Die nicht erschossene Frau - Doris Bender-Diebels - E-Book

Die nicht erschossene Frau E-Book

Doris Bender-Diebels

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Beschreibung

DÜSSELDORF, APRIL 1945 Du kannst nicht hierbleiben, flüsterte Else. Nur noch wenige Tage bis zur amerikanischen Befreiung der Stadt aus dem Griff fanatischer NS-Heeresstreifen. Da steht eines Nachts ein Mann in stinkender Soldatenuniform und verfilzten Haaren vor der Tür der Hilfskrankenschwester Else Gores. Desertiert. Auf das Verstecken von Fahnenflüchtigen steht der Tod. Sollte die junge Mutter dieses Risiko jetzt noch eingehen? So kurz vor dem Ende? Doch der Mann ist nicht irgendwer. Er gehört zur Familie.

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Seitenzahl: 240

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis
Donnerstag, 12. April 1945
Düsseldorf, Benderstraße 80
Kurz vor Sonnenaufgang
10 Tage zuvor
(Unbenannt)
Ostermontag, 2. April 1945
Düsseldorf, Oberbilker Allee 248
Dienstag, 3. April 1945
Düsseldorf, Ellerstraße
Mittwoch, 4. April 1945
Oberbilker Allee 284
Donnerstag, 5. April 1945
Oberbilker Allee 284
Freitag, 6. April 1945
Oberbilk
Samstag, 7. April 1945
Oberbilker Allee 284
Sonntag, 8. April 1945
Oberbilker Allee 284
Sonntag, 8. April 1945
Nacht
Montag, 9. April 1945
Oberbilker Allee 284
Vormittag
Montag, 9. April 1945
Oberbilker Allee 284
Nachmittag
Montag, 9. April 1945
Oberbilker Allee 284
Abend
Dienstag, 10. April 1945
Benderstraße 80
9 Uhr morgens
Dienstag, 10. April 1945
Eller Forst
Zwei Stunden später
Dienstag, 10. April 1945
Benderstraße 80
Zur gleichen Zeit
Mittwoch, 11. April 1945
Benderstraße 80
9 Uhr morgens
Mittwoch, 11. April 1945
Oberbilker Allee 284
Mittwoch, 11. April 1945
Benderstraße 80
Mittwoch, 11. April 1945
Nachmittag
Donnerstag, 12. April 1945
Düsseldorf, Benderstr. 80
Kurz vor Sonnenaufgang
Donnerstag, 12. April 1945
Eller Forst
Gegen Mittag
Nachwort
von Ernst Diebels
Doris Bender-Diebels
Persönliche Gedanken
Danke!
Von Doris Bender-Diebels
bereits erschienen:
1
Rosa
Düsseldorf-Bilk, März 1951
Doris Bender-Diebels

Doris Bender-Diebels

 

Die

nicht erschossene

Frau

 

N a c h e i n e r w a h r e n

B e g e b e n h e i t

Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlags gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben bei der Autorin, deren Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz und Druckfehler keine Haftung.

Doris Bender-Diebels

»Die nicht erschossene Frau«

 

 

Deutsche Erstveröffentlichung

1. Auflage 2022Alle Rechte vorbehalten2022 Doris Bender-Diebels

 

Lektorat & Satz:

Anja Dietel & Thomas Dellenbusch

MeinKopfKino.de

Covergestaltung:

Katharina Netolitzky, Katharina-Netolitzky.com, unter Verwendung von Bildern von

Elzbieta Sekowska/Shutterstock und Everett Collection/Shutterstock 

Doris Bender-Diebels

Jägerhofstr. 98D42119 Wuppertal

 

ISBN: 9783987563829

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Doris Bender-Diebels

 

Die

nicht erschossene

Frau

 

N a c h e i n e r w a h r e n

B e g e b e n h e i t

Else Gores mit ihrem Sohn Josef

um 1943

Urheber unbekannt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gewidmet den vielen unbekannten Menschen,

die persönlichen Mut, Vernunft und moralische Stärke zeigten

und zeigen gegenüber Diktatoren, Propaganda und Kriegsgeschrei.

 

 

Donnerstag, 12. April 1945

Düsseldorf, Benderstraße 80

Kurz vor Sonnenaufgang

 

 

 

 

Die Frau auf der Matratze stöhnt und schlägt die Augen auf.

Sie fasst sich an die rechte Schulter und verzieht das Gesicht.

Tausend Stiche verhindern, den Arm auch nur anzuheben.

Die blonden, sonst lockigen Haare kleben strähnig am Kopf.

Schweiß rinnt ihr über die Schläfen.

Es ist stickig. Das Fenster zur Benderstraße ist verschlossen.

Schwere Vorhänge blockieren den Blick nach draußen.

Kein Laut dringt herein.

Ihre Zunge pappt trocken am Gaumen.

