Vorwiegend festkochend - Wolfgang Herles - E-Book

Vorwiegend festkochend E-Book

Wolfgang Herles

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Beschreibung

Ein einzigartiger Streifzug durch Geschichte und Gegenwart der deutschen Küche

Wir sind, was wir essen, und das lässt sich nicht nur für jeden Einzelnen von uns sagen, sondern auch für die Deutschen insgesamt. In Artikeln wie »Bohnenkaffee«, »Einbauküche«, »Gutbürgerlich«, »Kraut und Rüben« oder »Weihnachtsessen« erkundet Wolfgang Herles die Seele der Deutschen, wie sie sich in Küchen und Esszimmern, in Restaurants und an Imbissbuden präsentiert. Er erforscht die Vielfalt der Küchen und Gerichte, ob regional geprägt oder international bereichert, und geht den typischen Eigenheiten der deutschen Nahrungsaufnahme samt ihrer Geschichte auf den Grund, vom Butterbrot bis zum Sonntagsbraten. Immer auf der Suche danach, was die Esskultur über uns verrät.

Mit zahlreichen Fotos des Autors

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Seitenzahl: 606

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Zum Buch

Wir sind, was wir essen, und das lässt sich nicht nur für jeden Einzelnen von uns sagen, sondern auch für die Deutschen insgesamt. In Artikeln wie »Bohnenkaffee«, »Einbauküche«, »Gutbürgerlich«, »Kraut und Rüben« oder »Weihnachtsessen« erkundet Wolfgang Herles die Seele der Deutschen, wie sie sich in Küchen und Esszimmern, in Restaurants und an Imbissbuden präsentiert. Er erforscht die Vielfalt der Küchen und Gerichte, ob regional geprägt oder international bereichert, und geht den typischen Eigenheiten der deutschen Nahrungsaufnahme samt ihrer Geschichte auf den Grund, vom Butterbrot bis zum Sonntagsbraten. Immer auf der Suche danach, was die Esskultur über uns verrät. Mit zahlreichen Fotos des Autors.

Wolfgang Herles

VORWIEGENDFEST-KOCHEND

Kultur & Seeleder deutschen Küche

Sämtliche Abbildungen © Wolfgang Herles

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.Copyright © 2019 by Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenLektorat: Ulla Mothes, BerlinBildbearbeitung: Lorenz & Zeller, Inning am AmmerseeUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildungen: © Foodcollection / Getty Images; © Nanni Schiffl-Deiler, MünchenSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-21608-5www.penguin-verlag.de

Zum Autor

Wolfgang Herles, Jahrgang 1950, ist Schriftsteller und einer der profiliertesten deutschen Fernsehjournalisten und Autor erfolgreicher Sachbücher und Romane. Einem großen Publikum ist Herles als Moderator des ZDF-Kulturmagazins »Aspekte« und der Literatursendung »Das blaue Sofa« bekannt. Er lebt in München und Berlin.

Inhalt

Gruß aus der Küche

Apfelbaum

Bananenrepublik

Bauernopfer

Bio

Bismarckhering

Bohnenkaffee

Brotzeit

Brühwürfel

Butterbrot

Currywurst

Diätwahn

Eat-Art

Einbauküche

Extrawurst

Feinkost für Feinschmecker

Fernsehköche

Fleischeslust

Foodporn

Frühstücksei

Gaststättenverordnung

Gehacktes

Geschmackssache

Goldbroiler

Grillgut

Gulaschkanone

Gutbürgerlich

Hausmannskost

Hopfen und Malz

Hungersnot

Imbissbude

Käseigel

Kochkunst

Kraut und Rüben

Lecker

Leitungswasser

Mahlzeit

Manieren und Sitten

Maultasche

Milchmädchenrechnung

Nationalgericht

Oans, zwoa, gsuffa!

Pfeffersack

Rülpset und furzet!

Sättigungsbeilage

Saumagen

Schlachtschüssel

Schlaraffenland

Schnapsnase

Sonntagsbraten

Soße und Sauce

Spätlese

Speisekarte

Staatsbankett

Suppenkaspar

Thermomix

Vegetarier und Veganer

Verbraucher

Völlerei

Vorwiegend festkochend

Waldpilze

Weihnachtsessen

Weißwurstäquator

Zuckerbrot

Zukunft auf dem Teller

Literatur

Für Diethard

»Jedes Leben endet mit dem Tod, jeder Tag mit einer Mahlzeit.«

Hermann Fürst von Pückler-Muskau

Gruß aus der Küche

Eine Liebeserklärung an die deutsche Küche ist das hier natürlich auch – aber zugleich viel mehr. Was den Deutschen schmeckt, wie sie kochen, übers Essen reden und schreiben, ist Ausdruck ihrer Kultur, ja, ihrer Seele.

Die Gründe für unterschiedliche Esskulturen sind im Klima und anderen Produktionsbedingungen zu finden. Aber auch in fest verwurzelten Traditionen. Gerade auf dem Teller zeigt sich, wie unverwüstlich Mentalitäten sind. Sie machen den Geist der deutschen Küche aus und widerlegen die Behauptung, jenseits der Sprache sei deutsche Kultur »schlicht nicht mehr identifizierbar«, wie die ehemalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özuğuz behauptete. Gerade auf dem Teller ist deutsche Kultur nach wie vor identifizierbar.

So ist dieses Buch auch eine Fortsetzung von Thea Dorns und Richard Wagners Bestseller »Die deutsche Seele«. Wer bloß ein wenig herumstochert auf den Tellern, in Töpfe, Pfannen und Gläser guckt, bekommt schnell ein ziemlich präzises Bild der Deutschen, einst und heute.

»Gegessen wird, was auf den Tisch kommt.« Der deutsche Volksmund fackelte früher nicht lange, wenn die Mäuler gestopft wurden. Haut rein! Essen war Sättigung. Die Verköstigung bestand selten aus Köstlichkeiten. Der deutsche Magen galt als strapazierfähig. »Vergeblich habe ich viele hundert deutsche Köchinnen zum Besseren zu leiten versucht«, schrieb desillusioniert schon der bedeutendste der nicht allzu vielen deutschen Küchenphilosophen, Carl Friedrich von Rumohr, im neunzehnten Jahrhundert. Er wollte die Deutschen keineswegs nach dem Vorbild der genusssüchtigen französischen Schleckermäuler erziehen, war er doch Patriot. Für ihn hieß die Parole auch in der Küche: Deutschland gegen Frankreich. Deutsche Werte – das Einfache, Klare, Pure, Natürliche – führte er gegen französische Prinzipien – Raffinesse, Aufwand, Überfeinerung – ins Feld. Deutsche Esskultur ist von jeher an den Unterschieden zur französischen zu erkennen, auch wenn Deutschlands Küche längst erwacht ist und international mithält.

Mit den deutschen Vorlieben verhält es sich noch immer wie bei den deutschen Kartoffeln: Bevorzugt werden sie »vorwiegend festkochend«. Deutsche wollen etwas Ordentliches, Strammes auf dem Teller. Ohne viel Schnickschnack. Aber auch hierzulande wird zunehmend gefragt, warum etwas schmeckt und ob es überhaupt noch schmecken darf. Denn heutzutage ist das Gute zugleich das Gesunde.

Ja, die Deutschen zeigen auch beim Essen zunehmend kritisches Bewusstsein. Das war nicht immer so. Jahrhundertelang fürchteten sie den Hunger, heute haben sie eher Angst vor dem Essen. Romantisch und fortschrittsskeptisch lieben sie möglichst viel »Natur« auf dem Teller. Nicht der Mangel, sondern der Überfluss schafft heute Unbehagen. Dieses Buch ist ein Bekenntnis zur Lust am guten Essen und Trinken. Moralaposteln und Körnerfressern mag es weniger munden. Ins Regal der Ernährungsratgeber und professionellen Kostverächter passt es nicht.

Es erzählt auch von enormem Wandel. Die deutsche Küche hat sich geöffnet. Sie hat zwar immer Fremdes aufgenommen, vieles, was als »typisch« deutsch gilt, kommt von weit her, nicht zuletzt die Kartoffel. Aber heute herrscht grandiose Weltoffenheit auf den Tellern, und auch die ist, wenn man so will, typisch für dieses Land.

Dabei geht es nicht bloß um Gerichte, sondern um die Einstellung zum Essen, um die Veränderung der Ernährung überhaupt. Wenn Deutsche übers Essen reden, klingt es auch deshalb immer öfter englisch. Indoor farming, Superfood und Slowfood, Streetfood und Junkfood, Clean Food und Genfood, Covenience Food, Foodporn und der grüne Veggieday. Die Vorlieben der Deutschen ändern sich nicht überall so rasant wie in hippen Großstadtrevieren, aber überall ist Essen eine Leidenschaft.

Wie passt diese Lust jedoch zur Knausrigkeit im Supermarkt und diese wiederum zum neu erwachten Bewusstsein für gesunde Ernährung und die Rettung des Klimas durch Verzicht? Wie die Gier nach fremder Kost zur Liebe zu Omas Küche? Die Antworten stecken voller Geschichte, Märchen, Mythen und Fakten. Von A bis Z.

Markthalle 9, Berlin

Apfelbaum

Der Biss in den ersten Apfel der Saison: jedes Mal wieder ein Erlebnis. Bereits im Juli ist er reif. Er gewinnt keinen Schönheitspreis, ist meist unsymmetrisch, eher klein, von unauffälligem Hellgrün. Der heimische Klarapfel – typisch deutsch? Die Sorte stammt aus dem Baltikum und breitete sich erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts über Frankreich in ganz Europa aus. Am besten, man pflückt diesen Apfel vom Baum und genießt sofort. Denn kaum geerntet, wird er bereits mehlig. Druckempfindlich ist er leider auch, also nicht lagerfähig, weshalb er im Handel keine Rolle spielt.

Damit ist er allerdings nicht allein. Von A (wie dem um 1800 aufgetauchten Aachener Hausapfel) bis Z (wie die 1885 in Hausen an der Zaber kultivierte Zabergäurenette) zählt Deutschland fast fünftausend Apfelsorten mit noch viel mehr regional unterschiedlichen Namen. Im Handel sind nur etwa fünfzig Sorten. Drei davon machen siebzig Prozent des Umsatzes: Jonagold, Golden Delicious, Red Delicious. Mit Abstand folgen Granny Smith, Elstar, Cox Orange, Schöner aus Boskoop.

