schneidergewerbe und zum anderen der Raum, durch den eine interne wie auch externe Kommunikation und eine damit verbundene Praxis für die Lehre und Forschung ermöglicht wurden. Dem Anspruch folgend, die Zuschneidekunst auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben, wurde in Dresden ein neuartiges Konzept umgesetzt, das in dieser Form Modellcharakter im deutschsprachigen Raum hat. Somit wird die erste höhere Bildungsanstalt für das Schneidergewerbe auch als symbolischer Ort untersucht, durch den sich das Schneidergewerbe repräsentierte.91 Hierbei soll nachgewiesen werden, dass die Dresdner Akademie identitätsstiftend für das Selbstverständnis des Schneiderhandwerks wirkte und als Raum des Wissens Ort der Wissensproduktion im Bereich der Schnitttechnik war. Räume des Wissens gilt es nach Mitchell G. Ash unter unterschiedlichen Fragestellungen zu untersuchen. Zu diesen zählt die Analyse der Anerkennung und Privilegierung von Forschungsstätten und ihrer Akteure ebenso wie die Organisation, in der Wissen vermittelt, generiert und erworben wird. Auch spielen bei Ash sowohl die internen Beziehungen als auch die Kommunikation mit außerinstitutionellen Akteuren und Ressourcen eine Rolle. Zudem gilt es der Frage nachzugehen, wo das Wissen situiert ist, wann Ergebnisse von Forschungen als allgemeingültiges Wissen anerkannt sind und mit welchen Mitteln dieses Wissen übermittelt und öffentlich zugänglich gemacht wird.92 Auch laut Marcus Popplow ist der Prozess der Formalisierung von Wissen mit Praktiken des Austauschs, Medien der Repräsentation und einem damit verbundenen institutionellen Umfeld verknüpft, in dem sowohl Forschungen auf einem Fachgebiet als auch die Vermittlung von Wissen eingebettet sind.93 Matteo Valleriani bezeichnet entsprechende Räume des Wissens als Verwaltungen für die Bearbeitung von Wissen, als „administrations handling knowledge“94, die maßgeblich daran beteiligt sind, Innovationen hervorzubringen. Somit soll die Analyse der Europäischen Moden-Akademie als Raum des Wissens dazu dienen, die Produktion, die Transformation und Adaption sowie die Bewahrung des Wissens auf dem Gebiet der Zuschneidekunst zu rekonstruieren, in dem die institutionelle Organisation und das dort situierte Wissen in Beziehung gesetzt werden.95

Die Erschließung der Geschichte der Europäischen Moden-Akademie wird Aufschluss darüber geben, dass im 19. Jahrhundert die Notwendigkeit gesehen wurde, das Wissen des Schneiders auf dem Gebiet der Zuschneidekunst als Reaktion auf die Bedrohung handwerklicher Strukturen im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung zu systematisieren und zu formalisieren. Aus bis dahin traditionellem Erfahrungswissen, situiert und weitergegeben in der Meisterwerkstatt, entstand bis zur Jahrhundertwende ein universalisiertes wissenschaftliches Wissen, das bis heute Gültigkeit besitzt und die Grundlage für die Schnittkonstruktion bildet – unabhängig davon, welche technischen Mittel und Werkzeuge für die praktische Umsetzung und Vervielfältigung von Schnittmustern bis heute entwickelt wurden. Die Analyse der ersten höheren Bildungseinrichtung für das Schneidergewerbe, der Forschungs- und Lehrpraxis und ihrer Akteure rekonstruiert den Formalisierungsprozess. Damit einhergehend soll herausgearbeitet werden, dass diesem ideellen und institutionellen Raum des Wissens für die Zuschneidekunst die Rolle eines Vorläufers der gegenwärtigen ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung der Bekleidungstechnik zugesprochen werden kann und der historische Abgleich gleichermaßen wertvolle Impulse für die Evaluierung der heutigen Lehr- und Forschungspraxis bietet. Methodisch integriert die Analyse der Rekonstruktion der Formalisierung und Zirkulation des Wissens, verortet in der Europäischen Moden-Akademie, analytische Kategorien und Fragestellungen von Ash, Heßler, Petersen, Popplow und Valleriani.

