Die paradoxe Republik - Oliver Rathkolb - E-Book

Die paradoxe Republik E-Book

Oliver Rathkolb

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Beschreibung

Vom "Bollwerk des Deutschtums im Osten" über die "Brücke zwischen den Blöcken" zur "Insel der Seligen" und zum Mitglied der EU: Österreich hat sich gewandelt, geblieben ist die Gleichzeitigkeit zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex, zwischen Engagement und Isolation. Geblieben sind auch Paradoxien: ein neutrales Land mit Westbindung, das sich als kulturelle Großmacht versteht, seine Künstler aber kaum entfalten lässt, das sich demokratisch nennt, in dem aber wesentliche Entscheidungen außerhalb des Parlaments getroffen werden. Der Zeithistoriker Oliver Rathkolb analysiert in dieser aktualisierten Neuauflage Kernthemen der Politik und Geschichte Österreichs und wirft einen kritischen Blick in die Zukunft.

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Zsolnay E-Book

Oliver Rathkolb

Die paradoxe

Republik

Österreich 1945 bis 2015

Paul Zsolnay Verlag

Gefördert durch:

ISBN 978-3-552-05731-9

Alle Rechte vorbehalten

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2005 und 2015

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Österreich ist ein Labyrinth,

in dem sich jeder auskennt.

HelmutQualtinger

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1

Die österreichische Identität zwischen Nationalstolz, Solipsismus und europäischem Patriotismus

Parteiische (prowestliche) Neutralität, Staatsvertrag und Kleinstaatlichkeit

Antikommunismus: eine verdrängte Komponente der österreichischen Identität

Abgrenzung gegenüber Deutschland und Osteuropa

Wohlfahrtsstaat den Österreicher/innen: eine limitierte Solidargemeinschaft

Österreich, die Kulturnation

Vom Opfermythos zum Alleintätermythos

Asyl- und Einwanderungsland wider Willen

Heimatkultur im »Land der Tänzer und Kellner«

Zwischen regionaler Identität und konsumorientierter Identitätslosigkeit

Resümee

Kapitel 2

Eigenheiten der österreichischen Demokratie

Die autoritäre Persönlichkeit

Autoritäres Potential 1978

Autoritäres Potential und die Freiheit der Künste

Vom »Demokratie-Wunder« im Kalten Krieg zum »Auslaufmodell«: Aufstieg und ungewisses Ende der österreichischen Konkordanzdemokratie

Präsidial- oder Parlamentsdemokratie? Die Bundespräsidenten seit 1945

Föderalismus, Zentralismus oder Teilung: Optionen 1945

Verfassung neu oder alt? Weichenstellungen 1945

Anfang und (Schein-)Ende der Sozialpartnerschaft

Kapitel 3

»Österreich über alles, wenn es nur will«: Mythos und Realität österreichischer Wirtschaftspolitik seit 1945

Nachkriegsoptionen

Der unerwartet rasche Aufschwung

Das Erbe der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie und die Verstaatlichte Industrie

Die nichtgenutzten Optionen

Europäisches Wachstum und das Ende der Lebensfähigkeitsdebatte

Alliierte Soforthilfe, Marshall-Plan und Kalter Krieg

Ökonomische Ausbeutung und gesellschaftspolitische Restauration

Restriktive Geldwert- und Stabilitätspolitik 1945–1951

Radikale Lohn- und Preispolitik und die Sozialpartnerschaft

Vorläufer des Austro-Keynesianismus und der Raab-Kamitz-Kurs

Austro-Keynesianismus in der Ära Kreisky

Spargesinnung statt Investitionsverständnis

Adaption der Wiederaufbaustrukturen und EU-Beitritt

Der letzte »große Sprung« der Großen Koalition: EU-Beitritt 1995

Korruption und Machtmissbrauch

Zwischen Globalisierung und Privatisierung

Resümee

Kapitel 4

Zwölf Kanzler und keine Kanzlerin

Karl Renner, der Mann mit den zwei Gesichtern

Leopold Figl, der Kanzler der Emotionen

Vom Raab-Kamitz-Kurs zum Zwischenspiel

Josef Klaus, katholisch-konservativer Modernisierer oder sozial(istisch)er Kanzler?

