Die Paschkes reisen wieder - Sabine Pires - E-Book

Die Paschkes reisen wieder E-Book

Sabine Pires

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Beschreibung

Antonia-Petra Paschke 31 Jahre, Erzieherin, verliert den Arbeitsplatz, auch ihre Beziehung scheitert kläglich. Aus der Not heraus zieht sie zurück ins Hermsdorfer Elternhaus. Dort erwartet sie neben der pubertierenden Schwester der Rest des abwechslungsreichen Berliner Familienclans. Da beschließt Vater Paschke Familienurlaub. Vier Wochen in einem Ferienhaus in Dänemark mit Mama, Papa, Oma, Onkel, Tante, einem fetten Kater, Kanaries und Co. Getreu dem Motto: "Mitgefangen, mitgehangen!" - Dieser turbulente Urlaub bleibt weder bei den "lieben" Familienangehörigen noch bei Antonia ohne Folgen. In diesem amüsanten Roman, agieren unter anderen typische Berliner Charaktere mit der dazugehörigen ruppigen Herzlichkeit. Ein Buch, des jede Generation anspricht und in dem die Autorin ein wenig mit der eigenen Biografie spielt.

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Seitenzahl: 219

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Paschkes reisen wieder

von

Sabine de S.A. Pires

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865 - 412-9

MOBI ISBN 978-3-95865-413-6

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Éric

Für die liebe Unterstützung und Inspiration danke ich meiner Familie, Freunden und Kollegen. Insbesondere: meinen Eltern, Sonny & Familie, Biggy & Klaus, Murkel, Gudrun, Anja, Sabine M., Maria, V.B., Frau O., A. & K.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

-1-

Paschkes reisen wieder! So beschwor es mein Vater. Vier Wochen Urlaub mit der gesamten Familie. Nicht gerade das wonach sich eine Frau über dreißig, unverhofft arbeitslos und vom Lebenspartner sitzengelassen, sehnt.

Manch einer wird der Annahme verleitet sein, mit seinen Eltern zu verreisen sei halb so wild, aber da kenne er den Berliner Paschke Clan nicht!

Nehmen wir zuerst meinen Vater, Heinrich-Anton Paschke, im siebenundfünfzigsten Lebensjahr und Meister in einer Heizung- und Sanitärfirma. Ein mittelgroßer und dicklicher Mann, den alles gesellig und lustig stimmt, solange es genügend Bier gibt.

Seine Angetraute und meine Mutter, hört auf den Namen Inge. Eigentlich Ingrid-Heidemarie geborene Beck. Vier Jahre jünger und das Gegenstück zu ihrem Mann. Groß und schlank gewachsen, kopiert sie Stil und Haare nach der französischen Schauspielerin Catherine Deneuve. Sofern sie nicht den Haushalt erledigt, frönt sie ihrem Hobby, der Querflöte. Immerhin kann sie seiner Majestät Friedrich II. Flötenkompositionen auswendig begleiten.

Ihr alltäglicher Schatten ist Großmutter Beck. Die Mutter meiner Mutter und ein Überbleibsel der 68´er Ära. Oma Beck wurde als Lilly 1939 in Hamburg geboren. Durch einen „Liebesunfall“, wie sie jedermann unvoreingenommen erklärt, ist sie recht jung zu Inge gekommen. Die frühzeitige Heirat und Verschacherungsmentalität deren Mutter, Jolante Poggenmühl, haben dafür gesorgt, dass Lilly nie die Veranlassung sah einen Beruf zu erlernen, denn Jolante war nach dem Krieg eine der ersten Immobilienmaklerinnen und demzufolge finanziell gut gepolstert. Nachdem Lillys Mann neun Jahre nach Inges Geburt verstarb, reiste sie auf der Suche nach Kuriosem und Antiquarem durch die Welt. Fit hält sich Oma Beck mit Yoga, den Rolling Stones - deren ergebener Fan sie ist – und einem eigens zu recht gelegten esoterischen Welt- und Leitbild:

»Ich säe nicht, ich ernte nicht und das Universum nährt mich trotzdem!«

Ich wurde im Dezember 1974 als Antonia Petra Paschke geboren. Als Erbanlage erhielt ich die grünen Augen meines Vaters und die eigentlich mausbraunen Haare meiner Mutter.

Da die gesamte Familie im Berliner Norden ansässig ist, wuchs ich trotz Großstadt eher im Kleinstadtmilieu auf. Nach der Schulzeit wurde ich Erzieherin und zog aus der elterlichen Vier-Zimmer-Wohnung zu meinem Lebenspartner in den Wedding.