Knapp eine Million Tonnen werden in Deutschland pro Jahr geerntet. Zwei Drittel der Deutschen nennen den Apfel ihr liebstes Obst. Doch ist von dieser innigen Liebe zum Apfel im Handel wenig zu spüren. Weshalb nehmen die Deutschen diese Verarmung in Kauf? Weshalb verlangen sie nicht den verlorenen Reichtum an Geschmack zurück? Weil sie den Unterschied nicht mehr schmecken. Weil es ihnen egal ist, solange der Preis stimmt.

Der Grund der Verarmung ist simpel. Im Fokus der Produktion stehen Vermarktung, Lager- und Transportfähigkeit, Normierung und Bürokratisierung, aber nicht die wahre Qualität der Früchte, nicht der Genuss und schon gar nicht das geradezu magische Wesen des Apfels. Um das Elend zu begreifen, genügt ein Blick in die Marktordnung.

Auszug aus der Durchführungsverordnung Nr. 543 / 2011 der EU-Kommission zur Verordnung Nr. 1234 / 2007 des Rates für die Sektoren Obst und Gemüse. Anhang I, Teil B, Teil 1, Vermarktungsnorm für Äpfel, Klasse Extra. »Die Äpfel müssen folgende sortentypische Mindestfärbung aufweisen: bis 3 / 4 der Gesamtfläche mit roter Färbung in der Färbungsgruppe A, bis 1 / 2 der Gesamtfläche mit gemischt-roter Färbung in der Färbungsgruppe B, bis 1 / 3 der Gesamtfläche mit leicht rot verwaschener oder rot gestreifter Färbung in der Färbungsgruppe C.« Neben Farbe und Form ist auch die Größe genormt: »Um die Gleichmäßigkeit hinsichtlich der Größe zu gewährleisten, darf der Größenunterschied zwischen den Erzeugnissen eines Packstücks folgende Grenzen nicht überschreiten: a) für nach Durchmesser sortierte Früchte: bis 5 mm bei Früchten der Klasse Extra und Früchten der Klasse I und II, die in Lagen gepackt sind …« Und so weiter.

Setzt sich niemand zur Wehr? Das Apfelnetzwerk, gegründet 2009 unter Federführung des Bundesforschungsinstituts für Kulturpflanzen des Julius-Kühn-Instituts in Potsdam, hat sich zum Ziel gesetzt, die genetische Basis von wenigstens etwa tausend Apfelsorten zu erhalten. Sie sollen jeweils an mindestens zwei Orten angepflanzt bleiben. Der Grund dafür ist wiederum kein kulinarischer, sondern ein ökologisch-ökonomischer. Erhalten werden soll die genetische Basis nämlich zur Züchtung neuer Sorten, die mit geringerem Verbrauch von Pflanzenschutzmitteln höhere Erträge bringen.

Neue Sorten, die auf den Markt kommen, sind jedoch meist nicht alte, vergessene, sondern neue Züchtungen. Sie heißen dann Red Prince (»ein Typ zum Anbeißen«) oder Green Star (»ein perfekter Durstlöscher«), so die Markennamen für »Clubsorten«, wie sie von einer limitierten Zahl von Erzeugern vertrieben werden. Geworben wird beim Green Star damit, dass er in der Brotdose nicht braun wird, was dem Geschmack eines Apfels keinen Abbruch tut, nur eben dem Aussehen.

Apfelmarketing auf der Fruit Logistica in Berlin

Bekanntlich hat ja alles Elend unter einem Apfelbaum begonnen. Damit, dass Adam etwas Verbotenes gegessen hat. Dem Mann blieb gleich der erste Bissen im Hals stecken. Dort ist Adams Apfel immer noch zu sehen. Vor der Vertreibung aus dem Paradies ins irdische Jammertal stand ein Apfelbaum. Der Biss in den Apfel ist die Ursünde, die den Verlust der Harmonie zwischen Schöpfer und Geschöpf symbolisiert. Damit verlieren Adam und Eva nicht nur ihre Unschuld, sondern auch ihre Unsterblichkeit. Mit dem Genuss des Apfels tritt der Tod auf die Bühne des Lebens. Eros und Tod sind nicht zu trennen.

So wird mit einem Apfelbaum auch alles enden, zumindest in Deutschland. Denn es ist ein Apfelbäumchen, das Martin Luther »heute noch« pflanzen würde, »wenn morgen die Welt unterginge«. Wäre es nicht sinnlos? Doch der Sinn des Lebens ist es eben nicht, immer nur Sinnvolles zu tun. Der Sinn des Lebens ist vielmehr das Leben selbst.

Möglich, dass das theologisch nicht ganz korrekt formuliert ist. Aber gerade mit diesem Satz kommt mir Martin Luther besonders deutsch vor. Eine Sache um ihrer selbst willen tun – und zu übertreiben. Auch wenn es das Letzte ist, was noch zu tun bleibt.

Streng genommen ist in der Bibel allerdings von einem Apfelbaum keine Rede. Nur in der Vorstellung der Deutschen trägt der Baum der Erkenntnis Äpfel. (Die Frucht, die Paradiesapfel heißt – Paradeiser in Österreich – , ist eine Tomate.) Womöglich hängt das botanisch-theologische Missverständnis mit der lateinischen Namensgleichheit von malum (Apfel) und malum (das Böse) zusammen.

Die Schlange lockt, doch der Apfel ist das Objekt der Begierde. Adam und Eva verletzen die totale Autorität ihres Schöpfers, geben einer stärkeren Kraft nach: ihrer Neugier. Der Biss in den Paradiesapfel macht Adam und Eva zu Verwandten des Prometheus, der den Göttern das Feuer stiehlt und damit zum ersten Koch der Menschheit avanciert. Im Paradies gibt es alles, nur keine Freiheit. Ein noch immer aktuelles Thema. Die meisten Menschen würden wohl im Zweifel ihre Freiheit gegen ewige Sorglosigkeit eintauschen.

Wer nach Erkenntnis strebt, begnügt sich nicht mehr mit dem Glauben. Glauben kann der Mensch nur blind. Wissen dagegen heißt erkennen. Adam und Eva erkennen sich nackt. Ihre Sexualität erwacht und damit ihre Scham.

Auf Albrecht Dürers grandiosem Gemälde betrachtet Eva ihren Adam mit unverhohlenem Interesse. Wie beiläufig hält er einen dünnen Zweig in der Hand, an dem eine große, pralle Frucht hängt, ohne den Zweig zu biegen. Der Apfel, nicht das Feigenblatt, bedeckt das Geschlechtsteil. Die beiden sind so schön wie Venus und Apoll. Dürer bezieht sich auch auf antike Götter, erweist sich als Künstler der Renaissance. Im Mittelalter hätte man ihm noch vorgeworfen, Götzenbilder zu malen.

Faust, Inbegriff des deutschen Manns, der in seinem Erkenntnisdrang den Pakt mit dem Teufel eingeht, ist auch so ein Renaissancemensch. In Goethes Schauspiel tanzt er in der Walpurgisnacht mit einer jungen Schönen. Unverfroren macht er sie an: »Einst hat ich einen schönen Traum; / Da sah ich einen Apfelbaum, / Zwei schöne Äpfel sah ich dran, / Sie reizten mich, ich stieg hinan.« Worauf die Schöne antwortet: »Der Äpfelchen begehrt ihr sehr / Und schon vom Paradiese her. / Von Freuden fühl ich mich bewegt, / Dass auch mein Garten solche trägt.« Das muss nicht erklärt werden. Goethe ist ein Apfelfreund, in jeder Hinsicht. Im zweiten Teil des »Faust« finden wir die unsterblichen Zeilen: »Über Rosen lässt sich dichten, / In die Äpfel muss man beißen.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Der Apfel ist doppeltes Sinnbild: für die verbotene Frucht wie für die Schönheit. Schönheit und Eros sind so wenig voneinander zu trennen wie Eros und Macht. Auch dieses Motiv kennen wir aus der Antike. Paris hat die Qual der Wahl. Der schönsten der drei Göttinnen wird er einen Apfel als Siegespreis überreichen. Schön sind sie alle drei. Athene bietet dem Prinzen von Troja zusätzlich Weisheit, Hera Macht. Er aber entscheidet sich für Aphrodite, für nichts als die Schönheit. Wie auch immer Paris gewählt hätte, die Rache der unterlegenen Göttinnen wäre ihm gewiss gewesen. Der Apfel ist Zankapfel. Paris nimmt sich die schöne Helena zur Frau, die dummerweise schon mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet ist.

Warum nur entzündet sich am Schönen so oft das Böse? Die böse Königin kann es nicht ertragen, dass Schneewittchen die Schönste ist im ganzen Land. Ihr Mordwerkzeug: ein vergifteter Apfel. »Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, dass jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam; aber wer ein Stück davon aß, der musste sterben.« Schönheit und Niedertracht sind im Apfel vereint, von der Bibel bis zum deutschen Märchen.

Auch in der deutschen Oper: In Wagners »Ring«-Tetralogie, gleich im ersten Teil, dem »Rheingold«, ist die Unsterblichkeit der Götter in Gefahr. Und damit Wotans Macht. Alles hängt an den Äpfeln. Die schöne Freia ist auf Walhall zuständig für das Ressort Gartenbau und Liebe. »Goldne Äpfel wachsen in ihrem Garten; / sie allein weiß die Äpfel zu pflegen: / der Frucht Genuss / frommt ihren Sippen / zu ewig nie / alternder Jugend«, singt Fafner, der Riese. Er hat gute Gründe, Wotan daran zu erinnern. Der vertragsbrüchige Potentat kann die Rechnung für den Neubau von Walhall nicht bezahlen. Deshalb nehmen die Bauunternehmer Fafner und Fasolt Freia in Geiselhaft. Was aber soll nun aus den Äpfeln werden und aus der Götter Unsterblichkeit? »Siech und bleich / doch sinkt ihre Blüte, / alt und schwach / schwinden sie hin, / müssen Freia sie missen.« Freia muss mit dem geraubten Gold der Nibelungen aufgewogen und ausgelöst werden. Schon tönt das Ende leitmotivisch in den Ohren, die Götterdämmerung.

Das Apfelmotiv entnahm Wagner der nordischen Sagenwelt. Das Paradies der Kelten ist Avalon – Apfelland. König Artus ritt nach Avalon, um Heilung zu finden. Der Apfel muss also schon sehr früh heimisch gewesen sein im Norden Europas. Der Wildapfel Malus silvestri wurde schon in der Jungsteinzeit kultiviert zum Malus domestica.