Bruno Kreisky, der dialektische Kanzler

Fred Sinowatz, der unterschätzte Kanzler

Franz Vranitzky, der Krisenmanager

Viktor Klima, der Austro-Blair mit Ablaufdatum

Wolfgang Schüssel, der Überraschungskanzler

Alfred Gusenbauer – Vom Kanzler zum »Visiting Professor in International Studies«

Werner Faymann – ein geschickter Mediennetzwerker

Warum keine Kanzlerin?

Die Führungsqualitäten der Kanzler im Vergleich

Kapitel 5

Die österreichische Medienlandschaft als politisches »Reagenzglas«

Die Zeitungszaren der Zweiten Republik

Das Ende der Parteizeitungen und der Zusammenbruch des SPÖ-Medienkonzerns

Medienmogule

Schwarze Welle – Roter Schirm: Die Entwicklung von Rundfunk und Fernsehen nach 1945

Die Medienkonzentration im europäischen Vergleich

Die Vierte Gewalt und ihr demokratiepolitischer Spielraum

Kapitel 6

Neutralität und Staatsvertrag im neuen Europa

»Window of Opportunity«: Die Staatsvertragsentscheidung 1953–1955

Geheime Rüstungsprogramme und Waffenlager

Geheimer Verbündeter der NATO

Neutralität im Wandel

Das »Goldene Zeitalter« der österreichischen Neutralitätspolitik in den 1960er und 1970er Jahren

UNO vor Europa

Internationale Entspannungspolitik und Menschenrechte

Vom Nord-Süd-Konflikt zur Nahostpolitik

»Österreichische Außenpolitik – eine nationale Politik im besten Sinne des Wortes«

Neutralität und europäische Integration

Auf »sanften Pfoten« in die Europäische Union

Neutralitätsdebatte im Vakuum der Innenpolitik

Kapitel 7

»Alles Walzer …«: Kunst- und Kulturpolitik als Lebenselixier der frühen Zweiten Republik

Staatskultur um jeden Preis

»Rückgriff auf die konstruierte Ordnung«

Erinnerungsorte österreichischer Nachkriegskultur

Vom »Frühlingsstimmenwalzer« zu Beethovens 9. Symphonie: Die Musikkultur der Nachkriegszeit

Die Wiener Staatsoper

Das Burgtheater

Die kulturpolitische »Grabesstille« der fünfziger Jahre

Resümee

Kapitel 8

Das österreichische Modell des Wohlfahrtsstaats und die Generationen- und Geschlechterverträge seit 1945

Die langfristige Entwicklung der Altersstruktur

Der Geschlechtervertrag

Kapitel 9

Gegenwärtige Vergangenheiten

Opferdoktrin 1945, neu interpretiert

Anmerkungen zum Tätermythos

Die Wehrmachtsgeneration

Innenpolitische Nachwehen der Opferdoktrin: Die Wiesenthal-Kreisky-Peter-Debatte

Die Waldheim-Debatte

Entnazifizierung oder Elitenkontinuität

Die Kontinuität von Vorurteilen in der zweiten Generation

Der vergessene Faschismus

Die Habsburg-Frage: kein Thema mehr

Kapitel 10

Zukunftstrends der politischen Architektur Österreichs

Mehr Chancengerechtigkeit und Politikverdrossenheit

Weniger Autoritarismus, mehr Individualismus und Apathie

>Was ist paradox an der Zweiten Republik?

