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Quod decet? Diese Frage stellt sich in jeder rhetorischen Situation, in der ein Orator seinem Anliegen durch eine Rede Geltung beim Rezipienten verschaffen möchte. Angemessenheit ist eine genuin rhetorische Kategorie und dennoch ist das Postulat der Angemessenheit bislang kaum Gegenstand moderner Rhetorikforschung geworden. Das Konzept der Angemessenheit stellt die rhetorische Theorie vor ein Problem, da es erstens mehrere Begriffe dafür gibt (aptum, prepon, decorum), die durch Übersetzung vom Altgriechischen ins Lateinische tradiert worden sind. Zweitens erweist sich die Angemessenheit über die Jahrhunderte hinweg als ein interdisziplinäres Thema, dessen ephemeres Wesen in der Theorie der Rhetorik nur schwer zu fassen ist. Gerade deshalb ist eine für das digitale Heute festgelegte Bestimmung von prepon/decorum in der Rhetorik nötig, da sich die Rhetorik in der Auseinandersetzung zwischen dem Ideal des rationalen Argumentierens und den rhetorischen Effizienzansprüchen doch bis heute behaupten muss.
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Seitenzahl: 538
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Sophia Vallbracht
Die normative Kraft des Decorum
Angemessenheit bei Cicero, Ambrosius und Augustinus
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
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ISBN 978-3-7720-8671-7 (Print)
ISBN 978-3-7720-0166-6 (ePub)
Für meine unvergessene Oma Pauline und meine Mutter Angela, zwei unglaublich mutige, starke und kluge Frauen, die mir zum Vorbild wurden. Meinen Eltern danke ich für ihr unerschütterliches Vertrauen in mich und ihre nie enden wollende Unterstützung.
Für meinen Ehemann Sebastian, der mich in Liebe ermutigt, meine Träume zu verwirklichen. Ohne ihn wäre ich nicht mutig gewesen, diesen Schritt zu gehen. Meiner Familie und besonders meiner Schwester Rebecca danke ich für ihren festen Glauben an mich und ihre Unterstützung.
Allen anderen, die mir auf diesem Weg geholfen haben: Prof. Dr. Mike Edwards für seinen Enthusiasmus, einer jungen Kollegin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, Prof. Dr. Dietmar Till für seine Betreuung und Geduld als Doktorvater, Prof. Dr. Johannes Brachtendorf als Wegbegleiter, der für alle Ideen offen war und auf dessen Rat ich mich immer verlassen konnte, Dr. habil. Franz-Hubert Robling, der mich von der ersten Stunde an in diesem Vorhaben unterstützt, beraten und auch korrigiert hat, ihnen allen ein von Herzen kommendes Dankeschön.
Hier zeigt sich die Tüchtigkeit des Redners wie die des Feldherrn im Kampf, der seine Streitkräfte teils für den Fall, daß es zum Treffen kommt, bei sich behält, teils sie zur Verteidigung auf die Kastelle oder zur Garnison in die Städte, zur Beschaffung des Nachschubs, zur Sicherung der Marschwege und schließlich auf Wasser und Land verteilt. Quintilian: Institutionis oratoriae. VII, 10, 13.
In der Feldherrnmetapher beurteilt Quintilian die Fähigkeit des Orators danach, ob dieser wie ein Feldherr seine Strategie der jeweiligen Situation entsprechend und damit effektiv einsetzt, also teleologisch. Die Frage, ob Angemessenheit eine genuin rhetorische Kategorie darstellt, erübrigt sich hier.1 Erstaunlicherweise ist das Postulat der Angemessenheit aber auch in der Folgezeit kaum Gegenstand moderner Rhetorikforschung geworden.2 Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?
Zum einen sicherlich dadurch, dass die Angemessenheit in der antiken Rhetorik zwar eine sehr wichtige Stellung als zentrales Regulativ der Rede einnimmt, jedoch nirgends eine konkrete Definition gegeben wird. Das Konzept der Angemessenheit stellt die rhetorische Theorie vor ein Problem, da es erstens mehrere Begriffe dafür gibt (aptum, πρέπον, decorum), die durch Übersetzung vom Altgriechischen ins Lateinische (Cicero übersetzt πρέπον mit decorum) tradiert worden sind, und sich zweitens die Angemessenheit über die Jahrhunderte hinweg als ein interdisziplinäres Thema (Poetik, Philosophie, Kunst, Literatur, Architektur und Musik3) erweist. Zum anderen ist in der modernen Rhetorik eine Leerstelle entstanden, die sich daraus ergibt, dass das antike Verständnis von Angemessenheit als πρέπον/decorum sich nicht mehr passgenau in eine Rhetorik im 21. Jahrhundert4 einfügen lässt.5 Eine neue Bestimmung von Angemessenheit in der modernen Rhetoriktheorie scheint unumgänglich zu sein, ist sie doch „[a]uch für die heutige Darstellungsfähigkeit [...] das wichtigste Verständniskriterium geblieben.“6
Angemessenheit scheint auch der archimedische Punkt zwischen Rhetorik und praktischer Ethik zu sein, wenn man von folgenden Annahmen ausgeht:
Angemessenheit ist zentrales Regulativ der Rede (bei Cicero decorum orationis) und der Rhetorik.
Angemessenheit stellt eine normative Erwartung an den Redner dar (decorum vitae).
Die normative Verankerung von Angemessenheit muss so mit strategischem, auf Persuasion ausgerichtetem Handeln in einem interdisziplinären ganzheitlichen Rahmen problematisiert, analysiert und möglichst in eine rhetorische Theorie überführt werden.
In der antiken Rhetorik lassen sich mehrere Begriffe finden, die „Angemessenheit“, bzw. die Eigenschaft „angemessen“ beschreiben, wovon noch in Kapitel 2 ausführlich die Rede sein wird. Es ist vor allem der von Cicero geprägte Neologismus „decorum“ als Übersetzung für πρέπον, der die rhetorische Angemessenheit ganzheitlich in Abgrenzung zum aptum fasst. Während aptum sich auf die Sachangemessenheit (inneres aptum) und die Situationsangemessenheit (äußeres aptum)7 einer Rede bezieht, ist das decorum ein von Cicero erweitertes Konzept, das den Redner als ethisch handelnden Akteur in seiner je eigenen Wesensart mit einbezieht.8 In dieser Hinsicht umfasst das decorum als solches das aptum, doch nicht vice versa. Deshalb soll hier die These vertreten werden, dass das decorum die Angemessenheitsnorm in Sprache, Verhalten und Kommunikation darstellt, während das aptum insofern vom decorum zu unterscheiden ist, als es eine redeimmanente Kategorie der Sachangemessenheit und der Situationsangemessenheit darstellt.9
Sodann folgen in den nächsten Jahrhunderten weitere Übersetzungen von πρέπον und decorum ins Englische als propriety, fittingness, appropriateness oder ins Französische als bienséance oder convenance, um nur die Wichtigsten zu nennen.10 Doch jeder Übersetzung wohnt auch eine Interpretation inne, womit begriffliche und inhaltliche Veränderungen und Akzentverschiebungen im Laufe der Jahrhunderte in den jeweiligen Sprachen zwangsweise einhergegangen sind. Auch im Deutschen macht sich dies bemerkbar, wenn decorum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik als „Angemessenes“, „Schickliches“, „Konvenienz“ angegeben wird oder auch als „Wohlanständigkeit“ bei Christian Thomasius zu finden ist. Und selbst wenn das lateinische decorum als „Angemessenheit“ übersetzt wird, ist der Inhalt dieses Begriffs nicht automatisch klar und fassbar, sodass folgende Fragen offenbleiben: angemessen in Bezug worauf? Und wo liegt die Grenze zwischen Angemessenheit und Unangemessenheit? Wie lässt sich diese Grenze rhetorisch bestimmen?
Es bedarf einer Beschreibung und Einordnung von Angemessenheit in der Rhetorik, die in systematischer Theorie auf die meisten Fälle und Situationen anwendbar ist und ihren Platz sowohl in der Kasualrhetorik, wie auch in der Fundamentalrhetorik11 einnimmt. Wenn die Initiation von Rhetorik im Moment einer Entscheidung(sfindung) (κρίσις) als rhetorischem Fall12 ausgelöst wird, dann scheint Angemessenheit die rhetorische und ethische Absicherung von Persuasion jeglicher Art zu sein und so sollte ihr in der Theorie der modernen Rhetorik ein genuiner Raum zugestanden werden. Fasst man darüber hinaus Angemessenheit mit Erving Goffman soziologisch als Benehmen (demeanor)13, so wird deutlich, inwiefern Kommunikation und Benehmen als gesellschaftliche Prozesse interagieren: „Es bezeichnet ein symbolisches Handeln, mit dem durch Haltung, Kleidung und Verhalten zum Ausdruck gebracht wird, dass man als Akteur über bestimmte Eigenschaften verfügt, die der sozialen Situation angemessen sind, wie etwa Sprachkompetenz, Körperbeherrschung, Ehrlichkeit oder Gelassenheit.“14 Die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und welche Selbstdarstellung (face/image) sie bewusst und auch unbewusst kommunizieren, interessiert die Forschung um Erving Goffman, der in der Soziologie als Disziplin mit seinem Interesse an „symbolic interaction“ ein neues Feld der Analyse eröffnet hat, deren Forschungsansätze (auch für die Rhetorik) anschlussfähig sind.
