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Die drei Motive skeptische Denkhaltung, Phänomen des Absurden und Depression stehen in einem starken - und bisher wenig beachteten - Zusammenhang. Dieser wird sowohl in wissenschaftlichen Untersuchungen als auch tagtäglich in Literatur, Film und Fernsehen, Spielen oder der Musik reproduziert. Als Wirkung dieses Zusammenhanges bedingen und verstärken sich die drei Motive gegenseitig, was Auswirkungen auf unseren Umgang mit ihnen hat. So suchen viele Literaturschaffende und Philosophierende - allen voran Albert Camus - in ihren Werken nach Lösungen für das "Problem" des Absurden, während im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie an "Heilungsansätzen" für die Depression geforscht wird. Die Problematik bei diesen Bestrebungen ist, dass dabei die skeptischen Ursprünge und Zusammenhänge der Motive zu selten in den Blick kommen, weshalb viele der bisher formulierten Ansätze hinterfragt und dekonstruiert werden müssen. Denn nur unter Einbezug dieser Faktoren können sowohl die Motive - für sich genommen - als auch der menschliche Wunsch nach "Lösungsansätzen" für das Absurde und die Depression umfassend verstanden sowie neue Ansätze entwickelt werden.
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Die drei Motive skeptische Denkhaltung, Phänomen des Absurden und Depression stehen in einem starken – und bisher wenig beachteten – Zusammenhang. Dieser wird sowohl in wissenschaftlichen Untersuchungen als auch tagtäglich in Literatur, Film & Fernsehen, Spielen oder der Musik reproduziert. Als Wirkung dieses Zusammenhanges bedingen und verstärken sich die drei Motive gegenseitig, was Auswirkungen auf unseren Umgang mit ihnen hat.
So suchen viele Literaturschaffende und Philosophierende – allen voran Albert Camus – in ihren Werken nach Lösungen für das „Problem“ des Absurden, während im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie an „Heilungsansätzen“ für die Depression geforscht wird. Die Problematik bei diesen Bestrebungen ist, dass dabei die skeptischen Ursprünge und Zusammenhänge der Motive zu selten in den Blick kommen, weshalb viele der bisher formulierten Ansätze hinterfragt und dekonstruiert werden müssen.
Denn nur unter Einbezug dieser Faktoren können sowohl die Motive – für sich genommen – als auch der menschliche Wunsch nach „Lösungsansätzen“ für das Absurde und die Depression umfassend verstanden sowie neue Ansätze entwickelt werden.
Jan-Lukas Malkus wurde 1997 in München geboren und wuchs in der Nähe von Bremen auf. Er beschäftigt sich seit seiner Jugend mit der Philosophie des Absurden, Camus und der Depression. Nach dem Abitur studierte er Philosophie – Neurowissenschaften – Kognition in Magdeburg, um danach sein Bachelorstudium der Geographie in Bremen abzuschließen.
Derzeit studiert er den Master Geoinformatik in Osnabrück, beschäftigt sich jedoch auch weiterhin mit Themen der Philosophie und Psychologie.
Vorwort
Skepsis als ein Leitmotiv des modernen Denkens
Eine kleine Einführung in die europäische Geistesgeschichte und Philosophie
Das skeptische Denken als Resultat von Motivation, Kapazitäten und freier Zeit
Die Motivation
Kapazität Skepsis und freie Zeit
Der Skeptizismus
Eine kurze Geschichte des Skeptizismus
Antike Skepsis
Allgemein
Die pyrrhonische Skepsis
Neuzeit
20. Jahrhundert
Gegenwärtige Einflüsse des skeptischen Denkens
Religion und Glaube
Bildung und Wissenschaften
Exkurs: Das skeptizistische Paradigma als Meta-Paradigma?