Eine Zusammenfassung

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Einleitung

Seit der ersten Ausgabe dieses Buches sind zehn Jahre vergangen, in denen sich die nationalen Trends des Jahres 2005 nicht wesentlich, der internationale ökonomische Rahmen hingegen extrem zum Negativen verändert haben. Das Platzen der Immobilienblase in der US-Wirtschaft im Jahre 2007 wuchs sich zu einer großen internationalen Banken- und Finanzkrise aus, die 2008 und 2009 zu massiven staatlichen Interventionen zur Rettung des Banken- und Finanzsektors führte. 2010 wiederum verschärfte sich die Krise in Europa, die mit dem griechischen Finanzdebakel begann und eine Reihe anderer hochverschuldeter EU-Mitglieder beeinflusste. Auch in Österreich wurden rasch umfangreiche Bankenrettungspakete geschnürt und von der neuen großen Koalition unter Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Josef Pröll Konjunkturförderungsprogramme beschlossen; Prölls Nachfolger Michael Spindelegger und Reinhold Mitterlehner setzten diese Politik fort. Sowohl international als auch national stand die Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren Pate bei den Konzepten und motivierte umfassende staatliche Interventionen in die völlig versagenden freien Märkte. Die Sparpakete werden noch auf Jahre hinaus die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen mitbestimmen, ohne dass es jedoch erkennbare Kontroll- und Interventionsmaßnahmen zur Regulierung des Turbokapitalismus und der neoliberalen Wende gäbe.

Im Schatten der Krise startete die FPÖ nach der Spaltung in Knittelfeld neu durch und erreichte bei den neuerlich von einer heftigen rechtspopulistischen Migrations- und Sicherheitsdebatte geprägten Gemeinderatswahlen in Wien im Oktober 2010 25,77 Prozent. Die SPÖ verlor mit 44,34 Prozent die absolute Mandatsmehrheit und begann ein für Wien neues Experiment, eine rot-grüne Koalition. Das BZÖ wiederum sollte nach dem Unfalltod Jörg Haiders die Abspaltung in allen Bundesländern nicht überleben. Nur in Kärnten profitierten Haiders politische Erben, wenn auch kurzfristig, von seinem regionalen Mythos, um sich aber dann rasch wieder mit der Strache-FPÖ auszusöhnen.

2013 brachten die Nationalratswahlen die wohl letzte Chance für die Große Koalition SPÖ-ÖVP. Die SPÖ blieb stimmenstärkste Partei, hat aber in den letzten zehn Jahren 10 Prozent ihrer Wählerinnen und Wähler verloren; die ÖVP als zweitstärkste Partei hat in diesem Zeitraum sogar 18 Prozent an Zustimmung eingebüßt. Nur ganz knapp schafften beide Parteien zusammen die 50-Prozent-Hürde, die FPÖ lag, wieder als Dritter, bei 20,51 Prozent. Es scheint nur mehr eine Frage der Zeit zu sein, bis es eine Regenbogenkoalition gibt, in der unter anderem auch die Grünen und/oder auch neue Parteien (Neos oder die Partei Frank Stronachs) vertreten sein werden.

Nach der Nationalratswahl 2013, v.l.n.r.: Werner Faymann, Michael Spindelegger, Heinz-Christian Strache, Eva Glawischnig-Piesczek, Frank Stronach, Matthias Strolz (© Christian Müller/picturedesk.com)

Rückblickend gesehen, war das Staatsvertragsjubiläumsjahr 2005, das Jahr, in dem dieses Buch erstmals erschienen ist, ein vergleichsweise ruhiges Jahr für die Republik Österreich. Es herrschte fast permanente Feststimmung. Gleich drei Jubiläen galt es zu feiern: 1945 (Kriegsende, Befreiung und Beginn der Zweiten Republik), 1955 (Unterzeichnung des Staatsvertrags und Neutralitätsgesetz), 1995 (EU-Beitritt). Ausstellungen im Schloss Belvedere, in der Schallaburg und in Hunderten Heimatmuseen sollten die Massen anziehen. Auch die Wiener Staatsoper, die mit einem Staatsakt und Stardirigenten aus aller Welt ihrer Wiedereröffnung am 5. November 1955 gedachte, inszenierte sich wie fünfzig Jahre zuvor als österreichischer Erinnerungsort. Das Kriegsende 1945, die Proklamation der provisorischen Regierung Renner am 27. April 1945 wurden medial und politisch ebenso thematisiert wie die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen Anfang Mai 1945 oder die Befreiung der 48 KZ-Nebenlager in ganz Österreich. Städte, Dörfer, Betriebe, Institutionen, Organisationen, die politischen Parteien positionierten sich historisch und versuchten ihre Vergangenheit neu zu interpretieren. Überdies bot das Gedenkjahr die letzte Chance für Zeitzeugen, ihre Berichte in der kollektiven Erinnerung festzuschreiben.

