Mehr Anarchie, die Herrschaften! - Wolfgang Herles - E-Book

Mehr Anarchie, die Herrschaften! E-Book

Wolfgang Herles

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Beschreibung

Wolfgang Herles zieht eine »Schadensbilanz« der Berliner Republik. Der Wohlstand der Deutschen schmilzt schneller als das Eis der Arktis. Ein Nebel aus Inkompetenz, Selbstüberschätzung, Wirklichkeitsverweigerung, bürokratischer Selbstknebelung und ideologischer Verblendung liegt über dem Land. Wer sollte ihn vertreiben, wenn nicht die Deutschen selbst! Messerscharf analysiert Herles das Versagen der politischen Klasse, spießt Moralismus, Konformismus und Staatsgläubigkeit auf und fordert tiefgreifende Reformen und mehr direkte Demokratie. Eine provokante Streitschrift für die Revitalisierung der deutschen Demokratie und die Entfesselung der bürgerlichen Mitte, denn "ohne anarchische Lust kann es nicht besser werden" (Wolfgang Herles).

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© 2023 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: © golovorez/iStockImages

Satz und E-Book Konvertierung: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

ISBN: 978-3-7844-8476-1

www.langenmueller.de

Inhalt

Vorbemerkung

Intro. Klimakatastrophenpolitik

I. Von nun an gings bergab:Eine kurze Geschichte der Berliner Republik

Das Ende der Bonner Republik – und ihr Erbe

Kohl, Schröder, Merkel, Scholz – eine vorläufige Schadensbilanz

Teufelskreise – wie Deutschland sich lähmt

Die neue Normalität – Lust am Untergang

II. Das haben wir nicht verdient:Die große Deformation

Die Klimamacher und die Liebe zur Ideologie

Moral und Moralismus

Konformismus oder das Schweigen der Lämmer

Abschalten und andere Überlebensstrategien

III. Druck im Kessel:Vom Aufbruch zur Rebellion

Resilienz, aber richtig

Wie wir mehr Demokratie wagen

Im Kulturkampf

Ungehorsam ist die erste Bürgerpflicht

Coda. Die Entfesselung des Bürgers

Vorbemerkung

Mit Herrschaften sind die Bürger angesprochen, selbstverständlich auch die Bürgerinnen. Wenn überhaupt von Herrschaft (ein weibliches Wort!) die Rede sein kann in der Demokratie, dann sollte es eine Herrschaft der Bürger sein. Doch tut sich zwischen der bürgerlichen Mehrheit, den Herrschaften und den tatsächlich Herrschenden eine Kluft auf. Hier die Freiheit der Bürger, dort die Anmaßungen eines zunehmend autoritären Staates, der nicht für die Bürger da zu sein scheint, sondern für etwas vermeintlich Größeres. Mit falschen Konzepten behaupten die Herrschenden nichts Geringeres als die Welt zu retten. Dafür opfern sie die materiellen Grundlagen des Landes und stellen auch sein geistiges Fundament infrage. Entschiedener Widerstand gegen den selbstzerstörerischen Wahn jedoch bleibt bisher aus.

Von der bürgerlichen Mehrheit der Bevölkerung zu sprechen, ist nicht mehr selbstverständlich. Bürgerlich waren seit der Aufklärung konservative, soziale und liberale Werte, die Aufstieg durch Bildung und Leistung statt durch Herkunft ermöglichten. Bürgerlich war das Vertrauen in Wachstum und wissenschaftlich-technischen Fortschritt.

Doch das Bürgertum ist gespalten. Ein grün-linkes, überwiegend jüngeres, urbanes Milieu beansprucht für sich Bürgerlichkeit, die auf gegenteilige Werte setzt: Aufstieg durch Haltung statt durch Leistung und Bildung, Fortschrittsfeindlichkeit, Verzicht statt Wachstum.

Es herrscht, sprechen wir es ruhig aus, ein stiller Bürgerkrieg. Es sieht ganz danach aus, als würde er von den neuen Bürgern gewonnen, die auf staatlichen Zwang setzen.