Der Formalisierungsprozess der Zuschneidekunst – die Übersetzung des handwerklichen, auf Erfahrungen basierenden Wissens der Zuschneidekunst in ein formalisiertes, kodifiziertes Regelwerk – impliziert die Frage nach dem Verständnis von Wissenschaftlichkeit und die Spezifizierung des Prozesses der Verwissenschaftlichung der Bekleidungskunst. Implizite Formen des Wissens, die übersetzt werden in eine explizite, kodifizierte, allgemeingültige und allgemein anwendbare Form von Wissen, werfen die Notwendigkeit auf, dieses Wissens zu lehren und einzuüben. Insbesondere spielt hierbei die institutionelle Organisation für die Qualifizierung eine Rolle, die bestimmte Formen und Medien der Wissensvermittlung mit sich bringen. Darüber hinaus müssen in diesem Zusammenhang sowohl das Selbstverständnis und die soziale Stellung einer Berufsgruppe, wie die der Schneider, als auch der Wert von Bildung innerhalb der Gruppe als Mittel der Repräsentation des Berufsstandes erörtert werden. „[I]mplizit in den Traditionen der wissenschaftlichen Forschungspraxis enthalten“96 ist es, dass die Forschungsgemeinschaft das Wissen hervorbringt – durch die Anerkennung von Expertenwissen und die Anerkennung von Autoritäten, basierend auf einer wechselseitigen Kontrolle und Überprüfung über ausgewählte Kanäle der Kommunikation. „Solche Entscheidungen beruhen auf grundlegenden Überzeugungen vom Wesen der Dinge und der geeigneten Methode“ 97 , so dass die Ergebnisse angewendet und diesen der Wert von Wissenschaftlichkeit zugesprochen werden kann. Anzumerken gilt es, dass Michael Polanyi diesbezüglich Orte der Forschung wie bspw. Laboratorien in Betracht zieht, während die Modenakademie vorrangig als Ausbildungsstätte verstanden werden kann. Dennoch kann diese auch als Forschungsinstitution betrachtet werden. Zum Zweck der Lehre musste jedoch zunächst ein formalisiertes, explizites Regelwerk für die Vermittlung erarbeitet werden, während parallel zum Formalisierungsprozess die besagten Regeln der Schnitttechnik stetig verfeinert und überarbeitet wurden. Es bildete sich somit eine Forschungsgemeinschaft heraus, bestehend aus Lehrenden und praktizierenden Zuschneidern, die zuvor separat voneinander an der Fortentwicklung der Zuschneidekunst arbeiteten.

Das Erfahrungswissen impliziert das Wissen um den Kontext eines ganzheitlichen Herstellungsprozesses, in dem zum einen routinierte Arbeitsabläufe ausgeführt und überblickt werden müssen, während zum anderen körperlich-sinnliche Erfahrungen im Umgang mit realen Dingen einfließen.98 „Ich werde das menschliche Erkennen ausgehend von der Tatsache betrachten, daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“99, betont Michael Polanyi. Auch Georg Mildenberger setzt sich in seiner Studie über die impliziten Komponenten des technischen Wissens mit der Frage auseinander, ob Expertise mit diesem nicht zu explizierenden Wissen gleichzusetzen ist. Verweisend auf Polanyi führt er zudem an, dass implizite Formen des Wissens zwar nicht zu explizieren, aber dennoch Ausgangspunkt für die Formulierung von Forschungsfragen und die Evaluation von Erkenntnissen sind.100 Wesentlich dafür ist die konkrete Handlung, die Tat, d. h. die Kompetenz des Ausführenden, die Kontrolle über den Körper und die Handgriffe, eine geschulte und eingeübte Wahrnehmung und die Beobachtung von Vorbildern.101 Als wesentliches Element des Wissens bezeichnet Reinhold Reith, Harry Collins anführend, das implizite Wissen. „Er [Collins] verweist auf die situative Kontextabhängigkeit des Wissens. Um es sich aneignen zu können, müsse man – im Sinne eines personalen Transfers – mit anderen zusammenkommen, die es schon besitzen. Explizites Wissen sei eine Art materialisiertes Wissen, [...], und es sei auch an anderen Orten verfügbar.“102 Douglas Harper bezeichnet dieses Wissen als Wissen über Materialien (knowledge of materials), das sich nur im Rahmen der konkreten Arbeit mit diesen entfaltet.103 Die handwerklichen Arbeiten, die Harper am Beispiel des Mechanikers Willie erörtert, spezifiziert er in Anlehnung an Claude Levi-Strauss als eine Form von Bastelei, bzw. als Wissenschaft des Realen (science of the concrete). Die Bearbeitung eines Problems ist dabei verbunden mit einem Improvisieren mit dem Vorhandenen, durch das sich der Bastelnde nicht nur definiert, sondern über sich hinauswächst. So wird dieser zum Denker, der den Lösungsweg prüft und an die Gegebenheiten anpasst.104 In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass auch die Geschichte der Zuschneidekunst geprägt ist durch die Basteleien einzelner Personen und den daraus resultierenden Lösungswegen in Form von Schnittmethoden. Die implizite Komponente bezeichnet Andreas Fickers als Handlungswissen, das in Relation zu einem theoretisch fundierten Wissen und einem Nichtwissen steht. Dieses Verhältnis gilt es im Bereich der Schnitttechnik aufzudecken, während das „Scheitern bzw. kreatives Problemlösen [...] hier auch zu einem zentralen Bestandteil des Lern- und Bildungsprozesses [wird]“105. Das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen wird auch im Rahmen der Erarbeitung von wissenschaftlich begründeten Regeln für die Zuschneidekunst erörtert. Das Explizieren des Handlungswissens kann laut Fickers dadurch erfolgen, dass ein Dialog mit den Dingen geführt wird.106 Das Handwerk spezifiziert Peter Janich als Vorbild für das Mundwerk, so dass eine Befragung der historischen Quellen, insbesondere der Hand- und Lehrbücher, Aufschluss darüber geben soll, inwieweit das Handlungswissen der Zuschneider verschriftlicht wurde und in den Formalisierungsprozess der Schnitttechnik einfloss. 107