Es war nicht nur die Flucht vor dem Hermsdorfer Kleinbürgertum, meine Schwester war der Hauptgrund des Auszugs. Melanie Rudolfina Paschke mittlerweile fünfzehn Jahre und der unverhoffte Nachzügler meiner Eltern. Bei Melle, wie sie knapp genannt wird, geben diverse Superstars der Woche im wahrsten Sinne des Wortes den Ton an. Obwohl sie nach Vater schlägt, blonde Kräusellocken, moppelig und eine alte Studentenbrille tragend, sieht sie ausgesprochen niedlich aus. Alles was ich als Kind nie durfte, darf sie selbstverständlich. Was kämpfte ich seinerzeit um einen Hasen, fast problemlos kam Melle zu einem Kater, den Mutter im Nachhinein am liebsten aussetzen würde. Dieses unförmige rote Katervieh, Mister Jones genannt, hat es sich zur Angewohnheit gemacht, regelmäßig vor der sonntäglich gedeckten Kaffeetafel seine unverdauten Haare auf Mutters Chinateppich heraus zu würgen.

Um auf das zu Beginn erwähnte zurückzukommen, war es vor allem eine Reise, die das traute Leben der Paschkes gründlich auf den Kopf stellte insbesondere meines.

Es begann mit einem Ereignis, das wie sollte es anders sein, stets eine Kette von unglückseligen Schicksalsschlägen nach sich zieht. Als Erzieherin war ich in einem privaten Schülerladen angestellt. Den finanziellen Launen des Bezirkssäckels ausgeliefert, knauserten wir uns durch die Jahre. Die Schulreform setzte ein und aus diesem Grund offerierte mein Vorstand: »Bist du fristgemäß und mit großer Kulanz zu Anfang Juni bedauerlicherweise gekündigt, da wir uns nur noch eine Erzieherin leisten können. Das musst du verstehen, du bist die Jüngere und kannst dich neu orientieren.«

Verstehen, nach zehn Jahren Mitarbeit? Immerhin blieben mir dank großer Kulanz, zwei Monate für eine ereignislose Arbeitssuche.

Zu allem Übel interessierte sich mein Lebenspartner Joachim herzlich wenig für meine Belange, wie überhaupt er sich merklich distanzierte. Eine Woche nach Ostern gestand er sein Verhältnis: Babsi, sei völlig anders als ich. Viel spontaner, fröhlicher, weniger verkniffen und jünger! Ich müsse ihn verstehen, schließlich seien wir vierzehn Jahre zusammen und da hat sich die Beziehung ausgedünnt!

Dieses „ausdünnen“ war mir seit gut einem Jahr bewusst und beruhte sogar auf Gegenseitigkeit, doch mein eigenes Phlegma zu überwinden hätte ich damals nie gewagt.

Dann sagte Joachim allen Ernstes:

»Bitte ziehe in den nächsten Tagen aus. Babsi hat nur ein kleines WG Zimmer; und da es meine Wohnung ist ... dafür hast du doch Verständnis?«

Wer war ich? Das personifizierte Verständnis für alles und jeden? Was sollte denn noch alles über mich hereinbrechen? Und was sollte mit all den Möbeln und Dingen geschehen, die wir gemeinsam angeschafft hatten? Verzweifelt betrachtete ich den teuren Wohnzimmerschrank aus biologisch einwandfreiem Massivholz und fand ihn augenblicklich hässlich. Alles in der Wohnung wirkte plötzlich unbedeutend. Nichts von dem wollte ich haben, keinen Stuhl auf dem er gesessen, kein Regal in dem seine Feuerzeugsammlung und Motorradmodelle einstaubten, keinen Becher, keinen Teller, nichts. Nur mein persönliches Eigentum wollte ich mitnehmen. Bluten sollte er allerdings, von all dem, wo ich die Hälfte der Kosten mitgetragen hatte, verlangte ich meinen Anteil, »mindestens zehntausend Euro!«

Er wand sich wie ein Aal und da platzte mir der Kragen, »ich habe nicht nur die Möbel, sondern auch dein Motorrad finanziert obwohl du derjenige bist, der dreimal soviel Gehalt kassiert und ein Aktiendepot unterhält. Ich habe sogar noch die Überweisungsformulare die über mein Konto liefen!«

Teilnahmslos hörte er zu und ich drohte mit Anwalt und Prozess. Ob ich das aus meiner Position heraus hätte machen können, ist mir bis heute fraglich.