Das Know-how der Römer war beim Apfelanbau hilfreich. Sie veredelten, indem sie pfropften. Das deutsche Verb leitet sich vom lateinischen propagare, fortpflanzen, ab. Doch hatte der deutsche Apfel die lateinische Propaganda gar nicht nötig. Das ist schon daran zu erkennen, dass sich das ältere germanische Wort Apfel, althochdeutsch apful, durchgesetzt hat.

Den Reichsapfel hielten die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation als Insignie ihrer Herrschaft zur Krönung in der linken Hand, ein Symbol für die Macht über den Erdball. In unseren Tagen wird die Symbolik umgedeutet. In der Hand des Menschen ist die Erde nicht mehr sicher. »Dieser Apfel dort / ist die Erde / ein schönes Gestirn / auf dem es Äpfel gab / und Esser von Äpfeln«, dichtete Hans Magnus Enzensberger.

Die meisten Äpfel werden allerdings getrunken. Durch die Jahrhunderte war Most das hauptsächliche Getränk der einfachen Deutschen, bis weit ins Mittelalter hinein. Met, meist vergoren aus Honig und Äpfeln, verbreiteter als Bier. Die Germanen kelterten Äpfel, als die Römer Wein anbauten. Die nannten den sauren Most Vice Vinum, Vizewein, Weinersatz, weshalb im Umland der ehrwürdigen römischen Kapitale Augusta Treverorum (Trier) der Stoff bis heute Viez gerufen wird. Der Historiker Plinius der Ältere schrieb: »Vinum fit e piris malorumque omnibus generis.« Wein wird aus Birnen und Äpfeln aller Arten gemacht. Wo Bartel den Most holt, ist nicht gut Kirschen essen.

Most! Erinnerungen an berauschende Kindheitserlebnisse steigen auf, die mein Illertissener Onkel zu verantworten hatte. Das hausgemachte, laut Lebensmittelrecht »weinähnliche Getränk« von mindestens sechs Prozent Alkohol löscht den Durst besser als Wein und Bier und beflügelt die Verdauung. Es lässt sich nicht aus dem übersüßen Tafelobst der Supermärkte keltern, sondern verlangt nach gerbstoffreichen alten Sorten, etwa nach den kleinen Mostbirnen, die lange Zähne machen, falls man unbedingt hineinbeißen muss. Im Süddeutschen, in der Schweiz und in Österreich (Mostviertel) ist Apfelwein Kulturgut.

Ganz besonders auch im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Dort hält man den Ebbelwoi in tönernen Krügen aus dem Kannebäckerland kühl, ehe das Stöffche aus dem Bembel ins geribbte Glas geschenkt wird, Schobbe für Schobbe. Die einschlägigen Kneipen tragen lustige Namen: Daheim im Lorsbacher Thal oder Kanonesteppel.

Apfelernte am Bodensee

Unvergorener Apfelsaft, gespritzt oder pur, ist heute der bevorzugte Saft der Deutschen. Nach kulinarischen Maßstäben ist der größte Teil davon nur als Schorle gegen den gröbsten Durst genießbar. Saft aus Apfelsaftkonzentrat dominiert den Handel. Dessen Herkunft darf verschwiegen werden. Nicht selten stammt das sirupartig eingedampfte Konzentrat aus China, dem größten Produzenten der Welt. Abgesehen von immer wieder entdeckten Schwermetallen und Pestiziden sind die chinesischen Zuchtäpfel so süß, dass Zitronensäure nicht bloß zur Konservierung in den Saft muss. Wieder schlägt der Preis die Qualität.

Natürlich produzieren am oberen Ende der Skala kleine Mostereien direkt gepresste, oft auch sortenreine Apfelsäfte zum fünffachen Preis. Die besten Saftbauern arbeiten so sorgfältig wie Winzer, sortieren matschiges Fallobst aus, bevorzugen alte Bäume von Streuobstwiesen, düngen nicht mit Kunstdünger, verringern der Qualität zuliebe den Ertrag. Die Kraft der Aromen mit Wasser zu schwächen wäre so barbarisch, wie die besten Weine für Gespritzten herzunehmen. Schon sind Sommeliers zu finden, die die passenden, sortenreinen Direktsäfte als Menübegleiter empfehlen. Es ist der Reichtum vergangener Zeiten, der allmählich wiederentdeckt wird. Er ist seinen Preis wert, preiswert aber ist er nicht.

▸Bauernopfer, Bio, Fleischeslust, Geschmackssache, Hopfen und Malz, Schnapsnase, Spätlese

Bananenrepublik

Deutschland, eine Bananenrepublik? Was das besonders innige Verhältnis der Deutschen zur Banane angeht, ganz gewiss. Sie schätzen sie mehr als andere Völker, jedenfalls unter denen, die keine Bananen anbauen. Das drückt schon die der deutschen Sprache vorbehaltene, ein wenig aus der Mode gekommene Phrase »Alles Banane« aus: alles Bestens.

Lange stand die Banane beispielhaft für die Versorgungsprobleme der DDR und wurde damit auch zu einer innerdeutschen Angelegenheit. Als Symbol der Wiedervereinigung schuf Klaus Staeck, der aus Sachsen stammende Politgrafiker, ein Plakat, das eine Bananenschale zeigt, aus der eine Bockwurst ragt. Da wächst zusammen, was offenbar nicht zusammengehört und dennoch zusammenpasst. Nach der letzten Volkskammerwahl der DDR, der ersten demokratischen, zog der westdeutsche Innenminister Otto Schily eine Banane aus der Tasche, um zu illustrieren, weshalb nicht seine Partei, die SPD, gewonnen hatte, sondern die CDU des Kanzlers. Hatte Helmut Kohl doch das Ende des Mangels versprochen, also auch Bananen. Schily verspottete die mit dem Geist der kapitalistischen Marktwirtschaft erleuchteten Brüder und Schwestern.

»Bananen! Richtige Bananen!« sind das Highlight der Büfetts in jenem Villenviertel Dresdens, in dem DDR-Bürger in Uwe Tellkamps preisgekröntem Roman »Der Turm« ihre bildungsbürgerliche Parallelgesellschaft pflegen. »Habe schon fünf verdrückt und ein paar auch um die Ecke geschafft. […] Für die Kinder«, triumphiert Malthakus. Man erzählt sich auch Bananenwitze. »Auf dem Alexanderplatz in Berlin wurde ein Bananenautomat aufgestellt. Steckt man oben eine Banane hinein, kommt unten ein Markstück heraus.« Ob eine Ost- oder eine Westmark, lässt der Roman offen.

Dem Mangel an Bananen ist der Schlager zu verdanken, den die Spatzen schon von deutschen Dächern pfiffen, als es die DDR noch gar nicht gab. »Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir! Nicht Erbsen, nicht Bohnen, auch keine Melonen, das ist ein’ Schikan von ihr!« Der deutsche Text des Erfolgshits stammt von Fritz Löhner-Beda, den die Nazis in Auschwitz umbrachten. Allerdings wurde der Bananenmangel, auf den der Songtext anspielt, nicht von deutscher Misswirtschaft verursacht, sondern von Braunfäule im Herkunftsland Brasilien. Die Krankheit traf nicht nur Europa, sondern auch die USA, wo dieser Schlager entstand.

Anhänger der nationalistischen Organisation Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) schwenkten schwarz-rot-goldene Fahnen mit Bananen an der Stelle, an der früher Hammer und Zirkel der DDR prangten. Damit erregten sie den Verdacht auf Verunglimpfung staatlicher Symbole. Die Fahnen wurden von der Polizei beschlagnahmt. Nein, als Bananenrepublik will sich Deutschland nicht verspotten lassen. Ist es doch eindeutig keine Bananenrepublik im Sinne der von Korruption und Misswirtschaft gebeutelten mittelamerikanischen Staaten, in denen tatsächlich Bananen wachsen. Obwohl einem sofort der Berliner Flughafen oder die »Gorch Fock« einfallen.

Die Sehnsucht nach Bananen ist in den Ländern der ehemaligen DDR auch Jahrzehnte nach dem Beitritt zum Schlaraffenland BRD noch immer überdurchschnittlich groß. Auch in dieser Hinsicht leben die Deutschen tatsächlich in einer Bananenrepublik. Sie vertilgen jede dritte in Europa verkaufte Banane, obwohl sie nur sechzehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. 1,4 Millionen Tonnen, zwölf Kilo pro Person, etwa achtzig Stück mittlerer Größe pro Jahr.

Anlass zur Sorge gibt, dass der Welthandel an einer einzigen Sorte hängt, die akut von Schädlingen bedroht ist. Die Bananenindustrie bezahlt den Preis der Monokultur nicht zum ersten Mal. Bereits in den Fünfzigerjahren erledigte die Panamakrankheit die damals dominierende Sorte Gros Michel. Deren leider nicht so süße Nachfolgerin, die Cavendish, ist doppelt so ertragreich, leichter zu ernten und beherrscht heute den Bananenmarkt – wenn auch vermutlich nicht mehr lange. Die Pilze Black sigatoka und Tropical Race 4 rücken ihr zu Leibe. Forscher züchten um die Wette, entwickeln neue, resistente Sorten. Noch schnellere Abhilfe verspricht die Gentechnik. Doch auch die Abneigung der Deutschen gegen Gentechnik auf dem Teller ist überdurchschnittlich stark. Man wird sehen, was stärker ist, der Appetit oder der Argwohn.

Feinschmecker bevorzugen ohnehin die kleineren, süßeren karibischen Bananen und haben auch für roh nicht genießbare Kochbananen als Gemüse Verwendung. Noch liegt die Einheitsbanane in den Regalen, dank EU-Bananenmarktordnung. Die Bananenmarktordnung legt lediglich Länge (nicht unter vierzehn Zentimeter) und Dicke (niemals weniger als siebenundzwanzig Millimeter) fest und unterscheidet zwischen Gemeinschaftsbanane, AKP-Banane (Afrika-Karibik-Pazifik im Sinne des Abkommens von Lomé) sowie Drittlandsbanane. Sie werden jeweils unterschiedlich verzollt. Die Eurobanane, grün und hart geerntet, übersteht den Transport dadurch leichter, dass sie erst am Bestimmungsort reifen darf. Das aber ist dem deutschen Bananenfreund gleichgültig. Hauptsache, die Kalorienbombe (hundertfünfzig Kilokalorien pro mittelgroße Banane) mit hohem Kaliumgehalt ist günstig zu kriegen. Dies ist der Fall, solange Umwelt- und Sozialbedingungen in den echten Bananenrepubliken mangelhaft bleiben. Hungerlöhne auf Riesenplantagen – auch solchen, die ein »Rainforest-Alliance-Siegel« auf die Früchte kleben – subventionieren den deutschen Appetit auf Bananen.