Sonja Petersen identifiziert im Klavierbau des 19. und 20. Jahrhunderts ein Nebeneinander heterogener Wissenskomponenten, zu denen informelles Erfahrungswissen, formalisiertes und standardisiertes Wissen über den Instrumentenbau in einzelnen Firmen sowie wissenschaftliches Wissen zählen. 108 Auch das Wissenskonzept der Schnitttechnik, das sich ebenso durch die Verschmelzung verschiedener Wissensbestandteile auszeichnet, entspringt einem personengebundenen Erfahrungswissen. Durch die sukzessive Integration wissenschaftlicher und empirischer Erkenntnisse und Theorien entstand ein formalisiertes Wissen, das die implizite Komponente nicht substituieren kann, wie es nachzuweisen gilt. Ist es die neuzeitliche Aufgabe der Wissenschaft, Mittel und Lösungswege für gegebene Zwecke bereitzustellen,109 sind die Bemühungen, die Zuschneidekunst zu verwissenschaftlichen, eingebettet sowohl in übergreifende Entwicklungen im Bereich der Wissenschaftsund Bildungsgeschichte als auch verknüpft mit dem Fortgang der Industrialisierung und den damit einhergehenden Auswirkungen auf das Schneiderhandwerk. Diesbezüglich werden im Folgenden, im Anschluss an die Darstellung der Funktionsprinzipien der Schnitttechnik, die Transformationsprozesse der Ausbildung im Schneiderhandwerk im 19. Jahrhundert und die produktionstechnischen und strukturellen Entwicklungen in der Bekleidungsindustrie beleuchtet und somit die historischen Rahmenbedingungen für den Formalisierungsprozess rekonstruiert. Wissenschaft, so heißt es in der Enzyklopädie der