Analog zu den verschiedenen Begriffsprägungen von Angemessenheit in den jeweiligen Sprachen hat sich Angemessenheit im Laufe der Geschichte zu einem interdisziplinären Thema entwickelt. So taucht es zum Beispiel in der Geschichte der Kunst mit der Diskussion um Caravaggios Gemälde Madonna di Loreto (1604-06) auf, das in der Kunstkritik der Zeit als Verstoß gegen das kirchliche decorum gewertet wurde: Die Darstellung von Armut und physischer Unzulänglichkeit in den schmutzigen Füßen und in der zerlumpten Bekleidung der beiden vor der Madonna knienden Pilger, wie auch die Darstellung einer barfüßigen Madonna, die in lässiger Manier an einer Säule lehnt und ein schon älteres Jesuskind auf dem Arm trägt, wurde als Bruch des decorum im sakralen Bild kritisiert.15 Viele seiner Altarbilder wurden wegen unzulänglicher Angemessenheit in der Ausdruckssprache von Klerikern zurückgewiesen.16 Die Grenzen des künstlerisch Darstellbaren und kirchlich Akzeptablen in der Altarmalerei auszuloten, machte das Problem des kirchlichen decorum aus, das eigentlich schon mit dem Dekret über die Verehrung der Heiligen im Jahre 1563 auf dem Konzil von Trient gelöst werden sollte, dessen Einhaltung jedoch den Bischöfen vor Ort oblag und somit weiterhin für Diskussionen sorgte.17
Doch nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur wird das Ideal von Angemessenheit thematisiert, so bei Jane Austen in ihrem Roman Pride and Prejudice, wo sie in unterhaltsamer, doch gesellschaftskritischer Manier das decorum selbst zum treibenden Thema einer Handlung macht und damit auch noch als weibliche Schriftstellerin im 18. Jahrhundert erfolgreich war.18
Und auch in der Moralphilosophie ist Angemessenheit als propriety ein Aspekt, so in Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759). Dieses Werk kann aufgrund seines deskriptiven Charakters als eine „Phänomenologie der Moral“19 gelten, das zeigt, inwiefern propriety (Schicklichkeit/Anstand/Angemessenheit) aus sympathy (Anteilnahme/Verständnis) hervorgeht. Adam Smith sieht den Menschen als soziales Wesen, das über die Fähigkeit verfügt, ein „fellow-feeling“20 (Zugehörigkeitsgefühl) für seine Mitmenschen zu entwickeln: Sympathy setzt ihn instand, die Gefühle (emotions), die der Andere zeigt, selbst zu entwickeln und sich in den Anderen hineinzuversetzen. Doch sympathy wird nicht durch die dargestellten passions (Erregung) hervorgerufen, sondern durch die Situation selbst, die sie ausgelöst hat.21 Ist nun die von einem Mitmenschen gezeigte Erregung (passions) im Einklang mit den „sympathetic emotions of the spectator“22 (mitschwingende Gemütsbewegung des Beobachters), dann erscheinen diese passions dem Zuschauer just und proper zu sein. Teilt der Beobachter eine Meinung oder ein Gefühl, das der Mitmensch vertritt oder zeigt, dann werden diese als proper eingestuft und gutgeheißen. Propriety bezeichnet nach Adam Smith die suitableness23 (Angemessenheit) einer Emotion, eines Gefühls oder einer Reaktion im Hinblick auf den Anlass in der jeweiligen Situation. Adam Smith weitet das Konzept von propriety aus, indem er sie als Bedingung für tugendhaftes Handeln allgemein und als grundlegendes Ordnungsprinzip für eine liberale Gesellschaftsstruktur bestimmt.24 Insofern ist Smiths Ansatz, sympathy als „rhetorical consensus between moral agents“25 zu fassen, der jegliche intersubjektive Kommunikation in einem persuasiven Interesse in den Blick nimmt, nah an der in dieser Arbeit vorgestellten rhetorischen Auffassung von Angemessenheit. Angemessenheit als propriety oder πρέπον/decorum soll im Fokus stehen: Sie sprengt die restriktiven Bestimmungen als Stilqualität und bezieht die normativen Erwartungen an den Orator und die sympathy als emphatisches Einfühlungsvermögen mit ein.
Von Adam Smith ausgehend, stellt sich die Frage, ob Eigeninteresse (self-interest) notwendigerweise dem Altruismus als dem „Sehen des Anderen“ gegenüberstehen muss26, oder ob nicht gerade im rhetorischen Prinzip des decorum diese Dichotomie durch die Fähigkeit des Redners zur sympathy (Empathie) im Rahmen des Adressatenkalküls überwunden werden muss, um persuasiv erfolgreich zu sein. Es stellt sich heute wohl weniger die Frage nach dem moralischen Charakter eines Redners, als nach seiner sozialen Fähigkeit, den Rezipienten wahrzunehmen27, um auf dessen Gefasstheit dann rhetorisch einwirken zu können.28
Die Bedeutung von Angemessenheit in seiner interdisziplinären Gefasstheit reicht folglich von „sakraler Würde“ (Caravaggio) und „elegantem Anstand“ (Austen) bis zum „sozialen Moralprinzip“ (Smith), das einerseits ephemeren Charakter hat, dessen Wesenhaftigkeit in der Theorie der Rhetorik dennoch präzise einzufangen ist und einer systematischen Eingrenzung und Ausdifferenzierung bedarf.
Es fällt auf, dass der Begriff decorum in Deutschland irgendwann verschwunden ist29 und als Angemessenheit wiedergegeben wurde, ohne dass das Prinzip an sich vergessen worden wäre. Dagegen findet der Begriff decorum im englischen Sprachraum bis heute in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise ganz dezidiert im parlamentarischen Bereich in Großbritannien, Verwendung.30 Die These dafür könnte sein, dass sich im Kampf zwischen König und grundbesitzendem Adel eine bestimmte soziale Struktur in England herausgebildet hat, die auf dem Prinzip des gentry decorum basiert. Ihren Anfang findet sie in der Magna Charta (1215), welche dem Adel politische Freiheiten gegenüber dem König gewährt und auch mit dem Freiheitsartikel 39 ein wichtiges Grundrecht für alle freien Bürger einführt. Später diente diese als Fundament für die Petition of Rights, die vom Parlament an König Karl I. 1628 gerichtet wurde, für die Bill of Rights (1689) und schließlich auch für den Rule of Law31 und damit für den englischen Parlamentarismus.
All diesen politischen Bestrebungen um Unabhängigkeit und Freiheit wohnt ein „gesellschaftlicher Sinn“32 von Ordnung und ständisch bedingtem Anstand inne, der je neu im politischen Raum verhandelt worden ist. Damit ließe sich auch von einer systembildenden Funktion des decorum innerhalb einer Gesellschaft sprechen33, wenn man das decorum als „Ordnungsmuster“34, „Ordnungsreflex“35 oder „Hyperreferenz“36 teleologisch deutet: Es ermöglicht soziale Differenzierung über Relationierung, Polarisierung und Transmedialität.37
Das decorum ist also als rhetorisches Prinzip auch kulturell prägend, indem es gesellschaftliche Grenzen praktisch bestimmt und reguliert. Es scheint, als ob kaum ein anderer Begriff der antiken Rhetorik derart auf einen gesellschaftlichen Verhaltenskodex38 verweist und in seiner Ausformulierung bis dato dennoch vage bleiben musste und kaum eine habhafte – eher eine fühlbare oder mit Goethe eine gefühlte39 – Referenz bot.
Das Problem von Diversität, Komplexität und Flüchtigkeit spiegelt sich in den verschiedenen theoretischen Zugängen zur Frage nach der Angemessenheit. Diese reichen von Angemessenheit als Bestandteil hermeneutischer Betrachtungen und Theorien in der Literaturwissenschaft (Limpinsel40), als Stilqualität (Kienpointer41) bis zur Angemessenheit als sozialem Wert (Beetz42). Einen interessanten Zugang bietet Ulla Fix, die Angemessenheit als „Adäquatheit“43 wiedergibt; sie versteht diesen Begriff allerdings dezidiert normativ. Die Normen siedelt sie auf vier verschiedenen Ebenen an, nämlich auf der instrumentalen Ebene (Richtigkeit, Stimmigkeit), der situativen (Empfänger, Sender, Medium, Kanal, Gegenstand, Strategie, Intention und Erwartung), der ästhetischen (Klarheit, Folgerichtigkeit, Gewähltheit und Elaboriertheit) und der parasprachlichen Ebene (Kodes, kulturelle Bedingungen)44. Für Fix ist „Adäquatheit“ ein pragmatisches Kriterium eines Textes und ein Kriterium für Redekompetenz45 per se. Zwar gelingt es Ulla Fix, die Angemessenheit eines Textes in sprachlich-kommunikativen Normen auszudifferenzieren und darauf hinzuweisen, dass „kommunikative Adäquatheit“ als Kriterium je situativ neu verhandelt werden muss, doch wird der rhetorisch-ethische Aspekt des decorum nach Cicero vernachlässigt. Während für Cicero das decorum ein inhärent ethisches Kriterium ist, bestimmt Fix die Adäquatheit als eine Art Brücke „zur Erkenntnis und Anerkennung der sozialen und ethischen Funktion sprachlichen Handelns“46.