»Ist ja gut«, kreidebleich zuckte er zusammen, »im Sommer könnte ich einen angemessenen Betrag überweisen, vielleicht deine gewünschte Summe. Momentan habe ich nichts frei, spätestens zum August, dass gebe ich sogar schriftlich. Vielleicht ziehst du vorübergehend in Babsis Wohngemeinschaft?«

»In eine WG? Vielleicht noch in das Zimmer dieser Person? Na, du hast sie wohl nicht mehr alle«, schrie ich wütend und erntete Unverständnis. Letzteres Wort habe ich in allen Variationen gefressen.

So nahm ich die schlimmste Alternative auf mich: Zurück ins Elternhaus! Einem Vorzeige-Altbau mit nur sechs Mietparteien, nebst einem gut laufenden Scheibwarenlädchen und einer kleinen Boutique im Parterre der es immer wieder gelingt, finanziell über die Runden zu kommen.

Für einen Augenblick dachte ich daran, zu Onkel Harald, den Bruder meines Vaters, nach Heiligensee zu ziehen. Aber die Aussicht, sich mit Haralds ballettbesessener Frau Isadora auseinander setzen zu müssen, ließ mich den Gedanken rasch verwerfen. Tante Isadora, eigentlich Elisabeth Monika Jost und gebürtige Dresdnerin, glaubte mit ihren achtundvierzig Jahren die Wiedergeburt der Tänzerin Isadora Duncan zu sein. Daher der Namenswandel. Ebenso trägt sie deren Kennzeichen, einen roten Seidenschal. Seit Kindesbeinen ist sie dem Tanz verfallen. Sie selbst gibt Ballettstunden an der Volkshochschule, nachdem sie jahrelang im Friedrichsstadtpalast in der hintersten Reihe getanzt hatte und nicht wie sie behauptet, als zweite Besetzung. Es ist mir ein Rätsel, wie ausgerechnet sie an den Bruder meines Vaters geraten konnte, der von erheblich rundlicher Gestalt im Betriebsrat bei Siemens sitzt. Die Betonung liegt auf „sitzen“.

Also packte ich meine Sachen exklusive Palme, belud meinen alten froschgrünen Audi 80 und stand Anfang Mai reumütig vor meiner Eltern Pforte. Reumütig, da Mutter es von Anfang an prophezeit hatte: »Kind, eines Tages wirst du zurückkehren!«

Demütig bezog ich die ehemalige Gesinde- und Vorratskammer der Wohnung, welches einst Melanies Babyzimmer, dann Nähstube und nun als mein Asyl herhalten musste. Endlos rannen meine Tränen.

Auf dem Arbeitsamt teilte man mir mit, dass aufgrund meines Alters meine Vermittlungschancen nicht besonders gut stehen würden. Aufgrund meines Alters? »Ja soll ich Rente beantragen?«, fragte ich die Sachbearbeiterin zynisch und erntete unterkühltes Schulterzucken. Man wies mich auf die Möglichkeit einer Umschulung hin, klärte mich über Hartz IV auf und dann durfte ich gehen, der Nächste wartete schon.

Um mich abzulenken, sortierte ich meine Schuhkiste.

Wäre jedes Schuhpaar eine hundert Euro Note, ich hätte locker eine Weltreise antreten können. Mutter kam herein, »du siehst unmöglich aus!«, rüffelte sie, derweil sie an mir Maß nahm. »Ich werde dir etwas Feines nähen.«

Wenigstens darauf konnte ich mich bei ihr, als gelernte Schneiderin, verlassen.

»Du hast zweikommasieben Zentimeter Oberschenkelmasse mehr, tststs«, bemerkte sie trocken und verschwand mit ihrer vernichtenden Bestandsaufnahme im Wohnzimmer. Ich brauchte frische Luft und ging nach draußen. Dort stand ich und blickte stumpf auf den Segensspruch des Hauses, welcher reich verziert über der Eingangstür prangert: arbeit ist des bürgers zier, segen ist der mühe preis! Als Jugendliche habe ich mir den Kopf über die Bedeutung dieser Worte zerbrochen, vor allem, warum man alles kleingeschrieben hatte? Jetzt drückte mir die Inschrift schier das Herz zusammen.