Warum ist die Banane krumm? Nicht etwa, weil sie, wie ein Witz behauptet, um die DDR einen Bogen gemacht hat. Der Grund liegt in dem, was Biologen negativen Geotropismus nennen. Bananen drehen sich, eingezwängt ins Kollektiv des Büschels zu je sechs bis zwanzig »Händen«, von Beginn ihres Wachstums an gegen die Schwerkraft der Sonne zu. Gekrümmt aus Freiheitsdrang: Mit diesem Widerspruch muss die Banane leben.

Und reden wir nicht darum herum, die Banane nährt auch die erotische Fantasie, überhaupt künstlerische Fantasien. Natürlich ist es ein deutscher Künstler, der weltweit als »Bananensprayer« bekannt geworden ist. Der vom Niederrhein stammende Thomas Baumgärtel sprüht seit 1986 ungefragt Bananen an die Fassaden von bisher etwa viertausend Kunstmuseen und Galerien im In- und Ausland und etablierte so die Banane als Symbol für Kunst.

Der Bananensprayer war da. Kunstbunker des Sammlers Christian Boros in Berlin

Auf der Art Karlsruhe sorgte er 2018 für einen Eklat. Er steckte auf einer Karikatur seine phallische Lieblingsfrucht dem türkischen Präsidenten Erdoğan in den Hintern. Man muss das nicht pornografisch verstehen, kann es auch politisch-polemisch interpretieren: Die Kunst, symbolisiert durch die Banane, erniedrigt den Diktator. Politisch korrekt ist das nicht. Und weil die Deutschen in Sachen Political Correctness Spitze sind, gab es Ärger. Nach Protesten trennten sich der Galerist vom Bild und der Künstler vom Galeristen.

▸Bio, Fleischeslust, Goldbroiler, Schlaraffenland, Zuckerbrot

Bauernopfer

Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Umgedreht scheint das deutsche Sprichwort noch immer zu stimmen: Was der Bauer nicht frisst, kennt er nur zu gut. Rückständigkeit auf der einen, skrupellose Industrialisierung auf der anderen Seite – kaum ein Berufsstand hat mit mehr und widersprüchlicheren Vorurteilen zu kämpfen. Man könnte auch sagen: »Was der Städter frisst, kennt er nicht.« Weil er von Ackerbau und Viehzucht keine Ahnung hat. Aber ist das den Bauern vorzuwerfen?

Verbraucher und Erzeuger hatten schon immer unterschiedliche Interessen. Aber noch nie war das Misstrauen so groß. Das ist schon daran zu erkennen, dass Verbraucherschutzministerium und Landwirtschaftsministerium gegeneinander arbeiten. Besonders plakativ war dies zu sehen, als das eine der beiden Ministerien 2017 seltsame Bauernregeln propagierte. »Steht das Schwein auf einem Bein, ist der Schweinestall zu klein.« Der Spruch ist selbstredend Mist. Solche Slogans sollten die Stadt gegen das Land aufhetzen, schimpfte der bayerische Bauernminister. Was hatte die Bundesministerin für Umwelt und Verbraucherschutz geritten, dafür Steuergeld auszugeben? War der Landwirt zum offiziellen Feindbild der Regierung avanciert? Die Regierung hätte genauso gut die Verbraucher attackieren können, etwa so: Muss das Schwein sehr billig sein, ist das Essen gar nicht fein.

Der Landwirt mistet den Stall aus, betreibt am Computer Herdenmanagement, manövriert seinen Betrieb durch den Paragrafenwald des EU-Agrarmarkts, wird dabei zum Spielball der Agrarindustrie und verdient damit weniger als ein Angestellter im Chemiewerk, dessen Produkte er großzügig einsetzt.

Dafür hat er einen Beruf, der mehr ist als ein Beruf, nämlich eine Lebensform. Er sieht sich als fleißiger und traditionsbewusster Bewahrer der Kulturlandschaft. Bei allem Stolz auf die eigene Scholle hält er sich gern für die schwächste Figur auf dem Schachbrett, an den Rand geschoben und anderen, mächtigeren Interessen geopfert.

Jungbauern – Landwirtschaftsfest München

Der Bauer folgte dem Jäger und Sammler, aber der Übergang dauerte viele Jahrtausende. Der frühe Mensch war Jäger, Sammler, Fischer und Bauer zugleich, bis vor etwa zwölftausend Jahren, in unseren Breiten erst vor siebentausend Jahren, die unbearbeitete Natur zum Überleben der wachsenden Bevölkerung nicht mehr genug hergab. Der Anbau von Lebensmitteln musste kultiviert werden. Mit dem Bauern kam die Sesshaftigkeit, mit der Sesshaftigkeit entstand Gesellschaft. Gesellschaftsgeschichte ist immer auch Ernährungsgeschichte.

Neuere Ausgrabungen, etwa bei den Pfahlbauten am Zürichsee vom Ende des vierten Jahrtausends v. Chr., belegen, dass der Tisch weitaus reichhaltiger gedeckt war als bisher vermutet. Nur etwa vierzig Prozent des Essens bestand aus Getreide. Es gab Alternativen, wenn Nahrungsquellen wetterbedingt ausfielen. Zum Beispiel Haselnüsse, mit dreizehn Prozent auf Platz zwei der Lebensmittel vor der Erbse mit neun Prozent. Es wurden Haustiere geschlachtet: Schweine, Rinder, Hunde. Aber auch Biber und Frösche kamen auf den Tisch. Wilde Äpfel, Brombeeren, Schlehen sorgten für Vitamine. Fett lieferte die Milch, aber auch Lein- und Mohnsamen.

Die Völker des Nordens, Kelten und Germanen, nutzten die unberührte Natur länger als die Hochkulturen im Süden. »Ackerbau betreiben sie wenig«, behauptete noch Cäsar. »Ihre Ernährung besteht zum größten Teil aus Milch, Käse und Fleisch. Jagen, Fischen, Sammeln.« Die Tiere, die sie züchteten, lebten wild in den Wäldern. Was den Ackerbau anging, waren die Römer schon viel weiter.

Erst mit der Bevölkerungszunahme im neunten Jahrhundert begann die Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen, wurden Wälder großflächig gerodet, Sümpfe trockengelegt und urbar gemacht. Die Nachfrage stieg, des Bauern Bedeutung wuchs. »Die unberührte Natur wird von jetzt ab an den Rand der produktiven Werte und der vorherrschenden Ideen verbannt. Es ist dies der Anfang eines großen Booms – oder vielleicht auch einer großen Krise«, resümiert der Historiker Massimo Montanari. Denn mit der Zunahme der Flächen wuchs auch die Konkurrenz um deren Nutzung. Der Bauer lebte vom Land, der Adel vom Grundbesitz. Er beutete die Bauern aus, zog die Überschüsse ein. Die meisten Bauern lebten von dem, was übrig blieb. Sie hatten zwar Tiere im Stall, aber nur selten Fleisch auf dem Teller. Und sie verspürten wenig Anreiz, unter diesen Bedingungen effizienter zu wirtschaften, sie hatten ja nichts davon. Bauern und Grundherrschaft: ein Spannungsfeld. Selbst die Jagd war ein Privileg des Adels, das Bauern aus den Wäldern verbannte und zum Wildern nötigte. Fleisch war nun eine Frage des Standes und der Klasse. Unter den Bauern selbst, den wenigen reichen, den vielen armen, die kaum mehr schafften als ihre Selbstversorgung, war Getreide die Hauptnahrungsquelle.

Die Konzentration auf den Getreideanbau wiederum strapazierte wie jede Monokultur die Böden. Der Ertrag war zunächst mäßig, auf ein Samenkorn kamen lediglich vier Körner des geernteten Korns. Eine Lösung bot die Dreifelderwirtschaft. Alle drei Jahre lag ein Acker brach, um den Nährstoffgehalt der Erde aufzufüllen. Entsprechend niedriger war der Ertrag. Bessere Pflüge sollten das ausgleichen. Je tiefer die Pflugschar ins Erdreich schnitt, je fetter und schwerer die Erde war, desto mehr Zugtiere waren nötig – und desto weniger Chancen hatten die kleinen Bauern. Der Teufel schiss von jeher auf den größten Haufen. Arme Bauern mussten sich selbst vor den Pflug spannen, hatten keine Zugtiere und dazu noch weniger Mist zum Düngen für die Felder.

Immer wenn die Bevölkerung stark zunahm, expandierte auch die Landwirtschaft. Jedes Mal ging dem eine Periode des Mangels voraus. Erst die Not machte erfinderisch. So auch während der Kleinen Eiszeit im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, als die Durchschnittstemperatur in Mitteleuropa deutlich gegenüber dem warmen Mittelalter sank. Hunderttausende von Kleinbauern verelendeten. Gab das Land zu wenig her, bissen den Letzten die Hunde. Es gab bald weniger Bauern, aber größere Höfe, die für einen größeren Markt produzierten. In den Hungerjahren der Kleinen Eiszeit wuchs auch der internationale Handel mit Getreide, um Ernteausfälle zu kompensieren. Nachdem sich die Methoden von der Antike bis zum Beginn der Neuzeit kaum verändert hatten, machten nun neue Getreidesorten, verbesserte Viehzucht sowie Düngung die Landwirtschaft intensiver und effizienter.

Zum Stand der Bauern gehörten immer Arme und Reiche, Herren und Knechte. Bauerndörfer waren Orte enormer sozialer Gegensätze. 1520 beschrieb Johannes Bohemus den Bauernstand: »Ihre Lage ist ziemlich bedauernswerth und hart; sie wohnen abgesondert voneinander, demüthig, mit ihren Angehörigen und ihrem Viehstand. […] Geringes Brot, Haferbrei, gekochtes Gemüse ist ihre Speise, Wasser und Molken ihr Getränk.«

In unzähligen Berichten aus mehreren Jahrhunderten ist immer nur von der Not der Bauern zu lesen. Fernand Braudel, der große französische Historiker, zweifelt sie gleichwohl an: »Nehmen wir also die in der Literatur so häufigen Klagen über die Ernährung der armen Bauern […] nicht allzu wörtlich: Wir haben Beweise für das Gegenteil.« Auch das Jammern gehört seit jeher zum Geschäft.