Mit Mühe richtet sie sich auf und schaut sich um.

Sie gewöhnt sich langsam an das Dämmerlicht.

Die verstaubte Glühbirne an der Decke wirft bloß wenig Licht. Auf dem Boden liegen blutbeschmierte Kleidungsstücke und ein Kopfkissen. Dazwischen leere Bierflaschen. Blutspritzer auch an der Wand über ihrem Lager. Die Matratze, auf der sie sitzt, stinkt nach Urin. Außerdem steigt ihr der säuerliche Geruch von Erbrochenem in die Nase.

Essensreste kleben auf dem Tisch an der gegenüberliegenden Seite. Zwei Holzstühle stehen daneben. Das gerahmte Bild des Führers hängt schief. Sie würgt. Es kommt nur Magensäure.

Sie hat keinerlei Gespür für die Zeit, aber es muss ewig her sein, dass sie zuletzt etwas gegessen hat. Hunger empfindet sie nicht. Eine Schmerzwelle lässt sie erneut würgen. Sie drückt sich hoch und steht auf. Ihr Körper gehorcht ihr widerwillig. Sie schleppt sich wacklig zu dem Blecheimer in der Ecke. Eine Pfütze abgestandenen Urins bedeckt den Grund. Ihr bleibt keine Wahl, stöhnend hockt sie sich darüber und pinkelt hinein. Sie torkelt zum Fenster, schiebt die Gardine zur Seite. Die Scheiben sind zugeklebt. Doch durch ein paar Lücken schimmert die Morgendämmerung herein.

Langsam kommt die Erinnerung wieder.

Der einbeinige Feldwebel, der schrie und drohte.

Seine grinsenden Komplizen.

Warum kommt Hannes nicht und holt sie hier raus? Jeder im Viertel weiß, was in der Benderstraße 80 passiert. Sie legt sich erneut hin und schließt die Augen. Wie geht es ihrem Sohn?

Plötzlich Stimmen vor der Tür. Über und unter dem Schloss der Zimmertür werden Metallschienen zurückgezogen, das Schloss quietscht, dann stehen sie im Raum.

Der Einbeinige und ein weiterer Mann in Uniform.

»Aufstehen! Mantel anziehen!«

»Kann ich nach Hause?«, fleht sie zitternd.

Keine Antwort.

Mühsam richtet sie sich auf, aber sofort wird ihr schwindelig, und sie fällt zurück. »Helfen Sie mir!«

Der uniformierte Begleiter des Feldwebels ergreift ihre Hand und zieht sie mit einem Ruck auf die Beine. Sie schreit auf und fasst sich erneut an die kaputte Schulter. Der Soldat stützt sie, der Feldwebel legt ihr den Mantel über.

»Galant wie im Breidenbacher Hof, was?«, hört sie ihn lachen.

Dann greifen die beiden Männer unter ihre Oberarme und ziehen sie aus dem Zimmer. Sie schleifen sie die Diele entlang, ins Treppenhaus und raus auf die Straße.

Die Morgensonne sticht in ihre Augen.

Sie steuern auf einen wartenden Wagen zu.

Der Soldat öffnet die Tür zum Fond.

»Rein da!«

 

10 Tage zuvor

 

Ostermontag, 2. April 1945

Düsseldorf, Oberbilker Allee 248

 

 

 

Else Gores erwachte erst am späten Vormittag.

Der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigte bereits elf Uhr.

Trotz der langen und unüblich ruhigen Nacht voller Schlaf fühlte sie sich erschöpft. Die 12-Stunden-Schichten als Krankenschwester im Bilker Sankt Martinus Krankenhaus zollten ihren Tribut.

Unablässig fluteten Verletzte vom Rheinufer die OP-Säle.

An Pausen war kaum zu denken. Auf der Neusser Seite standen die Amerikaner. Am frühen Morgen des dritten März erreichte eine US Taskforce Oberkassel. Sie sollte die letzte intakte Rheinbrücke in die Düsseldorfer Altstadt besetzen. Zwei Stunden später sprengte die Wehrmacht die Skagerrak Brücke.

Oberkassel war vom restlichen Düsseldorf abgeschnitten.

Ewig durfte es nicht mehr dauern, bis dieser Horror ein Ende nehmen würde. Sie zählte die Tage und dankte Gott jeden Morgen dafür, dass ihr fünfjähriger Sohn Josef bei ihrer Mutter in Thüringen auf dem Land in Sicherheit war.

Immer wieder schlug die amerikanische Artillerie berstende Löcher in die Hausfassaden der Innenstadt und in die dahinter kauernden Familien. In solchen Stunden knallte es überall. Schreie folgten auf Schüsse und hallten durch die Straßen.

