Die neurotische Nation - Wolfgang Herles - E-Book

Die neurotische Nation E-Book

Wolfgang Herles

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Beschreibung

»Die Deutschen wollen stets mehr, als sie kriegen können, und haben am Ende immer weniger, als sie bekommen könnten.« Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung, Willkommenskultur: In den Augen der meisten Deutschen sind die vergangenen siebzig Jahre eine einzige Erfolgsstory. Doch wir reden uns unsere Geschichte schön. Bereits in den Jahren des Wirtschaftswunders begann die Überforderung des Sozialstaats, mit der Wiedervereinigung nahmen die Selbstzweifel an der Identität der Deutschen nicht ab, sondern zu, und die Willkommenskultur führte bis zum Kontrollverlust des Staates. Der prominente Fernsehjournalist und Schriftsteller Wolfgang Herles verknüpft meisterhaft die Geschichte der Bundesrepublik mit einem Psychogramm der deutschen Gesellschaft. Dabei zeigt er eindrücklich, wie die aus den unverarbeiteten Traumata der Deutschen – Nazidiktatur, Holocaust, Weltkrieg, Geldentwertung – entstandenen Ängste bis heute die Realität verzerren und einer zukunftsfähigen Politik im Weg stehen. Eine ebenso unkonventionelle wie erhellende Zeitreise durch die jüngste deutsche Geschichte.

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Seitenzahl: 385

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Für Fragen und [email protected]

 

EDITION TICHYS EINBLICK

Originalausgabe, 1. Auflage 2018

 

Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des 2008 erschienenen Titels Neurose D. Eine andere Geschichte Deutschlands

 

© 2018 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikro­film oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Redaktion: Daniel Bussenius

Korrektorat: Silvia Kinkel

Umschlagabbildung: dpa/Rohwedder (Ludwig Erhard), Porträtdienst (Kurt Georg Kiesinger), Alfred Hennig (Konrad Adenauer), Heinrich Sanden (Willy Brandt), Martin Athenstädt (Helmut Schmidt), Ulrich Baumgarten (Helmuth Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel)

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN Print 978-3-95972-139-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-254-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-255-1

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

EinleitungDas Ende der Gemütlichkeit

Die neurotische Republik

Der neurotische Stil der deutschen Gesellschaft

Populismus und Neurose

Freiheit üben

1945–1949BesatzungszeitEntzug und neue Versuchung

Glück im Unglück

Nationalisten und Sozialisten

Das Wunder, das keines ist

Sozialpolitik in deutscher Tradition

1949–1957Konrad AdenauerTherapeut im Kanzleramt

Nie wieder Weimar

Dämonisierung und Verharmlosung

Der Westen und die Nation

Die nivellierende Mittelstandsgesellschaft

1957–1966Konrad Adenauer und Ludwig ErhardDas Ende einer Ära

Gespaltenes Land, gespaltene Zungen

Der Therapeut dankt ab

Die Strauß-Affäre

Erhards Illusionen

1966–1969Kurt Georg KiesingerErmüdung und Aufruhr

»Gänsefüßchen«

Verpasste Chancen

Nicht trauen und nicht trauern

Achtundsechzig

1969–1974Willy BrandtAufbruch und Verrat

Koalition der Verlierer

Abflug ins Wolkenkuckucksheim

Der Kniefall

Vertrauensfragen

1974–1982Helmut SchmidtDas Ende der goldenen Jahre

Reformen, Reformstau, Reformgegner

Volksparteien im Richtungsstreit

Grüne Bewegung

Sozialliberales Ende

ZwischenspielWahn und HysterieDer Terror der RAF

1982–1990Helmut KohlDie selbstvergessene Republik

Geistig-moralische Wende

Parteienherrschaft, Parteienmissbrauch

Viel Lärm um wenig

Widersprüche vor dem Mauerfall

1990–1998Der Kanzler der EinheitEin Sieg der Tempokratie

Unglück im Glück

Zwei plus vier

Die dritte Republik

1998–2005Gerhard SchröderAus der Zeit gefallen

Nachgeburt der Bonner Republik

Von der Riester-Rente zur Agenda 2010

Erosion der Volksparteien

Rot, grün und national

2005–2013Angela MerkelKoalitionen und Krisen

Neuneinhalb Wochen

Halbgöttin in Weiß

Erschöpfte Volksparteien

Die Bankenkrise erreicht Deutschland

Schwarz-gelbe Koalition

Die Euro-Krise

Energiewende

2013–2018Deutschlands neue SpaltungWillkommenskultur – Abschied vom Konsens

Die dritte Große Koalition

»Wir schaffen das«

Jamaika scheitert – Merkel bleibt

Staatliche Ausbeutung und Misswirtschaft

Der Merkelismus und die Schwäche der deutschen Demokratie

Das Unbehagen an der Freiheit

Was bisher geschah

Lebenslügen

Das Schwindelgefühl der Freiheit

Wohin treibt die Bundesrepublik?

Einleitung Das Ende der Gemütlichkeit

Nach dem fürchterlichen Morden und nach der Zerstörung, die Hitler verschuldet hat, wird Deutschland geteilt. Im kleineren Teil, im Osten, entsteht ein Satellitenstaat Moskaus. Im Westen dürfen die Deutschen der Welt beweisen, wie viel Gutes in ihnen steckt. Sie werden mustergültige Demokraten, treue und friedliebende Bündnispartner. Unendlich fleißig, schaffen sie das Wirtschaftswunder. Wohlstand für alle lässt die neue Republik auch im Inneren zusammenhalten. Die soziale Marktwirtschaft der Bonner Republik wird zum weltweit bewunderten Modell. So gewinnen die Westdeutschen auch ihren Stolz zurück. Nur eines fehlt zu ihrem vollkommenen Glück: die Vereinigung mit den Brüdern und Schwestern im Osten. Nach dem Fall der Mauer hat die Geschichte endlich ein Einsehen. Die deutsche Einheit wird zum Motor der Europäischen Einigung, der Euro löst die D-Mark ab, und die Berliner Republik gewinnt an Ansehen in der Welt und an wirtschaftlicher Kraft. Ein Kind der ehemaligen DDR, die viermal gewählte Kanzlerin, wird als mächtigste Frau der Welt geschätzt und bewundert. Den demokratischen Deutschen ist fast alles geglückt. Sie haben aus der Geschichte gelernt und dem finstersten Kapitel ein Happy End angefügt.

 

Wohl die meisten Deutschen halten diese Erzählung alles in allem für zutreffend. So ist sie tausendfach zu hören und zu lesen, in Schulbüchern, Fernsehsendungen, Talkshows, Feierstunden. Doch sie ist ein Mythos. Und je schwieriger die Gegenwart erscheint, desto mehr verklärt sich der Blick auf die Vergangenheit dieser geglückten Republik.

In der Vergangenheit aber nisten auch die Gründe dafür, weshalb immer mehr Deutsche an der Fortsetzung der Erfolgsgeschichte zweifeln. Weshalb trotz glänzender ökonomischer Daten die Ängste steigen. Weshalb die Republik, die so stolz gewesen ist auf Solidität, Zusammenhalt und auf Konsens in allen wesentlichen Fragen, mit dem rapiden Wandel der Welt nicht zurechtkommt. Weshalb der inneren Einheit eine innere Spaltung zu folgen scheint.

Den Gründen für diesen Stimmungsabfall, für die begründeten Zweifel am Kurs der Republik und dem Zustand der deutschen Demokratie spürt dieses Buch siebzig Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik nach.