Der Bauernstand war in Deutschland immer wieder Objekt und Opfer von Ideologie. Man mag auch den Neoliberalismus für eine Ideologie halten. Aber zunächst denken wir an die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis. Danach ist das rassisch reine Volk eins mit seinem Boden. Die Bauern wurden in den »Reichsnährstand« gezwungen. Der Staat legte Produktionsmengen und Preise fest. Der Reichsbauernführer war zugleich Landwirtschaftsminister. Sitz des Reichsnährstands war die Reichsbauernstadt Goslar. Der Verband war zäh, überlebte das Naziregime um etliche Jahre. Erst 2006 machte das Reichsnährstands-Abwicklungsgesetz dem Spuk auch juristisch ein Ende.

Die DDR sah sich als Arbeiter- und Bauernstaat. Vom Stand zur Klasse erhoben, hatten allenfalls Bauern ohne nennenswerten Landbesitz etwas davon. Als Werktätige der Scholle arbeiteten die Enteigneten zwangskollektiviert in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und Agrarfabriken. Im Osten war die Landwirtschaft allerdings zuvor weitgehend in der Hand meist adliger Großgrundbesitzer. So sahen und sehen die ärmlichen Dörfer bis heute aus. Es fehlt eine gewachsene bäuerliche Kultur, wie sie Süddeutschland eigen ist.

Großagrarier mit mehr als tausend Hektar Boden wurden schon in der Sowjetischen Besatzungszone entschädigungslos enteignet. Tausende flohen in den Westen. Die stalinistische Zwangskollektivierung der übrigen Landwirte lief seit 1952 in Wellen und auch noch nach Stalins Tod (1953) bis 1964. Wer sich weigerte, sein Land einer LPG zu überlassen, wurde »überredet«. Dabei halfen willkürlich überhöhte Ablieferungsquoten, »Ernteeinsätze« der Staatssicherheit und anderer Kampfgruppen der Arbeiterklasse; die Maßnahmen reichten von eingeschlagenen Fensterscheiben bis zum Psychoterror. Nur maximal ein halber Hektar Boden blieb zur privaten Bewirtschaftung. Vor dem Mauerbau 1961 flohen Zehntausende Bauern. Manche brannten ihre Höfe nieder und verübten Selbstmord.

Fast alle Bauern arbeiteten in den LPGs, wobei sich die Umstrukturierung auf riesige Monokulturflächen sowie Massentierhaltung und auch die mangelnde Erfahrung mit solchen Kulturformen negativ auswirkte. Die Ernten blieben hinter den Plänen zurück, die Versorgungsvielfalt der Bevölkerung mangelhaft, und von der propagandistisch behaupteten Überlegenheit gegenüber der kapitalistischen Landwirtschaft im Westen konnte keine Rede sein. Nach der Wende wollte ein großer Teil der Bauern sein Land nicht wieder selbst bewirtschaften. LPGs wandelten sich in GmbHs oder Genossenschaften um.

Heute beliefern deutsche Bauern überwiegend die Industrie und sind ein Rad im Getriebe des Agrobusiness. Dieser hässliche Anglizismus hat sich auch in Deutschland eingebürgert. Der Bauernverband verwendet ihn ebenso wie das Landwirtschaftsministerium. Zum Agrobusiness zählt alles zwischen farm and fork, zwischen Pflug und Pfanne, vom Saatgut bis zum Brot. Erzeuger, Handel, Handwerk, Industrie umfassen ein gutes Zehntel der Beschäftigten in Deutschland, darunter sind die Bauern eine kleine Minderheit, gerade einmal 1,6 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten auf dem Bauernhof.

Agrobusiness ist Big Business. Die größten drei Landtechnikunternehmen teilen sich die Hälfte des Weltmarkts. Drei Saatgut- und Agrarchemiekonzerne kontrollieren ihn, das deutsche Unternehmen Bayer ist ganz vorn dabei und zugleich in der Bredouille, denn die Übernahme des umstrittenen amerikanischen Gentechnikkonzerns Monsanto birgt unüberschaubare Haftungsrisiken durch das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat und hat Bayer in höchste Bedrängnis gebracht.

Bis ins Mittelalter war noch alles in einer Hand. Der Bauer backte Brot, schlachtete, produzierte aus Milch Butter und Käse, webte Textilien, verkaufte direkt an die Verbraucher. Die Spezialisierung ging einher mit der Verstädterung der Gesellschaft. Mit der Arbeitsteilung – Marx hatte in diesem Punkt recht – kam die Entfremdung. Bauern werden heute von der Agrartechnikindustrie und den Saatgutproduzenten ausgenommen, kämpfen gegen die Agrarfabriken, gegen Lebensmitteldiscounter, gegen geizige Verbraucher. Die Freiheit von der Leibeigenschaft haben sich Landwirte mühsam erkämpft. Nun presst der Markt sie, Staat und Europäische Union reglementieren und subventionieren, die großen Lebensmittelketten diktieren Preise und zusätzliche Vorschriften.

Was immer ein Bauer unternimmt, um die Produktivität zu steigern und die wirtschaftlichen Risiken zu senken, es kostet Vertrauen. Zwar war die Lebensmittelsicherheit noch nie so hoch wie heute, die Versorgungslage noch nie so stabil – doch zugleich auch der Argwohn gegenüber Lebensmitteln so groß.

Das Agrobusiness hat zwar effizientere Betriebe geschaffen, doch auf Kosten von Produktvielfalt und Qualität. Wo Konsumenten Qualität höher zu schätzen wissen wie in Frankreich, ist das Angebot besser als in Deutschland.

Wenn die Scholle zum Geschäftsfeld wird, braucht sich niemand zu wundern, wenn die bäuerlichen Kulturlandschaften inzwischen auch so aussehen. Monochrome Flächen, Wände aus Mais, von tonnenschweren Landmaschinen zusammengepresste Böden, von Pestiziden vernichtete Blumen und Kräuter, ausgelaugte Böden, belastetes Grundwasser.

Die Natur schlägt zurück: der Ackerfuchsschwanz im Getreide, Bodenpilze in Kartoffeläckern, Nematoden, Rapsglanzkäfer. Die Wirkstoffkombinationen der Chemie helfen immer weniger. Schädlinge entwickeln Resistenzen. Wenn die Waffen stumpf sind, ertönt der Ruf nach besserer Chemie, nach neuen Pestiziden. Aber auch die Prüfung neuer Insektizide wird strenger.

Verbandssprecher beklagen, Bienen würden besser geschützt als die Bauern. Das Volksbegehren »Rettet die Bienen« stieß ausgerechnet im einst agrarischen Bayern auf höchste Zustimmung. Sein Ziel ist es, die Artenvielfalt zu erhalten, was nur mit einer Steigerung ökologisch weitgehend unbedenklicher Landwirtschaft zu erreichen ist. Und hier erweisen sich immer mehr Bauern findiger als ihr Verband. Manche Ackerfläche wird bereits in artenreiche Wiesen für Bienen und andere Insekten verwandelt.

Doch trägt der Landmann Mitschuld an der Misere, wenn er aus Gier nur die rentabelsten Pflanzen anbaut, statt die Böden zu schonen und etwa zwischen Weizen, Raps und Gerste abzuwechseln. Weizen bringt zwanzig Euro mehr pro Hektar. Weizen nimmt in Deutschland den größten Flächenanteil aller Ackerfrüchte ein. Inzwischen muss auf immer mehr Flächen der Weizenanbau eingestellt werden, weil Bauern die biologischen Bedingungen jahrzehntelang ignorierten. Geringere Rendite – weniger Resistenzen, auch diese Rechnung geht am Ende auf.

Rekordjagd auf dem Acker, Rekordjagd im Stall. Die Deutschen sind an billige Lebensmittel gewöhnt und stellen nun zunehmend fest, dass das mit Raubbau verbunden ist. Sie wollen vom Agrobusiness profitieren, ohne die Nachteile in Kauf zu nehmen. Sie wünschen sich eine saubere, sichere und preisgünstige Ernährung. Nicht zuletzt deshalb wird der Ruf nach einer Agrarwende lauter, auch wenn der Preis dafür zu zahlen ist. Bei konsequenter Umstellung auf tiergerechte Haltung kämen zum Beispiel auf die Bauern vierzig Prozent Mehrkosten zu, wie die Organisation Foodwatch berechnet hat. Sie müssen umgelegt werden auf die Verbraucher.

Die Wende wird kommen. Auch im Stall werden sich die Dinge ändern. Zum Besseren. Ausgemistet gehören die Maßstäbe von gestern. Dunkle, schlecht belüftete Ställe – sie gelten heute als Tierquälerei. Ebenso jedoch die Vorstellung vom kleinbäuerlichen Idyll im Einklang mit der Natur, denn das war nie mehr als eine romantische Illusion.

Vor tausend Jahren lebten drei Viertel der Deutschen auf dem Lande, vor hundert Jahren noch knapp die Hälfte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es 1,65 Millionen landwirtschaftliche Betriebe allein in der alten Bundesrepublik. Heute sind es noch zweihundertsiebzigtausend in ganz Deutschland. Ein Bauer erwirtschaftet im Schnitt dreißigtausend Euro. Er produziert genug für hundertdreißig Verbraucher, vor gut hundert Jahren lag das Verhältnis noch bei eins zu vier. Und Jahr für Jahr geben viele Bauern auf. Die Großen werden vom Staat überdurchschnittlich gehätschelt und subventioniert, obwohl es die Kleinen sind, die für Vielfalt sorgen und tun, was die Propaganda vollmundig »Erhaltung der bäuerlichen Kulturlandschaft« nennt.

