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Fünf Freundinnen bereiten sich auf Weihnachten vor: Es wird gekocht und gebacken, dekoriert und geratscht. Die Frauen teilen Freuden, Genüsse und Sorgen: Ob betrügerische Anrufe, Pannen beim Online-Banking, die leidige Frage nach dem passenden Weihnachtsgeschenk oder die Sorge um Familie und Freunde - immer helfen sie sich gegenseitig, bis Ro einen zerstörerischen Konflikt mit Tamara vom Zaun bricht und ihre jahrzehntelange Freundschaft in Frage steht. Wissen die Freundinnen wirklich alles voneinander?
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Friederike Schmöe
Die Pfefferkuchenfrauen
Ein literarischer Advents-kalender in 24 Geschichten
Geheimnisse im Advent Fünf Freundinnen bereiten sich auf Weihnachten vor. Es wird gekocht und gebacken, dekoriert und geratscht. Die Frauen teilen Freuden, Genüsse und Sorgen: Ob betrügerische Anrufe, Pannen beim Online-Banking, die leidige Frage nach dem passenden Weihnachtsgeschenk oder die Sorge um Familie und Freunde – immer helfen sie sich gegenseitig, bis Ro einen zerstörerischen Konflikt mit Tamara vom Zaun bricht und ihre jahrzehntelange Freundschaft in Frage steht. Wissen die Freundinnen wirklich alles voneinander? Ines versucht, die Clique zusammenzuhalten, während ihr einziger Verwandter und Lieblingscousin Leo sich einer schweren Operation unterziehen muss. Tamara wiederum erträgt von heute auf morgen ihren Job nicht mehr. Ihre Nichte Sina versucht, Ines ihre geliebten Rezepte abzuluchsen und sie als Kochbuch zu vermarkten, was Ines ablehnt. Und Katie hütet ein Geheimnis, von dem auch ihre besten Freundinnen nichts ahnen …
Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Illustration Lutz Eberle mit Elementen von KatyaKatya / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3410-0
Der erste Dezember. Ein Tag, der mit blauem Himmel begonnen hat und sich nun zuzieht. Ich kann dabei zuschauen. Die Wolken fegen über den Himmel und ballen sich zu immer dickeren grauen Knäueln. Wetterballett.
Vor ein paar Tagen hat das Nürnberger Christkind den Christkindlesmarkt mit seinem berühmten Prolog eröffnet. Traditionsgemäß gehe ich mit Fini und Leo am ersten Dezember hin. Da ist noch nicht zu viel los. Je näher Weihnachten rückt, desto mehr Menschen tummeln sich zwischen den Ständen. Gerade, als es anfängt zu graupeln, schlüpfe ich in meine Stiefel. Nur nicht die Pfefferkuchen für Leo vergessen. Er liebt meine Pfefferkuchen. Jedes Jahr backe ich ausschließlich Pfefferkuchen. Sie sind schneller und einfacher zu backen als alles andere. Ich habe eine Schwäche für die mit Mandeln obendrauf. Ohne Zuckerguss. Dafür mit viel Honig und einem Teelöffel löslichem Kaffeepulver drin.
Ich schnappe mir den Stoffbeutel mit dem Weihnachtsproviant für meinen Lieblingscousin und seine Frau. Überprüfe, ob ich die Kerze auf dem Adventskranz tatsächlich ausgeblasen habe. Verlasse das Haus. Der Graupel hat aufgehört. Ich atme tief die feuchtkalte Luft ein, die nach Winter riecht und nach mehr Niederschlag. In den Fenstern der Nachbarn blinkt bereits die Weihnachtsdeko.
Wir treffen uns an der Lorenzkirche. Fini sehe ich schon von Weitem. Sie trägt eine rote Mütze und einen ebensolchen Schal. Sie ist klein, quirlig, fast 20 Jahre jünger als Leo; reicht ihm gerade bis zur Brust. Ein fröhliches Energiebündel.