Ein Grund ist gerade schon deutlich geworden. In der Verklärung der Vergangenheit nistet das Versagen in der Gegenwart. Geschichte ist nie objektiv, sondern immer auch ein Instrument der Politik und der jeweils herrschenden Ideologie. Geschönt und imprägniert von Täuschungen und Selbsttäuschungen, verklärt sie die Vergangenheit. Sie entscheidet darüber mit, wie die Gesellschaft ihre Zukunft gestaltet. Grob gesagt: Geschichtsbilder gewinnen Wahlen. Sie verraten, welche Überzeugungen und Mentalitäten in einem Land fest verwurzelt und nur schwer veränderbar sind. »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.« Was Max Frisch im Roman (Mein Name sei Gantenbein) feststellt, gilt auch für Gemeinschaften, seien es Familien, Parteien oder die Bürger eines Staates.

Wie das, was geschehen ist, weitererzählt wird, wie die Deutschen es zu ihrer Selbstbestätigung benutzten und zurechtstutzten, was sie hervorheben, schönen und verschweigen, was sie tabuisieren und verdrehen, verrät viel über ihre geistige Befindlichkeit, über ihre Wünsche, Ängste, Illusionen und Utopien.

Es ist üblich geworden, Nachkriegsgeschichte als gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen. Die Absicht ist unverkennbar politisch. Die Einheit der beiden deutschen Staaten soll als das große, von Beginn an heiß begehrte Ziel aufleuchten, die Geschichte der Bonner Republik als bloße Vor- und Teilgeschichte relativiert und dem Kontext der Nationalgeschichte untergeordnet werden. Daran beteiligt sich dieses Buch nicht. Die Bonner Republik geht bis 1989 einen eigenen, der Geschichte der DDR fundamental entgegengesetzten Weg. Er ist mit dem Beitritt der DDR zu Ende. Verfassungsrechtlich war es lediglich ein Beitritt, politisch und ökonomisch aber verwandelt der Zusammenschluss ganz Deutschland fundamental. Zwar werden 1990 die Ostdeutschen zu Mitbürgern, nur ist die Bundesrepublik jetzt nicht mehr das Gelobte Land, von dem sie geträumt hatten.

Denn das Ende des großen Dualismus von Ost und West, von Kommunismus und Kapitalismus, hat die ganze Welt in ein neues, womöglich noch zerstörerischeres Abenteuer gestürzt. Die politische Wende fällt zusammen mit einer technologischen und wirtschaftlichen Revolution ungeheurer Tragweite. Dem nun in Lichtgeschwindigkeit um die Welt jagenden Kapital setzen die Nationalstaaten – also die modernen Demokratien – nichts entgegen. Im Gegenteil: Ost wie West befördern die Globalisierung und ignorieren ihre Gefahren.

Auch der Exportweltmeister Deutschland spürt nun das Ende der Gemütlichkeit. Die Friedensdividende am Ende des Kalten Kriegs ist rasch aufgebraucht. Mit diesem Wandel haben nicht bloß die Deutschen zu kämpfen. Aber nun stellen sich alte Fragen noch einmal ganz neu. Warum stehen sich die Deutschen so beharrlich selbst im Weg? Warum tun sie sich so schwer, ihr Land auf die veränderten ökonomischen Bedingungen der Welt einzustellen? Warum versagen dabei die Parteien und das politische System? Warum ist Freiheit den Deutschen weniger wert als soziale und innere Sicherheit? Weshalb bremst der Sozialstaat Wachstum und Wohlstand? Warum ist Deutschland überreguliert? Warum verachten die Deutschen politischen Streit? Warum macht die Einheit so viele Deutsche gar nicht glücklich? Weshalb glauben die Deutschen nach den bösen Erfahrungen ihrer Geschichte schon wieder an Sonderwege, nur eben diesmal ins Gute gewendet – sei es in der Energie-, sei es in der Einwanderungspolitik?

 

Grundlage dieses Buchs ist die Tatsache, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften – Familien, Firmen, Gesellschaften – unter neurotischen Störungen leiden können. Geschichtsschreibung ist immer auch ein Blick in die Psyche von Nationen und Gesellschaften. Denn hinter Ereignissen und Entwicklungen stehen Motive, Einstellungen, Ängste. Man muss wahrlich kein Psychologe sein, um Störungen im kollektiven Verhalten der Deutschen zu erkennen. Ihre Stimmung neigt zu abrupten Schwankungen. Mal erscheinen sie niedergedrückt und gepeinigt von »German Angst«, mal wie besinnungslos vor Begeisterung von sich selbst, wie während der Fußballweltmeisterschaft 2006. Mal übernehmen sie sich im Jubel ihrer Willkommenskultur, mal stürzen sie sich in eine Energiewende, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Und statt die Herausforderungen im demokratischen Streit auszutragen, grenzen sie moralisierend aus, was dem herrschenden Meinungsmainstream widerspricht.

Wenngleich traditionell unfähig zum Umsturz oder auch nur zu durchgreifender Reform, steigern sich die Deutschen mal in maßlose Verdrossenheit über Politik und Parteien, mal besingen sie die Großartigkeit ihrer Kanzlerin. Sie scheinen ihre Nervosität selbst als Störung zu empfinden. Warum sonst sollten sie so sehnsüchtig sein nach Normalität, nicht wissend, was das ist, und ahnend, wie unerreichbar es ist. Zufrieden sind die Deutschen nie wirklich mit ihrem Land. Dafür haben sie Gründe. Nur sind diese Gründe andere, als sie selber ­glauben.

Die Deutschen wollen stets mehr, als sie kriegen können, und haben am Ende immer weniger, als sie bekommen könnten. Denn ihr Missvergnügen resultiert aus dem Missverhältnis zwischen Realismus und Wunschdenken, zwischen gesetzten und erreichbaren Zielen.

Ist diese Republik also neurotisch? Es würde den Rahmen einer Geschichtserzählung sprengen, wollte sich der Autor auf die verschiedenen, miteinander im Streit liegenden psychologischen Definitionen und Theorien einlassen. Unbestritten ist selbst unter Psychologen, dass Neurosen innerpsychische Konflikte sind, die es den davon Betroffenen erschweren, sich der Realität anzupassen. Neurotizismus gilt als eine der (fünf) Skalen oder Dimensionen, mit denen Persönlichkeit beschrieben und gemessen werden kann.1 Die Dimension des Neurotizismus erfasst Merkmale wie Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression, Verletzlichkeit.

Solche Merkmale bestimmen auch die Politik. In problematischen Phasen zeigen sie sich stärker als in stabilen. Neurotiker lassen sich unverhältnismäßig leicht ängstigen, aufregen, frustrieren. Ursache und Auslöser von Neurosen sind fortgesetzte traumatische, schlecht verarbeitete Erlebnisse, böse Erinnerungen, aber auch Phantasien und Wunschvorstellungen. Böse Erinnerungen haben die Deutschen in reichem Maße, aber auch Wünsche, Illusionen, Utopien, offen benannte und unausgesprochene.

Ist auch die strudelnde, also nicht von der Stelle kommende Erregbarkeit der Deutschen noch immer dem großen Trauma geschuldet, dem Dreh- und Angelpunkt der jüngeren Geschichte? Zusammenhänge sind unverkennbar, aber sie erklären nicht alles. Nach der totalen Katastrophe, mit der das Dritte Reich endete, ist die Bundesrepublik Deutschland durchaus das Resultat einer gelungenen Therapie. Aber wie jede wirksame Therapie zeitigt sie Nebenwirkungen. Die Deutschen zahlten und zahlen für ihre Auferstehung einen Preis, der auch heute und in Zukunft noch fällig ist.

Lange haben die Deutschen den Niedergang ihres Wohlfahrtsstaats übersehen, und sie wollen ihn noch immer nicht wahrhaben. Die Bonner Republik ist verloren, und erneut leiden die Deutschen an der Unfähigkeit, den Verlust zu verarbeiten. In der Geschichte der Bundesrepublik ist immer wieder zu beobachten, wie unübersehbare Tatbestände und Entwicklungen ausgeblendet, verdrängt, verleugnet werden.