Wenn Rhetorik auf Persuasion abzielt, die durch den Orator strategisch geplant wird und auf rhetorischem Kalkül und plausiblen Schlüssen beruht, dann muss aber in der kommunikativen Interaktion der ethische Aspekt von Angemessenheit eine bedeutende Rolle spielen. Angemessenheit muss mehr sein als kontextuelle Adäquatheit, doch wie in aller begrifflichen Diversität und interdisziplinären Komplexität das ephemere Wesen von decorum eingefangen werden kann, soll hier als Desiderat benannt, analysiert und aufgehoben werden.
Auch stimmt damit das gemeinste Urteil der gesunden Menschenvernunft vollkommen zusammen; nämlich dass der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könne [...]. Kant: Kritik der Urteilskraft. II, §86.
Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Begriff des decorum in seiner ethischen Prägung bei Cicero und Ambrosius in den gleichnamigen Schriften De officiis herauszuarbeiten. Das Augenmerk der bisherigen Forschung lag, wenn es das decorum betraf, meist auf seinem ästhetisch-poetischen Aspekt. Zwar ist die Rhetorik eine sprachschöpferische Kunst, die sich auch um den ästhetischen Aspekt von Sprache kümmert, doch sprachliche Schönheit ist wirkungslos, wenn sie sich nicht in den sozialen Kontext der Rede einfügt. Rhetorik, Rede, Sprache und damit auch der Mensch existieren nicht in einem Vakuum, sondern in einem sozialen Miteinander, das von ethischen Maximen und Normen geprägt ist. Auch im säkularisierten 21. Jahrhundert handeln, orientieren und urteilen die Menschen nach Prinzipien, die individuell festgesetzt oder ausgesucht worden sind, aber doch von der Gemeinschaft der Menschen als Konvention akzeptiert werden müssen, will das Individuum auch als soziales Wesen leben. Ansonsten würden sich diese Prinzipien ad absurdum führen, wenn sie dem Individuum nicht einen Platz in der Gemeinschaft der Menschen zuweisen würden. Die Verbindung von rhetorischen und ethischen Prinzipien geschieht im Menschen selbst. Dabei ist die Sprache nicht wegzudenken. Von daher ist es einleuchtend, wenn nach Heidegger die Sprache das Sein quasi beherbergt, so dass er sagen kann: „Die Sprache ist das Haus des Seins“1. Über die Sprache bekommt der Mensch ein Mittel der Reflexion an die Hand, das ihm sein Sein vor Augen führt. Heideggers Daseinsanalyse des Menschen weist auf einen ethischen Bezugsrahmen von Rhetorik2 hin. Sein Rhetorikverständnis ist dasjenige einer rhetorischen Praxis als „Kollektivereignis“3.
Allerdings darf man nicht verkennen, dass die heideggerschen Termini „Sprache“ und „Rede“ im Rahmen seiner fundamentalontologischen Daseinsanalyse (so in seiner Einleitung zu Sein und Zeit, S. 13) zu verstehen sind. Die Rede ist für ihn eine der Existenzialien, neben der Befindlichkeit und dem Verstehen, die das Dasein erschließen. Sie ist die „Artikulation der Verständlichkeit des In-der-Welt-seins“.4 Reden heißt „aufweisendes Sehenlassen“ (Sein und Zeit, S. 32) und ist untrennbar mit dem Verstehen verbunden. Rede als Existenzial des Menschen ist bei Heidegger das ontologische Fundament der Sprache, auf dem der Einzelne seine existenziellen Entscheidungen treffen muss. Sprache ist dabei lediglich als die „Hinausgesprochenheit der Rede“ definiert. Sie ist nach dem Paragraphen 34 das weltliche Sein der Rede. Dasein ist „Sichaussprechen“ (S. 162), „redendes In-Sein“ (S. 165).
In dieser vorliegenden Studie steht aber nicht so sehr Heideggers ontologisch-anthropologische Sicht des rhetorischen Logos im Fokus, als vielmehr die Frage, inwiefern sich Rede als Performanz von Sprache ethisch und rhetorisch angemessen ausprägt. Man könnte dennoch von einem „rhetorischen Sein“ sprechen, das sich in Sprache ausdrückt, als einem Kommunikationsprozess, in dem rhetorische und ethische Kategorien wie Ethos und Glaubwürdigkeit eine Rolle spielen. Das decorum nimmt dabei den primären Rang ein, da es anderen rhetorischen Kategorien (wie beispielsweise der Stillehre) übergeordnet ist, indem es den Bezugsrahmen darstellt, der weitere ethisch fundierte Kategorien beinhaltet.
In der vergleichenden Betrachtung von Ciceros und Ambrosius’ Werk De officiis soll dieser ethisch-rhetorisch weit gesteckte Rahmen deutlich werden. Marcus Tullius Cicero und Aurelius Ambrosius, zwei Autoren, die aus ihrem unbeirrbaren Glauben an ihr Tun ihr Selbstbewusstsein beziehen und auf Grund der ethischen Abstimmung ihrer Überzeugungen mit ihrer Lebensausrichtung herausragende Persönlichkeiten der Antike beziehungsweise der Spätantike darstellen, nehmen sich eines gemeinsamen Themas an, nämlich des Themas der Angemessenheit, zum einen in seiner rhetorisch-politischen, zum anderen in seiner rhetorisch-christlichen Ausprägung. Was veranlasste Ambrosius über 400 Jahre nach Cicero, ein weiteres Offizien-Buch zu schreiben? Ist dies indirekt als Widerlegung Ciceros gedacht? Konvergieren oder differieren die beiden Konzepte? Wie sind sie auf dem Hintergrund des jeweiligen Zeitalters rhetorisch zu bewerten? Auf diese Fragen soll hier Antwort gegeben werden.
Ambrosius bezog sich mit De officiis ministrorum offensichtlich bewusst auf Cicero und machte dessen decorum-Konzept für seine Arbeit fruchtbar. Beide Autoren verwenden weitere Begriffe als flexible Termini, mittels derer der Gehalt des decorum der jeweiligen Verfasstheit der Gesellschaft angepasst wird, in der das decorum seine Norm setzende Kraft entfalten konnte und sollte.
Ambrosius nimmt die erste Umfunktionalisierung von decorum vor, indem er verecundia (als Vorbedingung des ambrosianischen decorum), lex silentii (als die verborgene Seite des ambrosianischen decorum) und das officium als praeceptum (als christlicher Gebotskatalog) dem decorum zuordnet und es so als eine Norm göttlicher Provenienz bestimmt. Aus Ciceros rhetorisch-ethischem decorum wird nun durch Ambrosius’ Pflichtenethik ein christliches decorum. Mit Augustinus (Liebesethik) findet dann eine zweite Umfunktionalisierung des ciceronischen decorum statt, wenn er sein Verständnis von decorum eloquium vorstellt, eine Synthese des ciceronischen und ambrosianischen decorum im christlichen Bereich. Neue Gedanken zum Begriff des decorum sind erst durch das Christentum gekommen und so in der heidnischen Antike nicht zu finden.
Die vergleichende Analyse von Ciceros und Ambrosius’ decorum wird dann in einem weiteren Schritt ausgeweitet; das Angemessene wird in der Theorie der Rhetorik und als Diskursprinzip in verschiedenen Spannungsfeldern untersucht, unter Einschluss der ästhetischen, emotionalen5 und pragmatischen Dimension, wobei ihm schließlich als rhetorischem Prinzip sein Platz in einem Kommunikationsmodell zugewiesen wird.
Die Vorstellung – nicht der Begriff – von Angemessenheit in rhetorischem Rahmen evoziert auch die philosophische Gegenüberstellung vom Angemessenen und Schönen oder vom Angemessenen und Erhabenen. Nicht nur Platon (Hippias Maior 291d-e), sondern auch Augustinus’ verloren gegangene Schrift (Vom Schönen und Angemessenen) oder Kant und Schiller beschäftigen sich mit dem Konzept von Angemessenheit als einem philosophischen Ideal oder einer ästhetischen Vorstellung. Das Angemessene und das Schöne können Gegenpole sein (Angemessenes als bloßer Schein des Schönen), Attribute füreinander oder das Angemessene im Sinne von Aristoteles (Rhetorik 1367b12-1367b20) zeigt sich in den schönen Taten. Das Schöne wiederum übertrifft das Angemessene, indem es mehr als angemessen im positiven Sinn meint und sich vor allem auf das menschliche Verhalten bezieht. Andererseits werden hohe Anforderungen an die Angemessenheit gestellt: Vernunft und Gefühl müssen zusammenwirken, wenn etwas Schönes entstehen soll. Sulzer sieht diese Fähigkeit vor allem beim Künstler, wenn er sagt, dass: „zwar [...] Künstler von feinem Geschmake selten in den Fehler des Unangemessenen verfallen; aber das genaue Angemessene erfordert große Scharfsinnigkeit und feines Gefühl. Eben darum aber giebt es den Werken des Geschmaks eine große Schönheit.“1 Schönheit schließlich steht in einem Bezug zum Erhabenen, muss aber auch davon abgegrenzt werden.
Unter den Begriffen des Schönen, Angemessenen und Erhabenen werden Möglichkeiten der ästhetischen Repräsentation beschrieben, die philosophisch und rhetorisch konnotiert sein können. Zunächst soll untersucht werden, welcher Bezug in der Rhetorik zwischen dem decorum und dem Erhabenen besteht.
Das Erhabene taucht in der antiken Rhetorik als Stilart der pathetischen Rede und Gattung der Festrede (genus demonstrativum) auf und dient zum einem dem movere/flectere sowie dem Pathos einer Rede. Erhabenheit in der Sprache kann emotional bewegend werden. Welchen Bezug hat das Erhabene dann in der Rhetorik zur Urnorm des decorum?