Frühmorgens stand ich vor dem Badezimmerspiegel und besah mein trauriges Gesicht. Das musste sich ändern, nur wie? Die Haare waren schuld! Wer sonst? Spröde fielen sie über die Schultern und halfen keineswegs meinen Gesichtsausdruck positiv aufzuwerten. Ohne Umschweife griff ich zur Haarschere meiner Mutter und schnitt eigenhändig die Haare auf Kinnlänge ab. Befreit schüttelte ich den Schopf und als wenn meine Haare sich gleichfalls von Ballast gelöst hätten, wellten sie sich und vermittelten, zumindest kurzfristig, ein Gefühl von Stärke.

Nach und nach richtete ich mich in dem kleinen Zimmerchen ein und gab meinem Laptop einen festen Platz. Ein Glück besaß meine Schwester W-LAN und so surfte ich stundenlang nach Arbeitsangeboten, Umschulungsmöglichkeiten und Fernstudien. Manchmal lud ich Musik aus dem Netz, zumeist die Lieder von Rosenstolz, welche meinen diffusen Seelenzustand spiegelten.

Am Samstagabend des letzten Juniwochenendes beschwor mein Vater die Eingangs erwähnten Worte. Passenderweise hatte es kurz vorher gewittert und gehagelt. Gewichtig faltete er seine Hände, tippelte mit den Mittelfingern an den Handrücken und blinzelte Melanie und mich erwartungsvoll an, »Inge und ... «

»Du, wolltest Ich sagen«, korrigierte Mutter schnippisch. »Es ist dein Plan gewesen!«

»Ja also, ich dachte, es wäre eine prima Idee, wenn wir zusammen verreisen würden, am ersten Juli!«

»Nach England, zu Robby seinem Schloss!«

»Blödsinn«, zischte Mutter und schaute streng zu Papa, der sich ein zweites Bier öffnete.

»Quatsch Melle, ich meinte, bezahlbaren Familienurlaub. Sei froh, dass du drei Tage eher aus der Schule kommst.«

»Fa-mi-lien-ur-laub?«, stammelte ich.

»Ja, Familienurlaub. So wie früher, alle zusammen in einem gemütlichen Ferienhaus in Dänemark.«

»Is´ ja öde, Dänemark, England ist viel schöner!«

Schwer schluckte ich an meinem Brot, »alle, auch Großonkel Roman und so weiter?«

»Natürlich, sofern der alte Schwerenöter sich von seiner Universität losreißen kann. Oma Beck hat mir via SMS bestätigt, dass sie mitkommt, solange sie ihre Dings - äh Mantas oder so singen darf. Isadora ist ebenfalls begeistert, da das Haus einen kleinen Pool und Sauna hat und sie ihre beiden Kanarienvögel mitnehmen kann.«

»Und Cousin Jost?«, fragte Melanie zaghaft.

»Der Hendrik auch. Weil Harald ihm versprochen hat, den Benz auf der Insel fahren zu dürfen. Jetzt wo der Bengel den Führerschein und sein Abitur hat.«

»Wenn Tante Isa, ihre Kanaries mitnimmt, will ich Emjay dabei haben!«

»Ach Melle, ich weiß nicht?«, gab Vater zu bedenken, höhnisch winkte Mutter ab, »lass nur Heini, vielleicht verläuft sich das Vieh dort!«

»Mister Jones verläuft sich niemals. Stimmt´s Dicker, du bekommst einen feinen Bauchgurt.«

»Um den Hals wäre besser«, stichelte ich und erntete einen düsteren Blick meiner Schwester. Während der Rest noch debattierte suchte ich nach Ausreden, um nicht mitfahren zu müssen. Zu teuer und die Sache mit dem Arbeitsamt ...

Vater widerlegte jeden meiner Einwände, »darüber mach dir keine Sorgen, vom Arbeitsamt her steht dir Urlaub zur Verfügung und melden musst du dich erst wieder im August. Solltest du von denen unverhofft Post bekommen, auch kein Problem, Nachbar Dieter gibt mir Bescheid. Das Haus haben Harald und ich bereits reserviert. Es liegt auf Møn. Einen Fernseher gibt´s zum Glück auch, wegen der WM und wir bekommen sogar jeden Freitag einen Koch.«

»Für Pölse mit Smöre Bröd, was?«, nölend stopfte Melanie sich den Mund mit Salzstangen voll, »hoffentlich ist das Wetter dort besser als hier!«

Mutter blickte zum Balkon, wo ihre mit Hingabe gepflegten pinkfarbenen Geranien vom Hagelschlag in Mitleidenschaft genommen worden waren, »schlimmer kann es nicht werden!«