Andere Länder erfahren andere Traumata und reagieren darauf mit anderen Neurosen, mit anderen Strategien, Politik an der Wirklichkeit vorbei zu betreiben. Das Trauma des 9/11 etwa führte dazu, dass die USA Bürgerrechte unterminieren, Menschenrechte verletzen, sinnlose Kriege führen. Doch hier geht es nicht um die Neurose Amerikas, sondern um die Deutschlands. Ihr liegen andere historische Erfahrungen zugrunde, der totale militärische wie moralische Zusammenbruch, die Zerstörung des Nationalstaats. Falsche Politik ist immer auch historisch-psychologisch erklärbar.

Ängste sind dann neurotisch, wenn sie ihre Ursachen nicht in objektiven Bedrohungen, sondern in inneren Konflikten haben. Politik ist neurotisch, wenn sie sich aus Angst auf bestimmte Gefahren fixiert und dabei andere, gravierendere Bedrohungen verkennt. Die Angst vor »Rechts« führt dazu, dass die Folgen unkontrollierter islamischer Zuwanderung verdrängt werden, auch die Gefährdung des Sozialstaats. Die Digitalisierung wie die demografische Zeitbombe gehen an die Wurzel des deutschen Sozialsystems. Die Politik jedoch verweigert sich den sich daraus zwingend ergebenden Konsequenzen. Mangelnder Realismus bei der Einschätzung von Risiken ist neurotisch.

Die Geschichte der Bundesrepublik erzählt also nicht nur davon, was tatsächlich geschah, sondern auch davon, was die Politik übersah und versäumte und welche Irrtümer sie noch immer begeht. Es ist leicht begreiflich, dass die Unterschlagung der Realität mit erheblichem seelischen Aufwand und mit Kosten verbunden ist. Kosten im doppelten Sinne: den materiellen Folgen unterlassenen Handelns wie auch den politischen Kosten, die entstehen, wenn notwendige Debatten unterdrückt werden.

Die neurotische Republik

Die »neurotische Disposition« der Deutschen, ihre »dünne Haut«, ­ihren »gebrochenen Stolz« konstatierte die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann schon vor vielen Jahren. Als Beleg führte sie beispielsweise an, dass der Riss zwischen den Generationen in den bewegten Jahren nirgendwo tiefer war als in der Bundesrepublik. In den USA teilen signifikant mehr Eltern und ihre (über 18-jährigen) Kinder »ähnliche Ansichten«, was Moralvorstellungen, Einstellungen zur Sexualität, Religion und Politik angeht, als in der Bundesrepublik Deutschland.2 So lange (gemessen wurde 1982) wirkte offenbar die Nazi-­Zeit nach. Die Deutschen haben damals auch den geringsten Stolz auf ihre Nation, bezeichnen sich im Weltmaßstab am wenigsten als »glücklich«, sind aber nicht nur bedrückter, sondern fühlen sich auch häufiger als alle anderen befragten Völker im siebten Himmel. Sind die Deutschen manisch-depressiv? Hat sich das seit der Wiedervereinigung geändert?

Für den abrupten Wechsel von der depressiven zur manischen Phase sorgt der ungewöhnlich freundliche Sommer mit der Fußball-WM 2006. Die Deutschen sind immer wetterfühlig, im einfachen wie im metaphorischen Wortsinn. Aber wie immer, wenn sie sich besser fühlen, genügt ihnen das nicht. Die Empfindung muss sofort überhöht, transzendiert, problematisiert werden. Selbst Angenehmes bekommt etwas Zwanghaftes.

So debattieren die Deutschen in diesem schönen Sommer mit seltsamer Inbrunst die Frage, ob sie stolz sein müssten auf ihr Land. Es bleibt jedem unbenommen, stolz zu sein, auf was auch immer er Lust hat. Aber in Deutschland werden darüber Abhandlungen verfasst und Talkrunden zu Tode geritten, und die Möglichkeit wird zur dringenden Aufforderung zugespitzt. Man darf nicht stolz sein, man muss. Der Stolz wird zum Patriotentest. Wer darüber lacht, erweckt den Verdacht, dass er aus Gründen lacht. Schnell mischt sich in das Hochgefühl ein strenger Geruch, ein scharfer Ton. Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können, trompetet ein als Patriot wiedergeborener und deshalb besonders missionarisch tönender Spiegel-Redakteur3 schon im Titel seines Buches, das es unter den obwaltenden Umständen zum Bestseller bringen muss. Wer nicht weiß, worauf genau er stolz sein soll, dem hilft eine Hochglanzpublikation 250 Gründe, Deutschland zu lieben.4 Angela Merkel gehört zu den Gründen, aber auch Babynahrung von Hipp, die Mülltrennung und der deutsche Schäferhund. Das soll normal sein?

Es muss einen tief in der deutschen Psyche vergrabenen Grund geben, weshalb ein Sommermärchen nicht einfach nur als eher seltene meteorologisch-sportliche Gelegenheit gesehen werden kann, sondern sich sofort tiefe Überlegungen anschließen müssen, wie daraus ein Dauerzustand werden könnte. Der Sommer der Fußballweltmeisterschaft 2006, der Sommer der Patrioten ist leicht und locker also nur auf den ersten Blick. Hoch entzündbar bleiben kaum verschorfte Wunden. Es zeigt sich schnell, wie wenig weit die neue Coolness reicht.

Ein Beispiel. Günter Grass, Sinnbild des moralisch unanfechtbaren Deutschen, zum Gewissen der Nation aufgestiegener Nobelpreisträger, Adenauer- wie Kiesinger-Verächter, Hofprediger Brandts, hatte es jahrzehntelang versäumt, mitzuteilen, dass er für einige Monate in der Waffen-SS gedient hatte. Eine lässliche Jugendsünde, gewiss, an sich kaum der Rede wert. Aber welch Geschrei hebt an, als Grass dies Beim Häuten der Zwiebel seines Lebens nachträgt! Tränen der Selbstgerechtigkeit und der falschen Entrüstung fließen. Grass will nicht einsehen, dass es seine Pflicht gewesen wäre, den eigenen Hof zu kehren, ehe er den Kehricht in Nachbars Garten beklagt. Seine Gegner wiederum erwecken den Eindruck, als hätten sie nur darauf gewartet, und führen sich auf, als sei nun der Rest des Grass’schen Lebenswerkes entwertet. Normal ist beides nicht.

Die Deutschen taten sich nach dem Krieg schwer, einzugestehen, die totale Katastrophe ausschließlich selbst verschuldet zu haben. Sie neigen heute dazu, die Globalisierung zu dramatisieren und zu verteufeln, um von den hausgemachten Gründen des Niedergangs abzulenken, der durch ein vorübergehendes Konjunkturhoch noch nicht aufgehalten ist. Sie müssen Abschied nehmen von dem, was nicht wiederkommt, und ihre Energie der Modernisierung des Landes widmen. Das Ende der vertrauten, der Bonner Republik, der enorme Wandel werden als traumatische Kränkung empfunden.

Der neurotische Stil der deutschen Gesellschaft

Individuen wie Staatswesen müssen ein bestimmtes Maß an Frustration ertragen können. Schaffen sie es nicht, werden sie neurotisch. Die Erkenntnis, dass nicht nur Individuen neurotisch sind, sondern auch Kollektive, hat sich in der Wirtschaftspsychologie längst durchgesetzt. Ängste machen auch Firmen neurotisch. Auch wenn sie komplexer sind als Gesellschaften mit beschränkter Haftung, trifft das für Gesellschaften von Staatsbürgern ebenfalls zu.

In großen Organisationen bilden sich auf allen Ebenen, in der Führung wie an der Basis, neurotische Stile aus. Sie erschaffen Mythen, die von den Mitgliedern des Kollektivs übernommen werden. Sie prägen auch ihr Geschichtsbild. Geschichte stiftet nicht nur Identität, sondern beeinflusst auch die Wertehierarchie einer Gemeinschaft und damit ihre politischen Entscheidungen.