Nur Lebensmüde wagten sich während dieser Kämpfe aus den Wohnungen. Else zog die Bettdecke von ihren Beinen und fröstelte sofort. Sie dachte an Jakob. Ihr Mann musste jeden Tag Explosionen, Schlamm, Kälte und sicherlich Hunger erleben. Er lag irgendwo vor Berlin im Schützengraben und schoss seinerseits auf anstürmende Russen der Roten Armee.

Heute hatte sie frei. Nicht weil es Ostermontag war.

Der christliche Feiertag interessierte weder die Nazis noch die Alliierten auf der anderen Flussseite. Und so nahm auch die Flut der Verletzten und Gefallenen keine Rücksicht auf Jesu Auferstehung. Nein, es war einfach ihr persönlicher und regulärer freier Tag. Else Gores stand auf, wusch sich und zog sich Unterwäsche und Strümpfe an.

Sie legte einige dünne Scheite Holz und eine Schippe Kohlen in den Küchenofen und zündete alles mit einer Zeitungsseite an. Als das Feuer loderte, stellte sie den Teekessel auf die Ofenplatte. Dann ging sie zurück ins Schlafzimmer und warf ihr geblümtes Sonntagskleid über den Unterrock. Darüber zog sie die blaue Strickjacke.

Aus der Küche pfiff der Kessel schon.

Sie gab getrocknete Minzblätter in eine Kanne und goss langsam das heiße Wasser dazu. Sofort stieg ihr der würzige Duft in die Nase. Aus dem Küchenschrank nahm Else die zwei Hühnereier, ein Geschenk ihrer Nachbarin, die im Hinterhof drei Hühner hielt.

Sie kochte sie in einem kleinen Topf. Nachdenklich sah sie auf die hüpfenden Eier im sprudelnden Wasser.

Es war Ostern, sie würde beide auf einmal essen.

Die Türklingel zerriss die Stille, und Else zuckte zusammen.

Sie erhob sich vom Küchenstuhl, öffnete das Fenster und schaute hinunter auf den Gehweg. Dort stand Hedwig, die Frau ihres Lieblingsbruders Peter. Else kicherte. Von hier oben sah man nur den riesigen kugelrunden Bauch der Hochschwangeren mit einem Büschel brünetter Locken darauf. Sie ging zur Tür und drückte ihrer Schwägerin auf.

Absatz für Absatz näherte sich ein deutlich hörbares Schnaufen.

»Was schleppst du dich denn in deinem Zustand hier die Treppen rauf?«, lachte Else. Doch als Hedwig vor ihr stand, verstummte sie. Sie sah in verquollene und rot geriebene Augen.

»Um Himmels willen, was ist denn los?«, fragte sie und zog Hedwig am Arm in die Wohnung.

»Ich habe Feldpost«, antwortete ihre Schwägerin fast tonlos.

Sie sank erschöpft auf einen der Küchenstühle.

Das ist doch gut, wollte Else herausplatzen, da spürte sie einen Kloß im Hals. Sie bekam es mit der Angst zu tun.

»Ich habe von meinem Jakob schon seit zwei Monaten keinen Brief mehr bekommen«, sagte sie stattdessen.

Hedwig hielt ihr den bereits geöffneten Umschlag entgegen.

»Er ist nicht von Peter.« Sofort schossen ihr Tränen in die Augen, und sie schluchzte herzzerreißend.

»Nein, bitte nicht …«, atmete Else aus. Sie rang nach Luft und spürte, wie ihre Beine nachgaben. Sie nahm den Brief und setzte sich zu Hedwig.

 

Im Felde, den 24. März 1945

Sehr geehrte Frau Böhnke!

Beim Gefecht in Küstrin fiel am 22. März 1945 Ihr Mann, der Hauptgefreite Peter Böhnke, im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland.

Zugleich im Namen seiner Kameraden spreche ich Ihnen meine wärmste Anteilnahme aus. Die Kompanie wird Ihrem Mann stets ein ehrendes Andenken bewahren und in ihm ein Vorbild sehen.

Die Gewissheit, daß Ihr Mann für die Größe und Zukunft unseres ewigen Deutschen Volkes sein Leben hingab, möge Ihnen in Ihrem schweren Leid Kraft geben und Trost spenden.

In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie.

Heil Hitler

Rössler, Kompanieführer

 

»Nein! Nein!!«, schrie Else. »Nicht auch noch Peter. Reicht es dir denn nicht, dass du schon Walter zu dir holtest?« Sie richtete den Blick zur Decke. »Jetzt auch noch Peter?« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf ihr Kleid. Sie legte den Kopf auf den Tisch.

»Ich bin doch schwanger. Das Kind kommt doch bald«, vernahm sie die kaum hörbare Stimme Hedwigs. Sie hob den Kopf und sah ihre Schwägerin an, die ihr wie versteinert gegenüber saß, den Blick starr auf die Wand gerichtet. Else kramte ein Taschentuch aus ihrer Strickjacke, wischte sich damit übers Gesicht und streichelte danach mit ihrem Handrücken Hedwigs Wange.