Es sind die Habeckbürger. Oder auch die neuen Spießbürger. Den klassischen wie den neuen Spießer kennzeichnet eine krude Mischung aus geistiger Verbohrtheit und Überheblichkeit. Der Spießer ist Konformist, der einen autoritären Staat wünscht, der Stillstand, Verbote, Verzicht will, der zu wissen glaubt, was gut und böse, richtig und falsch ist, dem die vorgeschriebene Haltung alles ist und die freie Entfaltung der Persönlichkeit nichts, soweit es nicht um ihn selbst geht.

Für Ödön von Horváth ist er schon 1930 in seinem Roman »Der ewige Spießer« ein »hypochondrischer Egoist, der danach trachtet, sich überall feige anzupassen und jede neue Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet«. So lässt sich ein knappes Jahrhundert später ziemlich exakt auch der neue Spießer definieren. Dumpf und verbissen neigt er dazu, seinen Lebensstil allen anderen aufzuzwingen.

Die Gegenseite, die lammfromme bürgerliche Mehrheit, hat Hans Magnus Enzensberger schon 1957 in seinem berühmten Gedicht »Die Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer« unnachahmlich karikiert: »seht in den Spiegel: feig, / scheuend die mühsal der wahrheit, /dem lernen abgeneigt, das denken / überantwortend den wölfen, / der nasenring euer teuerster schmuck …«

Treffender könnte der Zustand des deutschen Bürgertums in Zeiten grüner Diskurshoheit nicht beschrieben werden. Das Gedicht endet so: »ihr (…) / werft euch aufs faule bett / des gehorsams, winselnd noch / lügt ihr, zerrissen / wollt ihr werden, ihr / ändert die Welt nicht mehr.« Es sind die Wölfe, die den Lämmern einreden, die Welt ändern zu können. Es geht ganz leicht: Sie müssen sich nur ein wenig opfern lassen.

Dieses Buch will die Schafe ermuntern, ihr politisches Phlegma und ihre Folgsamkeit zu überwinden, und sie dazu anstiften – manche werden sagen: dazu aufhetzen – sich einzumischen, laut zu werden und den grünen Spießbürgern zu widerstehen.

Nicht Klage bestimmt deshalb den Ton, sondern Angriffslust. Die Betonung liegt auf Lust. Der Autor bedient sich auch der vom woken Zeitgeist diskriminierten Kunst der Polemik. Verfassungsschützer aufgemerkt! Es ist die spöttische Kunst der Verächtlichmachung, wie das neuerdings heißt. Da kann und soll nicht alles allen Lesern schmecken, aber zum eigenen Urteil provozieren.

Es geht um unser immer noch lebenswertes Land, um die Mängel, die es drücken, um die Mentalität, die es lähmt, um die Macht, die es im Griff hält.

Intro. Klimakatastrophenpolitik

Nebel liegt über dem Land. Ein undurchdringlicher, dicker Dunst aus Selbstüberschätzung, Schönfärberei, Inkompetenz, Weltfremdheit, bürokratischer Knebelung und ideologischer Verblendung. In dieser Wolke erkennen die meisten Bürger ihr Land nicht mehr. Und schon gar nicht, wie es weitergehen soll. Sähen sie etwas, würden sie erschrecken, so sehr hat sich verändert, was einmal die »Bonner Republik« gewesen ist.

Für die Nebelmacher der Berliner Republik ist alles Klima. Meinungsklima, Streitklima, das Klima auf der Erde und das in den Köpfen. Die einen fürchten den Klimawandel. Die anderen würden das, was sich da abspielt, lieber nicht Klimawandel nennen, sondern Klimakterium. Ein Land wird alt und unfruchtbar.

Auch das Betriebsklima der deutschen Politik hat sich gewandelt. Nicht zum Guten. Kein Wunder in einer Firma, die ihr Geschäftsmodell ohne Not verspielt. Ihre Geschäftsführer reden von der »großen Transformation«. Es ist der Zentralbegriff aus dem Arsenal des übergriffigen Staates.