Die Tragweite des bevorstehenden Ereignisses wurde mir an der sonntäglichen Kaffeetafel erst richtig bewusst. War ich nicht zu alt für Familienurlaube? Außer Oma Beck waren alle anwesend; auch Hendrik Jost. Zu ihm einige Worte: Ein Jahr nach dem Berliner Mauerfall, stand Isadoras ältere Schwester Eva, unangemeldet vor der Haustür. Wenig später erklärte sie, dass sie im Namen der russischen Forschung als Geologin für fünf Monate nach Kasachstan gehen wollte. Hendrik, ihr kleiner Sohn, sollte für diese Zeit bei Isadora wohnen. Abgereist ist Eva Jost tatsächlich. Seither gilt sie als verschollen und so haust der mittlerweile volljährige Bursche, dessen sächsischer Akzent sich trotz jahrelanger logopädischer Behandlung hartnäckig hält, im für ihn ausgebauten Gartenhäuschen. Als eingeschworener Technofreak trägt er kurze, grün gefärbte Haare und einen Zickenbart. Sein Taschengeld verdient er sich als DJ und steht nun vor einer Sinn- und Berufsfindung und der Angst einberufen zu werden.

Rege wurden die Einzelheiten besprochen und irgendwann startete Mister Jones erwartungsgemäß sein vehementes Würgen. Alles starrte zum Kater, dessen gesamter Körper bis in die Schwanzspitze rhythmisch zuckte.

»Emjay!«, schalt sein Kürzel durch das Haus und schon flitzte Melle los, um den Schaden zu beseitigen.

-2-

Am Abfahrtstag versammelte sich unsere Sippe um sieben Uhr morgens vor der Haustür. Wir waren weder zu überhören, noch zu übersehen. Paschkes verreisen!

Der Fleischermeister am Platz winkte munter herüber und wünschte: »Gute Fahrt!«

Onkel Harald sorgte für eine korrekte WM-Beflaggung und verteilte Deutschlandfähnchen für unsere Autos. Anschließend bestimmte er die Sitzverteilung, »da Heinrich seinen Omega mit fast all unseren Koffern beladen hat, fahren Oma Beck und Roman bei uns mit. Die Kanaries stören dich doch nicht Roman?«

Onkel Roman tippte bereits schäkernd an das Fahrzeugfenster, hinter dem die Vögel in ihrem Käfig aufgeregt wippten.

Ich vergöttere meinen Großonkel, gleichfalls jeder ihn mögen muss, der ihn kennen lernt. Ein Mann, der Sean Connery fast auf das schüttere Haar gleicht. Als Historiker und Frauenversteher besteht sein Verwandtschaftsgrad darin, der jüngere Bruder von Oma Becks verstorbenen Ehemann zu sein.

»Und das Jungvolk bleibt unter sich«, entschied Harald und ich nickte missgünstig. Gegen Jost hatte ich nichts einzuwenden aber Melle und ihr Kater inklusive Katzenklo in meinem Auto?

»Wir treffen uns an der Fähre in Rostock. Denkt daran, die Fähre legt um elf Uhr ab«, betonte Harald und fügte bestimmend hinzu, »wir sind mit unserem Benz eh die Ersten, hehe!«

Höhö, äffte ich im Geist nach. Farblich passend zu meinem Auto war der grünhaarige Jost mein Beifahrer und Navigator, während Melle auf dem Rücksitz thronte, sich mit Knabberkram voll stopfte und mit gurrenden Lauten ihren dicken Kater betörte.

Zeitgleich traf unser kleiner Convoy am Hafen ein. Gemeinsam warteten wir auf das Einchecken und verzehrten die Reste unserer Stullenpakete. Es muss eine typisch Berliner Eigenart sein, wenn man auf längeren Strecken unterwegs ist, unentwegt Stullen aus der Provianttasche zu greifen. Geben wir es zu, Stullen vermittelten Heimatgefühle, vor allem die mit Salami, Schinken oder Leberwurst belegten.

Die neunzigminütige Überfahrt schleppte sich für mich elendlange hin. Nein, das Meer war mein Element nicht! Als wir endlich anlegten, wankte ich mit hängenden Magen und Kopfschmerzen zum Auto.

»Du willst mit der Dunsdguller doch nich´ fahren?«, fragte Jost und legte fürsorglich einen Arm um mich, »lass mich ans Steuer!«

»Niemals!«

Bedrückt setzte er sich in den Wagen. Er tat mir Leid und ich lenkte diplomatisch ein, »entschuldige Jost, aber du bist der bessere Navigator und Kartenleser. Hast du den Lageplan den Harald uns gegeben hat?«

»Freilich!«

»Sollten wir die anderen verlieren, wirst du uns zum Haus lotsen.«

Wir verloren den Familienanhang schon nach wenigen Minuten, doch mit dem Geschick eines Pfadfinderführers und halb eingewickelt in der Landkarte Dänemarks wies Jost uns den Weg.