Die skeptische Denkhaltung
Von der Skepsis zum Absurden
Ursprünge in der Existenzphilosophie
Absurde Denker
Albert Camus
Das Absurde bei Camus
Camus als skeptischer Denker
Thomas Nagel
Die Philosophie des Absurden
Das Gefühl des Absurden
Das absurde Leben
Gesellschaftliche Auswirkungen
Vom Skeptizismus und dem Absurden zur Depression
Die Depression
Depression als psychische Erkrankung
Psychologische Ursachen der Depression
Lebensbedingungen
Burn-out
Psychologische Krankheitsmodelle
Lernpsychologie
Depressiver Realismus
Erscheinung Depression
Die Depression im absurden Werk und Denker
Søren Kierkegaard
Albert Camus
Der glückliche Tod
Caligula
Der Mythos des Sisyphos
Der Fremde
Die Pest
Der Mensch in der Revolte
Der Fall
Betrachtungen zur Todesstrafe
Der erste Mensch
Zusammentragung
Vom Phänomen des Absurden zur Erscheinung der Depression
Direkte Verbindungen zwischen der skeptischen Denkhaltung und der Erscheinung Depression
David Hume
Unsere Lebensumstände
Familiäre und gesellschaftliche Bindungen
Berufliche Bindungen
Entfremdung
Enttäuschung und Überforderung
Technologischer Wandel und Informationsflut
Die Erscheinung Depression
Die Schutzmechanismen
Peter Wessel Zapffe und die Schutzmechanismen
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Isolation
Verankerung
Zerstreuung/Distraktion
Sublimation
Kapitel IV
Kapitel V
Über die Schutzmechanismen im Allgemeinen
Die wechselseitigen Zusammenhänge der Motive und ihre Repräsentation in der (Pop-)Kultur
Videospiele
Assassin’s Creed
The Stanley Parable
Serien
Star Trek und der Skeptizismus
Fargo und das Absurde
Tote Mädchen lügen nicht und die Depression
Literatur
Nichts (Was im Leben wichtig ist)
Friedrich Nietzsche
Warten auf Godot
Andere
Filme
Akteure
Stanley Kubrick
Woody Allen
Filmbeispiele
Inception
Matrix
Weitere Filmbeispiele
Weitere Kunstformen
Bildende Kunst
Musik
Sog
Gipfelkreuz
Podcasts
Zusammenfassung
Exkurs: Die Wechselseitigkeit der Motive im (absurden) Leben
Dekonstruktion der Lösungsansätze
Relevanz der Schutzmechanismen zur Beurteilung der Lösungsansätze
Relativierung der Lösungsansätze
Lösungsansätze bei Albert Camus
Erste Phase
Zweite Phase
Dritte Phase
Lösungsansätze bei Peter Wessel Zapffe
Lösungsansätze bei Friedrich Nietzsche
Lösungsansätze der Psychotherapie
Lösungsansätze in Literatur, Kunst, Kultur und deren Konsum
Weitere Beispiele
Konsum von Literatur und Kunst
Lösungsansätze im alltäglichen Leben
Urbane Lebensphilosophien und Identitätsstiftung
Romantisierte Naturzustände
Wissenschafts- und Zukunftsgläubigkeit
Reichtum und finanzielle Unabhängigkeit
Drogen
Rechtspopulismus und Verschwörungserzählungen
Die Liebe
Zwischenfazit
Lösungsansätze bei Thomas Nagel
Konklusion
Zusammenfassung
Exkursion: Fermi-Paradoxon
Die letztliche Ungewissheit
Bisherige Erkenntnisse
Nagels Lösungsansatz
Skeptische Selbsthinterfragung
Skeptische Hinterfragung der drei Motive und der Schutzmechanismen
Skeptische Hinterfragung der skeptischen Selbsthinterfragung
Mögliche Reaktionen der Lesenden
Schluss
Danksagung
Literaturverzeichnis
Dieses Werk stellt sich dem Versuch, drei – für das Leben des modernen Menschen wesentliche und bisher doch wenig zusammen behandelte – Motive in einen gemeinsamen Kontext zu bringen. Bei diesen drei Motiven handelt es sich um die Denkhaltung der Skepsis, das Phänomen des Absurden und die Erscheinung der Depression. Dabei soll aufgezeigt werden, dass zwischen diesen Motiven ein enger Zusammenhang besteht, welcher jedoch in dieser Form und diesem Umfang noch nicht beschrieben worden ist. Wann immer hier von den drei Motiven gesprochen wird, sind eben diese damit gemeint.
Namentlich mag dieses Buch zwar in der Tradition der Philosophie des Absurden von Albert Camus stehen, jedoch wird es inhaltlich über ihn und sein Schaffenswerk weit hinausgehen. Unter anderem werden Camus’ Vordenker, seine Kritisierenden und moderne Ansätze aus dem Bereich der Philosophie aufgegriffen, um ein umfassenderes Bild des Phänomens des Absurden zu zeichnen. Außerdem sollen Verbindungen zur philosophisch-erkenntnistheoretischen Haltung der Skepsis gezogen und schließlich deren Wirkungen in der psychologischen Erscheinung der Depression und des Suizids beleuchtet werden.