»Verzeih mir. Ich schreie hier herum und vergaß, dass es nicht nur um meinen Bruder, sondern auch um deinen Mann geht, den Vater eures Kindes.« Sofort schossen ihr erneut die Tränen in die Augen, und sie schlug wieder und wieder mit der Faust auf die Tischplatte, bis Hedwig sie nahm und festhielt.

»Ich werde dir helfen, wo immer ich kann«, schluchzte Else.

Hedwig griff nach dem Kuvert, angelte die halbe Blechmarke heraus und drückte sie fest an ihre Brust. »Sieben Jahre waren wir verheiratet und haben kaum etwas voneinander gehabt. In seinem letzten Urlaub zeugten wir dieses Kind«, sie strich sich über den Bauch, »… und jetzt wird es als Halbwaise zur Welt kommen. Ich kann es nicht fassen, dass er niemals mehr nach Hause kommen wird, sein Kind nicht sieht.«

Sie begann erneut zu weinen.

Beide Frauen schwiegen.

Nach einer Weile nahm Hedwig Elses Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Fühl mal.«

Else nahm die Bewegungen des Kindes wie Klopfzeichen wahr. Manche stärker, als setze das Kind seine Fäuste ein. Dann wieder zarte, kaum fühlbare Stöße gegen die Bauchdecke. »Eine Nachricht aus der Höhle«, flüsterte Else, als wolle sie das Kind nicht stören. »Ich glaube, das Baby will dir sagen, du bist nicht allein. Ich will leben. Ob im Krieg oder im Frieden. Ich brauche nur deine Liebe und deinen Schutz.«

»Das ist sehr tröstlich, was du sagst. Danke. Das Kind ist das Beste, was mir bleibt. Ich liebe es doch jetzt schon. Und ich werde es schützen. Das wird meine Hauptaufgabe werden.« Hedwig schlang ihre Arme um Elses Hals und gab ihr einen Kuss.

Else fragte: »Wissen meine Eltern schon Bescheid?«

Elses Vater lebte mit seiner zweiten Frau ebenfalls in Düsseldorf und kämpfte noch im Volkssturm.

Hedwig schüttelte den Kopf.

»Ich bin sofort zu dir gekommen«, wimmerte sie.

»Wir müssen es auch ihnen beibringen«, flüsterte Else.

»Ja … müssen wir. Ich habe aber kein schwarzes Kleid, Else.«

»Ich kann dir eins von meiner Mutter geben. Das fällt dir locker über deinen Bauch.«

»Danke , du bist so lieb. Ich bin froh, dass du bei mir bist. Darf ich heute Nacht bei dir bleiben?«

»Gerne, mir ist auch nicht nach Alleinsein zumute.«

 

 

Dienstag, 3. April 1945

Düsseldorf, Ellerstraße

 

 

 

 

 

Fünf Soldatenstiefel, ein klobiger Halbschuh und ein Stock marschierten stampfend über das Pflaster der Ellerstraße. Der Halbschuh bildete das Ende einer hölzernen Beinprothese, die oberhalb des Knies am verbliebenen Stumpf des Oberschenkels hing und bei jedem Schritt nach links ausschwenkte.

Sie gehörte Feldwebel Adolf Stützer, der als Pilot der Luftwaffe an der Ostfront mit seiner Maschine abgeschossen wurde und später sein linkes Bein verlor.

Nach einer einjährigen Zwischenverwendung im Büro des Fliegerhorstes in Düsseldorf-Lohausen wurde er im März der Heeresstreife unter Leitung von Hauptmann August Kaiser zugeteilt.

»Wir sind da!«

Schnaufend holte Stützer ein schmuddeliges Tuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Er schaute noch einmal auf seinen Befehl, dann auf die gusseiserne Hausnummer an der Fassade. Die wuchtige Eichentür stand ein Stückchen offen.

»Und bitte, meine Herren!«

Die beiden Soldaten zu seiner Seite stürmten das Treppenhaus und jagten hoch in die zweite Etage. Stützer folgte ihnen, mit seiner Prothese Stufe für Stufe nehmend. Tok, tok, tok, schlug der Stock schwer auf die ausgetretenen Holzstufen.

Im ersten Stock angekommen hörte er seine Männer über sich gegen die Wohnungstür der Wagners hämmern und kurz darauf, wie diese geöffnet wurde und eine Frauenstimme fragte: »Ja bitte?«

»Ich bin gleich bei Ihnen, Frau Wagner«, rief Stützer nach oben.

»Frau Helga Wagner?«, fragte er, nachdem er endlich vor der Tür ankam. Die etwa 40jährige Frau mit der umgebundenen Küchenschürze nickte.