»Ines!« Sie winkt. »Wir sind hier!«
Als könnte ich die beiden übersehen! Leo ist eine so lange Latte, dass er sich zu mir herunterbeugen muss, um mich auf die Wange zu küssen. Auf dem Rücken trägt er einen Rucksack.
»Du siehst gut aus!« Er betrachtet mich wie ein besonders liebgewonnenes Schmuckstück.
Was man von ihm nicht sagen kann. Er ist fahl im Gesicht, die Wangen sind eingefallen. Er ist krank und er weiß es.
»Wie geht es den Kindern?«
»Gut«, antwortet er, »alle sind gesund. Und was mit mir wird, das werden wir ja sehen.« Er packt mich an den Schultern, hält mich von sich weg. »Schau nicht so erschrocken. Krankheiten fressen einen Alten nicht mehr auf, sie nagen nur noch an ihm. Es gibt Medikamente, Therapien, Hormone, Bestrahlung.«
Ich spüre Finis Blick auf mir. Obwohl ich nicht hinsehe, kann ich förmlich spüren, wie sie die Augen verdreht. Leo hätte sich schon im Sommer einer Operation unterziehen sollen, hat sie jedoch immer wieder hinausgezögert.
»Hier sind die Pfefferkuchen für euch.« Ich reiche Fini meinen Beutel.
»Du bist ein Schatz!« Sie schaut hinein. »Du weißt gar nicht, wie sehr wir deine Pfefferkuchen lieben. Die werden nicht lange vorhalten, was, Leo?«
Mein Lieblingscousin lacht. Als junger Mann lebte er mit seiner Familie eine Weile in den USA. Als Telefonieren noch teuer war und Briefe eine Woche brauchten. Mindestens.
»Weiß du noch, wie du uns Carepakete mit deinen Pfefferkuchen nach Minnesota geschickt hast? Und die tollen bunten Marken auf deinen Briefen? Du hast immer extra farbenfrohe ausgesucht.«
»Sondermarken«, sage ich.
»Ja, Sondermarken.« Er lächelt.
Fini hakt sich bei mir unter. »Lasst uns gehen, es wird kalt, wenn man so dumm herumsteht.« In Wirklichkeit ist sie nervös. Irgendwas in Fini vibriert immer. Als stünde sie unter Strom. Wir spazieren Richtung Hauptmarkt, wandern an den bunt dekorierten Süßigkeitenständen vorbei. Nürnberger Lebkuchen allüberall. Der Exportschlager der Stadt. Zusammen mit den Bratwürsten.
»Die Sachen hier werden jedes Jahr teurer. Unglaublich.« Fini drückt meinen Arm. »Wer soll das noch zahlen? Die Touristen? Die Süßigkeiten schmecken ja lecker, aber deine Pfefferkuchen sind dagegen die Crème de la Crème. Du backst und kochst so gut – hast du nie daran gedacht, beruflich was daraus zu machen?«
»Nein, Fini. Ich habe meine Familie bekocht, bis …«
Der Druck ihrer Hand wird stärker.
»Und dabei belasse ich es.«
»Wie schade, dass du nicht mehr arbeitest.«
Ich zucke die Achseln. Meine frühere Stelle in der Verwaltung eines Gymnasiums hat mich nicht erfüllt. Und später, als der Unfall … Doch ich will nicht über mich reden. Senke die Stimme und flüstere: »Wie geht es mit Leo weiter?«
»Am 10. muss er in die Klinik. Zur Voruntersuchung. Dann heißt es warten. Wahrscheinlich bekommt er noch vor Weihnachten einen Termin für die OP.«
Ich schwitze Angst aus. Ich habe zu viele Menschen verloren. Diesen Cousin will ich nicht hergeben.