»History sells«: Doch wieviel an kritischem Geschichtsbewusstsein brachten die vielen historischen Inszenierungen nach dem Motto »Turn off the future, turn up the past« (Jesse Sykes) mit sich?

Dieses Buch soll zehn wesentliche Entwicklungen und Bausteine der Zweiten Republik darstellen und die Erkenntnisse und Debatten der letzten Jahrzehnte mit einer wissenschaftlichen Analyse des Autors verbinden. Es soll einen intensiven, manchmal subjektiven, immer aber klaren Blick in das kollektive Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher eröffnen, der vor allem zum Nachdenken über Identität und Demokratiebewusstsein anregen soll. Nicht die bereits obligate negative Staatsdichtung wird zum Brennpunkt, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den Gründungs- und Wiederaufbaumythen der Zweiten Republik, die auch zum Widerspruch und zum Nachdenken anregen soll. Keine Vaterlandskunde, wohl aber eine aufgeschlossene und offene Bewertung der Leistungen wie der Irrwege der Zweiten Republik. Die österreichische Identität ist ebenso vertreten, wie es die spezifische Demokratieentwicklung und das österreichische Wirtschaftswunder sind. Dabei steht immer auch der internationale Bezug im Zentrum der Interpretation: Österreich, das sich als Nation viel zu lange als Insel gefühlt hat, ist schon lange keine Insel mehr, eher in manchen Bereichen ein Atlantis, auf dessen Spuren und Artefakte der Autor aufmerksam machen wird.

Ebenso zeichnet er ein Bild der wichtigsten politischen Akteure vor dem Hintergrund der politischen Parteienlandschaft. Dabei werden wohl manche Wunschvorstellungen und historischen Überlieferungen ins Wanken kommen, gleichzeitig aber viele neue Facetten ins Blickfeld gerückt. Die Bedeutung der Frauen, die in den meisten Geschichtsbüchern nicht einmal bei den reinen Frauenwahlen des Jahres 1945, die die politische Weichenstellung der Zweiten Republik entschieden haben, thematisiert wird, soll in allen zehn Längsschnitten entsprechend reflektiert werden.

Demokratie und Politik ohne Kunst, Kultur und Medien sind unvorstellbar; vor allem im Kleinstaat Österreich sind sie ein Seismograph für das Ausmaß an offener demokratischer Auseinandersetzung.

Quer durch den Text werden immer wieder die demokratiepolitischen Einstellungen der Österreicher/innen ins Blickfeld gerückt. Da der Demos Gegenwart wie Zukunft unseres republikanischen Staatswesens entscheidet, kommt der Frage nach Demokratiebewusstsein und den entsprechenden Einstellungen eine große Bedeutung zu. Durch eine 2004 eigens für dieses Buch in Auftrag gegebene Umfrage über das autoritäre Potential werden diese Ergebnisse mit den historischen Entwicklungen seit 1945 verglichen und durch neue Erhebungen 2007/2014 aktualisiert.

Die historischen Ursprünge der Neutralität bis hin zur aktuellen Rezeption bilden ebenso einen der zehn Themenstränge wie europäische Identität und Europapolitik. Ein oft vernachlässigter wesentlicher Teil der Geschichte der Zweiten Republik ist die Sozialpolitik, das österreichische Wohlfahrtsstaatsmodell. Es hat wesentlich zur raschen Identitätsbildung und zur Akzeptanz des Kleinstaats beigetragen. Daneben rückt aber auch die Bedeutung der politischen Vergangenheiten für die aktuelle Politik (von der Monarchie über die Regierungsdiktatur von Dollfuß und Schuschnigg bis zum Nationalsozialismus, zum Wiederaufbau und zur Ära Kreisky) ins Bild. Und schließlich sollen Zukunftstrends zusammengefasst werden, auch mit einer Bewertung diverser früherer Zukunftsdeutungen.

Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen, hätte es nicht einen verständnisvollen Verleger, Herbert Ohrlinger, und eine engagiert kritische, aber zugleich höchst einfühlsame Lektorin, Brigitte Hilzensauer, gegeben; ihnen gilt mein besonderer Dank. Für Kontrollrecherchen in der ersten Auflage 2005 danke ich Maria Wirth.

Wien, im Herbst 2014

Oliver Rathkolb

Kapitel 1

Die österreichische Identität

zwischen Nationalstolz, Solipsismus und

europäischem Patriotismus

»… uns bleibt nichts übrig,

als selbst auf den Gedanken eines

Anschlusses zu verzichten.«1

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs befürworteten 1918 die maßgebenden politischen Kräfte in Österreich uneingeschränkt die parlamentarische Demokratie und die Abschaffung der Monarchie; der Kleinstaat jedoch stieß auf große Skepsis. Der Satz vom »Staat, den keiner wollte« drückt diese Zweifel an der wirtschaftlichen und nationalstaatlichen Lebensfähigkeit eines nach dem Zerfall Österreich-Ungarns von rund 51 auf 6,5 Millionen Einwohner geschrumpften Staatsgebildes präzise aus. Der Wille zum »Anschluss« an das inzwischen ebenfalls demokratisch organisierte Deutsche Reich ging quer durch die politischen Parteien, wurde aber von den alliierten Siegermächten (Frankreich, Großbritannien und die USA) 1919 nicht akzeptiert und fand auch in Deutschland nur halbherzige Unterstützung.

Die nachfolgenden Jahrzehnte waren von der zunehmenden Militarisierung der politischen Auseinandersetzung und der Radikalisierung der Konflikte (Stichwort: Justizpalastbrand 1927) inmitten sozialer und ökonomischer Dauerkrisen geprägt. Der autoritäre Kurs des christlichsozialen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß mit der Ausschaltung des Parlaments nach dem 4. März 1933 endete im Bürgerkrieg ab dem 12. Februar 1934 und führte zum Verbot der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei). Das Ziel, durch eine Kanzlerdiktatur den Nationalsozialismus, der seit 1933 in Deutschland an der Macht war, zurückzudrängen, scheiterte. Die Terrorattentate der Nationalsozialisten gingen weiter, Dollfuß selbst wurde im Juli 1934 bei einem missglückten Putschversuch ermordet. Sein Nachfolger Kurt Schuschnigg setzte vorerst auf einen Ausgleich mit Hitler-Deutschland (Juli-Abkommen 1936) und die Fortsetzung der Kanzlerdiktatur. Die vorsichtige Öffnung gegenüber der verbotenen »Linken« und den Gewerkschaften Ende 1937 kam jedoch zu spät und brachte ebenso wenig Erfolg wie eine für den 13. März 1938 anberaumte Volksbefragung »Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich«, die Hitler untersagte. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938, dem kein Widerstand entgegengesetzt wurde, beendete endgültig die Kleinstaatlichkeit. An die 200.000 Menschen jubelten am Heldenplatz Adolf Hitler als »Befreier« zu. Gleichzeitig begannen erste Verhaftungswellen; 50.000 Österreicher/innen, politische Gegner/innen sowie Juden und Jüdinnen waren Opfer dieser Terroraktionen. Damit wurde auch bereits der Rahmen der Volksabstimmung vom 10. April 1938 abgesteckt, die über den »Anschluss« befinden sollte und deren fast hundertprozentige Zustimmung (99,6 Prozent) ein Ergebnis von Opportunismus, ideologischer Überzeugung, massivem Druck und perfekter Propaganda sowie punktuellen Wahlfälschungen war.