»Dürfen wir reinkommen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drängten er und seine zwei Begleiter an der Frau vorbei zunächst in die Diele und dann weiter in die Küche. Am Tisch saß der Herr des Hauses, las in der Rheinischen Landeszeitung und führte sich mit den letzten beiden verbliebenen Fingern der linken Hand kleine belegte Brotstücke in den Mund. Seine Frau schnitt sie ihm zurecht.

Deine Dominosteine, meinte sie lächelnd jeden Morgen zu ihm.

Die Soldaten postierten sich beidseits der Tür, während Stützer um den Tisch in der Raummitte polterte und dabei Schranktüren öffnete, Vorratsdosen von der Anrichte nahm und sie von allen Seiten betrachtete. Die Frau warf einen unsicheren Blick zu ihrem Mann, der gelassen einen Dominostein nach dem anderen vom Teller nahm und aß.

Stützer blieb stehen und wandte sich dem Mann zu.

»Mutti macht gutes Frühstück, was?«

Der Mann hob den Kopf und sah dem Eindringling mit der offen getragenen Fliegerjacke in die Augen.

»Wie alt sind Sie?«, wollte Stützer wissen.

»42«

»Und was frühstücken Sie hier gemütlich und lesen Zeitung, statt unser Vaterland an der Front zu verteidigen?«

Der Mann hob seinen rechten Arm in die Höhe, so dass der vernarbte Stumpf aus dem Ärmel lugte. Adolf Stützer zog einen der freien Stühle zurück, setzte seinen Halbschuh auf die Sitzfläche und klopfte auf sein Holzbein. »Ja und? Ich mache auch weiter!«

»Mein linkes Auge ist aus Glas. Das echte hat ein Granatsplitter erwischt. Mir fehlt die rechte Hand, und an der linken besitze ich nur noch Daumen und Zeigefinger. Sie müssten mir das Gewehr schon halten, damit ich den Abzug ziehen kann. Reicht das?«

Dann erhob sich der Mann von seinem Stuhl und ging um den Tisch herum auf Stützer zu. »Ich war Oberleutnant der Wehrmacht. Was also kann ich für Sie tun, Feldwebel?«

Krachend landete das Holzbein wieder auf dem Fußboden.

Stützer drückte seinen Rücken durch und zog ein Blatt aus der Innentasche seiner Uniformjacke. Er hielt das Papier ganz dicht vor das gesunde Auge des Mannes. »Wir suchen Volker Wagner, Ihren Nichtsnutz von Sohn. Er ist fahnenflüchtig und soll sich hier bei Ihnen aufhalten.«

»Das ist nicht wahr!«, schrie Helga Wagner mit Entsetzen in der Stimme. »Er ist nicht fahnenflüchtig, sondern krank. Er liegt mit fast 40 Fieber im Bett. Das ärztliche Attest habe ich gestern zu seiner Befehlsstelle am Bilker Bahnhof gebracht. Die wissen Bescheid!«

Stützer drehte sich wieder zum Vater des Gesuchten und sah ihn scharf an. »Oberleutnant! Könnten Sie Ihre Frau wohl aufklären über die richtige Reihenfolge? Erst die Krankmeldung, dann ins Bett! Und nicht umgekehrt. Ihr Sohn hat sich bereits vor drei Tagen unerlaubt von der Truppe entfernt. Und erst gestern kommt die Krankmeldung?«

Er wandte sich seinen Männern zu: »Durchsuchen!«

Die beiden räumten ihren Posten an der Tür zur Diele und drangen in ein weiteres, angrenzendes Zimmer ein.

In diesem lag der sechzehnjährige Volker Wagner im Bett, hochrot im Gesicht, mit röchelndem Husten und sichtlich Schmerzen beim Atmen. Das Fieberthermometer hatte morgens 40 Grad Celsius gezeigt. Trotz bis zum Hals gezogener Decke raselte der Junge vor Schüttelfrost.

Mit halbgeöffneten Augen und Schweißperlen auf der Stirn bot er einen jämmerlichen Anblick. Der stetige Husten entlud sich in krächzenden Ausstößen, die wie das Gebell eines heiseren Hundes klangen. Helga Wagner stürmte hinter den Männern her in das Zimmer ihres Sohnes. »Sie sehen doch, wie krank er ist. Von Drückebergerei kann doch keine Rede sein.«

»Wollen Sie mich als Lügner hinstellen, Frau Wagner?«, tönte es scharf in ihrem Rücken, und Stützer schob sich an das Fußende des Bettes. »Dann nehme ich Sie auch gleich mit. Ihr Sohn ist abgehauen, sonst stünde er nicht auf meiner Liste.« Mit zusammengekniffenen Augen wandte er sich an den Jungen: »Du bist Volker Wagner und im Volksgarten eingesetzt, um Panzergräben auszuheben?« Volker hustete, als er zu antworten versuchte.