»Das geht jetzt wirklich schnell.«
»Sein Arzt hat Tempo gemacht.«
»Was tuschelt ihr zwei denn?« Leo drängt sich zwischen uns. Über uns der Willkommensgruß zum Christkindlesmarkt. Die Dunkelheit bricht bereits herein, von Minute zu Minute glitzert die Weihnachtsdekoration heller. Viele Menschen sind unterwegs, schießen Selfies, essen und trinken etwas. Wir wandern über die Museumsbrücke. Die Stadt funkelt vor Lichtern und Farben. Mir fällt auf, wie lange ich nicht mehr in der Altstadt war. Im Hintergrund thront die Burg, ein Besuchermagnet. Wann habe ich zuletzt dort oben gestanden und auf Nürnberg geblickt? Unser Sohn muss noch klein gewesen sein. Ewig her. Mein Leben ist in Stücke gebrochen, und die Burg steht immer noch.
Fini lässt meinen Arm los. »Ich habe Ines nur von unseren Plänen für Weihnachten erzählt.«
»Weihnachten haben wir immer groß gefeiert mit der Familie, nicht wahr, Fini? Das war was.« Leo zeigt hinüber zum Heilig-Geist-Spital. »Schau, ist das nicht ein erhebender Anblick? Bei Gebäuden ist man vom Alter angetan. Anders als bei Menschen, an denen muss alles möglichst taufrisch sein.«
»Oder gebotoxt.« Fini rammt die Fäuste in die Manteltaschen. »Es war höllisch anstrengend, an Weihnachten alle bei uns zu haben. Dazu meine Schwester mit ihrer Familie. Was für ein Umtrieb! Ich habe fast einen Monat gebraucht, um mich davon zu erholen.«
»Die Kinder sind rührend besorgt«, fährt Leo fort. »Sie wollen, dass wir zu ihnen kommen. Damit wir nichts vorzubereiten haben. Ich habe abgesagt. Bleibe lieber zu Hause, mit Fini. In entspannter Zweisamkeit.«
»Diese Hard-Core-Besuche würden wir gar nicht mehr durchhalten.« Fini schnaubt.
Ich bin überrascht, dass die beiden so schnell und offen von ihren Sorgen reden. Bisher hielten sie mit Leos Krankheit hinter dem Berg. Alles musste ich aus ihnen herauskitzeln.
»Für Fini ist es schwer. Sie hat Angst um mich, will es aber nicht zeigen«, wispert Leo mir zu. »Sie ist mein Fels in der Brandung.«
»Ja, ich kenne sie genauso.« Eine Person, der man Sorgen nicht anmerkt. Die in die Hand nimmt, was getan werden muss. Sich für nichts zu schade ist.
Wir erreichen den Hauptmarkt. Stand an Stand ist hier quasi über Nacht eine kleine Stadt in der Stadt aus dem Boden gewachsen. Weihnachtslieder zirpen aus Lautsprechern. Es duftet nach Glühwein, Orangen, nach Süßem und nach Bratwurst. Alles zugleich. Ich liebe dieses Aroma. Mein Weihnachtsaroma, das ich seit meiner Kindheit kenne.
»Wir sind oft zusammen hergekommen, nicht wahr?« Ich lehne meinen Kopf kurz an Leos Arm. Bis zu seiner Schulter reiche ich nicht hinauf.
»Deine Eltern haben dich nur zum Christkindlesmarkt gelassen, wenn ich dabei war.« Er sagt es so stolz, als sei es eine Ehrenauszeichnung, derjenige zu sein, der auf mich aufpassen musste.
Wir schlendern zwischen den Buden entlang, bereits heute drängen sich die Besucher. Wie jedes Jahr versuche ich zu erraten, wo sie herkommen. Ist es nur die Berühmtheit dieser Kulisse, die sie angelockt hat?
Ich lausche dem Mischmasch an Sprachen und Dialekten, kaufe ein paar Süßigkeiten und Kerzen für den Adventskranz. Fini vergleicht die Zwetschgenmännle an einem Stand. Die schiere Vielfalt bringt mich zum Schmunzeln.
»Was meint ihr: Gitarrist oder Koch?« Sie hält zwei Figuren hoch.
»Der Gitarrist sieht ziemlich nach Hippie aus«, grinst Leo.