Die meisten Bürger wollen nicht transformiert werden. Ihr überschaubarer Wohlstand schrumpft. Da brauchen sie nicht auch noch das Transformationspathos gratis obendrauf. Sie spüren, dass der Begriff ersonnen wurde, um sie zu gängeln und zu täuschen. Die Transformation zielt nicht auf die Vitalisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auf ihre Deformation.

Was die »Fortschrittskoalition« produziert, ist Fortschrittsblockade. Sie ist nicht die erste, die das Land herunterwirtschaftet. Doch der Staat, in dem kaum noch etwas reibungslos funktioniert, mischt sich in immer mehr ein und macht damit das Leben immer beschwerlicher.

Es mangelt an so vielem – preiswerter Energie, stabilem Geld, guter Bildung, innerer und äußerer Sicherheit, solider Infrastruktur, Vernunft und Vertrauen. Nur nicht an Versagern. An Entschlossenheit, Bewahrenswertes zu schützen und Bewährtes zu verteidigen, mangelt es auch.

Die Mehrheit soll einer dominanten grün-linken Minderheit möglichst im Gleichschritt folgen. Immer mehr ballen die Fäuste, nur schütteln wollen sie sie nicht. Das geht ja auch schlecht, wenn man sich auch noch »unterhaken« soll, wie es der Kanzler verlangt.

Die Duldsamen sind immer die Dummen. Die meisten Bürger nehmen schicksalsergeben hin, was ihnen zugemutet wird. Manche finden sich mit milden Gaben der Marke Doppelwumms ab. Es könnte ja noch schlechter gehen. Das Volk ist verwöhnt und verängstigt zugleich. Eine böse Mischung.

Der Klimawandel ist nicht zu bestreiten. Doch ist er auch eine Klimakatastrophe, wie man eingeschüchterten Bürgern weismachen will? Sie ist der einzige Grund für die große Transformation. Insofern handelt es sich tatsächlich um eine Katastrophe. Jetzt schmilzt der Wohlstand schneller als das Eis der Arktis.

Für die real existierende Klimakatastrophe sorgt die katastrophale Energiepolitik. Die Grünen frohlocken. Immer drastischere, über das Ziel hinaus und vorbei schießende Maßnahmen strangulieren das Wachstum und zerstören damit die Voraussetzung für eine vernünftige, effiziente Energiewende. Vernünftig wäre, das Land auf die Folgen des Klimawandels einzustellen, nicht aber, es in Panik zu versetzen.

Die Regierenden folgen einer neuen Klimareligion, und es fällt ihnen nichts Besseres ein als die Formel: Energiewende ist Wokeness plus Ökostrom. Das erinnert an den Spruch von Lenin: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Abgesehen davon, dass die Deutschen nicht einmal das mit dem Strom hinbekommen.

Deutschland fällt schon länger zurück. Alles auf den Ukrainekrieg zu schieben ist Selbstbetrug. Aussteigen wollen die Ex-Exportweltmeister aus allem zugleich, aus russischem Gas ebenso wie aus heimischem Atomstrom. Die Frage, wo die Unmengen »grüner« Strom herkommen sollen, wenn alles, vom Verkehr bis zur Heizung (Wärmepumpen), nur noch elektrisch betrieben wird, verdrängen die Traumtanzenden. Deshalb verfehlt Deutschland die selbst gesetzten Klimaziele. Frankreichs Bilanz schneidet dank Atomstrom entschieden besser ab. Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, die Automobilindustrie, wird gerade auf dem Altar der Klimareligion geopfert. Horrende Energiepreise vertreiben auch andere Branchen wie die Chemieindustrie. Die Verursacher predigen Rückbau und betreiben Raubbau an den Ressourcen des Wohlstands.

Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste die Regierung den Schraubstock der Energiewende lockern. Sie macht – soweit sie sich nicht wie beim Heizungsgesetz von bedrohlichen Umfragewerten zur Korrektur genötigt sieht – das Gegenteil: Das Musterland der Besserwisser stranguliert sich zusätzlich mit monströser Regulierungswut, mit Fachkräftemangel, mit Steuer- und Abgabenrekorden.