Ausgehend von dieser Argumentation und der Theorie der Schutzmechanismen nach Zapffe werden zudem verschiedenste Lösungsansätze für das „Problem des Absurden“ und die Depression dekonstruiert. Auch sollen die drei Motive und die Schutzmechanismen nicht nur in einer logischen Reihenfolge behandelt, sondern in ihren – medial und (pop-)kulturell repräsentierten – Zusammenhängen aufgedeckt werden.
Da sowohl das Absurde (wie bereits Camus anmerkte) als auch die Depression jeden Menschen betreffen können, setzt das Werk keine Vorkenntnisse der Philosophie, Psychologie oder ihrer Fachbegriffe voraus, um es möglichst vielen Lesenden1 zu ermöglichen, die zugrundeliegende Argumentation zu verstehen. Sollte einmal die Verwendung von Fachtermini (Fachbegriffen) nicht vermeidbar seien, so werden diese – kurz aber verständlich – erklärt werden (zum Beispiel in Klammern, wie gerade geschehen). Die bereits in einem (oder mehreren) der behandelten Felder bewanderten Lesenden mögen mir dies an den gegebenen Stellen verzeihen. Es ist mein Ziel, sowohl Laien als auch (in den dargestellten Themengebieten) Fortgeschrittene von meinen Thesen zu überzeugen oder diese doch zumindest verständlich darzulegen.
Aus alledem folgt zudem, dass dieses Werk nicht den Anspruch verfolgt, den Standards einer wissenschaftlichen Arbeit in einem der angeschnittenen Fachgebiete zu genügen, auch wenn es an sich eine wissenschaftliche Untersuchung darstellt. Es wird an vielen Stellen dieses Werkes Vereinfachungen und leicht verständliche Beispiele geben, um den Zusammenhang der behandelten Motive besser sichtbar zu machen. Den interessierten Lesenden sei dabei immer empfohlen, sich weitergehend zu informieren, sofern ein vertieftes Interesse für das Behandelte entsteht. Dies kann dazu beitragen, ein noch stärkeres Verständnis für die von mir beschriebenen Zusammenhänge zu bekommen.
In dieser Welt ist es nicht möglich, eine These aufzustellen, ohne dass diese binnen kurzer Zeit eine Vielzahl von Kritisierenden um sich schart, welche sie auf vielfältigste Weise zu widerlegen versuchen. Von vielen wird diese Relativität und Diversität des Denkens als großer Fortschritt angesehen, anderen wiederum bereitet ebendies die größten Kopfschmerzen. Natürlich kann auch dieses Werk nicht gegen vielfältigste Widerlegungsversuche gefeit werden, da es bestimmte Grundannahmen impliziert, ohne die es wenig Sinn ergeben würde, es überhaupt zu verfassen. Gleichzeitig sind es aber genau diese Annahmen, welche mein Werk und seine Thesen – die vermutlich jedes Werk und alle Thesen, welche jemals aufgestellt worden sind – angreifbar machen.
Die drei womöglich wichtigsten dieser impliziten Grundannahmen werden hier im Folgenden genannt. Auf diese Weise lernen Sie als eine Art Einstieg bereits einen wichtigen Aspekt dieses Werkes – die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen und die Auswirkung dieser Frage auf unser Gefühl für die Sinnhaftigkeit des Lebens – besser kennen.
Für die Dauer dieses Werkes existieren Sie und ich im selben Gesamtsystem als voneinander verschiedene und denkende Individuen, die jedoch über bestimmte allgemeine Begrifflichkeiten miteinander in Austausch treten können.
Für die Dauer dieses Werkes funktionieren und denken Sie und ich in ähnlicher, vielleicht gleicher Weise.
Für die Dauer dieses Werkes verwenden Sie und ich dasselbe – unter Umständen durch eine übersetzende Person gemittelte – Schriftsprachsystem und sind daher in der Lage, einander zumindest überwiegend zu verstehen.
So banal diese Annahmen auf den ersten Blick erscheinen mögen, so grundlegend und wichtig sind sie, um unserem gesamten Handeln einen Sinn zu verleihen, denn:
Wie sinnvoll würde Ihnen ihr Leben vorkommen, wenn sie den ständigen Verdacht hegten, in einer simulierten Welt zu leben – ohne Wissen, ob es dort draußen nicht noch eine „bessere“ und „realere“ Welt gibt?
Wozu – für wen – sollten Sie weiterleben wollen, wenn Sie das einzige denkende Lebewesen auf der Erde, vielleicht im gesamten Universum wären; also komplett allein?