Auch Dänemark hüllte sich in ein Regenkleid. Böiger Wind strich über die Halme goldener Weizenfelder bis weit hinaus auf das Meer.

Wald und Wiesen waren dicht bewachsen und mir schien, die Natur zeigte sich grüner und üppiger als daheim. Melle hatte dafür keinen Blick, ihr Magazin mit dem neuesten Superstar-Klatsch lenkte sie vom Rest der Welt ab. Erst als wir die große Brücke die Falster mit der Insel Mön verband passierten, widmete Melle ihr Augenmerk der Gegend.

Die Spannung stieg, als wir durch das Inselstädtchen Stege, den Ulvshalevej hinauf fuhren. Von einer kleinen Anhöhe aus konnten wir die tiefblaue See erblicken. Nickend deutete Jost nach rechts zu einem kleinen Strandlokal. »Bedächtiger«, riet er, »da vorn muss der Gämmbingpladds sein und mache endlich Rosenstolz aus, das Geduddl geht schon seid de´ Mudderstadt! Dort rinn in den Vjbevej und dann links. So, halt, Hausnummer fuffzn!«

Meine ruckartige Bremsung lies Emjay an eine Käfigwand poltern.

»Pass doch auf«, fauchte Melle wütend.

Verhaltend grinsend parkte ich neben dem Haus. Wir waren die Ersten. Wie auf Kommando stürmten wir aus dem Auto und staunten nicht schlecht. Vor uns stand ein hellbraunes Holzhaus mit einer eindrucksvollen Panoramafensterfront von der eine große Holzterrasse ausging. Ein kleiner Pool lag von Kieselsteinen umsäumt eingebettet im Garten. In einem Anbau lugten wir durch das Fenster und entdeckten die Sauna.

»Dolle Bude«, nuschelte Jost und zückte sein Handy um sogleich eine MMS an seinen besten Freund zu senden.

»Sogar ´n Panoramafernseher is´ da!« Melles Stimme dröhnte durch Ulvshale, derweil ihre Nase über die Fensterfront rutschte. Rasch wieselte Jost zu ihr und juchzte, »ei, gugge ma´ een Sadelliddendecoder!«

Spätestens jetzt, musste jedem Nachbarn klar geworden sein: Berliner und Sachsen sind angekommen! Innerlich seufzend warf ich ebenfalls einen Blick ins Haus. Das Interieur hatte teilweise den Ikeacharme der Achtziger Jahre. Auf dem Holzboden lagen viele bunte Flickenteppiche und in einer Zimmerecke stand ein kleiner gusseiserner Ofen. Das Wohnzimmer war offen gestaltet, mit freiem Blick in die modern ausgestattete Küche und dem geräumigen Essplatz für vierzehn Personen.

»Leider habe ich den Schlüssel nicht, wir müssen auf Papa warten!«

Melle legte ihrem Kater den Bauchgurt an und spazierte mit ihm durch den etwa eintausend Quadratmeter großen Garten. Irgendwann setzte sie sich zu uns, »wann kommen die, ich muss pinkeln.«

»Struller in den Busch«, riet Jost und zeigte ins Grüne.

Entsetzt ruckte Melle die Brille gerade, »in den Busch, vor aller Leute?«

»Welche Leute?«, entgegnete ich verwundert. »Hier sieht dich niemand und bevor du wie dein Kater auf die Terrasse pieselst, solltest du dem Busch den Vorzug geben.«

Es wurde später Nachmittag. Gelangweilt hockten wir auf den Stufen der Terrasse und pulten mit den Fingernägeln in den Bohlenritzen. Zu allem Übel begann es zu nieseln, eng drückten wir uns an die Hausfassade, um halbwegs geschützt vor der Nässe zu sein. Jedes nahende Autogeräusch ließ uns aufrucken und sobald es sich entfernte, wieder zusammensacken.

Endlich knirschten Autoreifen über den Kieselsand der Auffahrt.

Hastig stürmten wir hin.

»Manno Papa«, blaffte Melle lauthals, »ich musste schon in den Busch pinkeln!«

»Welchen Busch?« Pikiert blickte Mutter durch den Garten. Derweil fragte ich Vater nach dem Schlüssel.

»Den habe ich mit Harald in Stege abgeholt und ihm gegeben. Ist er noch nicht da?«

Stöhnend nahmen wir auf den Terrassenstufen Platz und abermals zückte Jost sein Handy.