Wer sollte den Nebel vertreiben, wenn nicht die Deutschen selbst! Wann wacht die große Masse auf? An diesem Punkt stockt bereits die Feder. Die ehrliche Antwort ist von allen Gründen deprimiert zu sein, der deprimierendste. Wenn das große Wort Transformation fällt, nicken die meisten, manche nicken sogar ein. Sie fügen sich und schweigen. Das ist der Kern der Klimakatastrophe: das Schweigen der Lämmer.

I. Von nun an gings bergab: Eine kurze Geschichte der Berliner Republik

Wenn man die Stimmung unsrer Oberschicht belauscht, wenn man in unsre Zeitungen hineinkuckt, die den Leuten nach dem Munde reden, so sollte man glauben, Berlin spaziere an der Tête der Zivilisation. Es ist aber sehr weit ab davon.

Theodor Fontane

Das Ende der Bonner Republik – und ihr Erbe

Wann fängt das Verhängnis an? In einem historischen Glücksmoment der Gründung der Berliner Republik.

Als 40 Jahre zuvor die Bonner Republik errichtet wurde, war im zerstörten Deutschland die Stimmung bereits besser als die Lage. Es war Optimismus, der die Leute in die Hände spucken ließ. Die bis heute erfolgreichste deutsche Demokratie, die Bonner Republik, war eine Aufstiegsgesellschaft. »Meinen Kindern soll es einmal besser gehen« war mehr als Hoffnung, es war ein realistisches Ziel. Es lief nicht alles glatt, aber das Licht am Ende des Tunnels kam zügig näher. Heute kommt Zuversicht nur noch in politischen Sonntagsreden vor, und die Stimmung ist mindestens so bescheiden wie die Lage.

Die Bürger der Bonner Republik waren Verfassungspatrioten, identifizierten sich mit Recht und Freiheit und D-Mark. Ihr Land war kein Nationalstaat, doch kaum jemand empfand das als Nachteil. Mit Hilfe der Westmächte war tatsächlich ein besseres Deutschland entstanden. In der DDR sollte man glauben, Moskaus Vasallenstaat sei das bessere Deutschland.

Die Bonner Republik war nicht vollständig souverän. Umso souveräner agierte sie. Heute ist es umgekehrt: Vollständig souverän, agiert die Berliner Republik ziemlich unsouverän. Die Berliner Republik ist ein Nationalstaat, aber die deutsche Regierung gibt nicht viel darauf. Die Grenzen sind weit offen, nicht nur für Verfolgte.

Bescheidenheit machte die Bonner Republik sympathisch, auch bei den alten Feinden. Sie wurde unterschätzt, auch von den neuen Freunden. Das verlieh ihr Flügel auf dem Weg vom Wirtschaftswunder zum Exportweltmeister. Niemand hatte mehr vor diesen Deutschen Angst. Das hat vor der Berliner Republik auch niemand, obwohl sie immer wieder ausschert, sich dabei aber immer wieder selbst schadet (siehe Atomausstieg). Über die Berliner Republik wird deshalb zunehmend gespottet. Die Bonner Republik wurde noch überwiegend bewundert.

Die Streitkultur war in der Bonner Republik aus anderem Holz. Sternstunden im Parlament, legendäre hitzige Redeschlachten, mitreißende Redner, Wehner und Schmidt (SPD), Barzel und Strauß (Union). Rhetorische Nieten hatten in der Politik keine Chance. Heute haben sie es offenkundig leicht. Die Kunst der Polemik stand zu Recht in hohem Ansehen. Es wurde um die Sache gestritten statt moralisiert und stigmatisiert. Deutlichkeit war angesagt, nicht maulfaule Geschmeidigkeit. Bundestagsdebatten fanden breite Beachtung, »Polit-Talks« gab es noch nicht. Es wurde scharf gewürzt und nicht den Leberwürsten überlassen zu entscheiden, ob sie beleidigt worden sind.