»Ja, und? Das Dörrpflaumengeschöpf ist für meine Freundin in Hamburg. Sie spielt Gitarre und kocht gern. Also: Was meint ihr?«
Weder Leo noch ich sind imstande, eine Empfehlung abzugeben. Schließlich kauft Fini beide. Während sie den Geldbeutel aus der Handtasche sucht, sagt Leo eilig zu mir:
»Irgendwie müssen Fini und ich zu einer neuen Stabilität finden. Die Diagnose hat uns ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Du kennst Fini. Sie hat gute Nerven. Aber auf einmal rutschte sie richtig ab. Zum Glück hat sie sich wieder gefangen. Sie strengt sich an. Für mich.«
Fini rutschte ab? Unvorstellbar. Fini hat Kraft für drei.
»Wir brauchen jetzt einfach Klarheit. Wie es weitergeht, verstehst du, Ines?«
Ich nicke, ich verstehe. Klarheit schadet nie. Besser als ein Schlamm aus Vielleichts und Wenns und Danns. Ich will sagen, es tut mir leid für euch, ihr seid so ein tolles Paar. Doch meine Stimme versagt. Angestrengt beobachte ich, wie Fini ihr Wechselgeld einsteckt.
»Ich möchte, dass wir die gemeinsame Zeit genießen.« Leo nimmt seiner Frau die Tüte mit den Zwetschgenmännle ab. Er ist jetzt sehr blass.
»Lasst uns einen Kaffee trinken gehen«, schlage ich vor. Plötzlich bekomme ich Kopfschmerzen. Die Angst um Leo bedrückt mich fast körperlich. Weihnachtsdüfte und Musik sind mir schlagartig zu viel. Ich will aus dem Gedränge raus.
Fini nickt. »Guter Plan.«
Sie lotst uns zu einem kleinen Café an der Pegnitz. Die Scheiben sind beschlagen, es ist knallvoll. Fini gelingt es, einen Tisch ganz hinten für uns zu erobern.
»Meinst du, wir bekommen weiße Weihnachten?«, frage ich Leo. In der Vorweihnachtszeit stellt man solche Fragen. Letztlich habe ich vor langer Zeit aufgehört, mich für das Wetter zu interessieren, es wird ohnehin, wie es wird. Schlagartig ist mir heiß. Nicht nur von dem Getümmel im Café und der abgestandenen Luft. Sondern weil mir erst in diesem Augenblick bewusst wird: Leo kämpft um sein Leben. Dieser Advent, dieses Weihnachten könnte sein letztes sein.
»Ich würde mich freuen, weißt du. Über weiße Weihnachten.« Er nickt mir zu. »Plötzlich sind mir so banale Dinge wichtig. Vielleicht, weil es etwas mit der Stimmung zu tun hat, oder? Hauptsache, die Stimmung passt. Wenn alle gut gelaunt sind, kannst du auftischen, was du willst. Du kannst billiges Bier aus der Flasche trinken. Butterbrote essen. Egal.«
Leo rückt umständlich den Stuhl für mich zurecht. Fini ist schon unterwegs zur Theke, um unsere Bestellung aufzugeben. Leo nimmt den Rucksack ab. Nestelt am Verschluss, bis er endlich eine bunt bedruckte Tüte herauszieht, in der es verdächtig klirrt. Drei Flaschen Rotwein.
»Danke, Leo. Nur: Ich trinke doch nicht.«
»Rotwein trinken ist nicht trinken. Es ist Lebensgefühl. Lade deine Freundinnen ein. Du hast doch so eine nette Clique. Wie habe ich euch früher immer genannt? Die Pfefferkuchenfrauen?«
Ich muss lächeln.