In der antiken Rhetorik des Aristoteles, Cicero und Quintilian ist Erhabenheit in der elocutio als genus grande, genus sublime oder genus vehemens verortet. Doch obwohl diese dritte Stilart nach dem genus subtile/genus humile und genus medium/genus mixtum als der überzeugendste Stil bei Cicero (Orator, 97) gilt und die größte Macht der Beredsamkeit („vis omnis oratoris“, Orator, 97) darstellt, ist sie nicht ohne Beschränkung frei anwendbar. Der wahre Redner, den zu skizzieren Ciceros erklärtes Ziel ist, ist ein wortgewaltiger Redner, der alle drei Stile meisterhaft einsetzen und in einer Rede auch miteinander verbinden kann. Denn, ob ein erhabener Stil eingesetzt, wann und in welchem Maße er eingesetzt wird, ist dem πρέπον/decorum unterstellt. Als angemessen gilt in Ciceros Orator, 70-72, was sich gemäß dem Redegegenstand (res), dem Redner (orator) und dem Publikum (auditor) ziemt. Auch für Aristoteles (Rhetorik III, 12, 1413b2ff.) ist Stil primär decorum und rechtes Maß. Lexik und Performanz werden nach dem rhetorischen Gesetz der Angemessenheit je situativ gewählt. Das decorum lässt eine erhabene Rede nicht in Überschwang und Lächerlichkeit abgleiten und sichert somit die volle Macht einer Rede, die zu Herzen spricht, in sie eindringt und dort Überzeugungsarbeit leistet (De oratore II, 187). Das decorum lässt nach Auffassung des rhetorischen Dreigestirns Aristoteles, Cicero und Quintilian Erhabenheit im Stil einer Rede erst möglich und in voller Gänze wirksam werden.
Doch im Altgriechischen meint ὔψος nicht nur den erhabenen Stil, sondern kann auch auf Personen bezogen sein. In Platons Politeia 487a diskutieren Glaukon und Sokrates über notwendige Eigenschaften der philosophischen Seele bei der Wahrheitssuche und sprechen dabei über die Vorbedingungen eines von Natur aus großen Mannes, der sich durch seine Eigenschaften wie Gelehrigkeit, Edelmut, Anmut, durch Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit hervortut. Auch Aristoteles behandelt in seiner Nikomachischen Ethik 1107b17 das Thema des tugendhaften Handelns als dasjenige, welches stets die Mitte wählt. Die Mitte ist das rechte Maß. Doch diesem widerspricht das Erhabene. Der altgriechische Terminus μεγαλοπρεπής bezeichnet einen Menschen mit einer großen Seele, der sich durch edle Naturanlage in seinem Charakter als ein großer Mann auszeichnet. Dieses altgriechische Adjektiv, das übersetzt „einem Großen angemessen“ und „erhaben“ bedeutet, wird außerdem bei Platon in Lysis 215e1 im Sinne von „großartig/höher“ und bei Pseudo-Demetrios in seinem Traktat Über den Stil (περὶ ἑρμηνείας/De elocutione), § 36 als einer von vier Stilen (χαρακτῆρες) eingeführt. Er löst sich hierbei von der klassischen Dreistillehre und führt stattdessen den einfachen (ἰσχνός), erhabenen (μεγαλοπρεπής), glatten/eleganten (γλαφυρός) und den gewaltigen Stil (δεινός) ein.
Das zentrale Werk der Antike zum Begriff des Erhabenen steuert der Theoretiker Pseudo-Longinus bei. In der Schrift Vom Erhabenen in 9,2 wird Erhabenheit als moralisches Vermögen und innere Kraft verstanden: „ὔψος μεγαλοφροσύνης ἀπήχημα“ (Erhabenheit sei Widerhall von Seelengröße). Till betont, dass Pseudo-Longinus die Erhabenheit als Fähigkeit des Menschen sieht. Sie speist sich aus mehreren Quellen, wobei ästhetische, ethische, personelle und rhetorisch methodische Fähigkeiten eine Verbindung eingehen.2 Das Erhabene bei Pseudo-Longinus ist somit mehr als ein Stilbegriff, mehr als eine ästhetische Qualität und intendierte Wirkung, es weist auf den Menschen zurück.3 In der Rede ist nach Pseudo-Longinus’ Schrift Vom Erhabenen (12,4) das Erhabene ein Ideal, aber auch eine rhetorische Kraft (δυναστεία καὶ βία) am richtigen Ort zur rechten Zeit (καιρός) (Vom Erhabenen 1,4). Verfügt der Redner über diese Kraft, dann kann er über sich hinauswachsen, ja fast die Seelengröße Gottes erreichen (36,1). Die pathetische Kraft des Redners macht auch vor schrecklichen Bildern (9,7) nicht halt, die eigentlich gegen das Geziemende (τὸ πρέπον) verstoßen, aber sich quasi gewaltsam entleeren, einschlagen wie ein Blitz: „Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt des Redners.“4
Ist das Erhabene vielleicht die Ausnahme, die das Postulat von Angemessenheit erlaubt? Und wenn ja, wie kann das sein? Und schließlich, wie wirken decorum und Erhabenes aufeinander ein?
Immanuel Kant gilt nicht nur aufgrund seines kategorischen Imperativs, seiner Pflichtethik und transzendentalen Vernunftkritik als wegweisender Philosoph des 18. Jahrhunderts, sondern er analysierte in der Kritik der Urteilskraft (1790) auch die beiden Begriffe des Schönen und Erhabenen. In dieser dritten und letzten Kritik bestimmt Kant die ästhetische Urteilskraft als selbsttätiges Erkenntnisvermögen und als Denkungsart, die „entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich“ und so „mit dem moralischen Gefühl“ (KdU B, 170) verwandt ist.
Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.5
Kant grenzt somit das Schöne deutlich vom Erhabenen ab.6 Schönheit gefällt unmittelbar, wird wahrgenommen mittels des Verstandes und der Einbildungskraft, wird „ästhetisches Reflexionsurteil“ (Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, IX) aufgrund formaler Kriterien. Es setzt „Erkenntnisvermögen“ (KdU B, LVI, LVII) voraus, ist „Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz“ (KdU B, 70), dessen Bestimmungsgrund das Gefühl ist. Das ästhetische Urteil wird von der „Urteilskraft in ihrer Freiheit“ (KdU B, 120) getroffen, wobei zwei Gemütskräfte, nämlich Einbildungskraft als „Vermögen der Anschauung“ und Verstand als „Vermögen der Begriffe“ (KdU B, 155/156) zusammenwirken. Somit ist das Schöne auf der einen Seite ein Geschmacksurteil, also subjektiv (KdU B, 138/139), auf der anderen Seite ist damit aber auch ein „Anspruch auf subjektive Allgemeinheit“ (KdU B, 19) verbunden.
Das Erhabene geht darüber hinaus. Man nimmt es zwar ebenso „unmittelbar“ wahr, aber der Reiz löst offensichtlich auch einen gewissen Widerstand beim Betrachtenden aus. Dieser resultiert aus der formlosen Beschaffenheit und aus der Unbegrenztheit des Erhabenen, so dass sich die Idee des Erhabenen am meisten „in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten regellosesten Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und Macht blicken läßt“7, zeigt. Vom „Gefühl des Erhabenen“ (KdU B, 75/76) ergriffen, wird der Mensch vom Objekt – beispielsweise von Naturphänomenen – nicht nur angezogen, sondern auch abgestoßen. Aus diesem Grund spricht Kant von einer „indirekten“ und „negativen Lust“, wenn der Mensch vom Erhabenen als einem ästhetischen Gefühl (KdU B, 99), das im Menschen selbst wirkt, erschüttert wird (KdU B, 98).8 Das Erhabene ist nicht im Gegenstand der Natur zu finden, „sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewußt werden können.“9 Kant unterteilt das Erhabene in ein mathematisch-Erhabenes und ein dynamisch-Erhabenes. Mathematisch-erhaben bezeichnet eine unvergleichliche Größe (KdU B, 81: quantum), während dynamisch-erhaben „[d]ie Natur, im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat“, (KdU B, 102/103) bezeichnet. Erhabenheit ist zum einen die Größe schlechthin und zum anderen eine unwiderstehliche Macht der Erscheinung (τὰ φαινόμενα), die eine Gemütsbewegung auslöst, deren Gegenstand als etwas absolut Großes gedacht wird (KdU B, 81 und B, 84).