Wann und wie schnell würde die Verzweiflung Ihr gesamtes Denken übernehmen, wenn Sie zwar wüssten, dass es außer Ihnen noch andere intelligente Lebewesen gäbe, Sie jedoch niemals mit diesen in Kontakt treten – sie also mit keinem Ihrer Sinne wahrnehmen oder durch sie wahrgenommen werden – könnten?
Warum sollten Sie die Mühe auf sich nehmen, einem anderen Lebewesen – welches jedoch völlig anders funktioniert und denkt, als Sie – all Ihre Gedanken und Gefühle mitzuteilen; so als wäre Ihr einziger Freund ein Baum oder ein Pilz?
Was würden Sie tun, wenn sie keinerlei Möglichkeit hätten, mit den anderen Menschen zu kommunizieren; ähnlich wie beim Turmbau zu Babel?
Bereits eines dieser Szenarien würde die meisten Menschen früher oder später in den Wahnsinn und/oder Selbstmord treiben. Gleichzeitig sind es genau diese (und viele andere) Fragen und Möglichkeiten, welche die Philosophie seit Jahrhunderten bewegen und welche bis heute als nicht endgültig geklärt gelten. Warum also, ließe sich fragen, ist die Anzahl der Menschen auf diesem Planeten seit Jahrtausenden im stetigen Wachstum begriffen, wenn wir nicht ausschließen können, dass zumindest eine der oben genannten Annahmen auf unsere Welt zutreffen könnte; dass womöglich eines der Szenarien so oder so ähnlich die Wirklichkeit repräsentiert?!
Die Antworten auf diese Fragen mögen so zahlreich sein wie die Menschheit selbst, doch seien hier ein paar allgemeine Gründe genannt: So mag es Menschen geben, die niemals auf diese Fragen stoßen und solche, welche ihnen keine Bedeutung beimessen. Außerdem solche, die darauf spekulieren, dass schon alles so sein möge, wie es Ihnen vorkommt und solche, welche glauben und sich mithilfe dieses Glaubens die Welt erklären.
All diese vorgenannten Ansätze mögen aus einer biologischen Perspektive von einem gesunden und natürlichen Selbsterhaltungstrieb zeugen. Doch gibt es einige Menschen, die zeit ihres Lebens immer wieder auf diese grundlegenden Fragen zurückgeworfen werden und zum Teil auch versuchen, sie zu beantworten. Einige dieser Personen – und vor allem ihre Werke – sollen in diesem Buch behandelt werden. Dabei richtet sich dieses Werk jedoch nicht nur an solche Menschen, sondern an alle Interessierten.
Weitergehend sei an dieser Stelle auch noch auf zwei sprachliche Besonderheiten hingewiesen, welche Ihnen im folgenden Werk des Öfteren begegnen werden. So ist mit dem Wort reflektiert ein tiefschürfendes Denken, Überlegen und prüfendes Betrachten gemeint. Eines, welches sich nicht mit der erstbesten Erklärung zufriedengibt, sondern immer weiter bohrt. Es ist die Fähigkeit, das eigene sowie das fremde Denken und Wahrnehmen zu hinterfragen. Somit kann es auch die Beschäftigung der denkenden und wahrnehmenden Person mit sich selbst – also ihrem „Geist“ oder Gehirn – sein. Zu vergleichen ist dies mit einem Kind, welches immer wieder „Warum?“ fragt, bis seine Eltern vor Wut rasen, vor Ratlosigkeit verstummen oder es an andere Stelle verweisen.
Häufig in Kombination mit diesem Wort wird der Begriff differenziert fallen. Auch dieser bezieht sich auf eine Art zu denken. Jene nämlich, die alle Möglichkeiten und Unmöglichkeiten mit einzubeziehen versucht und darauf abzielt, ein möglichst breites Spektrum an Antworten zu liefern, ohne jedoch allzu bewertend vorzugehen oder eine der Lösungen als die einzig Richtige herauszustellen.
Die Kombination aus beiden Wörtern – ein reflektierter und differenzierter Geist, also einer, der bei der Suche nach Antworten sowohl in die Tiefe als auch in die Breite gräbt, stellt für mich ein gewisses Lebens- und Denkideal dar, weshalb dieses Werk in Tradition jenes Ansatzes gestellt wird: Alle vorangegangenen und folgenden Ausführungen sind nur eine Möglichkeit der Interpretation unserer Welt, unseres Denkens und Fühlens.