»Wenn das so weiter geht, lieber Cousin, musst du viel bezahlen am Ende des Monats«, kommentierte ich spitzzüngig.

»Wieso? Der Vertrag looft über´n Onkel!«

Das wunderbare am Sommer ist, es bleibt auch in den Abendstunden hell. Der Nieselregen hatte aufgehört, Mücken und Libellen umschwirrten uns, von Onkel Harald fehlte jede Spur, selbst sein Handy vermeldete ihn als nicht erreichbar.

»Hunger«, jammerte Melle, dem wir uns nur anschließen konnten. Hörbar näherte sich ein rasselnder Dieselmotor und stoppte hinter unserem Haus. Betreten stieg Harald Paschke aus seinem Wagen und klatschte, die Situation überspielend, die Hände zusammen.

»Tja, ähem, wir haben uns verfranzt. Dafür habe ich Grillhähnchen mitgebracht.«

»Idiot«, heischte Tante Isadora ihrer sonstigen wohl aufgesetzten Contenance beraubt. »Los, mach die Tür auf, die Kanaries brauchen frisches Wasser.«

Onkel Roman half galant Oma aus dem Auto, streckte anschließend seine Arme weit aus und inhalierte tief die Luft in seine Lungen. »Ah, Dänemark« seufzte er sinnend, »ein Land welches Fontane liebte, Andersens einmalige Märchenwelt und Möns Kreidefelsen die so sehr an Caspar David Friedrichs Rügener Impressionen erinnern.«

»Und wo das Wetter genauso Käse ist wie in Berlin. Gibt´s hier wenigstens ´ne Disco?« Fragend schielte Melle zu Jost, der abwägend die Schultern lupfte.

Im Haus konnte die Zimmerverteilung beginnen. Ich bekam mein gewünschtes Einzelzimmer, welches kaum größer war als das inne stehende Bett. Harald und Isadora erhielten ein kleines Doppelbettzimmer, ebenso meine Eltern. Melle zog mit Oma Beck zusammen und Jost nebst Roman sollten auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer nächtigten. Erst nachdem alles verstaut und einsortiert war, denn deutscher Ordnungssinn geht vor, machten wir uns über die Grillhähnchen her - die übrigens vorzüglich schmeckten.

Gemeinsam erkundeten wir am nächsten Tag den Strand. Viele Familien hatten es sich am Wasser gemütlich gemacht. Sonnenschirme, Windschutzplanen und zeltähnliche Strandmuscheln bildeten ein buntes Stelldichein. Kinder tobten herum und manche von ihnen scheuten nicht vor dem kühlen Meerwasser zurück. Wir fanden einen idealen Lagerplatz und begannen unser Informationsmaterial durchzusichten, um die Planung für die kollektiven Besuche verschiedener Sehenswürdigkeiten in Angriff zu nehmen. Oma Beck stellte eine Liste mit allem was interessant erschien zusammen. Schließlich hatten wir vier Wochen Zeit, diese Liste, die in Schönwetter- und Schlechtwetterkategorien eingeteilt war und alle möglichen WM-Spieltage unserer Nationalmannschaft berücksichtigte, abzuarbeiten. Anschließend wurden die leidigen Putz-Wasch-Koch- und Einkaufsdienste eingeteilt.

»Die erste Woche gehen wir in Ruhe an, sie dient rein der Erholung«, bestimmte Mutter Paschke und erntete nickende Köpfe.

»Das funktioniert nie«, gab ich zu bedenken, alle schauten entsetzt zu mir.

»Ich meine die Putzdienste«, im Geiste sah ich mich mehrmals täglich das Waschbecken und die Klobrille von Haaren befreien. Da der Einwand ignoriert wurde, lenkte ich mein Augenmerk auf das Meer. Zukunftsängste keimten unverhofft auf: Keine Wohnung, keinen Arbeitsplatz und die Perspektiven schlecht. Oma Beck stupste mich plötzlich an, »wir beide gehen Eis essen!«

Das Strandlokal war nicht weit entfernt. Dort kehrten wir in froher Erwartung auf leckeres dänisches Softeis mit Schokoladenstreusel ein. Wie es oftmals so ist, wird einem die Vorfreude vereitelt. Vor uns standen zwei junge Männer wohl mit demselben Anliegen, nur dass einer rege mit den dort arbeitenden Verkäuferinnen flirtete, während sein Begleiter hin und wieder grunzende Lachlaute von sich gab.