Manfred Kets de Vries und Danny Miller haben erforscht, wie psychologische Faktoren Erfolg und Misserfolg von Firmen beeinflussen.5 Sie beschreiben fünf neurotische Stile, die nahezu deckungsgleich sind mit den Formen individueller Neurosen.6 Sie unterscheiden paranoide, kompulsive (zwanghafte), dramatische, depressive und schizoide Organisationen.

Die paranoide Organisation ist getrieben von Verfolgungswahn. Verdächtigungen und Misstrauen bestimmen das Verhalten ihrer Führung. Autoritäre Regime sind in aller Regel paranoide Organisationen.

Die dramatische (oder hysterische) Organisation kreist narzisstisch um sich selbst. Sie überreagiert auf Veränderungen, macht sich gewissermaßen selbst verrückt.

Die depressive Organisation ist gefangen in einem Gefühl der Unterlegenheit und Hilflosigkeit gegenüber drohenden Herausforderungen.

Die schizoide Organisation wiederum weiß nicht, für welchen Weg sie sich entscheiden soll. Sie erscheint als kalt und indifferent. Es fehlen Engagement und Begeisterung. Ebenso wie die depressive Organisation leidet die schizoide Gesellschaft an einem Leitungsproblem. Das Management weiß nicht, was es will. Es setzt sich nicht durch, ist selbst von der Angst bestimmt, Fehler zu machen und zu scheitern. »Häufig wird die schizoide Gesellschaft zu einem politischen Schlachtfeld«,7 weil die Unzufriedenheit mit der ersten Führungsriege Mitglieder der zweiten Führungsriege dazu verführt, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Entscheidungen werden eher nach politischen Kräfteverhältnissen getroffen als aufgrund der Tatsachen. Es herrscht ein Klima des Misstrauens.

De Vries und Miller sprechen von Industriemanagern, nicht von Angela Merkel, den Ministerpräsidenten der CDU und der Großen Koalition. Aber es hört sich ganz so an: »Es gibt keine einheitliche und geschlossene Strategie. Der Führer ist unsicher, zurückgezogen und unverbindlich. Er scheint an der Organisation kein Interesse zu haben und lehnt es ab, irgendeine schlüssige, konsequente Position zu vertreten; er schwankt zwischen den Vorschlägen der bevorzugten Untergebenen. Deshalb kommen von oben keine klaren Direktiven. Die tatsächliche Macht über die Strategie üben wechselnde Bündnisse karrierebewusster Manager aus der zweiten Reihe aus, die den entscheidungsschwachen Führer zu beeinflussen suchen und gleichzeitig ihre eigenen Projekte vorantreiben und ihre eigenen kleinen Herrschaftsgebiete sichern. Das Ergebnis ist eine Organisation, die sich durchwurstelt und dahintreibt, an der einen Stelle wirksame Reformen vollzieht, aber sie zurückdreht, sobald eine neue Gruppe von Managern aufsteigt. So wird Strategie mehr das Ergebnis von Einzelinteressen, Macht und politischer Spiele als das Ergebnis objektiver Bedrohungen und Herausforderungen der Umwelt.«8 Besser kann man den Zustand der deutschen Politik nicht beschreiben. Die politischen Strukturen der Bundesrepublik und ihr Führungspersonal zeigen also ganz offensichtlich Merkmale einer schizoiden Organisation.

Es war immer so. Der Rentenbetrug in regelmäßigen Abständen ist nicht allein der Unaufrichtigkeit der Parteien vor Wahlen geschuldet, sondern immer auch der Unfähigkeit, die Realität wahrzunehmen. Entscheidungen der Koalition zielen in gegensätzliche Richtungen. Jede neue Gesundheitsreform will den Wettbewerb stärken, zugleich behindert sie ihn. Der Klimawandel erhält höchste Priorität, aber mit der notwendigen Vermeidung des Kohlendioxyds wird es nichts, weil die Energiewende von Ideologie statt vernünftiger Planung geprägt ist. Die Deutschen zahlen die höchsten Energiepreise und gefährden die Versorgungssicherheit.

Die außergewöhnliche Häufung von Widersprüchen und Parado­xien in der deutschen Politik über die Jahrzehnte hinweg kennzeichnet ihr neurotisches Wesen.

Noch ein zweiter neurotischer Stil prägt die deutsche Politik. Sie ist zwanghaft. In einer zwanghaften Organisation wird alles bis ins letzte Detail geplant, selbst das, was nicht planbar ist. Realität bedeutet ständigen Wandel. Wer den Wandel nicht akzeptieren kann, wer sich ihm verweigert oder glaubt, ihn programmieren zu können, verfehlt die Wirklichkeit, lässt Offenheit, Kreativität, Vielfalt, kontroverse Konzepte nicht zu – kurzum: er verhält sich neurotisch. In Deutschland wird nichts dem Zufall überlassen. Beherrschbar ist der Lauf der Dinge trotzdem nicht. Am vermeintlich Bewährten wird länger als zuträglich festgehalten. »Die Traditionen sind so stark, dass Strategien und Strukturen anachronistisch werden. Die Verhältnisse sind so programmiert, dass bürokratisches Fehlverhalten, mangelnde Flexibilität und unangemessene Antworten«9 auf die Probleme der Zeit die Organisation dominieren. Eigenverantwortung, Spontaneität, Unkonventionalität stehen unter dem Verdacht der Regelverletzung. Es herrscht ein Übermaß an Regularien, Vorschriften, Richtlinien. Sie umfassen alle Bereiche, lassen keine Freiräume. »Psychologisch gesehen handelt es sich bei der Überregulierung um eine Kontrollsucht.«10

Die zwanghafte Organisation schließlich ist stark hierarchisch gegliedert. Nicht die beste Idee zählt, sondern der Status dessen, der einen Vorschlag macht. Angela Merkels Alleingänge in der Energie- wie in der Migrationspolitik sprechen Bände. Das Management verhält sich selbst zwanghaft. Die Sicherung der eigenen Macht ist ihm wichtiger als die Qualität seiner Konzepte und Entscheidungen. Es fürchtet unkontrollierbare Veränderungen.

Diese Selbstfesselung, so fanden de Vries und Miller heraus, hat mit Abschnitten in der Firmengeschichte zu tun, in denen die Kontrolle über das Geschehen verloren wurde. Das ist in der Politik nicht anders. Das Trauma der Weimarer Republik wirkt auf diese Weise bis heute nach. Die Führung in zwanghaften Firmen und zwanghaften Staaten ist nicht in der Lage, sich entschieden genug auf neue Verhältnisse einzustellen. Dies führt zu einander widersprechenden Entscheidungen. Worin sie einmal erfolgreich war, daran hält die Führung unbedingt fest, auch wenn sich der Markt (die Welt) längst geändert hat. Fixiert auf bestimmte Denkweisen, verlieren zwanghafte Organisationen die Fähigkeit, sich neu zu orientieren. Wenn überhaupt, kommen Veränderungen nur nach langen Perioden des Misserfolgs und der Unsicherheit zustande. Die zwanghafte Organisation kann Veränderung außerhalb der eigenen Firma – des eigenen Landes – lange erfolgreich ignorieren. Auch in diesem Sinn ist Deutschland fraglos eine neurotische Republik.

Die positive Kraft, die in einer nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaft steckt, ist ins Zwanghafte umgeschlagen. Dem Zwanghaften macht es keine Mühe, sich der selbst verfügten Ordnung zu unterwerfen. In ihr fühlt er sich wohl. Als Zumutung empfindet er die, die diese Ordnung ändern wollen. Der seine Ordnung liebende Deutsche muss ausnahmslos alles regeln, in Reih und Glied bringen. Die deutsche Ordnungsliebe verschafft den meisten Deutschen ein wohliges Gefühl, ein Gefühl der Sicherheit. Auf der Strecke bleiben Phantasie, Kreativität, Eigensinn, Wettbewerb. Ändern sich die Umstände und Bedingungen des Spiels, verhindert die alte Ordnung, das Ziel zu erreichen.