Neuzeit, stellt Konzepte bereit, durch die die Dinge der Welt nicht nur klassifiziert werden, sondern das vorhandene Wissen darüber schaffend bearbeitet wird.110 Die Genese der modernen Naturwissenschaften, beginnend im 17. Jahrhundert, zeichnete sich durch eine zunehmende Sammlung und Systematisierung von Erkenntnissen über die Natur unter Anwendung mathematischer und experimenteller Methoden aus. Die Natur wurde nicht mehr nur beobachtet, sondern durch Verfahren des Quantifizierens und Messens berechenbar, so dass die Menge an verwertbaren Daten wuchs und Phänomene und Zusammenhänge präziser erörtert werden konnten. Somit wurde neues Wissen generiert und auf die Fortentwicklung der künstlichen und technischen Welt angewendet.111 Die Geometrie ist „das alles prägende Werkzeug geworden, mit dem die Naturwissenschaften und die Technik die gesamte natürliche und künstliche Welt unter mathematische Maßstäbe gebracht haben“112, heißt es bei Janich. Das Zeichen der Zahl bezeichnen Daniela Döring und Claude Draude als Produkt des Wissenschaftssystems des 19. Jahrhunderts, das als Garant für Objektivität stand.113 „Die wissenschaftliche Zugangsweise diente schließlich diesem Bestreben, bewiesene, verläßliche und nachvollziehbare, mithin auch reproduzierbare Meisterstücke im Schneiderhandwerk durch methodisch-systematische Fortschritte hervorzubringen“ 114 , heißt es bei Ruth Sprenger. Die Erfassung und Sammlung von Daten mithilfe von metrischen und informatorischen Verfahren wurden durch Berechnungen und Konstruktionsanleitungen im Bereich der Zuschneidekunst operationalisiert und fanden ihre materialisierte Ausprägung in Form von Kleidungsstücken. Der haptische und materielle Bezug, so betonen es Döring und Draude, trat im Vergleich zur Zahl dabei in den Hintergrund.115 Thematisiert wird im Folgenden auch die Wechselbeziehung zwischen der Entwicklung mathematisch-geometrischer Theorien der Zuschneidekunst und der Herausbildung der Konfektionsindustrie, die auf der Verfügbarkeit von vereinheitlichten Konfektionsgrößen und standardisierten, reproduzierbaren Schnittvorlagen basierte.116

Die Formalisierung der Zuschneidekunst als Teilbereich des Schneiderhandwerks geht somit einher mit der Herausbildung eines ingenieurwissenschaftlichen Wissens für die Bekleidungstechnik und Bekleidungsgestaltung, durch das die handwerkliche Kunstfertigkeit übersetzt wurde in systematisierte, mathematisch-geometrisch fundierte und empirisch erprobte Aussagen, die für die Rationalisierung und Optimierung der Fertigung von Bekleidung relevant waren und sind. Der Formalisierungsprozess der Zuschneidekunst ist geknüpft an ein Wissen, die Heterogenität der Wissenskomponenten erst einmal außer Betracht gelassen, das sich durch „eine von mehreren Individuen geteilte Fähigkeit zum sozialen Handeln“117 auszeichnet. Die Systematisierung des Wissens der Schnitttechnik ist in diesem Kontext eingebettet in einen institutionellen und ideellen Rahmen, in dem Wissen hergestellt, synthetisiert und zirkuliert. Die Gründung und Entwicklung der Europäischen Moden-Akademie bildet diesen Prozess der Wissensgenerierung und Wissensverbreitung durch die Etablierung einer bis dahin nicht existenten interaktiven Forschungs- und Lehrpraxis für das Schneidergewerbe ab. Die Akademie als Raum des Wissens, so lautet die These, ist beispielgebend für die Konstellationen, in denen handwerkliches Wissen kodifiziert und formalisiert wurde und sich ein neues Wissenskonzept, hier im Bereich der Bekleidungstechnik, herausbilden konnte.

Die soziale Realisierung und die damit verbundenen Praktiken der Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Zuschneidekunst im 19. Jahrhundert, eingebettet in die institutionelle Organisation der Europäischen Moden-Akademie, ihrer Akteure und Organe, führen zu einem weiteren essentiellen Aspekt des Formalisierungsprozesses. So gilt es die Formen des Wissens der Zuschneidekunst, die in ein kodifiziertes, anerkanntes Regelwerk übersetzt wurden, näher zu erörtern. Die Untersuchung der Forschungsarbeiten einzelner Akteure bzw. Mitglieder der Akademie und die damit einhergehenden Darstellungen und Zirkulation der Ergebnisse geben zum einen Aufschluss darüber, welches Wissen bzw. welche Formen des Wissens in den Prozess der Wissensgenerierung einflossen. Zum anderen wird erörtert, welches Wissen entscheidend für die Aneignung und die Anwendung in der Praxis war und noch ist. So wird im Rahmen dieser Arbeit das Wissen zergliedert und anschließend wieder zu einem, für die Zuschneidekunst inhärenten, ganzheitlichen Wissenskonzept zusammengeführt. In diesem Zusammenhang werden die Hand- und Lehrbücher einer Auswahl von Zuschneidern analysiert, durch die unterschiedliche Wissenskomponenten transparent werden, während darüber hinaus auch das Schnittmuster als materialisiertes Objekt des Wissens thematisiert wird.