Wenn das Erhabene nach Kant eine Idee der Vernunft ist und im Menschen als ästhetisches Urteil und Gefühl wirkt, wie lässt es sich dann angemessen darstellen? Foessel merkt an, dass die reflektierende Urteilskraft die Vorstellung des Erhabenen in erster Linie auf das Subjekt zurückführt, nicht auf das Objekt, und dass es sich somit einer objektiven Darstellung entziehe.10
Ist das Erhabene somit eine nicht darstellbare Figur der menschlichen Einbildungskraft und Vernunft? Kant gibt auf diese Fragen in seinen mannigfaltigen Definitionen des Erhabenen (KdU B, 77/B, 94/B, 118) Antwort. Zunächst entzieht sich das Erhabene dem Angemessenen aufgrund der Unangemessenheit der ästhetischen „Größenschätzung“ (KdU B, 94). In seiner Kritik der Urteilskraft B, 77 definiert Kant das Erhabene als ein „übersinnliche[s] Substrat der Erscheinungen“ (KdU B, 238), als transzendentalen Vernunftbegriff. Solche Ideen sind nicht angemessen darzustellen, da sie nicht objektiv vorliegen, sondern als Vernunftbegriff „indemonstrabel“ (KdU B, 241) sind. Doch gerade diese Unangemessenheit kann sinnlich erfasst werden, beispielsweise über Naturphänomene, durch deren Anblick im Betrachter Ideen von Erhabenheit entstehen, die eine erhabene Denkungsart im Menschen auslösen. Aufgrund dieser Rückwirkung des Erhabenen auf die jeweils individuellen Empfindungen des Menschen spricht Dietmar Till in seiner Studie über das Erhabene (2006), ausgehend vom begrifflichen Konzept des Selbstgefühls, von einem „reflexive[n] Moment des ‚Erhabenen‘“ und einem „Ich-Bezug“ bei Kant.11 Wenn nach Kant das Erhabene übersinnlich ist und sich als Idee im Gemüte formt, so muss der Mensch mehr als nur eine tobende See anschauen, um Erhabenheit zu erleben. Der Mensch selbst wird Teil dessen, indem er durch die Anschauung von erhabenen Naturphänomenen in seinem Innern aktiviert wird: Er wird von den erhabenen Phänomenen ergriffen, jedoch nicht zwangsläufig überwältigt im eigentlichen Sinne. Befindet sich ein Mensch beispielsweise am Strand eines tobenden Meeres, das, von Orkanwinden aufgepeitscht, sich bedrohlich dem Land zuwendet, wird er zwar die reale Bedrohung für sein Leben spüren und sich fürchten, aber zugleich eine Idee von Unendlichkeit und von Unangemessenheit seines Denkens verspüren.12
Deshalb betont Kant in KdU B, 119, dass „in der transzendentalen Ästhetik der Urteilskraft lediglich von reinen ästhetischen Urteilen die Rede sein müsse, folglich die Beispiele nicht von solchen schönen oder erhabenen Gegenständen der Natur hergenommen werden dürfen, die den Begriff von einem Zwecke voraussetzen;“ das Erhabene als ein ästhetisches Urteil wird durch die Unangemessenheit der Einbildungskraft als eine Idee der Vernunft reflexiv gebildet.
Eine zweite Antwort könnte lauten, dass das Erhabene die einzige Ausnahme ist, die das Postulat von Angemessenheit erlaubt. Für Kant ist das Erhabene letztlich die Unmöglichkeit einer objektiven und positiven Repräsentation. Nach § 23 (B, 75/76) ist das Erhabene an einem formlosen Gegenstande zu finden, der in seiner Unbegrenztheit und in Totalität gedacht wird. Kein Maß kann es fassen, ist es doch in der Kategorie der Quantität als Größe, Macht, Chaos gedacht und so sich selbst Maß. Die menschliche Einbildungskraft scheitert an dieser ästhetischen Größenordnung, ist den Ideen unangemessen. So resultiert die Unangemessenheit des Erhabenen aus der Unangemessenheit der sinnlichen Vorstellung des Menschen selbst.
Das Erhabene ist hier als Idee der Unendlichkeit zwar nicht angemessen darzustellen, doch erreicht es eine Angemessenheit auf einer höheren Ebene. Indem der Mensch sich auf die Unendlichkeit als solche besinnt und begreift, dass die Natur keine Macht über ihn hat, kann er sich in Freiheit, die Willensbestimmung im autonomen Menschen ist, von der Furcht befreien. Sein Verhalten ist nicht von der Natur festgelegt, sondern von seiner eigenen Vernunft bestimmt. Sein Endzweck ist das rechte Handeln. Sich des Erhabenen als Idee der Vernunft klarzuwerden, bedeutet, dass sein Verhalten dann ethisch-moralisch angemessen sein kann. Denn Kant spricht in Bezug auf das Sittengesetz von „der Erhabenheit des Gegenstandes“ (KpV A 291), die darin besteht, dass der Mensch durch seine Intelligenz, Persönlichkeit und sein inneres moralisches Gesetz seinen eigenen Wert entfaltet (KpV A 289/290). Kants Sittengesetz geht ins Unendliche insofern, als es nicht auf Bedingungen des Lebens begrenzt ist, sondern über meine individuelle Existenz hinausgeht. Es ist die formale Bedingung menschlicher Freiheit. Ergo könnte man schlussfolgern, dass das Sittengesetz nach Kant den Menschen erhaben werden lässt. Kants transzendentale Ästhetik und seine Pflichtethik konvergieren in diesem Punkt, wenn das Erhabene, von einer transzendentalen Idee ausgehend, zu einem ethischen Prinzip wird: „Der Gegenstand eines reinen und unbedingten intellektuellen Wohlgefallens ist das moralische Gesetz in seiner Macht, die es in uns über alle und jede vor ihm vorhergehende Triebfedern des Gemüts ausübt“ (KdU B, 120).
Kants Moralphilosophie und Ästhetik des Schönen und Erhabenen finden in Friedrich Schiller einen begeisterten Anhänger, der dem kantischen Weg der „Kraft der Vernunft“ zwar folgt, doch bisweilen auch Abzweigungen nimmt.
Schiller erweist sich nicht nur bezüglich der ethischen Sittenlehre (vgl. Kapitel 3.3), sondern auch bezüglich des Erhabenen bei Kant als sein Vermittler und künstlerischer Weiterdenker13. Kant scheint für Schiller eine Art philosophischer Anregung und literarischer Ausgangspunkt gewesen zu sein.14 Schiller selbst schreibt in einem Brief am 3. März 1791 über Kant: „Seine Kritik der Urteilskraft, die ich mir selbst angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren lichtvollen geistreichen Inhalt und hat mir das größte Verlangen beigebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten.“15 Man könnte sogar sagen, Schiller lernt bei der Lektüre Kants16 und dessen konzeptuellen Begrenzungen, selbst eine eigene Kunstphilosophie zu entwickeln. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich nach Burke (A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the Sublime and Beautiful) und Kant auch Schiller mit dem Erhabenen befasst und dieses sogar neu verortet, nämlich in der literarischen Gattung der Tragödie.
Während für Kant „das moralische Gesetz in mir“, der kategorische Imperativ als der durch den Willen bezwungene Trieb, das Zentrum seiner Pflichtethik bildet, ist für Schiller der Wille des Menschen nicht dem Sollen, sondern der Kunst unterworfen, mit dem Ziel der sittlichen „Veredelung“.17 Die Überzeugung, dass die Kunst als Mittel der Befreiung und Veredelung des Menschen dient, teilt Schiller mit seinem späteren Freund Goethe, mit dem ihn im zweiten Anlauf schließlich eine anregende Freundschaft und eine Art Arbeitsgemeinschaft intellektuell Gleichgesinnter verbindet.
In seinem Gedicht An einen Moralisten schreibt Schiller zwar skeptisch: „Zu Göttern schaffst du Menschen nie“18, doch sie zu vervollkommnen, ihren Charakter zu veredeln, ist ein lohnenswertes Ziel, womit sich Schillers neunter Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen beschäftigt. Das Mittel zur sittlichen Vervollkommnung des Menschen ist die Ästhetik: „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.“19 Die Kultur als ästhetische Erziehung macht den Menschen fähig, seinen Willen zu behaupten und Freiheit zu erlangen, indem der Mensch als „das Wesen, welches will“ (Über das Erhabene, S. 822) sich moralisch bildet, denn „nur dieser, ist ganz frei“ (Über das Erhabene, S. 824). Mit Hilfe der Energie des Willens, so Schiller weiter, kann der Mensch die Natur beherrschen und sich dann von ihr unabhängig machen. Zur moralischen Anlage20 muss aber die ästhetische Kultivierung des Gemüts hinzukommen. Diese kann durch zwei „Genien“, wie Schiller in seinem Gedicht Schön und Erhaben selbst formuliert, gelingen: durch die Schönheit und das erhabene Gefühl.
Zweierlei Genien sind’s, die durch das Leben dich leiten,
Wohl dir, wenn sie vereint helfend zur Seite dir gehen!