Trotz der durch alle gesellschaftlichen Schichten gehenden Anpassung an das NS-Regime kristallisierten sich vielfältige Formen des Widerstands heraus, meist eine Reaktion auf die reichsdeutsche Dominanz und die negativen Folgen der Expansionsfeldzüge der deutschen Wehrmacht in ganz Europa. Nach der Befreiung durch die Alliierten – vor allem durch die Rote Armee im Osten und US-Einheiten im Westen – standen aber nicht die eigene Verantwortung und Mitwirkung an Holocaust und Krieg im Zentrum gesellschaftlicher Debatten, sondern die Situation als Opfer, als Kriegsgefangene, Bombenopfer und Verfolgte von NS-Repressionen. Selbst die Leiden der jüdischen Bevölkerung – rund 130.800 Juden und Jüdinnen waren ins Exil getrieben worden, rund 65.000 ermordet oder ums Leben gekommen – wurden rasch von den Hinweisen auf eigene Leiden und Schicksalsschläge verdrängt.

Die nationale Geschichtserinnerung hatte ihren Ursprung in dem Schockerlebnis, dass die »Ostmärker« nach 1938 keineswegs als Elite, sondern als bloße Provinzgesellschaft in das nationalsozialistische Deutsche Reich integriert worden waren. Da die NSDAP-Führung diese von den Österreichern selbstkonstruierte Sonderrolle der »besseren deutschen Kulturnation« bewusst negiert hatte, kam es, vor allem mit den zunehmenden militärischen Niederlagen nach der Schlacht um Stalingrad 1942/43, rasch zu einer emotionalen Ablösung. 1945 stellte dann kaum jemand mehr öffentlich die staatliche Trennung von Deutschland in Frage. Eine starke eigenständige und kleinstaatliche Identität war damit allerdings noch nicht herausgebildet.

Diese ambivalente Position wird bereits in der ersten Erklärung von Staatskanzler Karl Renner, einem klassischen deutschnationalen k.u.k. Sozialdemokraten, deutlich. Vor Beamten im Kanzleramt am Ballhausplatz erklärte er am 30. April 1945, »… dass der Anschlussgedanke, wie er in den Jahren 1918, 1920 und in den nachfolgenden Jahren vertreten war, etwas ganz anderes vorgesehen hat, als Hitler gebracht hat. Seiner Idee nach sollte das österreichische Volk als Bundesglied mit seinem aufrechtstehenden Staate als Bundesstaat nach der Weimarer Verfassung in die Gemeinschaft aller deutschen Stämme eintreten […]. Es ist Adolf Hitler, der den Anschluss zuerst verfälscht und verfehlt, und zum Schluss für alle Zeit verspielt hat. Die drei Weltmächte [USA, UdSSR und Großbritannien, Anm. d. Verf.] haben sich geeinigt, das selbständige Österreich wiederherzustellen, alle übrigen Staaten der Welt bis auf ganz kleine Ausnahmen haben sich diesen Weltmächten angeschlossen, und uns bleibt nichts übrig, als selbst auf den Gedanken eines Anschlusses zu verzichten. Das mag so manchem hart werden, aber andererseits, nach dem was geschehen ist, nach dieser furchtbaren Katastrophe, ist die einmal vollzogene Tatsache für uns alle zugleich eine erlösende und befreiende Tatsache.«2