Ich wollte endlich mein Eis! Nach zehn Minuten wurde ich ungeduldig, murrte herum und nahm diese Süßholz raspelnde Hürde in festen Augenschein. Der Mann war mindestens einen Kopf größer und schien bedeutend jünger als ich. Seine Haut war tief gebräunt und lockige schwarzbraune Haare fielen ihm ins markante Gesicht. Soviel zum blonden Nordvolk.

Es folgten Küsschen hier und Küsschen da ...

Eisig fixierte ich den Typ und knurrte, »Omi, lass uns gehen, der Platzhirsch findet kein Ende!«

Für mich komplett unerwartet drehte sich Gemeinter um und ich blickte in tiefblaue Augen.

»Vaersgo«, sagte er verschmitzt und hielt zwei Softeis mit Schokoladenstreusel unter meine Nase.

Peinlich, dachte ich ertappt, ob er mich etwa verstanden hat? Kopfschüttelnd entnahm Lilly Beck ein Eis, »man könnte meinen, du schläfst am helllichten Tag.«

»Wo ist er hin?«

»Na, gegangen und stell dir vor, bezahlt hat er für uns, unglaublich bei deinem Gezeter!«

»Er hat das Eis bezahlt, zweiunddreißig Kronen?« Peinlich, peinlich ...

»Hast du seine schönen Augen gesehen? Was für ein süßes Schnuckelchen. Irgendwie erinnert er mich sehr stark an Bob Dylan. Hach, drei Jahrzehnte jünger müsste ich sein.«

Lachend entgegnete ich, »du allein hast die schönsten blauen Augen der Welt. Dumm ist, wer auf solch einen Typen reinfällt.«

»Kindchen, ich will ja nicht reinfallen, sondern ihm um den Hals!«

»Oma?«

Das erste Wochenende war vergangen und es traf mich zum Supermarkt zu fahren, um frische Lebensmittel zu besorgen. Eine lange Einkaufsliste und viele Anweisungen waren meine Begleiter. Für mich ist es immer wieder ein spannendes Erlebnis, durch fremde Länder Supermärkte zu streifen. Automatisch vergleicht man Preise und versucht unbekannte Essenswaren zu identifizieren.

Nach und nach hakte ich die Liste ab und schob mit ganzer Kraft den voll beladenen Wagen zur Kasse. Für Sekunden kam ich mir vor, wie die Mutter einer XXL Doku-Familie.

Nach erfolgreicher Pflichterfüllung hatte ich nicht vor, so rasch zum Familienkreis zurück zu kehren. Ein Blick auf die Landkarte und ich entschloss - spontan - die Gegend zu erkunden.

Jeder Kilometer Distanz zu den lieben Angehörigen bedeutet ein Äon an Freiheit für mich.

Von Stege fuhr ich bis Elmelunde und dann links ab in eine Seitenstraße. Ich entdeckte malerische Orte und war fasziniert von den Weizenfeldern und dem saftigen Grün der Wiesen die malerisch vom grauen Himmel abstachen. Kaum ein Haus vor dem nicht ein mit dänischen Flaggen verziertes Tischchen stand, um allerhand Selbstgeerntetes feil zu bieten. Marmeladen, Eingemachtes, frisches Obst, Kuchen, das ich daran nicht gedacht habe, bevor ich zum Supermarkt gefahren bin?

In Spejlsby kaufte ich ein Schälchen Erdbeeren, die süßesten die ich je ohne Zucker gegessen habe. Schwelgend nahm ich die Kurven der Straße, die kaum breiter waren als mein Auto. Im Radio lief Alanis Morissete und ich sang laut mit, »you see all my light and you love my dark ... «

Was meine Musikanlage angeht, besitze ich absolut „High End“. So etwas hätte manch einer gerne im Wohnzimmer.

Der Sommerwind rauschte warm durch meine geöffneten Fenster und ich griff nach einigen Erdbeeren. Eine zermatschte war dabei, ich sah hin und entdeckte aus dem Augenwinkel das Ende der kleinen Landstraße, um rechts nach Udby einzubiegen. Die auf dem Teer aufgemalten weißen Vorfahrtsdreiecke wurden vor meinen Augen riesengroß. Ich bremste. Mein Auto wollte seitlich ausbrechen, eisern hielt ich das Lenkrad fest. Die Räder quietschten doch ich war zu schnell gefahren, um rechtzeitig vor dem Ende der Straße halten zu können. Entsetzt entdeckte ich einen Wagen von links kommend und dann ging alles sehr schnell.