Warum aber bedauern alle Seiten die Überregulierung des Staates, wenn doch zugleich die Abschaffung jeder einzelnen Vorschrift immer auch für unmöglich, ungerecht oder unzumutbar erklärt wird? Eine neurotische Strategie besteht darin, innere Zwänge zu Sachzwängen zu erklären. In Wahrheit sind die vermeintlichen Sachzwänge aber nur das Resultat psychischer Konflikte. »Das innere Skelett der Neurosen wird ersetzt oder doch ergänzt durch die äußeren Panzer der staatlichen Gesetze und Dekrete; aus einem Wirbeltier wird ein Schalentier. Es handelt sich nicht um die Flucht vor der Freiheit, sondern um die Flucht aus einer – der inneren – Unfreiheit in eine andere, die äußere, die des Staates.«11

»Wir jammern noch immer zu sehr nach Papa Staat«, stellt Margarete Mitscherlich fest. »Um es mit Freud zu sagen: Es ist ein menschliches Bedürfnis, wieder Kind zu sein und die schützende Hand des Vaters über sich zu spüren. Dieser Wunsch ist in Deutschland, das zu lange keine Demokratie war, sehr ausgeprägt.«12 Im Osten, der noch länger Diktatur war, ist dieser Wunsch deshalb zunächst noch stärker als im Westen. Aber als die Bürger in der ehemaligen DDR sich vom Merkel-Regime zunehmend an das alte Regime erinnert fühlen, verlieren sie das Vertrauen in die real existierende Demokratie der Bundesrepublik schneller als die meisten Westdeutschen.

Neurotische Hintergründe sind in der Geschichte der Bundesrepublik in allen Phasen zu erkennen. Angstneurosen sind Abwehrmechanismen gegen fundamentale Ängste, deren Ursachen lange zurückliegen und sogar über Generationen weitergegeben werden können. Zum Beispiel ist die übertriebene Angst der Deutschen vor Inflation und Vermögensverlusten eine Folge zweifacher totaler Geldentwertung. Die Angst vor der Machtübernahme einer Partei führte zu einem Wahlsystem, das klare Mehrheiten verhindert und damit die Republik blockiert. Dennoch hält Deutschland zwanghaft daran fest.

Die neurotische Republik und die Neurosen der einzelnen Wähler korrespondieren miteinander. Denn individuelle neurotische Dispositionen wirken sich natürlich im Wahlverhalten aus; Neurotiker, ob nun Wähler oder Politiker, tragen ihre Ängste in die Politik. Umgekehrt ängstigen politische Entwicklungen und Ereignisse den Neurotiker und prägen sein Verhalten. Weil Politik so komplex ist, bietet sie sich »geradezu als jener Raum an, wo der Einzelne seine neurotischen Verbote und Gebote durch Nichtwahrnehmung der Wirklichkeit schützen kann. Je geringer der Informationsgrad in der Politik, desto freier die Bahn für das Ausleben von Neurosen; wo der Intellekt nicht hinreicht, haben die Affekte ein leichtes Spiel.«13

Populismus und Neurose

So gesehen ist Populismus im Wesentlichen nichts anderes als die Anerkennung der Neurosen als Leitlinie der Politik. Politiker sprechen nur nicht über die Neurosen ihrer Wähler, geschweige denn über ihre eigenen. Dennoch sind die Politiker besonders erfolgreich, die es am geschicktesten verstehen, die neurotischen Ängste ihrer Wähler zu instrumentalisieren. Die drei Politikertypen, die Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt definierten, sind vielfach beschrieben worden, und sie erweisen sich als praxistauglich – gerade in der Populismusdebatte.

Der Amtsinhaber teilt die Neurosen seiner Wähler. Er repräsentiert sie und steht in ihren Diensten. Sein politischer Erfolg besteht darin, dass er seinen Wählern »ein Bild der Realität anbietet, in dem alle beunruhigenden und angstmachenden Elemente fehlen ... ihre Phobien und Zwänge sind die seinen; ihre Borniertheit ist die seine; ihre Erlösungsphantasien sind die seinen«. Mit dem Ergebnis, dass er in den Augen seiner Wählerklientel »einer der ihren« ist.14 Der Amtsinhaber eröffnet keine neuen Perspektiven, er sitzt Dinge aus, verdrängt Probleme und verleugnet sie. Helmut Kohl war vor der Vereinigung der Prototyp eines Amtsinhabers.

Der Staatsmann wirkt den Ängsten der Wähler entgegen, verhilft ihnen »zur Herrschaft über ihre Neurosen«. Er hat »die neurotische Enge und Ängstlichkeit ... für seine Person überwunden«15 und ist in der Lage, den Wählern »Chancen zu erschließen, die sie bis dahin nicht einmal sahen, geschweige denn nutzen wollten, ihnen die Augen zu öffnen für Risiken, die sie bis dahin nicht erkennen durften«.16 In diesem idealen Sinn ist nicht einmal Adenauer ein wahrer Staatsmann gewesen. Adenauer war ein Therapeut. Gute Therapeuten verlangen nicht zu viel, und sie wissen, wie begrenzt die Änderungsfähigkeit ihrer Patienten ist. Adenauer schuf bestenfalls Bedingungen, die Heilungschancen in der Zukunft, in kommenden Generationen versprachen; aber selbst er stand im Dienst der Neurosen der Deutschen, auch wenn er sie durchschaute und sie sogar fürchtete. Das gilt auch für Willy Brandt. Manch unvernünftige Wucherung des Sozialstaats ist so zu begreifen. In der Phase des DDR-Beitritts zeigte Helmut Kohl Züge eines Staatsmanns, in der Frage der Finanzierung und Umsetzung allerdings zeigte sich seine Politik dann doch wieder nur als die eines Amtsinhabers, der außerstande war, die Situation mit Augenmaß und Vernunft zu meistern.

Der dritte Politikertypus ist der des Demagogen, der die Neurosen seiner Wähler missbraucht. Bisher blieben der Bundesrepublik demagogische Bundeskanzler erspart. Das muss nicht so bleiben. Angela Merkels Moralismus in der Migrationskrise trug zumindest demagogische Züge. Sie ist keine Staatsfrau, die die Nation energisch durch den Irrgarten ihrer Neurosen führt wie einst Adenauer. Sie ist aber auch nicht bloß Amtsinhaberin, die die Neurosen ihrer Landsleute teilt. Mit dieser Typologie ist sie nicht zu erklären.

Andere Typologien unterscheiden zwischen charismatischen und bürokratischen Führern oder zwischen Agitatoren und Administratoren.17 Auch Max Weber trennt zwischen charismatischem und legalem Herrschertyp. Merkel ist sicher keine charismatische Führerin. Aber sie entspricht offenbar den Bedürfnissen der meisten Deutschen. Sie wollen einen Führer, der nicht führt, der ihnen die Illusion schenkt, sie seien, trotz aller Schwierigkeiten, mit sich selbst im Reinen. Die Angelegenheiten der Republik sollen ihr Wohlbefinden nicht trüben. Merkel ist keine Therapeutin, eher eine Pflegekraft. Sie lindert Symptome, ohne sie zu kurieren. Sie tut gut, ohne gut zu sein. Zumindest im ersten Teil ihrer vierteiligen Kanzlerschaft ist dies so gewesen. Fest steht inzwischen jedoch, dass die Kanzlerin Merkel die Bundesrepublik schlechter regiert hat als alle ihre Vorgänger. Erst hat sie die Gesellschaft entpolitisiert, dann durch unüberlegte Entscheidungen gespalten, ohne von ihrer Partei oder vom Parlament oder von der Mehrheit der Wähler daran gehindert zu werden.