Nun war Österreich tatsächlich ein »Sonderfall« im Zentrum der Weltpolitik, wie es gerne immer gewesen wäre, und zwar aufgrund der zufälligen geographischen Lage zwischen den Blocksystemen im Kalten Krieg. Gleichzeitig entwickelte sich die Vorstellung, dass Österreich entsprechend intensiv auch von der neuen westlichen Supermacht, den USA, registriert werden würde. Es ließ sich, wie ein deutscher Politiker 1952 süffisant festhielt, »statt seine Mithaftung anzuerkennen, als überfallenes Kind hätscheln«3; trotzdem war dies kein Thema in der Geopolitik. Die Überschätzung der internationalen Bedeutung der Österreich-Frage, vermischt mit einem unausgesprochenen schlechten Gewissen, dauert hingegen, ganz im Sinne eines nationalen Solipsismus, bis zum heutigen Tag an, vermittelt und verstärkt durch die österreichische Presse. Auch die Politik transportiert die Fehleinschätzung, dass beispielsweise US-Entscheidungsträger und -Medien ständig die Entwicklungen in Österreich beobachten. Dies traf vereinzelt wohl auf den Zeitraum bis 1955 zu, doch trotz Waldheim und Haider blieb Österreich auch in den 1980er und 1990er Jahren in den USA wohl eher als Musikland oder als Schauplatz der Trapp-Familiensaga »A Sound of Music« präsent, wie Langzeitauswertungen von Medien dokumentieren.

Durch die Neutralität aus 1955 erhielt die österreichische Selbstbezogenheit einen permanenten und besonderen Status. Österreich galt als Brücke zwischen Ost und West, als Treffpunkt für Entspannungsgespräche in den 1970er Jahren. Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, dass das gesamtösterreichische Nationalbewusstsein gerade in der aktiven außenpolitischen Ära Bruno Kreiskys besonders gedieh, als Internationalismus en vogue war. Die weltweite Anerkennung und Reputation stärkten die Identität des Kleinstaats; Provinzialismus und permanenter Selbstüberschätzung wurden jedoch keineswegs die »Giftzähne« gezogen. Das Ende des Kalten Kriegs und die Integration in die EU hatten dann ein abruptes Ende der bereits in den 1980er Jahren deutlich reduzierten Sonderrolle Österreichs im Gefolge. Den selbstverliebten Österreicher/innen brachten der EU-Beitritt, aber auch die Konsequenzen der Globalisierung eine handfeste Krise. Plötzlich galt es neue Realitäten und Entscheidungsprozesse zu akzeptieren, was zunehmend zu Friktionen führte, da die politische und ökonomische Sonderrolle Österreichs aus dem Kalten Krieg deutlich reduziert wurde oder ganz verschwand. So scheiterte etwa die Antiatompolitik, die sich Österreich nach der Volksabstimmung gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf 1978 auf die Fahnen geschrieben hatte, gegenüber der Tschechischen Republik, der Slowakei und Slowenien, da Österreich in der EU keine Lobby – zum Beispiel gegen die Inbetriebnahme von Temelín – mobilisieren konnte.

Fremdenverkehrsplakat von 1948 (© Österreichisches Staatsarchiv)

Dieser Trend wird durch eine globale Entwicklung verstärkt, wie eine Studie des Washingtoner »Research Center for the People & the Press« vom Juni 2003 nach einer Befragung von 66.000 Menschen aus 49 Nationen dokumentierte.4 Dieser höchst repräsentative Ausschnitt der Weltöffentlichkeit – ohne Kleinstaaten wie Österreich – ist sich über alle Altersgruppen hinweg relativ einig, dass die Globalisierung den Verlust traditioneller kultureller Identitäten zur Folge habe. So sahen beispielsweise in Deutschland 69 Prozent der Befragten ihren traditionellen Lebensstil gefährdet, 68 Prozent der Italiener befürworteten – ebenso wie 53 Prozent der Franzosen – kulturellen Protektionismus zum Schutz der »nationalen« Kultur. Derartige Entwicklungen wirken sich in Kleinstaaten mit einer relativ jungen nationalen Identität noch stärker aus. In diesem Sinne liegt also Österreich im globalen Mainstream der Identitätsentwicklung, aber mit noch heftigeren Reaktionen in Krisenzeiten.