Prototyp eine Feldroboters – auf der Grünen Woche

Vorsprung durch Technik kann sich der Großbauer eher leisten als der kleine Landwirt. Beide hat die digitale Revolution erfasst, ob sie wollen oder nicht. Smart Farming: Künstliche Intelligenz wird den Feldarbeiter weitgehend ersetzen. Drohnen in der Luft, Sensoren in Saat- und Erntemaschinen überwachen den Zustand von Boden und Pflanzen. Nährstoffbedarf, Feuchtigkeit, Pflanzenschädigung: Der Computer erhält alle Informationen, die er braucht, um jede einzelne Pflanze mit Nährstoffen, Wasser, Dünger individuell zu versorgen. Kleinere, den Boden schonende, führerlose Maschinen erkennen Unkraut, bekämpfen es, säen und düngen. Satellitenbilder beobachten das Wachstum und teilen dem Bauern täglich mit, wo Gefahren drohen. Agrarmanagement 4.0.

Und wieder sind die Weltkonzerne mit im Spiel. Aber auch Hunderte von Agrar-Start-ups ziehen Wagniskapital an. Der einstige Monsanto-Forschungsvorstand Robert Fraley, ein Bauernsohn, sagt: »Wenn wir diese Technikfeindlichkeit hinter uns bringen, ist es möglich, zehn Millionen Menschen zu ernähren und gleichzeitig weniger Land zu nutzen. Apple wird dann wahrscheinlich die Agrarindustrie bestimmen. Und Google.« Als die Bundesforschungsministerin zum Ausbau des schnellen Internets auch auf dem Land nonchalant anmerkte, 5G sei »nicht an jeder Milchkanne notwendig«, hagelte es Widerspruch. Tatsächlich ist Landwirtschaft ohne den Einsatz elektronisch gesteuerter intelligenter Technik in Zukunft nicht mehr konkurrenzfähig. Attraktiver und profitabler könnte der Beruf werden, wenn alle technischen Möglichkeiten sinnvoll genutzt werden.

▸Bio, Brotzeit, Hungersnot, Kraut und Rüben, Milchmädchenrechnung, Schlachtschüssel, Vegetarier und Veganer, Verbraucher, Zukunft auf dem Teller

Bio

Zurück zur Natur! Es ist die Sehnsucht der Städter, seit es den Moloch Stadt gibt und seit Maschinen sein Leben bestimmen. In Deutschland ist dieser Drang besonders stark entwickelt und Ausdruck jener Gesinnung, die wir romantisch nennen. Die deutsche Seele ist gern romantisch, selbstverständlich auch auf dem Teller.

Zu unterscheiden ist zwischen der romantischen Haltung, wie sie immer noch lebendig ist, und der Epoche der Romantik im neunzehnten Jahrhundert, eine Gegenbewegung zur Industrialisierung. Aus dieser Tradition enthält das Romantische immer auch eine politische Dimension, eine gewisse Fortschrittsskepsis, und umgekehrt zeigt auch die Politik nicht selten eine romantische Neigung.

Wie kommt das im Alltag des deutschen Konsumenten zum Ausdruck? Dem vom Landleben entfremdeten Verbraucher helfen viele Biosiegel. Damit fällt es nicht schwer, sich zum Guten, Wahren und Korrekten zu bekennen. Das Attribut Bio genießt unter den Deutschen hohe Reputation und Glaubwürdigkeit. Bio klingt nach körperlicher wie geistiger Gesundheit, nach Moral, nach Bewahrung, Schöpfung, Reinheit, Erlösung, kurz: nach Einheit zwischen Mensch und Natur, Leib und Seele. Wenn es denn so einfach wäre.

Der deutsche Romantiker lehnt Materialismus und Nützlichkeitsdenken ab. »Natur« macht er zur »Kampfparole«, weiß Rüdiger Safranski, ein Kenner der Materie. Der Romantiker ist Idealist, weshalb auch die Philosophie des Idealismus eine sehr deutsche Errungenschaft ist. Sie führte zu unseligen Erlösungsfantasien in der Kunst, in der Politik und auch in der Küche. Nur in kargen Zeiten wurde diese Einstellung vernachlässigt, etwa während der überaus nüchternen, in jeder Hinsicht mageren Nachkriegsjahre. Ansonsten gilt: Je fetter das Land, desto bio.

Bio steht nicht bloß für Lebensmittel, sondern auch für Lebensstil. Wie er sich kleidet, wohnt, wie er konsumiert, hält der Biokonsument für den Ausdruck seiner Individualität. Ein Missverständnis, folgt er doch dabei bewusst und unbewusst kulturellen Mustern. Er hält sich an Konventionen, die ihm sagen, was erlaubt und erwünscht ist und was nicht. In und out. Bio ist selbstverständlich in.

Korrekt einkaufen in Kreuzberg

Bio steht aber auch für eine bestimmte Lebensführung, also für die ökonomische Grundlage unseres Lebensstils. Allerdings sind wir bei der Lebensführung nicht frei. Bio kostet mehr Geld. Wie wir uns ernähren, verrät, wie wir uns selbst sehen und gesehen werden möchten, aber auch, was wir uns leisten können.

Nichts bringt den Wandel der Ernährungsgewohnheiten in Deutschland auf einen kürzeren Nenner als die drei Buchstaben Bio. Als Ernährungskrisen noch häufig an der Tagesordnung waren, wurde klaglos und dankbar gegessen, was auf den Tisch kam. Bio ist eine Errungenschaft des Überflusses.

Vor der ersten industriellen Revolution (etwa von 1840 bis 1875) waren Hungerkrisen keine Seltenheit. Die Industrialisierung der Ernährung (Technisierung der Landwirtschaft, Konservierung, Lebensmittelchemie, Standardisierung der Produkte, Verbesserung der Logistik durch die Eisenbahn) linderte die Not.

Auch nach den Kriegskatastrophen ging es zuerst darum, satt zu werden und das Bruttosozialprodukt zu steigern. Mit dem Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre kam die Fresswelle. Erst mit dem sicheren Wohlstand kamen die Deutschen zur Besinnung. Wir kritisieren heute die Konsumgesellschaft, der wir doch nicht mehr entkommen. In diesem Dilemma scheint Bio eine Lösung anzubieten: Konsum – ohne Verzicht, doch mit Prädikat. Jetzt klebt ein Biosiegel auf der gefräßigen deutschen Seele.

Die Industrialisierung war verbunden mit optimistischem Glauben an den Fortschritt. Es galt als vernünftig, unabhängiger zu sein von der Natur, deren Risiken zu bannen durch Ökonomie und Technik. Der Fortschritt nahm den Bürgern Ängste. Heute macht der Fortschritt Angst. Massentierhaltung, intensive Landwirtschaft, Gentechnik, globale Marktmechanismen werden weithin als Irrwege angesehen.

Ausgelöst wurde die Biowende auch von konkreten Erfahrungen wie dem Rinderwahn. Die Krankheit forderte in Großbritannien einhundertsechsundsiebzig Todesopfer, in Deutschland kein einziges. Dennoch führte die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE) zum Totalverbot tierischer Futtermittel für Wiederkäuer. Angst haben viele auch vor Genfood. Mehr als die Hälfte der Deutschen lehnt es ab. In diesem »Krieg gegen die Natur« stehen sie allerdings auf beiden Seiten der Kampflinie, wenn man berücksichtigt, dass die den Weltmarkt beherrschende Genfood-Firma Monsanto inzwischen zum deutschen Bayer-Konzern gehört.

Es ist nicht zu übersehen, dass bei aller berechtigten Kritik genveränderte Pflanzen weniger oft Missernten produzieren. Die Ernährung einer auf bald acht Milliarden gewachsenen Erdbevölkerung ist ohne Gentechnik in der Landwirtschaft kaum möglich. Die Bio-Logik aber will Monsanto für eine Ausgeburt des Teufels halten. Der Ökostreitmacht gegen die Gentechnologie angeschlossen haben sich so unterschiedliche Gruppen wie die antikapitalistische Attac, Greenpeace, der Öko-Bauernverband Demeter und Slow Food. Sie werfen Monsanto vor, mit dem Einsatz des genveränderten Saatguts am Artenschwund, am Elend der Kleinbauern, an der Landflucht in weiten Teilen der Welt schuld zu sein.

Immer mehr Agrarier werden zu Biobauern, derzeit sind es gut zwölf Prozent, vor zwanzig Jahren waren es aber erst 1,7 Prozent. Der Biobauer steigt im Ansehen. Ohne moderne Technik kommt er nicht aus, aber vieles wirkt nostalgisch. Er hat meist noch einen richtigen Misthaufen hinterm Stall. Früher einmal war das der ganze Stolz jeden Landwirts. Je größer der Haufen, desto mehr Vieh. »Die innere Kraft seiner ganzen Wirtschaft zeigt sich in ihm«, hieß es 1885 in einem »Beitrag zur Lehre vom Völkeruntergang durch Bodenerschöpfung«. Auch in der Malerei war der Misthaufen das Erkennungszeichen des erfolgreichen Landmanns. »Ein krähender Hahn auf dem Misthaufen ist noch lange keine deutsche Malerei« ätzte und ächzte Lovis Corinth. Das lässt sich abwandeln. Ein stinkender Misthaufen allein ist noch lange nicht Bio. Es kommt auf den Mist an.

Seinen Erfolg verdankt Bio neuen Ängsten vor den Auswüchsen des Agrobusiness. Nimmt Bio die Ängste? Schön wär’s. Zu viel »Fortschritt« kommt auf uns zu, meinen viele. Die »Entmachtung« des Menschen durch künstliche Intelligenz, dazu der Klimawandel, die halbe Welt auf Wanderschaft. Wie gut, denkt mancher, dass er wenigstens beim Essen dem bedrohlichen Wandel Einhalt gebieten kann. Bio macht die Welt auf dem Teller ein wenig übersichtlicher.

Deshalb reagieren viele Menschen auf die neue vorwärtsstürmende industrielle Revolution anders als unsere Vorfahren. Einst war der Fortschritt eine Verheißung, heute wird er zunehmend als Bedrohung empfunden. Früher befreite er; heute fühlt er sich wie Entmündigung an. Sein schwindelerregendes Tempo überfordert so manchen und macht uns obendrein abhängig von seinen Profiteuren.

Wer von Bio allerdings eine Befreiung vom überregulierten europäischen Agrarmarkt erhofft, irrt. Das Biosegment ist keineswegs der ungezügelten Natur überlassen. Die Obrigkeit mischt mit. Vater Staat überlässt Mutter Natur nicht das Feld. Wo käme man da auch hin. Die Zunahme staatlicher Normen ist auf dem Teller unübersehbar – ob ein Biolabel darauf klebt oder nicht.