Die Deutschen suchen Erfüllung und Glück niemals nur im privaten Leben. Dazu fehlt es ihnen an Ich-Stärke. Deshalb suchen sie Harmonie in Staat und Politik. Eine pluralistische, moderne Gesellschaft aber muss mit wachsenden Spannungen kreativ umgehen können. Politiker wären nötig, die sich nicht bloß als Moderatoren verstehen und sich dabei am Ende doch immer nur dem vorherrschenden Meinungstrend anschließen.

Freiheit üben

Wie wären die Deutschen zu kurieren? Die Therapie psychoanalytisch anzulegen wäre historisch interessant, würde aber viel zu lange dauern. Das Ziel muss sein, Dispositionen und Mentalitäten zu ändern. Mehr Erfolg verspricht deshalb eine Verhaltenstherapie von der Art, wie sie beispielsweise gegen Höhenangst oder Klaustrophobie sinnvoll ist. Es geht auch in diesem Fall um den Abbau tief sitzender Ängste, und dabei ist es eher unwichtig, wie sie erworben und gelernt wurden, entscheidend ist, was sie akut auslöst und wie man sie wieder los wird.

Emotionale Hindernisse müssen überwunden werden. In der Verhaltenstherapie gelingt dies durch Erfahrung. Der Therapeut erklärt dem unter Flugangst Leidenden, wie ein Flugzeug funktioniert, und übt mit ihm fliegen. Negative Gefühle werden in einen vernünftigen Kontext gebracht. Wie aber übt man Freiheit ein? Es ist zweifellos leichter, mit einem von Höhenangst Besessenen auf den Eiffelturm zu steigen, als einen deutschen Gewerkschaftssekretär von der notwendigen Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu überzeugen.

Ohne den Einsatz des Verstandes ist so eine Therapie nicht möglich. Es wäre durchaus möglich, ein rationaleres Verhältnis zum Staat zu entwickeln. In der Bonner Republik hat man das Verfassungspatriotismus genannt. Er wurde als halbgares Bekenntnis zum Vaterland verworfen. Verfassungspatrioten fehle die inbrünstige Liebe zu ihrem Land, hieß es, sie sähen den Staat nicht als Verkörperung ihres Volks, sondern bloß als gesellschaftlichen Mechanismus. Aber genau das könnte der Ansatz der Therapie sein. Dieser Staat ist überfrachtet mit Gefühlen, Wünschen, Sehnsüchten, Erwartungen, die er niemals erfüllen kann. Der Staat ist kein Garant des Glücks. Die Deutschen brauchen mehr Vernunft dringender als mehr Vaterlandsliebe.

Auf der Suche nach den Quellen des deutschen Wesens beschrieb der große liberale Kulturphilosoph Isaiah Berlin die Romantik als geistige Vorgeschichte des deutschen Desasters und kam zu dem Schluss, dass sie »in einer Art Wahnsinn«18 endet. Verwenden wir für einen Augenblick also den Begriff der Romantik als Synonym für die seelische Störung der Deutschen. Rüdiger Safranski beschreibt, wie eine schwärmerische philosophisch-literarische Bewegung aus der Zeit der napoleonischen Herrschaft allmählich pervertiert. Die Politisierung der Kunst als Demokratieersatz wird zu einer Art Religion, was zur Verherrlichung der Macht und zum Kollektivismus führt. Hitler ist dann die Perversion eines Romantikers. Das große Missverständnis der romantischen Deutschen ist, »dass man in der Politik etwas sucht, was man dort niemals finden wird: Erlösung, das wahre Sein, Antwort auf letzte Fragen, Verwirklichung der Träume«.19

Die Romantik ist Gegenmacht zu Rationalismus und Materialismus in der industriellen Revolution. Noch immer sind die Deutschen in ihrer Seele Romantiker, wenn sie die Mächte der Globalisierung mit wirklichkeitsfremden Vorstellungen bekämpfen. Ein Mangel an politischer Urteilskraft und praktischer Klugheit ist festzustellen. Die Deutschen wollen nicht die Kälte der individualisierten Gesellschaft, sondern die Nestwärme der (nationalen) Gemeinschaft spüren. Isaiah Berlin sieht die romantische Weltflucht »eng verbunden mit der Vernachlässigung und Verächtlichmachung der Normalität«.20 Die Deutschen kommen erst zur Ruhe, wenn die Realität sich ihren Vorstellungen beugen will. Das ist der Kern ihrer Neurose.

Neurotische Menschen und Staaten verlieren die Fähigkeit, ihre wahren Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Deshalb wenden sie alle Energie dazu auf, den Status quo zu bewahren. Die freie Gesellschaft ist auf der Suche nach neuen, besseren Wegen. Die neurotische Republik findet keinen neuen Weg. Sie sucht ihn noch nicht einmal.

Neurotische Störungen gelten als grundsätzlich heilbar. Neurosen können sich aber auch verschlimmern und zu schwer heilbaren Psychosen werden. Die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, also auch mit ihren Mythen und ihren verdrängten und tabuisierten Aspekten, ist Teil der Therapie.

Neurosen sind ausnahmslos eine Form von Unfreiheit. Freie Menschen sind in der Lage, neue Wege zu wählen und zu gehen. Sie wissen, dass es keinen Fortschritt ohne Risiko gibt. Neurotische Menschen haben übermäßige Angst vor dem Scheitern neuer Lösungen. Angst erhöht die Gefahr des Scheiterns, weil die Möglichkeit des Gelingens gar nicht erst in Erwägung gezogen wird. So ist es auch in der Politik.

Aber beginnen wir mit dem Anfang.

 

1 Vgl. Fritz Ostendorf, Alois Angleitner: NEO-Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae, Göttingen, 2004. Es bringt die wichtigsten psychologischen Theorien auf einen der praktischen Anwendung dienlichen Nenner.

2Elisabeth Noelle-Neumann, Renate Köcher: Die verletzte Nation, Stuttgart, 1987, S. 101.

3Matthias Matussek: Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können, Frankfurt am Main, 2006.

4Florian Langenscheidt: 250 Gründe, Deutschland zu lieben, München, 2006.

5Manfred Kets de Vries, Danny Miller: The Neurotic Organisation, San Francisco, 1984.

6Vgl. z.B. Fritz Riemanns Standardwerk Grundformen der Angst, München 1961. Seine Angsttypen entsprechen den neurotischen Stilen in Organisationen.

7Kets de Vries, Miller: The Neurotic Organisation, S. 38.

8Ebd., S. 38f.

9Ebd., S. 41.

10Sabine Bode: Die deutsche Krankheit – German Angst, Stuttgart, 2006, S. 80.

11Guy Kirsch, Klaus Mackscheidt: Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber. Eine psychologische Ergänzung der ökonomischen Theorie der Politik, Göttingen, 1985, S. 55.

12Interview in: Der Spiegel, 2.7.2007.

13Kirsch, Mackscheidt: Staatsmann, S. 61.

14Ebd., S. 85.

15Ebd., S. 89.

16Ebd., S. 90.

17Vgl. die Typologien von Richard S. Katz und Harold Dwight Laswell, siehe dazu Peter Steck: Grundzüge der politischen Psychologie, Bern, 1980, S. 144.

18Isaiah Berlin: Die Wurzeln der Romantik, Berlin, 2004, S. 245, zitiert nach: Rüdiger Safranski: Romantik, München, 2007, S. 264.

19Ebd., S. 347.

20Ebd., S. 364.

1945–1949 Besatzungszeit Entzug und neue Versuchung

Die Deutschen waren vom Nationalismus in seiner schwersten denkbaren Form befallen, dem Nationalsozialismus. Durch den vollkommenen militärischen und moralischen Zusammenbruch sind sie keineswegs schon geheilt, weder vom Nationalismus noch vom Nationalsozialismus. Die Behandlung erfordert Entzug, seelische Stabilisierung, materielle Kräftigung. Nie wieder soll sich der Patient berauschen an der wahnhaften Vorstellung von Deutschlands Größe und Grandiosität.