»Ja, das stimmt.«
»Macht euch einen schönen Abend. In diesen Flaschen wartet die Sonne Italiens auf euch.«
»Der Wein stammt von dem Gut, wo ihr ein paarmal Ferien gemacht habt, oder?«
»Ja. Wir hatten wieder einen Urlaub geplant. Nächstes Jahr zu Ostern. Wird wohl nichts mehr werden.«
Er hebt die Hand, als ich widersprechen will. Dabei wirft er mir einen warnenden Blick zu. Fini kommt mit einem Tablett.
Ich trinke meinen Cappuccino in kleinen Schlucken. Will diese gemeinsamen Minuten auskosten. Die Begegnung mit Leo zieht mich in so viele Erinnerungen hinein. Unsere wortlose Verständigung, schon als Kinder. Leo, der Große, ich, die Kleine. Die ihm nacheiferte, ihn bewunderte. Die wie er sein wollte.
Es wird immer voller im Café. Das Stimmengewirr schwillt an, mir tränen die Augen von der trockenen Luft. Als wir aufbrechen, ist Leos Tasse noch halb voll.
Die beiden begleiten mich zur U-Bahn. Leo ist müde, hat Schwierigkeiten, die Augen aufzuhalten. Ich drücke ihn so lange, wie ich es gerade noch schaffe, ohne zu weinen anzufangen.
Sie winken mir nach, als ich die Rolltreppe hinunterfahre, die schwere Tüte mit den Weinflaschen in der Hand. Die Bahn fährt ein. Ich setze mich auf einen frei werdenden Platz, greife nach dem Handy und checke meine Nachrichten-Apps. Brauche Ablenkung, eine Erdung meiner Gedanken weit weg von Leo. Ich will ihn vergessen, nur für ein paar Minuten, bis ich zu Hause bin, wo ich ungestört weinen kann. Doch was ich da lese, bringt mich erst recht zum Verzweifeln. Kriege, Anschläge, Hungersnöte, Umstürze. Ich stecke das Handy weg. Ein kleiner Junge sitzt mir auf dem Schoß seiner Mutter gegenüber. Sie studiert einen Kassenbon, er mein Gesicht. Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen.
Na also. Geht doch.
Tamara klingelt. Wie üblich drückt sie zweimal ganz kurz auf den Klingelknopf. Ihr Zeichen. Ich sehe ihr zu, wie sie leichtfüßig die Treppe heraufkommt. Tamara ist jemand, der Ruhe und eine stets gleichbleibende Freundlichkeit mitbringt. Alle sind eingenommen von ihrem leisen, verhaltenen Lächeln.
»Komm rein, meine Liebe.«
Wir küssen uns auf die Wangen. Ich nehme ihr den Mantel ab. Sie streift die Mütze vom Kopf und fährt sich durch das stoppelkurze Haar, bevor sie mir in die Küche folgt.
Dort legt sie ihre Tasche auf die Küchenbank. Ihre riesige, bauchige, mit goldenen Tressen besetzte Tasche aus weichem Lederimitat. Wir Mädels fragen uns, was sie darin transportiert. Tamara ist vernarrt in Taschen. In Rucksäcke, in Aktenmappen. Sie besitzt eine schier unendliche Sammlung. Katie meint, es könnte damit zusammenhängen, dass es ihr wichtig ist, einen Teil ihres Besitzes immer bei sich zu haben.
»Du machst dir keine Vorstellung, was heute im Kindergarten los war!« Sie fischt eine Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche. »Ich meine, ich bin die Leitung. Ich muss es ja wissen. Und da gibt es Kinder, mit denen kannst du nichts anfangen. Da kommt alle Pädagogik zu spät. Die sind so daneben. Und die Eltern erst! Ich meine, den Kindern kannst du den Wahnsinn ja nicht anlasten. Hast du Kaffee?«
Klar habe ich Kaffee. Ich habe immer Kaffee. Kaffee ist die Komponente meines Haushalts, die unter Garantie nicht ausgeht. Niemals. Und weil ich gern Milch im Kaffee habe, geht mir auch die Milch nicht aus.