Mit erheiterndem Spiel verkürzt dir der eine die Reise,
Leichter an seinem Arm werden dir Schicksal und Pflicht.21
Seine Konzeption vom Gefühl des Schönen und des Erhabenen entfaltet Schiller in zwei Aufsätzen, in Vom Erhabenen (1793) und ergänzend Über das Erhabene (1794). Während das Gefühl des Schönen ein Ausdruck der Freiheit innerhalb der Natur bedeutet, ist das Gefühl für das Erhabene Ausdruck von Freiheit außerhalb der Natur des Menschen. In der Schönheit passen Sinnlichkeit und Vernunft zusammen, im Erhabenen hat die Sinnlichkeit keinen Einfluss auf die Vernunft. Der Geist ist frei. Dieses Gefühl des Erhabenen ist ein doppeltes, denn es ist aus zwei entgegengesetzten Empfindungen, dem „Wehsein“, das sich als ein Schauer zeigt, und dem „Frohsein“ als positives Gefühl bis hin zum Entzücken, zusammengesetzt. Diese Bandbreite an möglichen Empfindungsextremen im Gefühl22 des Erhabenen zeigt, dass es die Haltung des Menschen zu einem Objekt ist, die entscheidend ist, dass zwei Naturen dem Menschen innewohnen, und beweist nach Schiller auch die „moralische Selbstständigkeit“23. In Vom Erhabenen sprach Schiller noch von zwei Grundtrieben, dem Selbsterhaltungstrieb (Gefühle) und dem Vorstellungstrieb (Erkenntnis) im Menschen als Sinnenwesen. An dieser Stelle führt Schiller aus, inwiefern sich der Mensch von der Natur unabhängig machen kann und er führt terminologisch die beiden Arten des Erhabenen ein: diejenige des „Theoretisch-Erhabenen“ (in Kantischer Diktion dem Mathematischerhabenen entsprechend) und die des „Praktisch-Erhabenen“ (dem Dynamischerhabenen entsprechend). Während das Theoretischerhabene die Natur als Gegenstand nutzt, um des Menschen Erkenntnis im Widerspruch zum Vorstellungstrieb zu erweitern, ist das Praktischerhabene als eine Macht in Opposition zum Erhaltungstrieb (beispielsweise in einer existenziellen Gefahr für den Menschen) zu begreifen, die den Zustand des Menschen selbst beeinflusst. Resümierend fasst Schiller das Erhabene als dreifach zu klassifizierende Macht: als objektive physische Macht, als subjektive physische Ohnmacht und als subjektive moralische Übermacht.24
Der menschliche Geist richtet sich nicht zwangsläufig nach den Sinneserscheinungen oder den Gesetzen der Natur und gibt sich somit der physischen Macht geschlagen, sondern nach dem „selbstständige[n] Prinzipium in uns“25, welches „das absolut Große in ihm selbst erblickt.“26 Das Erhabene, das sich „um den reinen Dämon in ihm [Menschen]“ verdient macht, ist als moralische Übermacht der Weg zur Würde des Menschen: „Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen.“27 Für Schiller ist die Kunst – worunter er in erster Linie die Dichtung und das Drama versteht – eine Quelle der Veredelung des inneren Menschen. In der tragischen Kunst wird mithilfe des Mitleids und der Rührung beim Anblick einer Tragödie der Zuschauer in die Lage versetzt, sein Ich zu verlassen und zum dargestellten Andern zu werden.28 Die Bühne hat bei Schiller das Verdienst, eine Stiftung für den Menschen zu sein:
Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust gibt jetzt nur Einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein. 29
Für Schiller ist also die Ästhetik als schöne Kunst das Mittel der Veredelung des Menschen, und der moralisch gebildete Mensch ist frei.
Auch für Arthur Schopenhauer ist die Kunst eine Wirkkraft, die er der Wissenschaft gegenüberstellt: Kunst ist der Wissenschaft überlegen, weil sie ihr Ziel nicht sucht; sie hat es immer schon gefunden. Kunst ist zum einen der wirkende Genius, sie ist zum anderen vollkommene Objektivität, reine Kontemplation30, die Schopenhauer auch Geistesruhe31 nennt. Kunst hat ferner die Fähigkeit, die Erkenntnis der ewigen Ideen (Platons) (III, § 31 und 34) zu vermitteln: „Sie wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt [...]. Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntniß der Ideen; ihr einziges Ziel Mittheilung dieser Erkenntniß.“32 Das Objekt der Kunst ist also immer die Idee, sie ist kein Abbild einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit. Die Kunst macht die Ideen aber mittels der Phantasie des Genius anschaulich, wobei die Phantasie „Begleiterin, ja Bedingung der Genialität“ (III, § 36, S. 254) ist. Auch gewöhnliche Menschen haben Phantasie, sind deswegen aber nicht automatisch genial. Andererseits hat nach Schopenhauer aber jeder Mensch die Fähigkeit, das Schöne zu empfinden und zu schätzen, denn jeder ist für das Schöne und das Erhabene empfänglich, allerdings in unterschiedlichem Grad (Die Welt als Wille und Vorstellung III, § 37, S. 263). So nötigt allein die Betrachtung der Natur dem Menschen „ästhetisches Wohlgefallen“ ab und verwandelt ihn, denn wenn das Schöne auf ihn wirkt, wird er zum „willensfreien Subjekt des Erkennens“ erhoben.33
Dieser Prozess des sich Erhebens über die eigene Individualität kennt aber noch eine Steigerung: Das Schöne wird dann zum Erhabenen, wenn die Betrachtung der Gegenstände einen Widerwillen auslöst (wie bei Kant), wenn er sich der unermesslichen Größe der Gegenstände gegenüber als ein Nichts empfindet, er in seinem Körper einen Widerstand nicht nur bemerkt, sondern diesen Widerstand überwindet, indem er sich gewaltsam von seinem Willen losreißt (III, § 39, S. 272), sodass er sich an diesen Willen nicht einmal mehr erinnert: „[B]ei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewusstes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Objekts zum Willen“34.
Was versteht Schopenhauer aber unter dem Willen, dem er die Vorstellung gegenüberstellt? „Die Welt ist meine Vorstellung:“ Mit diesen apodiktischen Satz beginnt sein Werk Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Welt ist, kurz gesagt, Objekt für das Subjekt (I, § 1, S. 31), also seine Vorstellung, alles was mit den Sinnen und dem Verstand (I, § 4, S. 41) wahrgenommen wird (für Kant „Erscheinung“). Sie ist aber auch Wille. Dieser gibt ihm den „Schlüssel zu seiner eigenen Erscheinung“ (II, § 18, S. 151): „[D]er Wille ist die Erkenntniß a priori des Leibes, und der Leib die Erkenntniß a posteriori des Willens.“ (II, § 18, S. 152) Schopenhauers Begriff vom Willen ist weit gefasst und er meint nicht nur den Willen eines Menschen, sondern er spricht auch Tieren und Pflanzen einen Willen zu, indem er den Willen als „jede willkürliche Bewegung (functiones animales)“ und „Erscheinung eines Willensaktes“ und als „Wille zum Leben“ (II, § 20, S. 160-161 und § 27, S. 199 und 208) definiert. Für Schopenhauer ist der Wille der Wille zum Leben generell, er ist das beherrschende Lebensprinzip, die grundlos wirkende Kraft, ein dunkler zielloser Drang, der in allem Lebendigen wirkt (II, § 27, S. 199 und S. 208/211/213 und § 28, S. 220). Wille und Vorstellung stehen einander gegenüber, aber der Wille ist mächtiger, er beherrscht die Vernunft, nicht umgekehrt. Der Wille ist im Menschen ein ständiges Wollen, das nach Schopenhauer einem Mangel entspringt.35 Da jede Erfüllung nur von kurzer Dauer ist, jagen wir rast- und ruhelos den Objekten des Wollens nach. Ruhe findet der Mensch nur, wenn er den Willen verneint. Für die Willensverneinung gibt es zwei Möglichkeiten, die Askese (IV, § 66, S. 479), die von vielen Religionen praktiziert wird, oder eben die Kunst.
In der Kunst vergisst der Mensch seine Individualität, um sich „als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge“36 der Erkenntnis zu öffnen. Die Kunst antizipiert das Ideal oder die Idee des Schönen, wobei die Möglichkeit der „Anticipation des Schönen a priori im Künstler“, seine „Anerkennung a posteriori im Kenner“ liegt.37
Die Welt, die sich dem depressiven und misanthropen Autor Schopenhauer zu Beginn seines schriftstellerischen Schaffens als ein Ort des Leidens darstellt, ist für ihn im zweiten Band seines Hauptwerkes (1844) zum einen also durch die Kunst und zum anderen durch die Askese (IV, § 66, S. 478ff.) und das Mitleid Möglichkeit zu einer besseren Welt. Das Leid ist durch die Kunst und mit Hilfe der ästhetischen Freude zu lindern, wenn auch nur kurzweilige Momente des „inneren Friedens“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, III, § 52, S. 353) erreicht werden können. Mensch, Tier und die Pflanze sind im gemeinsamen Willen zum Leben vereint, und somit sind alle eins. Als Quelle moralischen Handelns und Ausweg aus dem Leiden im Leben dient das Mitleid (IV, § 67, S. 484f.), das den Egoismus des Menschen bekämpft, und auch in der Kunstbetrachtung und -erfahrung kann ein Quietiv als zwar momentaner, doch innerer ästhetischer Frieden erlangt werden.
Schopenhauers Gedanken gehen von seinem Vorläufer Immanuel Kant und dessen Erörterung der reflektierenden Urteilskraft und dem ästhetischen Apriori des Schönen und Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft aus. Obwohl Schopenhauer als Schriftsteller und Philosoph erst mehr als 30 Jahre nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes die gebührende Aufmerksamkeit und Popularität bei einer breiten Öffentlichkeit zuteil wurde, ist sein Beitrag der Willensmetaphysik gewichtig und verdeutlicht das Wesen des Erhabenen im inneren Weltbild eines Menschen, der sich als vom subjektiven Willen und seiner Vorstellung gezeichnet erfährt. Oder um mit Leo Tolstoi zu sprechen:
Sie sagen, er habe so recht und schlecht einiges über philosophische Gegenstände geschrieben. Was heißt einiges? Das ist die ganze Welt in unwahrscheinlich klarer und schöner Widerspiegelung.38
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich in der Antike zum einen eine positive Konnotierung von Erhabenheit zeigt und zum anderen auch eine Verbindung von decorum und Erhabenheit, die sich deutlich von dem Konzept des Erhabenen als gemischtem Gefühl bei Kant und Schiller abhebt.