Trotzdem versuche ich „natürlich“, die Lesenden von meinen Standpunkten und Argumenten zu überzeugen. Gleichwohl ergibt es Sinn, auch diese als relativ zu begreifen. Denn dieses Werk ist nicht der Versuch, eine neue Weltdeutung auf Basis des skeptischen Denkens zu errichten, sondern eine neuartige Argumentationskette zu verfolgen. Diese Argumentationskette zielt darauf ab, einige neue Stand- und Blickpunkte in Teilaspekten der Philosophie (des Absurden), der Psychologie und in der Rezeption des Werkes von Albert Camus zu erzeugen, sie dabei jedoch in die Reihe mit den bereits vorhandenen und noch kommenden Interpretationsweisen zu stellen, ohne eine letztliche Bewertung vorzunehmen. In diesem Sinne sei den Lesenden empfohlen, an jeden Satz dieses Werkes ein Wort der Relativierung anzuhängen, vielleicht…
Auch zu einem weiteren Wortkonstrukt, welches häufiger vorkommen wird, sei hier noch etwas gesagt: Wann immer Sie über westlich geprägte Staaten oder eine ähnliche Formulierung stolpern mögen, so bedenken Sie bitte Folgendes: Mir ist bewusst, dass solcherlei Abgrenzungen konstruiert und die „Grenzen“ fließend sind. Trotzdem lassen sich gewisse relative Unterschiede feststellen. Wenn also von einer westlich geprägten Welt gesprochen wird, so ist kein klar umrissener Raum, sondern relative Unterschiede und gedanklich konstruierte Räume fluider Ausmaße gemeint. Diese – von mir als westlich geprägt bezeichneten – Räume lassen sich in vielen Fällen als durch die antike griechische Philosophie, die moderne „westliche“2 Lebensweise sowie durch eine Art von kapitalistischer Wirtschaft und demokratisierter Politik charakterisiert beschreiben.
Schlussendlich sei noch etwas zu meiner Motivation gesagt, dieses Buch überhaupt zu schreiben. Diese liegt im folgenden Ansinnen begründet: Ich möchte versuchen, das Gefühl des Absurden – ausgelöst durch die gefühlte Relativität des menschlichen Denkens und Lebens – mir selbst und anderen erträglicher oder doch zumindest verständlicher zu machen. Da ich während der Recherche für dieses Buch nie auf ein Werk gestoßen bin, welches dies auf jene Weise vermag, wie ich es hier vorhabe, mag meine Motivation auch in dem Wunsch begründet sein, etwas Neues zu erschaffen, dem (sowohl im Schaffensprozess als auch im letztlichen Ergebnis) eine gewisse Sinnhaftigkeit innewohnt. Worin jedoch wiederum diese Motivation begründet liegt, ließe sich wohl erst gegen Ende dieses Werkes erklären.
1 Die dieses Werk verfassende Person vertritt die Auffassung, dass eine Erweiterung des bestehenden Schubladendenkens in Genderfragen dem eigentlichen Ziel der Gender-Bewegung im Wege steht. Vielmehr sollten bestehende und neue Schubladen abgeschafft werden, um alle Vorurteile – auch innerhalb des etablierten binären Gendersystems – abzubauen. Aus diesem Grund werden in diesem Werk nach Möglichkeit neutrale Formulierungen gewählt, um alle Menschen und intelligenten Lebensformen mit einzubeziehen.
2 Wie Sie sehen, kommen wir an bestimmten Stellen nicht um diese Begrifflichkeiten herum.
Das nun folgende Kapitel wird sich mit dem beschäftigen, was im Vorwort als Denkhaltung der Skepsis betitelt worden ist. Hierzu wird es zunächst einen kleinen Einblick in die europäische Geistesgeschichte und Philosophie geben. Dann folgt ein Überblick zu den bisherigen skeptischen Ansätzen und zum Ende wird aufgezeigt, weshalb das zeitgenössische Denken der westlich geprägten Staaten auf der Denkhaltung der Skepsis basiert und welche Auswirkungen dies hat.
Da in diesem Kapitel vor allem Grundlagen gelegt werden, kann es bisweilen etwas langwierig erscheinen. Seien Sie jedoch versichert, dass diese Grundlagen für das Verständnis der weiteren – deutlich lebensnäheren und dem Titel dieses Werkes entsprechenderen – Kapitel wichtig sind.