»Warte kurz.« Ich schalte den Wasserkocher ein. Während das Wasser heiß wird, stelle ich einen Teller mit Pfefferkuchen vor Tamara hin. Die bereits ladylike an ihrem Glimmstängel zieht. Ihre Miene hellt sich auf.
»Wahnsinn, meine Lieblingsvariante. Einfach nur mit Mandeln obendrauf. Kein Schnickschnack. Ines, du bist einzigartig.« Sie bricht ein Stück ab, schiebt es sich in den Mund. »Mmmm, köstlich. Sind ganz frisch, oder? Wann hast du gebacken?«
»Vorgestern. Du weißt, Leo und Fini bekommen jeden Advent eine Tüte Pfefferkuchen von mir.«
»Wie geht es Leo?«
»Er wartet auf seine OP.«
Wir schweigen beide kurz. Aus Pietät vielleicht, weil man nicht so locker zum Aufreger des Tages zurückkehren kann, wenn jemand um sein Leben kämpft.
»Wusstest du, dass er uns ›die Pfefferkuchenfrauen‹ nennt?« Ich zünde die Kerze auf dem Adventskranz an.
»Wirklich?«
Mit ihren warmen Augen mustert sie mich. Ich gieße den Kaffee auf. Ihr Blick macht mich nervös. Sie durchschaut mich leicht, ich fühle mich dann nackt und ausgesetzt und bin bereit, zu flüchten. In ein anderes Thema, ein neues Gespräch. Irgendeine belanglose Konversation, die möglichst nichts mit mir zu tun hat.
Als der Kaffee in Tamaras Tasse dampft, sie Zucker hineinstreut und rührt, greift sie das Tagesthema wieder auf.
»Da ist so ein kleiner Rabauke. Ted. Ein Bürschchen, sage ich dir. Keine vier Jahre und schon der Gangsterboss. Was willst du da machen? Keine Erziehung. Was die Eltern ihrem Sprössling vorleben, weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen. Ich sehe nur die Früchte ihres Tuns beziehungsweise Nichtstuns. Heute also pinkelt Ted auf ein anderes Kind. Auf Vincent. Das ging so: Vincent ist hingefallen. Er hat daraus ein großes Trara gemacht, damit auch jeder merkt, wie sehr er leidet. Dabei ist – natürlich – nichts passiert.« Tamara leert ihre Tasse in einem Zug.
Ich staune, wie sie es schafft, so schnell zu reden, zu trinken, zu essen und zu rauchen.
»Na ja, und wie Vincent so vor ihm liegt, macht unser Ted die Hose auf und …« Tamara hebt beide Hände, sieht mich an, als wollte sie fragen: Genügt das? Brauchst du noch mehr?
»Um Gottes willen!«
»Du sagst es.«
»Und ausgerechnet Vincent …«, murmele ich.
»Genau. Der Enkel von unserer Ro. Muss ich etwas hinzufügen? Muss ich das, Ines? Stefanie, ihre Schwiegertochter, hat vorhin beim Abholen eine Riesenszene gemacht. Wir haben uns natürlich um Vincent gekümmert, ihn getröstet, die Kollegin hat sich den kleinen Rüpel vorgeknöpft. Wir haben Vincent neue Sachen angezogen und die alten in die Waschmaschine geworfen, die waren noch im Trockner, als seine Mutter ihn abholen kam. Sie hat sofort den Säbel gezückt. Ist auf mich losgegangen wie eine Furie. Sie hat dermaßen geschrien, dass ihr die Tränen aus den Augen gespritzt sind. Gespritzt, sage ich dir. Ich konnte sie überhaupt nicht mehr beruhigen. Es war nicht möglich, ein Gespräch mit ihr zu führen. Sie will mich verklagen, denn ich bin für diesen Kindergarten verantwortlich, in dem manche Bälger ihre vulgären, kranken, pathologischen – das hat sie gesagt, Ines, pathologischen – Neigungen ausleben. Meine Güte, diese Frau ist nicht sauber. Von allen guten Geistern verlassen. Ich weiß ja, dass Ro sie nicht mag, sie verabscheut ihre Schwiegertochter. Den Jungen allerdings vergöttert sie.«
Ich unterdrücke ein Lächeln. Ro und Tamara gehören zu meinen ältesten Freundinnen. Ich kenne sie durch und durch. Wir haben als Studentinnen in den Bergen gecampt, sind per Autostopp durch Europa gegondelt und haben uns in allen Ferien mindestens einmal schockverliebt. Nichts kann uns trennen.