Die Analyse der Wissensformen der Zuschneidekunst berührt somit Fragestellungen und Forschungsdesiderata der Wissensgeschichte. Als beispielhaft für das Wissen, das im Kontext der industriellen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts entstand, soll hergeleitet werden, wie bezüglich der Zuschneidekunst ein modernes, wissenschaftlich fundiertes Wissen aus handwerklichem Erfahrungswissen generiert wurde. Jakob Vogel betont die Bedeutung dieser Transformationsprozesse hinsichtlich der Herausbildung der modernen Industriegesellschaft und der Entstehung von Expertentum. Diesbezüglich verweist Vogel auch auf die Wechselbeziehung von Wissen und der Gestaltung industrieller Prozesse des 19. Jahrhunderts und auf die Koexistenz unterschiedlicher Formen und Systeme von Wissen, so dass ein wissenschaftliches Wissen nicht ohne Weiteres dem praktischen Wissen gegenübergestellt werden kann.118 Technische Wandlungsprozesse, so heißt es bei André Leroi-Gourhan, ruhen auf dem Auftreten des Handwerkers119 und der Handwerker verfügt über die Mittel der Hand, um somit „den Triumph der künstlichen Welt über die Natur zu erringen“120. Philipp Sarasin analysiert Wissen als ein historisches Phänomen. So gilt es danach zu fragen, wie und warum spezifische Wissensbestände auftauchen, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Zeitspanne dieses Wissen entsteht, angewendet und gegebenenfalls wieder in Vergessenheit gerät. Relevant sind in diesem Zusammenhang auch die Erforschung der Ursprünge des Wissens, welche Akteure an der Wissensproduktion beteiligt waren und in welchen Formen das Wissen verbreitet wurden.121 Daran anknüpfend dient die Zerlegung und Zusammensetzung der Wissensbestände der Zuschneidekunst dazu, zu erörtern, welchen Stellenwert die einzelnen Formen des Wissens im 19. Jahrhundert hatten, welchen Stellenwert das Wissen der Schnitttechnik im Verlauf der Geschichte grundsätzlich eingenommen hat und welche Elemente dieses Wissens gegenwärtig zentral sind in Lehre und Forschung. Bezugnehmend auf die von Daniel Speich Chassé und David Gugerli formulierten Desiderata an eine wissenshistorische Forschung, in der historische Konstellationen der Wechselbeziehungen von Wissen, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft zu untersuchen sind, rückt die Aneignung und Zirkulation von wissenschaftlich-technischem Wissen in der Alltagskultur in den Fokus.122 Diese Kultur und die Praktiken der alltäglichen Anwendung und Weiterentwicklung des Wissens der Zuschneidekunst sollen im Rahmen der Untersuchung der Europäischen Moden-Akademie und durch die Analyse der Schnittmethoden einzelner Akteure des Wissens rekonstruiert werden.

Die Verarbeitungstechnik im Bekleidungsfach ist laut Ruth Sprenger eine unabschließbar innovative Disziplin, die gekennzeichnet ist durch eine variable Mischung aus tradiertem Wissen, persönlich erarbeiteter Methode und gekonnter Improvisation123. Während Nico Stehr die marginale Rolle sowohl des praktischen, impliziten Erfahrungswissens und eines lokalen, personengebundenen Wissens im Rahmen der Produktion von wissenschaftlichem und technologischen Wissen hervorhebt, zeigt sich in der Analyse der unterschiedlichen Wissensbestandteile der Zuschneidekunst jedoch, welche essentielle Bedeutung der erfahrungsbasierten, individuellen Handwerkskunst für die Herausbildung einer Wissenschaft zugeschrieben werden muss.124 Die Synthese eines ganzheitlichen Wissenskonzeptes für die Zuschneidekunst, das anhand der Analyse der Schnittmethoden einer Auswahl von Zuschneidern, die als Akteure der Europäischen Moden-Akademie fungierten, erörtert wird, dient zum einem dem Nachweis der Signifikanz von impliziten, auf handwerklichen Kompetenzen beruhenden Wissensformen. Zum anderen soll der Beweis erbracht werden, dass das Wissen der Zuschneidekunst im 19. Jahrhundert die Grenze der Kodifizierung und Formalisierung erreicht hatte und dieses Wissenskonzept – unabhängig von technischen Entwicklungen im Bereich der Schnittgestaltung – noch immer seine Gültigkeit besitzt.