Die europäische Geistesgeschichte – diese Begrifflichkeit fasst die Entwicklung von religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Ideen auf dem Gebiet Europas zusammen – gilt als die prägende Entwicklungsgeschichte der sogenannten westlichen Welt. Somit ist sie der Ausgangspunkt vieler Denkansätze, welche bis heute großen Einfluss auf unser tägliches Leben haben. Als ihr Ursprung wird zumeist das antike Griechenland genannt, in dem erstmals auf europäischem Boden damit begonnen wurde, Gedanken und Ideen mithilfe der Schrift systematisch an die Nachwelt weiterzugeben.
Das Denken dieser Zeit, insbesondere vor Sokrates (welcher im 5. Jahrhundert vor Christus lebte), war lange nicht so differenziert wie heute. Religion, Literatur, Kunst, Philosophie und erste wissenschaftliche Entdeckungen wurden noch – mehr oder weniger harmonisch – zusammen behandelt. Erst später lösten sich einzelne Disziplinen von diesem bunten Fachgemenge ab und bildeten – in institutionalisierter Form repräsentiert durch die Fakultäten und Institute an den Universitäten – die heute bekannten wissenschaftlichen Fachbereiche.
Einige Vertretende des Faches der Philosophie, welchem heute nur noch geringe Aufmerksamkeit zukommt, sehen dabei ihr Fach (die Philosophie) als den Kern dieses ehemaligen Fachgemenges – und somit als Mutter aller Wissenschaften – an.3 Doch ob dem nun so sei oder nicht, Fakt ist, dass seit Anbeginn der schriftlichen Aufzeichnung von Gedanken, Ideen und Problemstellungen im antiken Griechenland auch immer große philosophische Fragen gestellt wurden, über deren Beantwortung bis heute diskutiert wird. So gab es auf die Frage danach, was Wissen ist und ob es überhaupt zu erlangen sei, seit dieser Zeit ein breites Spektrum von Antwortmöglichkeiten, über die in der Philosophie bis heute gestritten wird.
Demgegenüber wähnen und wähnten sich viele andere Forschende den Fragen ihrer Zeit gegenüber als gut informiert. Zum Beispiel wurde die Frage danach, woraus denn die Welt um uns bestehe und welche ebenfalls schon im antiken Griechenland gestellt worden war, eine Zeit lang voller Überzeugung mit „aus Atomen“ beantwortet. Eine aus heutiger Sicht unzureichende Antwort. Die für Mensch und Umwelt verheerenden Zündungen von Atom- und Wasserstoffbomben untermauerten diese Aussage zu einer Zeit, in der es gängige Praxis war, (politische) Fragen und Probleme einseitig und ideologisch anzugehen.
Seit Mitte des letzten Jahrhunderts lässt sich jedoch eine zunehmende Wende in den meisten (wissenschaftlichen) Fragen und Fachdisziplinen hin zu immer komplexeren und differenzierteren Ansätzen beobachten. So hat zum Beispiel die Diskussion darüber, ob unsere Welt aus Strings oder Wellen aufgebaut oder womöglich nur ein Hologramm oder eine Simulation sei,4 längst die Popkultur – und somit das allgemeine Bewusstsein – erreicht.
Wie es überhaupt zur Ausdifferenzierung und immer weitergehenden Spezialisierung unserer modernen Denk- und Arbeitswelt5 kommen konnte und wie uns dies zu den Problemen des 21. Jahrhunderts geführt hat, ist ein Umstand, welcher im Folgenden hinterfragt und erklärt werden soll.
An den Anfang der europäischen Philosophiegeschichte zurückgekehrt, stellt sich zunächst die Frage, was einige der alten Griechen dazu bewegt haben könnte, ihre Götter und den – in ihrer jeweiligen Heimat praktizierten – Glauben zu hinterfragen? Diese Frage lässt sich auch auf heute übertragen: Warum stellen sich Forschende aller Welt – seien sie nun aus der Biologie, Physik oder Philosophie – immer wieder neuen Fragen, die es zu beantworten gilt?
Meine Antwort auf diese Fragen ist: Ich weiß es nicht. Natürlich ließe sich nun ein Kapitel lang exemplarisch darüber nachsinnen, was meine Motivationen dafür waren, dieses Werk zu schreiben. Jedoch würde dies die Frage nur aus meiner subjektiven Sicht beantworten und uns in Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung wohl kaum weiterbringen. Eine allgemeingültige Beantwortung dieser Frage mag schwerlich gefunden werden, da das Handeln jeder einzelnen Person – und auch das von Gruppen oder Kollektiven – immer situationsspezifisch und durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst ist. Auch die Frage danach, warum der Mensch überhaupt philosophieren kann und will, ist selbst eine philosophische Frage und scheinbar nicht endgültig zu beantworten.