Was alle angeführten Beispiele eint, – so unterschiedlich in der Gestaltung sie auch sein mögen – ist die Tatsache, dass sie aufgrund einer intendierten Wirkung eine Suggestion entfalten, der man sich schwer entziehen kann, dass sie im Betrachter eine bestimmte Stimmung oder bestimmte Ideen oder Assoziationen hervorrufen, andererseits aber trotzdem irgendwie unfassbar bleiben.39 Der Betrachter verspürt vielleicht sogar manchmal eine gewisse Unlust, die nach Kant daraus resultiert, dass die Einbildungskraft der „ästhetischen Größenschätzung“ unangemessen ist (KdU B, 97-B, 98/99). Das Erhabene ist also eng an den Rezipienten gebunden, ein Aspekt, den auch Schiller betont, wenn er sagt:
Der erhabene Gegenstand ist von doppelter Art. Wir beziehen ihn entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen bei dem Versuch, uns ein Bild oder einen Begriff von ihm zu bilden: oder wir beziehen ihn auf unsere Lebenskraft, und betrachten ihn als eine Macht, gegen welche die unsrige in Nichts verschwindet.40
Es kann ein subjektives Gefühl mit Kant oder ein objektives Gefühl in der Kunst mit Schiller, ein sich Erheben aus der eigenen Individualität und „ewiges Weltauge“ mit Schopenhauer oder eine Suggestion in der modernen Kunst darstellen. Die Wurzel des Erhabenen als jegliches Maß sprengende Größe ist eine Emotion im Betrachter beziehungsweise im Rezipienten, die sich als Furcht zeigt, die wesentlich die conditio humana des Menschen bestimmt. Deshalb sprengt das so verstandene Erhabene das Konzept des decorum. Als ästhetische Norm verstanden, unterliegt es anderen Gesetzen. Die bewusste Verletzung von Angemessenheitsregeln kann in der Kunst beispielsweise Raum schaffen für Kreativität, kann auch einen bewussten Affront gegenüber den Erwartungen des Publikums darstellen und so als revolutionärer Akt verstanden werden.
Was ist nun das Erhabene in der modernen Rhetorik? Ist es der antiken Konzeption einer Stillehre als genus grande, genus sublime und der Wirkung von Größe verhaftet? Inwiefern entwickelte sich die rhetorische Kategorie der Angemessenheit im decorum als gesamtethische Norm und aptum als sachbezogene Angemessenheit weiter? Inwiefern wirkt das Erhabene auf die Rhetorik ein? Ist das Erhabene vielleicht sogar ein Übergang oder ein Paradox?41
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert und der Etablierung der Ästhetik als einem genuinen Wissenschaftsbereich werden zwei Aspekte deutlich: zum einen die pragmatische Anwendung nach objektiven Kriterien und zum anderen die Ästhetik als philosophische Disziplin. Rhetorik als Kunst zum Zweck der Überzeugung sieht sich im Spannungsfeld von Ästhetik, Ethik und Pragmatismus. Die Verflechtung von ästhetischen, ethischen und pragmatischen Kriterien in der rhetorischen Theorie scheint dem Rhetor ein Handlungskorsett aufbinden zu wollen, das droht, ihn in der rhetorischen Situation einzuengen. Zwar sind gewisse Vorgaben wie das decorum stets gültig, doch können andererseits Abweichungen im personalen aptum eines Redners bewusst provoziert werden, um ein weiteres rhetorisches Ziel beispielsweise des attentum parare beim Rezipienten zu erwirken. Dies bedeutet, dass nicht immer alle Vorgaben seitens der Rhetorik, Ästhetik oder Ethik beachtet werden.
Ehr’ im Leben oder Ehr’ im Tod, das ziemt sich für den Edlen.1
Das Prinzip der Angemessenheit in der rhetorischen Praxis und politischen Öffentlichkeit hat von der Antike bis ins postmoderne Zeitalter hinein seine prominente Rolle innerhalb einer rhetorischen Situation behaupten können. Zwar haben sich die Rahmenbedingungen von der politischen Rede im Senat und auf der ἀγορά hin zu multimedialen Präsentationen in großen Unternehmen auf der ganzen Welt stark verändert, doch hat in der Praxis eine Rede ohne die Beachtung des decorum kaum Erfolg. Angemessenheit liegt jeglicher rhetorischen Praxis zugrunde, ihr ephemeres Wesen scheint sich allerdings der rhetorischen Theorie zu versperren. So stellt sich nun die Frage nach der Relevanz von Angemessenheit in der Theorie. In der Tradition der rhetorischen Theorie wird das decorum in der elocutio als ästhetische Größe, aber auch in der inventio, dispositio und actio als ethische Größe verortet. Doch sollte im 17. Jahrhundert der Jurist Christian Thomasius eine bedeutende Rolle spielen, indem er „die überkommene klassisch-humanistische Rhetorik in ihren zentralen Lehrstücken verabschiedet.“2 Welche Auswirkungen dies nun auf die Kategorie des decorum hat, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Es wird zu zeigen sein, dass Thomasius die Bedeutung des decorum gebührend hervorhebt, indem er die Wohlanständigkeit als eine der drei Grundsäulen des Rechts etabliert und das decorum als eine primär ethische Komponente in der Theorie verankert.
Doch zunächst ist das Angemessenheitspostulat in der Poetik zu finden. So widmet sich Horaz in seiner Ars Poetica der Aufgabe „[...], quid alat formetque poetam, quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error. scribendi recte sapere est et principium et fons.“ („ich werde lehren [...], was einen Dichter fördere und bilde, was sich zieme, was nicht, wodurch Tugend und wodurch Irrtum entstehen möge. Wissen ist sowohl der Ursprung als auch die Quelle des richtigen Schreibens.)3 Aus diesem Grunde gehört es für Horaz zum notwendigen Handwerkszeug eines Dichters, die jeweiligen Unterschiede in Stil und Gattung zu kennen (Ars Poetica, V. 86), um folgerichtig die passende Verbindung von innerlich Gefühltem und äußerlich Gezeigtem zu finden, d.h. es geht um die innere Stimmigkeit von res, gestus und verba: So entsprechen beispielsweise trauernde Worte einem traurigen Gesicht (V. 105). Wie in Vers 92 bereits angekündigt, hat jedes Wort, jeder Stil, jede Geste und jeder Gegenstand seinen passenden Ort. Das decorum ist das Wissen um die je angemessene Dichtung am rechten Platz und nimmt an dieser Stelle bei Horaz das altgriechische Konzept des καιρός auf. Wie auch Aristoteles vor ihm nimmt Horaz das rhetorische Ethos in den Blick, wenn er in den Versen 112ff., 178 und 227 die verschiedenen Charaktere von Menschen jeden Alters und ihre Unterschiede bezüglich des sozialen Status deutlich macht. Decorum bedeutet hier, dass Sprache und Ethos in einer Dichtung passgenau aufeinander bezogen sind (vgl. Kapitel 2.2). Horaz versteht Dichtung als ein Gemälde (V. 361), das jedoch nicht allein durch Begabung (natura) oder allein durch Technik (ars) gelingt4, sondern trotz aller künstlerischen Freiheit seine Stimmigkeit durch das Wissen um und die Beachtung des decorum erlangt, wie Horaz zu Beginn seiner Schrift anhand von Brüchen des Decorum vorführt: „Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde?“5
Lotte Labowsky ist in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1934 der Meinung, Horaz habe seine Ars Poetica in zwei Teile eingeteilt: Vers 1 bis 284 behandelten das ästhetische decorum, während der zweite Teil, der erst in Vers 309 beginnt und sich bis Vers 476 erstreckt, das ethische decorum zum Thema habe.6 Zu Recht weist Labowsky an dieser Stelle außerdem auf die Beziehung zwischen beiden Arten des decorum hin, da auch Horaz das decorum als einen Anspruch an die Perfektionierung von Dichtung per se formuliert, der sowohl ethisch auf den Künstler, Poeten und Redner als Mensch, als auch ästhetisch auf das Kunstwerk, die Dichtung und Rede zielt. Die Mühe und zeitraubende Arbeit des rhetorischen Feilens an der eigenen Dichtung („limae labor et mora“ V. 291), d.h. die poetisch verfeinerte elocutio, verleihe dem Dichter sodann Macht, Ruhm und Ehre. Das zuvor Gedichtete detailliert rhetorisch zu überprüfen, ist für Horaz gleichbedeutend mit der Beachtung des decorum. Die Einheitlichkeit, Stimmigkeit und Einheit eines künstlerischen Werkes wird durch das ästhetische und ethische decorum als dichterisches Telos nach Horaz gewährleistet. Mithilfe des Prinzips der Angemessenheit wird die künstlerische Zusammengehörigkeit einzelner poetischer Teile und rhetorischer Aspekte innerhalb einer Dichtung trotz aller Freiheit in der Kunst garantiert (V. 1-25). Innerhalb der Poetik des Horaz findet sich das rhetorische decorum im Rahmen einer dramatischen Inszenierung von Sprache auch als ethische Kategorie wieder, welche die stilistischen und die ethischen Implikationen einer Dichtung innerhalb einer rhetorischen Situation thematisiert.7