„Bei allem, was Menschen heute wissen müssen und wissen können – und das ist nicht wenig! –, fehlt diesem Wissen jede synthetisierende Kraft. Es bleibt, was es sein soll: Stückwerk – rasch herstellbar, schnell anzueignen und leicht wieder zu vergessen.“125 Mit diesen Worten kritisiert Paul Konrad Liessmann die gegenwärtige Situation im Bereich der Bildung und Wissensvermittlung. So gilt es „sich ein klares Bild von Zeiten und Umständen zu machen, über welche leider auch heute noch nur zu verschwommene und irrige Ansichten herrschen. Geschichte soll aber nie zu wenig getrieben werden; nur aus der Vergangenheit lernt sich die Gegenwart verstehen und begreifen“126, heißt es in Wilhelm Zinckes Darstellung der Geschichte der Schneiderinnung Berlins aus dem Jahr 1888. Die historische Rekonstruktion der synthetisierenden Kraft der Europäischen Moden-Akademie als Raum der Wissensgenerierung und Wissensvermittlung dient auch dazu, Gestaltungsspielräume für die Forschungs- und Lehrpraxis im Bereich der Bekleidungstechnik und Bekleidungsgestaltung aufzudecken. Gleichermaßen ermöglicht die Analyse der Wissensbestandteile der Schnitttechnik, technische Entwicklungen insbesondere hinsichtlich der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung im Bereich der Produktentwicklung zu hinterfragen. Behauptet wird diesbezüglich, dass das zunehmend vernachlässigte Arbeiten an der Materie und das damit verbundene Erfahrungswissen zu einer stetigen Erweiterung der Lücke zwischen dem Subjekt, dem arbeitenden Individuum, und dem Objekt, der Arbeit an einem realen Gegenstand, führt. Wissen geht somit verloren. In diesem Fall betrifft dies den Umgang des Schnittkonstrukteurs mit dem realen menschlichen Körper, die taktile und visuelle Arbeit des Körpers, des Auges und der Hand, das Verhältnis zum Endprodukt, zum Kleidungsstück, und zu denjenigen, die bekleidet werden. Die Erörterung des historischen Formalisierungsprozesses und die Identifikation der verschiedenen Wissenskomponenten können so auch die Grundlage für die Evaluation und Weiterentwicklung von technischen und digitalen Verfahren und Werkzeugen der Schnitttechnik bieten. Dies ermöglicht zugleich die Beurteilung der Qualität der Aus- und Weiterbildung hinsichtlich einer Optimierung der Vermittlung eines ganzheitlichen Wissenskonzeptes der Schnitttechnik.

1.4 Kategorien der Analyse und Quellenmaterial

Die vorliegende Forschungsarbeit umfasst die Analyse von drei wesentlichen Kategorien, die unter verschiedenen Fragestellungen die Erörterung der entscheidenden Elemente des Formalisierungsprozesses der Zuschneidekunst ermöglichen. Zu diesen Analysekategorien zählt zum einen die Institution der Europäischen Moden-Akademie, deren Geschichte rekonstruiert wird. Zum anderen umfasst der daran anschließende Teil der Arbeit die Darstellung des personengebundenen Wissens einer Auswahl von Akteuren der Dresdner Akademie. Zudem werden die materiellen und verschriftlichten Formen des Wissens, die Zirkulation des Wissens und die Dokumentation bzw. Repräsentation des Formalisierungsprozesses nachgezeichnet.

Basis für die Untersuchung der drei Schwerpunkte bildet ein zum Teil lückenhaftes historisches Quellenmaterial in Form von Denkschriften und Protokollen von Generalversammlungen, Schulprogrammen und Fachzeitschriften sowie Hand- und Lehrbücher der Zuschneidekunst des 19. Jahrhunderts. Der Fokus der Analyse liegt auf den Quellen, die einen direkten Bezug zur Europäischen Moden-Akademie aufweisen, obgleich weiteres Material herangezogen wird, um den historischen Kontext umfassend zu erfassen. Die Akademie als Raum des Wissens, konstituiert aus unterschiedlichen institutionellen Organen und den daran mitwirkenden Personen, spiegelt einen Rahmen wider, in dem das handwerkliche Wissen im Bereich der Schnitttechnik auf ein wissenschaftliches Niveau gehoben wurde. Wie bereits zuvor erwähnt, sind auch ähnliche Entwicklungen hinsichtlich der Systematisierung der Zuschneidekunst in anderen europäischen Ländern und in den USA zu verzeichnen. Zweck dieser Arbeit ist es jedoch nicht, einen umfangreichen Überblick über die internationalen Errungenschaften auf diesem Gebiet zu geben.127