»Ja«, krächzte er.

»Rede lauter mit mir«, fuhr ihn der Feldwebel an.

»Hören Sie, Herr Feldwebel, mein Sohn hat 40 Fieber, er ist sehr schwach, hat Schmerzen und Husten. Ich brachte die Krankmeldung zur Schanzengruppe. Bitte glauben Sie mir doch.«

Helga Wagner war die Verzweiflung anzuhören.

»Warum sollte ich Ihnen glauben? Sie wollen eine Memme aus ihm machen. Alles Lüge. Mir liegt hier die Meldung vor …«, er wedelte mit dem Blatt Papier in der Luft ..., »dass er sich vom Einsatzstandort entfernte und nicht zurückkehrte. Los, steh auf! Wir bringen dich jetzt zur Polizei. Du weißt, was auf Fahnenflucht steht? Das wurde euch doch erklärt, nicht wahr? Dachtest wohl, du hast deine Pflicht für Führer und Volk nicht nötig, was?«

»Bitte, Herr Feldwebel, sehen Sie ihn doch an!« Helga Wagner zerrte an Stützers Arm. »Von dem Fieber ist er sehr schläfrig, er hustet und hat Schmerzen. Er kann noch nicht einmal laufen. Wie soll er kämpfen? Sobald sich das Fieber senkt, meldet er sich wieder bei seiner Truppe. Das ist doch klar. Lassen Sie unseren Sohn um Gotteswillen hier!«

Adolf Stützer ergriff ihre Finger am Ärmel seiner Fliegerjacke und bog sie nach hinten, so dass die Frau laut aufschrie.

»Mutter!«, krächzte es aus dem Bett.

Stützer hielt ihre Finger weiter in seiner Hand. »Halten Sie sofort die Fresse, oder ich jage ihm schon hier eine Kugel in den Kopf. Hier vor Ihnen! Hier im Bett!«

Nun endlich kam auch Gustav Wagner in die kleine Kammer.

»Ich werde jetzt den Arzt anrufen. Was meine Frau Ihnen sagte, stimmt. Wenn man in der Schanzengruppe nicht in der Lage ist, Ihnen die Krankmeldung weiterzuleiten, dafür kann doch unser Sohn nichts. Sie sind jung, was täte Ihre Mutter, wenn sie so krank dalägen und einer Ihrer Kollegen Sie holen wollte?«

Adolf Stützer drehte sich langsam um und ging auf ihn zu. Dann packte er, schneller als es der ehemalige Oberleutnant erwartete, mit der rechten Hand dessen Hals und drückte den Mann gegen die Wand. »Meine Mutter hatte ein steifes Bein von Geburt an. Es ist mir scheißegal, was dieser unnütze Krüppel in dieser Lage denken oder tun würde, haben Sie mich verstanden? Und jetzt erfüllen wir unsere Pflicht für das Vaterland. Noch ein Versuch, uns dabei zu behindern, und es knallt. Haben wir uns jetzt endlich verstanden?«

Helga Wagner stand der Mund vor Entsetzen offen. Sie starrte diesen Mann nach den Worten über seine eigene Mutter betäubt an.

»Mitnehmen!« Stützer sah zu den zwei Soldaten und zeigte mit abgewinkeltem Daumen aufs Bett.

Schnell zogen diese die Bettdecke zurück, ergriffen die Oberarme des Jungen und zerrten ihn aus dem Bett. Volker Wagner hing in seinem Pyjama mehr zwischen den beiden, als dass er stand.

Seine Mutter warf sich dazwischen, schrie wie von Sinnen und umklammerte ihren Sohn. Stützer nahm bedächtig seine Pistole aus dem Holster und fing an zu zählen: »Eins, zwei ...«

Gustav Wagner sprang dazu, bog mit seinen Stümpfen die Arme seiner Frau auseinander und zog sie von ihrem Jungen weg. Die beiden Männer der Heeresstreife schleppten den fast bewusstlosen Jugendlichen mit sich aus der Wohnung.

»Neeeeiiin ...«, schrie seine Mutter hinter ihnen her.

»Ab zum Standgericht! Da gehört der Feigling hin!«, verkündete Stützer und polterte die Stufen runter. Unter den gaffenden Blicken einiger Passanten schleiften sie Volker Wagner bis zum geparkten Wehrmachtswagen und fuhren mit ihm davon.

»Ab zum Eller Forst. Das Standgericht können wir uns sparen«, befahl Stützer dem Fahrer.