Die Bonner Republik befand sich in einem steten Reform-Modus. Es gab Reformstaus, aber nie Reformverweigerung. Reformen binden alle ein, denn der Reform liegt der Gedanke zugrunde, das Bewährte zukunftstauglich zu machen. Aus dem Dissens fanden die Deutschen zum Konsens.

Die Berliner Republik zerstört Bewährtes und zieht der schrittweisen Reform die große Transformation vor. Disruption verlangen lautstarke Minderheiten der Mehrheit der Bevölkerung ab. Pervers daran ist, dass das Revolutionäre der Berliner Republik Konsens beansprucht, während das Reformatorische der Bonner Republik sich aus demokratischem Streit entwickelte. In der Berliner Republik wird die Umwälzung moralisch begründet. Man kann es auch so sagen: In der Bonner Republik wurde argumentiert, in der Berliner Republik wird diffamiert und gehasst. Wenn in der Bonner Republik abgewogen wurde, wird in der Berliner Republik abgeurteilt.

Bonner Republik: die Leistung einer Erfahrungsgeneration. Sie hatte in Krieg und Diktatur ihren Preis bezahlt. Das motivierte sie. Ehrgeiz ja, aber nicht zum Preis bedingungsloser Anpassung. Politiker standen noch in hohem Ansehen. Parteienverdrossenheit kam erst in der späten Bonner Republik auf. In der Berliner Republik wächst sie sich aus zu Parteienverachtung.

Im Triumph nistete Hybris. Von der Wiedervereinigung außer Rand und Band, begannen die Deutschen, sich zu überschätzen. Naiv, aber ehrlich zum Ausdruck brachte diesen Geisteszustand der Kaiser. »Über Jahre hinaus wird Deutschland unschlagbar sein«, verkündete Franz Beckenbauer.

Kaum jemand sah im Hochgefühl des vermeintlichen Siegs im Kalten Krieg – ein Resultat überlegener Wirtschaftskraft – die Notwendigkeit, zuerst den Reformstau im Westen abzuarbeiten, um sich für den Kraftakt der Vereinigung zu rüsten, die Sozialsysteme zu sanieren, die Staatsfinanzen zu stabilisieren und überhaupt das westdeutsche System auf Tauglichkeit zu prüfen, ehe man es der DDR überstülpte. All das geschah nicht.

Dafür malte man sich die DDR-Ruine schön und verteilte in Gedanken bereits den Milliardengewinn aus der Privatisierung der angeblich zehntgrößten Volkswirtschaft der Welt. Er stellte sich als Milliardenverlust heraus.

Mit dem nachwachsenden Rohstoff Geld lasse sich alles regeln: Dieser Irrtum verbindet Bonner und Berliner Republik. Deshalb stand nicht die staatliche Einheit am Anfang, sondern die D-Mark. Die Währungsunion zu einem ökonomisch fragwürdigen Umtauschkurs war ein vergiftetes Geschenk. Es kam überdies zu früh, doch rechtzeitig vor der ersten freien Volkskammerwahl – dem größten Stimmenkauf in der deutschen Geschichte. Kollateralschäden: die Vernichtung und Verramschung der DDR-Wirtschaft. Sozialpolitik sollte es richten, Geld überwiegend aus westdeutschen Sozialkassen. Die Methode funktioniert, solange der Wachstumsmotor brummt – oder auf Pump.

Die Deutschen wurden vereint in Selbstbetrug. Sie setzten auf ein zweites Wirtschaftswunder. Unterschied: Das Wirtschaftswunder der Bonner Republik setzte den Fleiß vor den Preis. Das Wirtschaftswunder der Berliner Republik wurde vorwiegend durch Umverteilung von West nach Ost geschaffen. Die Segnungen des Sozialstaats sollten zunächst im Westen, vierzig Jahre später im Osten die Bürger von der Überlegenheit der Demokratie überzeugen. Das hat nicht ganz so gut funktioniert. Bis heute erfahren Demokratie und Marktwirtschaft in den östlichen Bundesländern signifikant weniger Zustimmung als im Westen.