Eine Antwort, die an dieser Stelle dennoch häufig fällt, ist, dass alles Handeln letztendlich auf unser Überleben (als Individuum, Gruppe oder Spezies) gerichtet sei – eine sehr biologistische Ansichtsweise. Auch Ansätze wie „wir tun es für Geld, für das Ansehen und den Ruhm, für das Wohl der Menschheit“ und ähnliche Aussagen zielen letztendlich – bei Hinterfragung der dahinterliegenden Motive – auf die Idee des uns angeborenen „Überlebenswillens“ ab.
Eine völlig gegensätzliche Argumentation spricht hingegen von der Existenz eines „Wissensdurstes“ um seiner selbst willen und transzendiert somit unser Hinterfragen. Jedoch ist auch dieser Ansatz ungenügend und schwierig zu belegen.
Doch selbst wenn eine Vielzahl von Gründen kombiniert wird, so gibt es noch immer keine Gewissheit darüber, ob nicht einige Motivationen zu viel oder zu wenig bedacht oder ob diese im richtigen Verhältnis verknüpft wurden. Motivation ist schwierig zu messen und ebenso schwierig aus dem uns Bekannten abzuleiten. Die genauere Untersuchung dessen, was „Motivation“ genannt wird, sei an dieser Stelle den Forschenden aus Biologie, Psychologie, Neurowissenschaften sowie anderen Personen(-gruppen) überlassen. Dieses Werk beschränkt sich zunächst 6 auf folgende Feststellung: Den meisten Menschen wohnt eine Motivation, Dinge zu tun (oder zu lassen) inne, selbst wenn deren Ursprung nicht endgültig erklärt werden kann.
An dieser Stelle ist es also angebracht, die vorangestellte Frage danach, warum die alten Griechen ihre Welt überhaupt hinterfragt haben, ein wenig umzuformulieren und stattdessen die folgende Frage zu stellen: Warum war es ausgerechnet den alten Griechen möglich, als erste mit dem Philosophieren (und schriftlichen Festhalten dessen) zu beginnen?
In seiner Philosophischen Hintertreppe legt Wilhelm Weischedel dem antiken griechischen Philosophen Aristoteles die Worte in den Mund, dass Wissenschaft und Philosophie erst dann hatten beginnen können, als die Notdurft einigermaßen gestillt war und die Menschen für andere Dinge Muße hatten (Weischedel 2014: 12). Dies mag uns den ersten Hinweis darauf liefern, warum es ausgerechnet die alten Griechen waren, die damit anfingen, Wissen zu schaffen, zu philosophieren und dies alles schriftlich festzuhalten.
Da bereits geklärt ist, dass über die genaue Motivation, dies zu tun, keine klare Aussage getroffen werden kann, bleibt lediglich zu erläutern, warum sie überhaupt befähigt waren, so zu handeln. Und warum ihnen dabei niemand anderes, keine andere Gruppe von Menschen (oder gar eine andere Tierart) zuvorkam? Welcher Voraussetzungen bedarf es, damit jemand anfängt, Philosophie zu betreiben, die Welt zu erforschen und dies schriftlich festzuhalten?
Dieser Frage lässt sich unter anderem mithilfe des Begriffs der Kapazitäten7 begegnen: Welcher Kapazität(-en) bedarf jemand, um sich einer wissenschaftlichen und/oder philosophischen Frage zu widmen?
Zunächst bedarf die Person der Fähigkeit, differenziert und reflektiert – und somit skeptisch – denken zu können. Mit differenziert und reflektiert ist hier wiederum gemeint, altbekannte Handlungsweisen hinterfragen zu können, sich bewusst zu machen, dass es mehr als nur eine Antwortmöglichkeit auf die Fragen und Probleme des Lebens gibt und dass sowohl Fragen als auch Antworten wiederum hinterfragenswert sind. Es handelt sich also um eine Art von skeptischer Kapazität. Diese wiederum bedarf einer gewissen geistigen Fähigkeit8 und der Zeit, diese Fähigkeit in skeptisch-hinterfragender Weise einsetzen zu können.