»Zu Befehl!«

 

Mittwoch, 4. April 1945

Oberbilker Allee 284

 

 

 

 

 

Else wusch sich, band ihre dunkelblonden Haare zu einem Dutt und zog Unterwäsche, Strümpfe und ihre bequemen Halbschuhe an. Ihre Füße würden heute wieder einige Kilometer laufen müssen. Als sie das Fenster öffnete und den Kopf herausstreckte, blies ihr frischer Wind ins Gesicht. Sie warf ein leichtes Kleid über. Der Mantel war nicht mehr der sauberste, aber ohne ihn würde sie sich erkälten. Else nahm ihre Handtasche und einen Korb, den sie mit zwei Fleischerhaken an den Fahrradlenker hängen konnte. Auf dem Rückweg am Abend würde sie noch etwas zum Essen besorgen. Manchmal gab es sogar Obst in der Suppenküche. Sie steckte ihre Lebensmittelkarte ein und wollte die Wohnung verlassen, als sie den Zettel sah, der in der Diele vor der Tür lag. Jemand musste ihn unten durch den Türspalt geschoben haben. Sie hob das Papier auf und las.

 

Erste-Hilfe-Kurs vom Roten Kreuz

Gartensiedlung am Südfriedhof. Vereinsheim, 21 Uhr

Zur Übung Stoffreste, Knöpfe und Wäscheklammern mitbringen

DRK Lihiese

 

Else schmunzelte. Lihiese war ihr Kosename, den Karola ihr im Jahr 1924 verpasste. Karola, ihre Freundin von Kindertagen an, engagierte sich seit wenigen Wochen in der Antifaschistischen Kampfgruppe, die im Sommer 1944 von dem Düsseldorfer Hermann Smeets, ehemaligen KPD-Mitgliedern und anderen Gegnern der Nationalsozialisten gegründet worden war und seitdem in vielen Städten Deutschlands entstanden.

Sie führten keine aktiven Partisanenkämpfe gegen die Wehrmacht, dafür war die Gruppe der aktiven Mitglieder zu klein und unerfahren. Sie beschränkte sich jedoch nicht auf das Verstecken von Deserteuren, sondern druckten Flugblätter, die sie verteilten, sprachen Volkssturmangehörige an, die Waffen niederzulegen. Damit setzten sie ihr Leben aufs Spiel, doch Else konnte Karola das nicht ausreden, obwohl sie es immer mal wieder versuchte.

Ihre Freundin war schon als Mädchen dasjenige von ihnen, das auf Bäume kletterte, Fußball spielte und sich völlig unbekümmert mit den Jungs raufte. Noch dazu stur wie ein Esel.

Die Worte Stoffreste, Knöpfe und Wäscheklammern standen für Verbandsmaterial, Penicillin und Aspirin.

Sie mussten in der Gartensiedlung jemanden versteckt halten, der medizinische Hilfe benötigte. Else verließ die Wohnung, nahm ihr Fahrrad, das im Hausflur stand und radelte zum St. Martinus Krankenhaus.

Da sie als Hilfskrankenschwester auf einer chirurgischen Station mit frisch Verletzten arbeitete, würde es möglich sein, das erforderliche Material mitgehen zu lassen. Dabei ertappt zu werden, konnte auch den Tod bedeuten, je nachdem, wer sie erwischte. Allerdings würde Karola sie nicht bitten, wenn es nicht wichtig wäre.

Else bog gerade in die Gladbacher Straße ein und näherte sich bereits ihrer Arbeitsstätte, als amerikanische Artilleriegeschütze aus südwestlicher Richtung mal wieder das Feuer eröffneten.

Das Krankenhaus stand nur sechs Kilometer Luftlinie vom Rheinufer in Neuss entfernt. Sofort ließ sie sich vom Rad fallen und robbte in eine Toreinfahrt, um sich vor Granatsplittern in Deckung zu bringen. Es gab kaum Splitterschutz zwischen den Schutthaufen aus Trümmern. Auf der anderen Straßenseite rannten Menschen schreiend in Richtung Krankenhaus. Zwei Männern rann Blut übers Gesicht. Einer der beiden drückte seine Hand gegen den Kopf, lief direkt auf sie zu und sackte vor einer Tür zusammen.

Die zwei werde ich gleich im Dienst wiedersehen, dachte Else.

Eine Frau mit einem Kinderwagen lief orientierungslos über die Straße. Else trat ein Stückchen aus dem Toreingang heraus und rief: »Komm hierher!« Sie winkte, aber die Frau nahm sie überhaupt nicht wahr. Sie rannte einfach weiter und fiel plötzlich zu Boden. Der Kinderwagen rollte noch ein Stück, knallte dann gegen den Bordstein und kippte um. Krähendes Babyschreien folgte sofort.

In der Neusser Straße schlug eine Granate ein.