Die Bonner Republik ist so unwiederbringlich verloschen wie die DDR. Die Ostdeutschen bekamen nicht das Erfolgsmodell, das sie sich erträumt hatten und das ihnen versprochen worden war. In dem magischen Moment, indem sie das Trugbild berührten, verblasste es. Nur die Hülle blieb: Bundesrepublik Deutschland.

Einheit bedarf in Deutschland zugleich der Einheitlichkeit. Ein Missverständnis. Ursprünglich stand die »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« sogar im Grundgesetz. Diese kollektivistische Vorstellung herrschte auch im Westen. Da sie sich als illusorisch erwies, wurde die Formulierung nach dem DDR-Beitritt in »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« geändert. Nicht enden wollen die Klagen, dass in Mecklenburg-Vorpommern weniger verdient werde als in Oberbayern – obwohl dort das Leben ungleich teurer ist.

Doch die Deutschen überfordern sich gern selbst. Als die DDR beitrat, glaubten sie, es ließe sich nicht nur die ökonomische, soziale und politische, sondern auch noch die »innere Einheit« zügig vollenden. Unbewusst spukte immer noch die Illusion von der homogenen Volksgemeinschaft in den Köpfen.

Das musste zu Enttäuschungen führen. In der irrigen Annahme, dass alle Deutschen ein gemeinsames Mindset besäßen, wurden die mentalen Unterschiede unterschätzt. Die Gesellschaftssysteme in den Köpfen erwiesen sich als hartnäckiger als die Existenz der beiden Staaten.

Mit dem Mauerfall kam nicht gleich Demokratie, sondern zunächst Tempokratie über die DDR. »Es darf nicht der Versuch gemacht werden, dass alles zusammenwuchert. Wir brauchen Zeit«, mahnte Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Aber das wollte Kanzler Helmut Kohl nicht hören.

Man nannte es Beitritt nach Artikel 23 GG. Durch Übernahme des Grundgesetzes musste keine neue Verfassung für das vereinte Land ausgehandelt werden. Sie wäre nach Art. 146 GG »von dem deutschen Volk in freier Entscheidung« beschlossen worden. Sechzig Millionen Westdeutsche hätten darüber abgestimmt, ob sie mit achtzehn Millionen Ostdeutschen vereinigt werden wollten oder nicht. Kanzler Kohl misstraute seinen Pappenheimern. Er befürchtete auch, in einer neuen Verfassung könnten »linke« Vorstellungen aus dem Osten stehen – etwa das Recht auf Arbeit und Wohnung.

Gibt es etwas Gravierenderes als die Zusammenlegung zweier Staaten? Dennoch wurde die Angelegenheit nicht mit der ganzen Bevölkerung diskutiert. Parteien handelten, als wären sie gleichgeschaltet. Nachdem die Medien Kanzler Kohl jahrelang als »Birne« verspottet hatten, ernannten sie ihn unisono zum »Kanzler der Einheit«. Die Deutschen glaubten, den Atem der Geschichte im Nacken zu spüren und fühlten sich im neuen Nationalrausch. Emotionen übertönten Argumente. Von Beginn an herrschte in der Berliner Republik ein neuer Geist: demokratischer Konformismus.

Er machte Schule. Ob es um den Ausstieg aus der Kernenergie, um zweifelhafte Corona-Maßnahmen oder um die verkorkste Migrationspolitik ging: Der Mainstream schwemmte mithilfe linientreuer Medien alle Einwände hinweg. Erst waren Einheitsskeptiker unerwünscht, dann Euroskeptiker, Klimaskeptiker und Impfskeptiker. Große Dinge werden oben beschlossen und unten begrüßt.