Das ist leichter verlangt als getan. Gut wäre es, wenn sich die Deutschen für etwas anderes begeistern könnten als die Nation. Für etwas, das Europa nicht gefährdet, sondern voranbringt. Am besten wäre es, wenn sie begreifen könnten, dass ihre Interessen keine anderen sind als die ihrer Nachbarn, ja dass sie deren Werte und Ziele teilen. Aber so weit ist es noch nicht.

Zunächst der Entzug: Der Nation wird das Mittel ihres Missbrauchs genommen, der Nationalstaat. Zumindest während einer gewissen Zeit sollen die Deutschen ohne ihn auskommen und erkennen, dass es auch ohne ihn geht. Dass dies tatsächlich geschieht, ist allerdings nicht der strengen Verordnung einer Ärztekommission im Auftrag der Weltgeschichte zu verdanken. Die Deutschen wirken durchaus wacker mit. Das wollen sie sich aber niemals eingestehen, vielmehr beklagen sie die Teilung ihres Reichs.

So wie sich die totale Niederlage letztlich als großes Glück herausstellt – anders wären die Deutschen Hitler wohl nicht losgeworden –, erweist sich auch die Teilung des Landes für die Mehrheit der Deutschen als Segen. Sie ist die Bedingung von Freiheit; und Freiheit wiederum ist die Voraussetzung für den Erfolg der Therapie. Anders formuliert: Die Frage der Gesellschaftsordnung ist wichtiger als die Frage der Einheit. Wenn Freiheit nur durch Verzicht auf Einheit zu bekommen ist, dann muss es eben so sein. Freiheit oder Einheit: Das ist die große Entscheidung, die in den ersten Nachkriegsjahren zu treffen ist.

Weil aber Freiheit nur für einen, den größeren Teil der Deutschen zu haben ist, wird die Teilung feierlich beklagt. Es wird die Legende verbreitet, Konrad Adenauer habe sie nicht gewollt. Es ist eine der Urlügen im verqueren Verhältnis zwischen Ost und West. Im Osten ist Adenauer, weil er für einen Einheitsgegner gehalten wird, bis heute kein unumstrittener Mann.

Wie immer, wenn Wahrheit verfälscht wird, löst sie sich nicht auf, sondern gärt weiter. Das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation hat nicht nur mit Hitlers Verbrechen zu tun, sondern auch mit der Unfähigkeit, eine offene Debatte über die eigene Geschichte zu führen.

Offiziöse Geschichtserzählungen führen an, schon auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 habe die Festlegung von zwei Reparationsgebieten, eines sowjetischen und eines der westlichen Alliierten, die Teilung eingeleitet. Die Zusammenlegung der britischen und amerikanischen Wirtschaftszone (Bizone) Anfang 1947 habe die Trennung dann zwar vertieft, am Ende aber habe erst die Doppelstrategie Stalins die Teilung erzwungen, der mit der Einheit nur gelockt habe, um ganz Deutschland unter seinen Einfluss zu bringen.

Im täglichen Kampf um Nahrung, Kleidung und Heizmaterial, in der Sorge um vermisste und gefangene Angehörige, in der Trauer um die Toten, beim aufreibenden und kräftezehrenden Aufräumen der Trümmer nehmen die meisten Deutschen freilich kaum wahr, welch dramatischer politischer Kampf um die Nation tobt.

Er beginnt mit den letzten Tagen des Weltkriegs und ist entschieden mit der ersten Wahl zum Deutschen Bundestag. Vier Jahre lang geht es um nicht weniger als darum, in welcher Gesellschaftsordnung die Deutschen leben werden, in einer liberalen, offenen Demokratie oder in einem sozialistischen, dirigistischen Staat.

Diese glasklare Alternative sehen damals wenige. Deshalb ist ja die Entscheidung jahrelang so heiß umstritten. Längst nicht alle Politiker sind geheilt von der nationalistischen Geistesverirrung. Sie halten die Grenzen des Landes für wichtiger als seine innere Verfassung. Ihre international gebräuchliche Form von Nationalismus ist mit dem bösartigen Nationalismus der Kriegs- und Vorkriegsjahre nicht zu verwechseln, aber doch nicht ungefährlich. Schwere Alkoholiker kann schon ein einziges Glas rückfällig werden lassen.

Der Nationalsozialismus ist eine Form des Totalitarismus. Der gewöhnliche Nationalismus ist es nicht. Doch ob die Deutschen nach allem, was geschehen ist, endlich Freiheit ohne Wenn und Aber wagen wollen, ist noch keineswegs ausgemacht. Es sind ja noch dieselben Menschen – Nazis, Mitläufer, Angepasste, Nazi-Gegner, verirrte Patrioten, Gleichgültige. Ihre Vorstellungen von Staat, Volk und Nation reichen weiter zurück als die Ideologie des Nationalsozialismus.

Das Verhängnis der Deutschen ist ihre tief verwurzelte Furcht vor der Freiheit. Deshalb richtet sich Adenauers Kampf gegen beide Formen des Kollektivismus: Nationalismus und Sozialismus. Nationalismus gilt als rechts, Sozialismus als links. Nach dem Krieg aber sind dies nicht unbedingt Gegensätze. Bis heute gilt: Eine gewisse Neigung der Deutschen zum Kollektivismus ist nicht abgeklungen. Das zeigt sich mehr in einer grundsätzlichen Affinität zur Umverteilung und zur unkritischen Liebe zum Staat. Es gibt rote, schwarze und grüne Sozialdemokraten und außerdem noch eine sozialistische Linke. Und es gibt wieder Nationalisten. Doch davon später.

Bereits unmittelbar nach dem Krieg sind die Anfänge dieser Fehlentwicklung zu beobachten. Die Deutschen schließen manch faulen Kompromiss zwischen Freiheit und staatlicher Gängelung. Auf diese faulen Kompromisse sind sie sogar stolz, halten sie für modellhaft und fortschrittlich.

Glück im Unglück

Nicht um die Deutschen von Hitler zu befreien, haben die Alliierten gekämpft, sondern um Deutschland zu besiegen. Es ist, was die Westmächte angeht, ein Sieg im totalen Krieg zwischen zwei Wertesystemen, dem des totalitären Nationalsozialismus und dem der liberalen Demokratie.

So bedenkenlos Deutschland über Europa hergefallen ist, so unfassbar radikal es die Vernichtung der Juden ins Werk gesetzt hat, so bodenlos der moralische Absturz gewesen ist, so atemberaubend erscheint nun der Wiederaufstieg des größeren, westlichen Teils.

Das Ungeheuer Deutschland hat im großen Unglück unverdientes Glück. Verdienst aber ist keine Kategorie der Geschichte. Der Gott der Geschichte, falls es ihn gibt, ist kein gerechter Gott. Von welchem Glück ist hier die Rede? Vom Glück der Tüchtigen? Ja, dieses Glück wird am Ende noch hinzukommen.

Zunächst ist es das Glück der Befreiung von der schlimmsten Despotie in Deutschlands Geschichte. Hitler war 1932 von einem guten Drittel der Deutschen gewählt worden. Die Mehrheit hatte sich ihm anschließend – mehr oder weniger – aus freien Stücken unterworfen.

Deshalb verwundert es nicht, dass nur eine Minderheit der Deutschen den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung begreifen kann. 40 ­Jahre später wird Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Gedenk­rede von »Befreiung« sprechen, und es wird dann noch immer nicht selbstverständlich sein, sondern heftig umstritten.

Der Krieg hat über die meisten Deutschen Unglück gebracht. Es gibt 1945 wohl niemanden, der in seiner Familie und unter seinen Freunden kein Opfer zu beklagen hätte. Die meisten Deutschen sehen sich selbst als Opfer, als Opfer Hitlers, der sie in den Krieg geschickt und die Niederlage zu verantworten hat, als Opfer der alliierten Bombardements, als Opfer des Besatzungsregimes, als Opfer der Vertreibung. Besiegt und gedemütigt fühlen sie sich. Zweifellos hilft dies, Fragen nach eigener Schuld und Mitverantwortung zu verdrängen. Auch bei der rechtsstaatlichen Verfolgung der Nazi-Verbrechen halten sie sich sehr zurück.