Eine ohrenbetäubende Explosion zerriss die Luft. Steinbrocken flogen umher, eine Staubwolke quoll von der Einmündung in die Gladbacher Straße hinein. Ein älteres Ehepaar lief zu der gestürzten Mutter. Der Mann beugte sich über sie und legte seine Finger an ihren Hals. Dann forderte er einen Jungen, der an ihnen vorbeilief, auf, ihm dabei zu helfen, die Frau das kurze Stück bis ins Krankenhaus zu tragen. Seine eigene Frau wiederum hob das aus dem Kinderwagen geschleuderte und schreiende Baby auf, schüttelte Dreck von einem Kissen und platzierte den Säugling wieder in seinen Wagen. Dann schob sie hinter den dreien her.

Else zog sich tiefer in die Toreinfahrt zurück. Dieses Geschehen zeigte ihr wieder einmal die große Gefahr, die von den Granaten ausging. Sie fühlte sich schwindelig. Erinnerungen an das schwere Bombardement im Mai 1940 holten sie ein. Ihre erste Flucht vor Bomben in den Bunker am Oberbilker Markt, die heulenden Sirenen, ihren schreienden fünf Monate alten Sohn Josef auf dem Arm, eine Tasche mit persönlichen Habseligkeiten in der anderen Hand und die Todesangst im Gepäck.

Der zweite Großangriff erfolgte 1943, Pfingsten, der noch viel mehr Zerstörung und Leichen hinterließ. Und inzwischen, 1945, lag Düsseldorf in Schutt und Asche. Der Krieg wurde Alltag. Else wartete eine Weile. Ein Tuch der Stille legte sich über die Szene. Diese trockene, staubige, gespenstige Stille nach einem Einschlag.

Unwirklich. Unscharf. Wie taub.

Sie nahm das Fahrrad auf und schob es die Straße hinauf bis zum Eingang des Krankenhauses. Schon wieder zu spät, zeigte ein Blick auf die Uhr. Sie ging mit dem Rad zu einem Nebengebäude im Garten und stellte es dort ab. Dann lief sie durch die Gänge zum Umkleideraum der Schwestern. Else wechselte ihre Kleidung, zog den weißen Kittel über, stellte den Korb in ihren Spind und eilte zu ihrer Station der chirurgischen Abteilung. Ihre Kolleginnen und die Pfleger saßen schon in der Tagesbesprechung.

»Einige Zivilisten sind gekommen, ein junges Paar wurde gebracht. Schwer verletzt. Sie sind bereits im OP«, informierte Oberschwester Ursula.

»Ich sah eine Mutter mit Kinderwagen. Wohin habt ihr denn das Kind gebracht?«

»Das kommt der Opa abholen, den konnten wir Gott sei Dank schon erreichen. Die Mutter hat mehrere Splitter in den Bauch gekriegt und steht noch unter Schock. Du wirst sie nach der OP versorgen.«

»Ich muss unbedingt was trinken. Darf ich mir einen Tee aufbrühen?«

»In der Kanne ist noch Pfefferminztee.«

Das Stationstelefon klingelte. Die junge Mutter könne aus dem OP abgeholt werden. Else stand auf und machte sich auf den Weg, das Bett mit der narkotisierten Frau entgegenzunehmen.

Blutdruck und Puls zeigten sich stabil, Else verrichtete ihre normalen Aufgaben und lief immer wieder, um nach ihr zu schauen. Zwei Stunden später wachte die Frau auf und stöhnte.

»Wo bin ich?«

Else nahm ihre Hand und erzählte, was am Vormittag geschehen war, und dass ihr Kind vom Großvater abgeholt wurde. Dann verabreichte sie eine neue Dosis eines starken Schmerzmittels. Kurz darauf schlief die Frau wieder ein. Else verließ das Zimmer mit dem schönen Gefühl, dass die Mutter es schaffen würde.

Jetzt konnte sie sich mit den Kolleginnen weiter um die vierzig anderen Patienten der Station kümmern.

Erst um halb neun am Abend endete ihre Schicht. Else befand sich allein auf der Station und übergab die Patientenkladden an die soeben eingetroffene Nachtschwester Mathilde.

Dann verabschiedete sie sich von ihr und steuerte auf den Stationsausgang zu. Als Mathilde ihren Rundgang im ersten Zimmer begann, nutzte Else die Gelegenheit und huschte ins Dienstzimmer zurück.

Leise öffnete sie die Tür des Medizinschranks mit jenem Schlüssel, der in der Schublade einer anderen Anrichte verwahrt wurde, um Unbefugten die Suche zu erschweren. Die Arzneimittel standen nach Gruppen geordnet.

Eine große Dose mit Aspirintabletten fand sie bei den Schmerzmitteln, Penicillin unter den Antibiotika. Verbandsmaterial lagerte im Nebenschrank.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ihren Korb im Spind vergessen hatte. Wohin mit den Mullbinden und den Tabletten? Die Zeit erlaubte es nicht, erst zur Umkleide und wieder zurückzulaufen.