Inzwischen ahnt auch der Gutgläubige: Bio garantiert nur einen besseren Ruf, ist jedoch nicht immer gesünder, schmackhafter, unverfälschter und für Umwelt und Nutztiere besser. Ein Irrtum zu glauben, biologische Pestizide seien durchweg harmloser. Spinosad, ein biologisches Pilzgift auf bakterieller Basis, tötet Bienen, ein anderes Pestizid mit dem Bacillus thuringiensis macht anfällig für Lungeninfektionen.

In der Ökolandwirtschaft ist auch die Lebensmittelsicherheit naturgemäß schlechter als im konventionellen Anbau. Mutterkornvergiftungen kommen bei Mehl und Müsli vor. Und schließlich verändert auch herkömmliche Zucht das Erbgut. Auch unter der Flagge Bio kann Natur zerstört werden, etwa wenn Wasser verschwendet und das Grundwasser versalzen wird, wie es in Spaniens Süden geschieht.

Gäbe es nur noch Ökolandwirtschaft, müssten die Anbauflächen enorm ausgeweitet werden. Denn der Ertrag der Bioflächen in Deutschland ist rund zwanzig Prozent geringer als der sonstiger landwirtschaftlich genutzter Flächen. Rechnet man die in der Ökolandwirtschaft unvermeidbar höheren Ernteausfälle hinzu, entstünde nach Greenpeace-Berechnungen ein Mehrbedarf von vierzig Prozent an landwirtschaftlich genutzter Fläche. Bio heißt also keineswegs automatisch, dass verantwortlich mit der Natur und Ressourcen umgegangen wird.

In Reih und Glied, aber mit Siegel: Bio

Bio verspricht glückliche Kühe, glückliche Arbeiter verspricht es nicht. Auch im Biolandbau schuften unterbezahlte Saisonkräfte, Tagelöhner aus aller Welt. Und wenn Bioartikel von weither importiert werden, zum Beispiel jede zweite Biomöhre, jeder dritte Bioapfel, ist die Ökobilanz nicht besser als bei normalen Produkten. Auch mangelt es an Kontrollen. Falsch deklarierte oder mit Schadstoffen versehene Importware ist keine Seltenheit, Biobetrug kein Ausnahmedelikt, wie Ermittlungen gegen dreihundert Bioeiererzeuger allein in Niedersachsen bewiesen.

Darüber ist recht wenig zu lesen, weil sich Bio aus einem Glauben speist.

Es gibt zahllose Biolabel. Die Kunden haben den Überblick längst verloren, wie Untersuchungen etwa der Stiftung Warentest beweisen. Das Biosiegel der EU gilt als Billigbio, die Anforderungen an Tierhaltung und Ackerbau sind lascher als bei anderen Siegeln. Die »richtigen« Biobauern halten billige Biolebensmittel für verhängnisvoll. Denn sie gaukelten den preisfixierten deutschen Verbrauchern vor, Bio sei billig zu produzieren. Die Geiz-ist-geil-Mentalität ist wohl nicht mit ökologisch einwandfreier Landwirtschaft vereinbar.

Die Herkunft vieler Bioprodukte ist den meisten Verbrauchern nicht bekannt. Die deutsche Landwirtschaft kann die Nachfrage bei Weitem nicht decken. Dennoch wächst der heimische Ökolandbau kaum noch. Ziel der Bundesregierung ist es, ein Fünftel der Fläche bis 2020 biologisch korrekt zu bewirtschaften. 2017 war es erst ein Fünfzehntel. Viele Landwirte bauen lieber Energiepflanzen an, weil Biogasanlagen stärker gefördert werden und rentabler sind.

Bio boomt, und trotzdem sterben Bioläden. Marktführer im Biosegment sind Aldi und Lidl. Dazu kommen die Drogerieketten mit wachsenden Biosortimenten und eigenen Biolabeln. Das ist der neue Trend: Zwei Drittel des Bioumsatzes machen inzwischen die Konzerne. Sie setzen auf Bio, weil es sich lohnt. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich der Umsatz von Biolebensmitteln in Deutschland auf gut zehn Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Das sind zwar nur etwa fünf Prozent des Umsatzes der Lebensmittelbranche, aber die Wachstumsraten sind höher als bei konventionell hergestellten Lebensmitteln. So fegen die Großen der Branche die Bio-Emma-Läden hinweg. Nur noch ein knappes Drittel des Handels ist Einzelkämpfern überlassen.

So bleibt nicht viel übrig vom Weltverbesserungspathos von Bio, zu dem auch die Illusion gehört, das Wirtschaftsleben zu humanisieren. Doch auch der Biolebensmittelmarkt ist ein Schlachtfeld. Im Preiskampf bleibt die Qualität oft auf der Strecke. Und immer mehr Biobauern werden wie gewöhnliche Bauern zu abhängigen Lieferanten der Riesen, die Absatzmengen garantieren und Preise diktieren.

Bio stand einmal für moralisch korrektes Essen. Wer den Glauben an das Gute noch nicht ganz verloren hat, sollte genauer hinsehen, auf kleine Märkte gehen, auf regionale Herkunft achten. Wer Bio isst, sollte sich auskennen. Die romantische Gesinnung genügt nicht.

▸Bauernopfer, Diätwahn, Verbraucher, Waldpilze

Bismarckhering

Wäre das Wappentier der Deutschen nicht schon der König der Lüfte, müsste es der Hering sein. Ein Wappentier soll ja das Beste im Charakter eines Volkes symbolisieren. Wie der Deutsche fühlt sich der Hering im Schwarm, im Kollektiv wohler denn als freiheitsliebender Einzelgänger.

Der Roman »Der Butt« von Günter Grass trägt zwar einen Plattfisch im Titel, aber auch der Hering spielt eine prominente Rolle. Grass beschreibt, was alles mit Hering gemacht werden kann. Er ist eingesalzen, geräuchert, mariniert oder grün, zu Brot, Kartoffeln und Kraut, gesotten, gedünstet, gebraten oder in heißer Asche gegart ein Genuss. Zu den einfacheren Genüssen zählt das Fischbrötchen. »Bismarck oder Matjes?«, heißt es an einschlägigen Imbisstheken.

Matjes sind junge, noch nicht geschlechtsreife Heringe, schon auf See ausgenommen und eingesalzen, eine seit dem fünfzehnten Jahrhundert erfolgreiche Methode, Heringe zu konservieren. Heringslappen in essigsaurer Marinade, mit roher Zwiebel serviert, werden dagegen unter dem Namen des vergötterten Gründers des Deutschen Reichs vermarktet. Just im Jahr der Reichsgründung 1871 will der Stralsunder Fischhändler Johann Wiechmann von Bismarck selbst die Erlaubnis dazu erhalten haben. Die Urkunde ging in den Kriegswirren verloren, weshalb die Legende umstritten ist. Eine andere Version geht auf einen Frontbesuch Bismarcks im deutsch-dänischen Krieg zurück. Der Eiserne Kanzler stand damals nicht bloß als Denkmal in allen Städten des Reichs, sondern auch auf jedermanns Tisch, sei es als Bismarckeier, Bismarckäpfel, Bismarckgurken, Bismarcktorte oder eben auch als Bismarckhering. Um eine saure Gurke gewickelte Bismarckheringslappen hören auf den respektlosen Namen Rollmops.

Der Bismarckhering avancierte gewissermaßen zum Saumagen der Ära Merkel. Während Helmut Kohl Staatsgäste mit dem traditionellen pfälzischen Fertiggericht beglückte, bekamen Wladimir Putin, George W. Bush und Austernfreund François Hollande beim Besuch in Merkels Wahlkreis auf Rügen ein Fässchen Bismarckheringe geschenkt.

»Heringe – die deutsche Volkskost« warb in einschlägiger Zeit ein weit verbreiteter Slogan. Hering war einmal ein Lebensmittel für den Alltag, Arme-Leute-Essen. Diese Zeiten sind vorbei. Der Hering hat es an die Feinkosttheke geschafft, ist beinahe schon eine Spezialität – was den abnehmenden Fangmengen geschuldet ist. Schon im späten Mittelalter wusste man von den Grenzen der Ausbeutung; es gab Schonzeiten für den Heringsfang im Frühling.

Edelfischbude – Viktualienmarkt

Das Heringsfilet in Tomatensoße aus der Dose war im Studentenhaushalt meiner Zeit neben den damals noch billigen Ölsardinen ein Klassiker zum Abendbrot. Eine Alternative waren sauer eingelegte Bratheringe (ebenfalls aus der Dose) zu Bratkartoffeln. Grün, also roh, wenn auch bereits geschuppt und ausgenommen, ist der Hering etwas aus der Mode gekommen. Der Hering aus dem Rauch heißt Bückling (von Pökling), ein gesalzener, heiß geräucherter, golden schimmernder Genuss, Leibspeise meines Vaters. Der Händler wickelte ihn traditionell in Zeitungspapier.

In der deutschen Wirtschaftsgeschichte spielt der Hering keine geringe Rolle. Die Hanse blühte nicht zuletzt dank des Handels mit diesem Fisch auf. Geeignete Konservierungsmethoden und schneller Transport ließen lange auf sich warten. Gepökelter, geräucherter, in Öl eingelegter Fisch war zwar schon früher bekannt, aber erst im Hochmittelalter breitete sich der Fisch auch auf den Märkten des Binnenlandes aus. Haltbar gemacht in Salz und in Fässer gepackt, wurde er bis in die süddeutschen Metropolen Nürnberg und Regensburg transportiert. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kamen die Heringsfässer auf die Eisenbahn.

Eine noch ältere Methode der Haltbarmachung von Fisch ist das Trocknen. Salz stand im frühen Mittelalter noch nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung. Luftgetrockneter Kabeljau, Stockfisch, ist seit den Wikingern, die den Kabeljauschwärmen weit nach Westen und Norden folgten, ein hochbegehrtes Gut. Das Handelsnetz reichte von Konstantinopel bis Amerika.

Neben dem Hering ist Kabeljau der Seefisch, der die deutsche Küche prägt, feiner als Hering, klassisch mit Senfsauce. Zu den mythischen Fischspezialitäten zählt Grass die Fischsuppe aus »fünf glubschäugigen Dorschköpfen«, in der eine Bernsteinkette mitgekocht wurde, was der Bischof im »Butt« als Fastensuppe besonders schätzt. Dorsche sind die jüngeren Exemplare des Kabeljaus, aber auch eine Bezeichnung für die kleinere Ostseevariante dieses Fisches, der lange Zeit billig war und durchaus nicht bloß auf die Tische von Bischöfen und anderen Personen von Rang und Stand kam. Am besten in Weißwein bei schwacher Hitze gesotten, Gurken und Dill kommen am Ende in den Sud, Krabben werden darübergestreut.