Die Berlin-Debatte blieb eine Ausnahme. Sie ersetzte den Streit über das, was nicht infrage gestellt werden durfte. »Wenn Sie für Bonn sind, wollen Sie die Einheit nicht!«, ereiferte sich der Berliner SPD-Politiker und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Berlin setzte sich durch, weil der Beitritt der DDR nicht wie ein Anschluss aussehen sollte. Deshalb verzichtete der Westen auf den bewährten Regierungssitz Bonn, und die Ex-DDR behielt ihre Hauptstadt.

Es hieß nun, ein großes Deutschland benötige auch eine große Hauptstadt, stolzer, auftrumpfender, der gewachsenen Rolle Deutschlands angemessen. Bonn wurde als provinzielles Bundeskaff verspottet, als lausiges Provisorium.

Damit wurde das Wesen des neuen Staates infrage gestellt. Stil und Anspruch der Berliner Republik veränderten sich. Die Berliner Mischung aus Größenwahn und Unvermögen galt von nun an für die »Hauptstadt«. Kulturell mag Berlin Deutschland repräsentieren. Zunehmend bezeichnend fürs Ganze ist das systematische Verlottern der dysfunktionalen Stadt.

In Berlin verwechselt man von jeher Größe mit Bedeutung und Bedeutung mit Qualität. Hauptstadt Berlin. Der offizielle Titel Bundeshauptstadt wird selten benutzt. Nicht aus Faulheit oder Gleichgültigkeit, sondern aus dem Gefühl, Berlin sei allen anderen Städten vorgesetzt.

London ist Great Britain, Paris ist La Nation. Wer behaupten würde, Berlin sei repräsentativ für Deutschland, müsste sich für dieses Land schämen. Eine Verwaltung, die den Bürgern nicht dient, sondern ihn zum Bittsteller macht, desolate Schulen, Bandenkriminalität, die Unfähigkeit zum Bau eines Flughafens, Subventions- und Umsonst-Mentalität. Nicht einmal Wahlen haben sie in Berlin hinbekommen.

Selbst Klaus Wowereit, als Regierender Bürgermeister, Erfinder des schicken Claims »arm aber sexy«, kam zum Urteil: »Es gibt in Berlin so etwas wie organisierte Verantwortungslosigkeit.« Andere Hauptstädte bereichern ihre Länder. Berlin saugt es aus. Wer zahlt, schafft an, gilt überall, bloß nicht in Berlin, das allein 2022 im Rahmen des Länderfinanzausgleichs 3,6 Milliarden erhielt, ohne sich für die Verwendung der Gelder rechtfertigen zu müssen.

Doch es gibt Hoffnung. Der Erdrutsch-Sieg der CDU bei der gerichtlich erzwungenen Wiederholung der Landeswahlen im Februar 2023 konnte von der Regierenden Bürgermeisterin nicht ignoriert werden. Die Entscheidung der SPD für Schwarz-Rot ist weniger eine Entscheidung für die Union als gegen die Grünen. Sie sitzen fest in ihrem 20-Prozent-Kiez dekadenter Wohlstandserben und intellektueller Lumpenproletarier, bestimmen aber 80 Prozent der politischen Agenda. Das Wahlergebnis hätte auch die Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition ermöglicht. Schärfer als zuvor zeigt sich in Berlin ein Generationenkonflikt. Die Jüngeren folgen eher der Klimareligion, die Älteren fürchten, dass die grünen Taliban die Stadt unbewohnbar machen. In Berlin hat ihnen die Regierungschefin in höchster Not den Stecker gezogen.

Die Berliner Republik begann mit der Illusion, das Ende des Kalten Kriegs bedeute ewigen Frieden und Wohlstand. Die deutsche Einheit galt als Pfeiler zum Bau eines neuen, weit nach Osten ausgreifenden Europa. Dass es ein Turmbau zu Brüssel wurde, kam in Deutschland niemand in den Sinn.