Aristoteles (ethische Tugenden, eth.Nic. X, 8, 1178a10-13), Cicero, Quintilian und Horaz sind sich in der Notwendigkeit des decorum vitae innerhalb der Rhetorik einig und werden auch in den poetologischen Bestrebungen des 17. Jahrhunderts um deutsche „Wohlredenheit“ und Dichtung anerkannt. Dyck spricht in seiner Ticht-Kunst davon, dass „[d]ie Decorum-Lehre, die in der vorbildgebenden antiken Rhetorik und Poetik solchermaßen verankert ist, [...] in die rhetorischen und poetischen Traktate des 17. Jahrhunderts übernommen [wird] und [...] eine zentrale Stellung innerhalb der Stilvorschriften [gewinnt], die der „barocke Klassizismus“ für sich als maßgebend erachtet.“8 Hierbei sind laut Sinemus am Beispiel des Werkes De Poesi graecorum libri octo von Abidas Praetorius jedoch zwei verschiedene Dichtungslehren zu unterscheiden: diejenige des decorum materiae und diejenige des decorum verborum. Er verdeutlicht, inwiefern sich das Wesen der Angemessenheit in deutschen Poetiken ausprägt und stellt fest: „[D]er poetologische Maßstab der Angemessenheit ist keine Subkategorie der Elocutio – Lehre, [...] sondern er umfasst auch die Themen- und Gattungswahl, im rhetorischen Produktionsmodell: die inventio und dispositio.“9
An dieser Stelle ist besonders Martin Opitz zu nennen, der 1624 eine Theorie des decorum in seinem Buch von der Deutschen Poeterey als eine Art von „Zierlichkeit“10 formuliert. Opitz’ Anliegen war es, Regeln und Grundzüge einer deutschen Dichtkunst des Barock zu formulieren, die aufgrund ihrer Nationalsprache auch ein anderes Vermaß als das antike verfolge, – nun nämlich den Alexandriner als Regelvers –, welcher der deutschen Sprache angemessener sei (Buch von der Deutschen Poeterey, VII. Kapitel). Besonders im VI. Kapitel kommt Opitz auf die „Zierlichkeit“ zu sprechen, die zunächst gemeinsam mit der Eleganz, dann der Komposition oder Zusammensetzung von Worten und schließlich mit der Dignität und dem Ansehen (inneres aptum einer Rede) von Worten je einen Aspekt der Rede darstellen. „Zierlichkeit“ scheint hier (VI. Kapitel, S. 24) noch auf den ornatus im Rahmen der elegantia beschränkt und von der ethischen Kategorie des aptum und dem ihm übergeordneten decorum im Ansehen und der Dignität von Worten getrennt zu sein.11 Opitz versteht unter „Zierlichkeit“ primär reine und deutliche Worte, worunter er zum einen das Hochdeutsche ohne Verwendung von Fremdwörtern fasst, und wenn dies nicht vermeidbar ist, wie bei den nomina propria, den Eigennamen, so sind doch zumindest fremdländische Namen mit deutschen Endungen zu versehen (VI, S. 25) und in eine deutsche Schreibweise zu übersetzen (VI, S. 27). In diesen Rahmen des rhetorischen ornatus sind auch seine Ausführungen zum schicklichen Klang einzuordnen, der ein genaues Studium von Buchstaben und deren Klangfolge erfordert: „Weil ein buchstabe einen andern klang von sich giebet als der andere/soll man sehen/das man diese zum offteren gebrauche/die sich zue der sache welche wir für uns haben am besten schicken.“12 Empfohlen wird eine gute Zusammensetzung von Buchstaben in einem Wort und Satz, die das inhaltlich Gesagte auch phonetisch unterstreichen und so diesem sinnlich angemessen13 sind (Onomatopöie): So sind beispielsweise Fließlaute (Liquide) in der Beschreibung von Bächen angemessen und nützlich (VI, S. 29), während bezüglich des Pleonasmus trotz seiner affektstarken rhetorischen Funktion der Hinzufügung und der „Anastrophe“ (Inversion) dem Dichter geraten wird (VI, S. 28), davon Abstand zu nehmen, da sie den Vers „gezwungen“ machen und die Syntax in der Rede „verstellen“. Ebenso sind Epitheta dem Poeten nicht anzuraten, und besondere Betonung wird auf die korrekte deutsche Rechtschreibung und den Satzbau (VI, S. 26) insgesamt gelegt. Doch häufig ist den Regeln des poetischen Gestaltens durch eine beispielhafte Auflistung ex negativo auf die Spur zu kommen: „Newe wörter/[...] zue erdencken/ist Poeten nicht allein erlaubet“ (VI, S. 26); „Ich darff aber darumb nicht bald auß dem Französischen sagen: approchiren“ (VI, S. 27); „Item/Es siehet nicht wol auß/wenn ein Verß in lauter eynsylbigen wörtern bestehet.“ (VI, S. 29)
Nach dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft stellt sich Opitz’ Lehre des decorum und aptum als eine Regel der Poetik, als ideales Verhältnis von „Stilhöhe, dichterischer Gattung und dem sozialen Rang der in der Dichtung vorkommenden Personen, Gegenstände und Situationen“14 dar. Es ist ein harmonisches Abwägen von gestalterischen Figuren in Wort und Satz seitens des Dichters, der die „Zierlichkeit“ im ornatus und das Prinzip des decorum materiae und decorum verborum achte. Opitz verfolge laut Sinemus damit als erster eine „material-soziale Aptum-Lehre“15. Damit verbunden sei auch die Unterscheidung der ciceronischen Dreistillehre gemäß dem hierarchisch-ständischen Regelsystem. Es sei der Habitus, der den Stil einer Rede entscheide: „Denn wie ein anderer habit einem könige/ein anderer einer priuatperson gebühret/und ein kriegesman so/ein Bawer anders/ein kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte/zue hohen ansehliche, zue mittelmässigen auch mässige und weder zue grosse noch zue gemeine worte brauchen.“16 Angemessenheit ist in opitzscher Denkweise also Harmonie zwischen Stil und Stand beziehungsweise Habitus. Dementsprechend stehen die verba im Dienst der Sache: Wichtige Angelegenheiten müssen mit „prächtig[en] hohen worten vmbschreiben“ werden, „[d]ie mittele oder gleiche art zue reden ist/welche zwar mit ihrer ziehr uber die niedrige steiget/und dennoch zue der hohen an pracht und grossen worten noch nicht gelanget.“17
Drux schreibt zusammenfassend in seiner Dissertation (1976) über die Angemessenheit als „Kardinaltugend der Stillehre aus der klassischen römischen Rhetorik“ (S. 29), dass Opitz den Begriff der Zierlichkeit als Synonym für decorum verwendet und nicht das Prinzip der elegantia, „sondern [der] ‚dignitas‘ oder – materieller – ‚ornatus‘“ (S. 31) verfolgt. Die natürliche Ordnung der ständischen Gesellschaft zu wahren, ist gemäß Opitz somit auch Aufgabe der Dichter in ihren Poetiken des 17. Jahrhunderts; Sie sollen das decorum auch als sozial-ethische Kategorie in der Theorie der Poetik etablieren.18
Anders als Horaz und Opitz vor ihm klassifiziert Christian Thomasius, der Frühaufklärer, Begründer einer Monatsschrift (die Monatsgespräche, 1688/1689) und Verfechter der deutschen Sprache an der Universität, das decorum nicht als eine ethische Kategorie innerhalb eines theoretischen Rahmens von Rhetorik oder Poetik, sondern als eine von drei normativen Richtschnüren menschlichen Handelns. Als Philosophiestudent und schließlich promovierter Jurist interessiert sich Thomasius für das decorum im Rahmen seiner Naturrechtslehre als eine der drei Säulen menschlich-rechten Tuns. Justum (Recht der Natur), honestum (Ethik) und decorum (Politik) bilden eine verlässliche Trias von praktischer Lebensklugheit, Ethik und Recht. Thomasius setzte sich schon vor Kant für die Trennung von Moral und Recht19 ein, kämpfte gegen Vorurteile jeglicher Art und verpflichtete den Menschen auf seine Verantwortung, da der Mensch die Vernunft als Richtschnur und Fähigkeit der Überprüfung und damit der Selbsterkenntnis besitzt.
Auf diesem Hintergrund versteht Thomasius das Naturrecht als ein auf justum, honestum und decorum basierendes Modell, das sowohl den äußeren (justum und decorum) wie auch den inneren Frieden (honestum) fördert und bewahrt. Mithilfe dieser drei Arten von Gütern, die als Einheit20 zusammenwirken sollen, soll zur Regulierung der gesellschaftlichen Ordnung ein rechtliches, ständisch-soziales und ethisches Grundmodell geschaffen werden.21 Anhand der jeweiligen Prinzipien für die „drei Ideologie-Sterne eines Bürgertums“22 (justum, decorum, honestum) wird deutlich, dass diese gesellschaftliche Ordnung durch eine ausbalancierte Gegenseitigkeit, Rücksichtnahme und Vorbildlichkeit, nicht durch die alleinige Macht des Rechtes erreicht werden kann: In § 40 wird das Prinzip des Ehrlichen als dasjenige bestimmt, „[W]as du wilt/daß andere sich thun sollen/das thue du dir selbsten“; in § 41 das decorum als das Anständige, „was du wilt/daß andere dir thun sollen/das thue du ihnen“ und in § 42 wird das Gerechte als dasjenige definiert, „was du dir nicht wilt gethan wissen/das thue du andern auch nicht.“
Die Regeln des Gerechten halten dabei das höchste Übel (wie beispielsweise Taten, die in Krieg und Hass münden), die Regeln des Anständigen das mittlere Übel (fehlende Liebe, die noch nicht in äußersten Hass umgeschlagen ist) und die Regeln des Ehrlichen das unterste Übel (innerer Trieb) im Zaun.23