In einem Gespräch mit dem Autor gebrauchte Viola Breit, die 1938 mit ihrer Familie aus Wien vertrieben worden war, einmal den Begriff »Solipsismus«, um das nationale Selbstverständnis ihrer ehemaligen Landsleute zu beschreiben. Damit wird der Kern der aktuellen Eigensicht der meisten Österreicher und Österreicherinnen prägnant skizziert: eine permanente Ichbezogenheit. Meiner Ansicht nach ist dieser österreichische Solipsismus eine Konstante, die sich aus den letzten Jahrzehnten der Monarchie herleitet. Damals dominierte eine deutschsprachige Minderheit die anderen nationalen Mehrheiten (mit Ausnahme der Ungarn ab 1867). Das Gebiet des heutigen Österreich mit der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien wurde zum Zentrum aller Aktivitäten und Entwicklungen in der Monarchie hochstilisiert, die reale Entwicklung in der Außenwelt von der dominierenden nationalen Gruppe jedoch verdrängt, sowohl in der Nationalitätenfrage als auch in der ökonomischen und politischen Entwicklung in Europa. Die Kriegserklärung 1914 trotz inferiorer militärischer und sozioökonomischer Kapazitäten bildete den ersten Kulminationspunkt dieser Fehleinschätzung und grundlosen Überhöhung der eigenen Möglichkeiten.

Deutliche Spuren von Solipsismus finden sich auch in Umfragen über den Nationalstolz. Schon vor der Volksabstimmung über einen EU-Beitritt Österreichs dokumentierten Meinungsbefragungen für Österreicher und Österreicherinnen einen extrem ausgeprägten Nationalstolz, der im internationalen Vergleich nur durch den der US-Bevölkerung übertroffen wurde.5 Klar wurde dabei auch, dass dieser Nationalstolz häufig auf Argumenten wie »schöne Landschaft« (zunehmend mit einem hohen Umweltbewusstsein verbunden) sowie der traditionellen Volks- und Hochkultur aufbaute. Als drei »sichere Orte« der österreichischen Identität können hier Landschaft, Kultur (sowohl Hochkultur als auch Volkskultur) und – immer noch – die Neutralität angeführt werden. Bemerkenswert ist, dass die »Medizinische Schule« nach wie vor einen sehr hohen Stellenwert besitzt. Sporterfolge, die ursprünglich (in den 1950er Jahren) sehr wichtig waren, verlieren seit 1980 an Bedeutung, Sportstars selbst stehen hingegen nach wie vor ganz oben auf der Anerkennungsskala.

Das politische System Österreichs, seine Verfassung jedoch zählen nicht zu den sicheren Orten auf der mentalen Identitätslandkarte Österreichs. Dies ist ein auffallender Unterschied zu Deutschen, aber auch Amerikanern, die nie das Vertrauen in ihre (an sich höchst renovierungsbedürftige) Verfassung aus dem 18. Jahrhundert verloren haben. In Österreich hingegen schwand der »Glauben« an Politik nach der Ära Kreisky: 1987 bezeichneten nur noch 27 Prozent der Befragten die österreichische Politik als Leistung, auf die man stolz sein könne (gegenüber 72 Prozent im Jahr 1980). Im Oktober 2000 waren nur 27 Prozent der Österreicher/innen mit der politischen Lage zufrieden, die Krise hielt an. Auch das Vertrauen zu Politikern im Vergleich zu Ärzten (91 Prozent Zustimmung), Lehrern und Polizisten (je 76 Prozent) war 2004 extrem niedrig (15 Prozent). Damit liegt Österreich auf einer Linie mit Ungarn (14 Prozent), aber doch deutlich besser als Deutschland (6 Prozent), Italien (9 Prozent) oder Polen (6 Prozent). In diesem Zusammenhang zeigen sich jedoch regionale Unterschiede, die teilweise mit der regionalen Identität der Österreicher/innen zusammenfallen, der älteren Wurzel der nationalen Identität. Während also im Jahr 2000 27 Prozent insgesamt politische Zufriedenheit signalisierten, waren es in Tirol nur 19 Prozent, in der Steiermark und Vorarlberg hingegen je 36 Prozent; Wien lag im Durchschnitt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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