Auch der Euro ist ein Resultat der Vereinigung, ein Preis, der dafür bezahlt wurde, dass Frankreich und England ihre Bedenken gegen ein größeres Deutschland bezwangen. Deshalb wurde die Deutsche Mark geopfert. Wie schon bei der deutsch-deutschen Währungsunion kamen ein Überschuss politischen Wollens und ein Mangel ökonomischer Vernunft zusammen. Erneut wurde darauf verzichtet, zuerst die ökonomischen Voraussetzungen für die Gemeinschaftswährung zu schaffen, in Griechenland und anderen Beitrittsländern. Mit gefälschten Daten und falschen Versprechungen betrogen die Politiker sich selbst und die Bürger. Es kam unweigerlich zur Schuldenkrise der EU – vor allem zum Nachteil von Deutschlands Sparern.

Die Berliner Republik ist »das beste Deutschland, das es jemals gegeben hat« (Bundespräsident Steinmeier, 2020) – jedenfalls im Selbstverständnis des Juste Milieu. Es übersieht und unterschätzt den größten Sprengsatz: den demografischen Wandel. Immer weniger Jüngere kommen für immer mehr Alte auf. Die Regierung rühmt das Plus in der Rentenkasse und übergeht dabei, dass die Steuerzahler jährlich 100 Milliarden zuschießen müssen. Das System wird kollabieren. Ein Großteil der Bürger, die ein Leben lang gearbeitet und Steuern gezahlt haben, fürchtet Altersarmut. Die Sorge kann ihnen niemand nehmen.

Wer beklagt, wie dieses Land heruntergewirtschaftet wird, bekommt zu hören, er wolle nur die Zeit zurückdrehen und trauere der Vergangenheit nach. Die Kritik an der real existierenden Krise hat aber nichts mit Nostalgie zu tun. Wahr ist nur: Die Berliner Republik hat von der Bonner Republik nicht gelernt und will auch nicht lernen, am wenigsten von ihren Fehlern.

Das gestörte Verhältnis der Deutschen zur eigenen Geschichte zu reparieren, versprach die Gründung der Berliner Republik. Nun endlich mit sich im Reinen, versuchen die Deutschen sich nicht mehr vor sich selbst zu retten. Jetzt retten sie die ganze Welt.

Das neue Zauberwort hieß Globalisierung. Das Ende der Ost-West-Konfrontation und der vermeintliche Sieg des Kapitalismus fielen zusammen mit der technologischen Revolution des Internets. Investoren und Spekulanten schaufelten nun das Kapital rund um die Uhr rund um die Welt. Das verhieß Wachstum ohne Ende. Es verhalf Millionen Menschen in den Schwellenländern zu einem besseren Leben.

Zugleich wurden die Unterschiede obszön. Profiteure machten in den Jahrzehnten der hemmungslos entgrenzten Globalisierung ihren Schnitt. Auch das gehört zur Geschichte des Epochenbruchs nach 1989. Der Staatenwelt fehlten die Mittel und der politische Wille, dem Kapital Grenzen zu setzen. Kaum jemand nahm die neuen ökonomischen und geostrategischen Gefahren ernst.

Der freie Markt schafft Freiheit: Diese Annahme erwies sich als falsch. Demokratie wurde keineswegs zum weltweiten Erfolgsmodell. Wo immer der Westen es mit Gewalt durchzusetzen versuchte, im Irak, in Afghanistan, in Libyen, scheiterte er. Der Arabische Frühling mündete im Erstarken des politischen Islam. Diktatoren bestimmen heute das Spiel, Autokraten, imperialistische Machthaber, Putin und Xi.

Sogar der Pazifismus der Deutschen schwankt. Sein Fundament war niemals Friedensliebe, sondern einfach Schiss. Nicht behelligt werden wollen die Deutschen. Das macht sie immer wieder überall beliebt. Gegen die Weltunordnung, die sie heute erleben, fühlte sich der Kalte Krieg, der die Bonner Republik prägte, geradezu heimelig an.

Die zweite Wende kam keine dreißig Jahre nach der ersten. Der Sozialismus ist nicht besiegt, er drängt mit Macht zurück. Unter einer neuen Parole: Rettet das Klima! Aus Rot wird Grün, aus Grün wird Rot. Die Klimaideologie ist der Treibriemen einer machtvollen Transformation.