Eine Legende geistert herum – die Legende, die Sieger hätten den Deutschen eine Kollektivschuld zugesprochen. Davon kann keine Rede sein, mit keinem einzigen Dokument ließe sich das nachweisen. Lediglich im Kommuniqué der Potsdamer Konferenz heißt es, das deutsche Volk habe »begonnen«, »für die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Führung derer begangen worden sind, denen es in der Stunde ihres Erfolges offene Zustimmung und blinden Gehorsam entgegenbrachte«. Dies entspricht der Wahrheit und ist durchaus keine pauschale Verurteilung der Deutschen.

Eine weitere Legende behauptet, als Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung seien die Deutschen erst Jahrzehnte nach dem Kriegsende akzeptiert worden. Auch das ist falsch. Allenfalls kann von einer Wiederentdeckung die Rede sein. Richtig ist, dass der rasche Wiederaufbau und die erfolgreiche Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen halfen, deren Leiden zu überwinden.

Der 8. Mai 1945 ist also eine Befreiung von den Martern des Krieges, aber die Trauer über die Verluste und das Trauma der Schuld wirken noch lange nach.

In die Erleichterung mischt sich schon bald Furcht vor dem nächsten Krieg. Auch der Ausbruch des Kalten Kriegs ist für die Westdeutschen ein glücklicher Umstand. Tragen sich die Amerikaner anfangs noch mit dem Gedanken ihres Finanzministers Henry Morgenthau, Deutschland zu einem deindustrialisierten Armenhaus Europas zu machen, wird ihnen angesichts der Weltlage bald klar, dass sie entweder Vergeltung üben können oder einen Bündnispartner gewinnen. Nicht Strafe ist deshalb das Gebot der Stunde, sondern Kräftigung. Gnade geht vor Recht, Aufbauhilfe vor Buße, Tüchtigkeit vor Gerechtigkeit.

Im Übrigen enthält der Morgenthau-Plan einen Vorschlag, der undiskutiert bleibt. Er schlägt die Schaffung zweier neutraler deutscher Staaten vor, geteilt nicht in West und Ost, sondern in Nord und Süd, wobei der Süden eine Zollunion mit Österreich bilden soll, die Vorstufe einer Föderation. Es wäre reizvoll, sich auszumalen, wie diese Geschichte verlaufen wäre, die besser zur Geschichte der Deutschen vor der Reichsgründung Bismarcks gepasst hätte. Der Morgenthau-Plan wurde aber in Deutschland immer nur als Inbegriff von Rache an den Deutschen missverstanden. Die Teilung in Nord und Süd hätte womöglich eine Chance auf Freiheit für alle Deutschen, wenn auch in zwei Staaten eröffnet.

Nichts ist umsonst. Deshalb zahlen die Westdeutschen für ihr Glück im Unglück einen moralischen Preis. Sie dürfen sich schnell und unerwartet auf der Seite der Sieger fühlen, ja mehr noch, auf der Seite der guten Sache. Ungeheures Glück ist es auch, dass die Westdeutschen zunächst gar keine Wahl haben. Die Ostdeutschen haben ebenfalls keine Wahl, in ihrem Fall jedoch handelt es sich um Unglück. Die wichtigste aller Entscheidungen wird den Westdeutschen von den Siegern abgenommen. Es gibt keine Diskussion darüber, wie viel Demokratie sich die Deutschen zumuten möchten. Die Demokratie kommt ganz undemokratisch über sie. Sie ist das Gesetz der Sieger. Und das ist gut so.

Die Sieger sind es auch, die nationalsozialistische Verbrecher verfolgen und deren Taten ahnden. Insgesamt werden rund 50 000 Täter verurteilt, schätzungsweise ein Drittel der an den nationalsozialistischen Morden Beteiligten. Das ist eine verhältnismäßig hohe Quote. Etwa 800 Todesurteile werden gefällt, ein Drittel davon vollstreckt, darüber hinaus rund 200 000 ehemalige Nazis, ob für Wochen, Monate oder wenige Jahre, interniert, Parteimitglieder aus dem öffentlichen Dienst entfernt.

Deutsche Gerichte verurteilen bis zur Gründung der Bundesrepublik weitere knapp viereinhalbtausend Täter. Danach lässt der Verfolgungswille der deutschen Justiz schlagartig nach und tendiert gegen null. Er wurde ja auch von der Bevölkerung keineswegs begrüßt. 1950 finden nur 38 Prozent der Westdeutschen rückblickend die Nürnberger Prozesse fair. Die meisten Deutschen neigen zu unverständlicher Milde.

Das gilt erst recht für die Entnazifizierung. 13 Millionen Deutsche müssen Fragebögen ausfüllen, 3,6 Millionen sich einer Überprüfung unterziehen, aber weniger als 1 Prozent wird als schuldig oder belastet bestraft. Praktisch läuft die Säuberung auf eine Rehabilitierung hinaus.

Es gibt schlechte Gründe dafür, 8 Millionen NSDAP-Mitglieder mit Nachsicht zu behandeln, doch auch einen verständlichen Grund. Die oktroyierte Demokratie hat auf Dauer nur eine Chance, wenn sie von möglichst allen Deutschen akzeptiert wird, auch von ehemaligen Nazis. Ohne deren aktive Mitwirkung kann das Land nicht wieder aufgebaut und verwaltet werden. Den Siegermächten kommt dabei eine dunkle Seite der deutschen Mentalität entgegen, der Untertanengeist, der Hang zum Gehorsam.

Mündige Bürger sind die Angepassten noch lange nicht. Die meisten aber entwickeln sich im Westen zu Musterdemokraten, nicht viel anders als im Osten zu Musterkommunisten. Schwer erziehbar jedenfalls sind die Deutschen weder hüben noch drüben; davon profitierten schon die Nazis.

Die Milde, die Tätern wie Mitläufern entgegengebracht wird, folgt nicht ihrem Schuldbekenntnis, ihrer Einsicht und Reue, ganz im Gegenteil. Sie folgt der Befürchtung, bei geringerem Entgegenkommen könnte sich die alte Gesinnung gegen die junge Demokratie wenden. Die sich nun neu gründenden Parteien wissen zudem, dass Millionen von Mitläufern und ehemaligen Anhängern der Nazis Wähler sind.

Es dient durchaus nicht der Wahrheitsfindung, aber doch einem vernünftigen Zweck, wenn die Mehrheit der Deutschen an ihren Lügen strickt. Sie erzählen sich, verführt worden zu sein. Der mörderische Rassismus der Nazis wird im Bewusstsein abgespalten. Seine Voraussetzungen werden geleugnet: nationalistischer Größenwahn, die Neigung zum geistigen Gleichschritt, unselige militaristische Prägungen. Die Debatte über die tieferen Ursachen der Katastrophe wird nach dem Ende des Kriegs nicht geführt. Sie lässt noch zwei Jahrzehnte auf sich warten. Auch deshalb ist die Floskel von der Stunde null ein Mythos.

Mit ihrer enormen Aufbauleistung üben die Deutschen gewissermaßen Wiedergutmachung an sich selbst. Ein Teil von ihnen mag tatsächlich unfähig sein, über die Untaten zu trauern, die meisten aber haben dazu einfach keine Zeit. Es gibt Wichtigeres, Dringenderes zu tun. Die psychischen Kosten dieser Ablenkung bleiben unbeglichen.

Nationalisten und Sozialisten

Nie wieder! Dieser Grundsatz bestimmt den Beginn des politischen Lebens in Bonn. Die Weimarer Republik war missbraucht worden von verfassungsfeindlichen, die Demokratie bekämpfenden und verachtenden Parteien. Daraus müssen nun Lehren gezogen werden.