Die Bestände von Kabeljau und Hering gingen stark zurück. Gar nicht mehr korrekt ist der Verzehr der heiß geräucherten Bauchlappen des vom Aussterben bedrohten Dornhais. An die blonden Nackenlocken des Nationaldichters Friedrich Schiller erinnernd, werden Schillerlocken heute als Killerlocken diskriminiert. Dornhaischützer verweisen zusätzlich auf die Gefährlichkeit des Leckerbissens. Er enthalte siebenhundert Mikrogramm Methylquecksilber pro Kilogramm und überschreite den gesundheitlich unbedenklichen Grenzwert um das Zehnfache.

Womit hat Schiller das verdient? Seine Dichtung befasst sich leider nur am Rande mit Fischerei. Die gemeinsam mit Goethe verfasste 198. Xenie geht so: »Freilich tauchet der Mann kühn in die Tiefe des Meeres, / Wenn du, auf leichtem Kahn, schwankest und Heringe fängst.« Vom Philosophen Fichte ist hier die Rede, er wird hier als geistiger Tiefseetaucher gerühmt, während die Dichterfürsten sich mit Fischen an der Oberfläche begnügen.

Ersatz für Schillerlocken liefert die Tilapia-Zucht. Massentierhaltung. Der Fisch als arme Sau. Aquakultur klingt zwar besser als Saustall, eben irgendwie nach Kultur, aber sieht das der Fisch genauso?

Statistisch kauft der Deutsche seinen Fisch am liebsten tiefgefroren und fertig zubereitet, insgesamt etwa fünfzehn Kilogramm pro Jahr und Nase; die Menge ist über die Jahre relativ stabil geblieben. Mehr als die Hälfte der von der deutschen Fangflotte angelandeten Beute ist gefrostet. Dies spricht weniger gegen die Qualität des Fisches als gegen die Qualität der deutschen Küche. In der hohen Schule der Kochkunst steht die Fischküche am höchsten, Frischfischküche allerdings. Frische Fische filetiert Fischers Fritz.

Das Grimm’sche Märchen vom »Fischer un syner Fru« hört sich an, als sei es aus der Tiefe der deutschen Seele aufgetaucht. Ursprünglich in vorpommerschem Platt verfasst, ist es ein Werk des Schriftstellers und Malers Philipp Otto Runge. Hauptfigur ist ein gewaltiger Plattfisch, ein Butt, der sprechen und Wünsche erfüllen kann. Er bittet den Fischer, der ihn an Land gezogen hat, um seine Freiheit. Das wiederum beschert dem freundlichen Fischer Ärger mit Ilsebill, seiner Frau. Weshalb der Schwachkopf denn keine Gegenleistung verlangt habe, will sie wissen. Reumütig kehrt der Fischer an den Strand zurück: »Buttje, Buttje inne See, myne Fru de Ilsebill, will nich so, as ik wol will.« Die Frau stellt immer höhere Forderungen, der Butt liefert, und am Ende handelt es sich doch um ein deutsches, also pädagogisch wertvolles und moralisch einwandfreies Märchen, wird die Fru für ihre Maßlosigkeit bestraft.

Der Butt im Roman von Günter Grass ist der Auffassung, es sei an der Zeit, das Märchen vom Fischer un syner fru als »weiberfeindliches Propagandamärchen zu widerlegen« und »alle Ilsebills zu rehabilitieren«. »Der Butt« ist das sprachmächtigste Werk, das jemals die deutsche Küche und ihre Geschichte beschrieben und verherrlicht hat. »Ilsebill salzt nach« lautet sein begnadeter erster Satz. Er beweist, dass wir es mit einer ausgezeichneten Köchin zu tun haben. Übersalzen ist nicht wiedergutzumachen, besser ist es nachzusalzen. Überhaupt ist es wichtig, nicht zu früh zu salzen, um die Zutaten nicht auszulaugen. Leider sind die Ilsebills unter den deutschen Köchinnen und Köchen eine Minderheit. Die Mehrheit tut sich nicht zuletzt mit der Zubereitung von Fisch schwer.

Die Geringschätzung von Fisch in der deutschen Küche hat Gründe. Fisch galt in Deutschland lange Zeit als das schiere Gegenteil von Fleisch, das die deutsche Küche dominiert – und war deshalb vorwiegend Fastenspeise. Fleisch vom Rind, Schwein oder Lamm zählte weit mehr als Fleisch von Hering, Forelle oder Aal. Der Ausbreitung des Christentums verdankt der Fisch, dessen griechische Vokabel ein Akrostichon für die Herrschaftsbezeichnungen Jesu ist, in Deutschland seine nur langsam gewachsene Wertschätzung. Nachteil des Fisches: seine schnelle Verderblichkeit. Fisch aber steht mittlerweile kulinarisch ganz oben. Und der edle Butt ist kaum noch erschwinglich für Otto Normalverbraucher.

Der beliebteste Plattfisch auf deutschen Tellern ist jedoch kein Butt, sondern die Scholle; sie trägt beide Augen auf der rechten Körperseite, der Butt dagegen auf der linken, beide leiden an Überfischung. Am häufigsten wird Scholle, zumal die jugendliche Maischolle, nach Finkenwerder Art mit Speck zubereitet, eine kulinarisch freilich überschätzte, der Feinheit des Fisches nicht gerecht werdende Zubereitung.

Steckerlfisch in einem Münchner Biergarten

Die deutsche Hausmannskost aber verwöhnt nicht mit Fisch. Das Fischstäbchen schmeckt dem kleinen Mann, weil auch dem großen Mann Backfisch am besten mundet, Hauptsache, er ist außen knusprig. Es soll noch immer Kinder geben, die glauben, Fisch komme in freier Natur überwiegend in rechteckiger Gestalt vor und werde auf hoher See von Käpt’n Iglos Männern gefangen. Der Vierkantfisch, so viel zum Trost, ist keine deutsche, sondern eine britische Erfindung aus der Nachkriegszeit. Nach deutschem Lebensmittelrecht enthält er immerhin zwei Drittel wirklichen Fisch, der wiederum zu drei Vierteln aus intaktem Fischfilet bestehen muss. Im Fischstäbchen steckt noch immer gelegentlich Kabeljau, häufiger Seehecht oder Seelachs. Den jungen Fischstäbchen-mit-Ketchup-und-Pommes-Liebhabern sind solche Feinheiten gleichgültig. Ein typisch deutscher Schlager scheint dagegen das sogenannte »Schlemmerfilet« zu sein, ein Hitparadendauerbrenner wie »Marmor, Stein und Eisen bricht«. Vergessen wir nicht die gute deutsche Fischfrikadelle, die durchgegarte Cousine des Fischbrötchens.

Die deutsche Küche hat mit noch durchaus Gröberem aufzuwarten. Man mag über Labskaus streiten. Ursprünglich ist er gar kein Fischgericht. Es ging darum, Seeleuten an Bord etwas aufzutischen, was vom Skorbut schmerzenden, wackeligen Zähnen keinen unangemessenen Widerstand bot. Also wurde Pökelfleisch mit Zwiebeln, Schiffszwieback, Roter Bete und Gurkenwasser püriert. Später kamen Matjes und Kartoffeln in die Pampe und statt Pökelfleisch Corned Beef. Zur Entlastung der deutschen Küche kann gesagt werden, dass auch Labskaus nicht aus Deutschland stammt, sondern aus England. Der fischige Brei gehört in die geschlossene Abteilung Folklore, jedoch nicht in die Abteilung Kulinarik.

Dort ist anderes zu finden. Abgesehen vom Kaviar aus hessischer Störzucht kommen als luxuriös geltende Wasserbewohner wie Hummer und Langusten nicht aus deutschen Gewässern. Eine Ausnahme macht die Auster, sie wird – wo sonst – im Sylter Watt gezüchtet. Der Verzehr dieser Delikatessen gilt hierzulande meist als dekadente Verschwendung, während der Mittelstandsfranzose dafür ohne Reue ans Ersparte geht.

Der Hummer der Deutschen ist eher die winzige Nordseekrabbe, mit Grundschleppnetzen aus dem Wattenmeer geschöpft, leicht verderblich, deshalb gleich nach dem Fang gekocht. Von drei Kilo Krabben bleiben nach dem Pulen nur ein Kilo verzehrbare Schwänzchen übrig. Das Lösen des Garnelenfleisches aus dem Panzer ist dem Esser nicht zuzumuten; er würde darüber womöglich verhungern. Früher wurde die Krabbe in deutscher Heimarbeit gepult, heute in Marokko, Polen oder Weißrussland. So eine Krabbe kommt also weit herum, wenn sie erst einmal tot ist. Sie landet im Cocktailglas, im Rührei, auf Pumpernickel. Unverwechselbares deutsches Essen, das sich vor den größten und edelsten Krustentieren nicht verstecken muss. Billig ist auch sie nicht.

Der deutsche Strom ist der Rhein. Einst fühlten Lachse sich in ihm wohl. Sie wurden nach dem Fang lebendig transportiert und erst auf den Märkten in ganz Deutschland geschlachtet. Heute kommt dieser Fisch aus norwegischer oder irischer Zucht und ist längst kein Luxus mehr.

Von Zander, Hecht und Karpfen war noch nicht die Rede. Zander auf Weinkraut, Karpfen blau und Badische Hechtklößchen in Sahnesauce zählen zu den Höhepunkten traditioneller deutscher Kost. Die Hauptspeise unter den Süßwasserfischen deutscher Herkunft aber ist die Forelle, am liebsten nach Art der Müllerin. Ein nach heutigen Maßstäben weit überdurchschnittlich gebildeter Deutscher hat vielleicht schon einmal das Forellenquintett von Franz Schubert gehört. Vorausgesetzt, er hält bis zum vierten Satz durch, vernimmt er ein vielfach variiertes Thema, das auf ein ebenfalls von Schubert vertontes Lied zurückgeht, dessen Text jedoch – Achtung Verwechslungsgefahr! – von Christian Friedrich Daniel Schubart stammt. »In einem Bächlein helle, / Da schoss in froher Eil / Die launische Forelle …«