»Tja, und deshalb … ich bin gespannt, wie Ro das sieht. Ob sie vorsichtig auf ihre durchgedrehte Schwiegertochter einwirkt, damit man vernünftig mit ihr reden kann, oder ob sie sich gleich auf ihre Seite schlägt. Was meinst du? Ich tippe auf Letzteres. Das wird lustig. In dem Fall wird Ro mich so klein mit Hut sehen wollen.« Tamara hält Daumen und Zeigefinger ungefähr einen halben Zentimeter auseinander. »Verdammt, Ines, ich habe richtig Bammel davor.«
»Du kannst doch nichts dafür. Ich meine, das ist keine Lappalie, aber Kinder machen nun mal Blödsinn.«
»Ich leite den Kindergarten, und das hat dieser Hyäne genügt, um mich zur Schnecke zu machen. Sie war drauf und dran, ein paar Stücke Fleisch aus mir rauszureißen, glaub mir, Ines.«
Tamara stippt ihre Kippe in den Aschenbecher und redet eifrig weiter. Sie ist eine unterhaltsame Frau, die Qualitäten als Entertainerin mitbringt. All ihre Geschichten sind gleichzeitig lustig und traurig, verrückt und tiefgründig. Keine Anekdote, die nicht auch eine wichtige Frage aufwerfen würde. Tamaras Erzählungen sind das, was man im Amerikanischen »a good story« nennt.
»Ich musste sie von Teds Mutter trennen, die wenige Minuten später aufgekreuzt ist. Das war wie ein Boxring. Anders kann man diese Situation nicht nennen. Womöglich hätte ich sie aufeinander losgehen lassen sollen. Dann hätten wir jetzt zwei Waisenkinder mehr auf der Welt.«
»Halbwaisen.«
Tamara winkt ab. »Pah! Wer braucht denn Väter! Schau dir Ros sauberen Sohn an. Glänzt durch Abwesenheit. Und der Erzeuger von diesem Ted ist auch hinter jedem Rock her, wie man so hört. In unserer Stadt bleibt nichts verborgen, Ines. Hast du noch Pfefferkuchen?«
Ich reiche ihr die Dose und frage mich, ob Tamara desillusioniert ist. Oder nur realistisch.
»Ich denke, du solltest noch einmal backen, meine Liebe.« Tamara schnappt sich den letzten Pfefferkuchen. »Wir treffen uns doch am Nikolaustag bei dir? Wir alle? Wie immer? Bevor es ernst wird mit den Vorbereitungen? Keine von uns möchte die liebe Familie schließlich an Weihnachten darben lassen.«
Ich stehe auf, hole eine weitere Keksdose aus dem Schrank.
»Pfefferkuchen habe ich genug. Schau mal. Und ja, das Nikolaustreffen findet statt. Wie jedes Jahr.«
Auftritt Ro. Sie hat mich gestern angerufen, kaum dass Tamara in die Winternacht entschwunden war, um mir alles über die Demütigung zu erzählen, die ihr Enkel Vincent in Tamaras Kindergarten erlitten hat. Heute erscheint Ro persönlich.
Die Wohnungstür fliegt auf und sie schreitet herein. Eine Diva, die sich in einen dunkelblauen Poncho gehüllt hat, weil es draußen windig ist und der Wind vielleicht Schnee mitbringt. Um ihren Kopf hat sie ein gelbes Tuch geschlungen. Gelb ist Ros Lieblingsfarbe. Wann immer ich verreise, bittet sie mich, ihr etwas in Gelb mitzubringen.