Ein Tier, welches die meiste Zeit seines Tages damit verbringt, sich (oder seine Gruppe) am Leben zu erhalten, indem es (vereinfacht gesprochen) fortwährend auf Nahrungs- beziehungsweise Partnersuche oder am Schlafen ist, könnte diese geistige Fähigkeit zwar ebenfalls aufweisen, jedoch nicht die Zeit aufbringen, sie in dieser Weise einzusetzen. Auch dem Menschen mag es am Anfang seiner Geschichte so ergangen sein, dass er die meiste Zeit seines Lebens mithilfe direkter oder indirekter Handlungen versucht hat, sein Überleben zu sichern.
Doch dann begann sich nach und nach ein – sich selbst verstärkender – Prozess herauszukristallisieren: Aus der vormals rudimentären Kommunikation wurde eine immer komplexere Sprache,9 welche es uns ermöglichte, unser gesammeltes Wissen untereinander weiterzugeben und so die Zeit zu sparen, dieses Wissen – und die Fähigkeit, es anzuwenden – in jeder Generation neu entdecken oder entwickeln zu müssen. Die Fähigkeit, Feuer machen und kontrollieren zu können, beschleunigte die Zubereitung von lebensnotwendiger Nahrung, wodurch insgesamt weniger Zeit zum Jagen oder Sammeln dieser Nahrung aufgewendet werden musste, da die Nahrung durch das Erhitzen leichter verdaulich wurde und so mehr Energie lieferte. Dies verschaffte dem Menschen – mit der nun nicht mehr für die Verdauung oder weitere Jagd benötigten Energie – einen zusätzlichen kapazitiven Vorteil.
Neue technische Erfindungen – wie das Rad oder dessen Vorgänger – beschleunigten und erleichterten das Leben des Menschen zusehends. Aus den ehemals rudimentären Werkzeugen und Waffen – welche manch andere Tierarten ebenfalls zu nutzen wissen – wurden immer spezialisiertere Instrumente. Die verwendeten Materialien10 wurden immer langlebiger und somit wurde das Verarbeiten lebenswichtiger Rohstoffe sowie das Jagen von Tieren immer effizienter und bedurfte immer weniger Zeit. Zusätzlich erzeugte die neolithische Revolution, also das Sesshaftwerden in kleinen Siedlungen vor etwa 12.000 Jahren, einen Wechsel vom Jagen und Sammeln zur (zeit-)effizienteren Ernährungsgrundlage Ackerbau und Viehzucht. Die zunehmende Urbanisierung und Spezialisierung brachte der Menschheit neben immer stärker werdenden Austauschprozessen (durch komplexe Sprache, räumliche oder verkehrliche Nähe und verstreute Expertisen) vor allem eins: noch mehr freie Zeit, welche nicht mehr damit verbracht werden musste, das mittel- oder unmittelbare Überleben zu sichern.11
Diese Liste von „Fortschritten“ ließe sich ewig weiterführen, doch bereits jetzt wird klar: Je mehr Erfindungen, Innovationen und neues Wissen darum, wie das Überleben (zeit-)effizienter zu gestalten sei, generiert wurden, desto mehr beschleunigte sich dieser Prozess. Je öfter und länger Zeit frei wurde, um die skeptische Kapazität mithilfe des (durch Sprache) immer größer werdenden Wissens zum Einsatz zu bringen, desto häufiger wurden Erfindungen und Entdeckungen gemacht, welche diesen Prozess weiter befeuerten. Tatsächlich wurden die Menschen so gut darin, ihr (Über-)Leben effizient zu gestalten, dass die Kapazitäten Skepsis und freie Zeit ebenfalls für Dinge genutzt werden konnten, die für ihr Überleben eine eher untergeordnete Rolle spielten, gar nichts mehr beizutragen oder sogar einen negativen Effekt hatten.
Wird dieser Argumentation weiter gefolgt, so lässt sich die eingangs gestellte Frage folgendermaßen beantworten: Die alten Griechen gehören zu den ersten bekannten Philosophen, da sie es sich aufgrund ihrer Nutzung Kapazitäten-schonender Erfindungen12 leisten konnten, in ihrer Freizeit über philosophische Fragen nachzusinnen und dieses Nachsinnen mit den (neueren) Fähigkeiten „komplexe Sprache“, „komplexe Schrift“ und somit „geistiger Austausch“ zu kombinieren.
Dieser Prozess hat sich seitdem nicht umgekehrt, sondern ist immer weiter vorangeschritten. Die Zahl der Menschen, deren Grundbedürfnisse – wie Essen, Schlafen und Sicherheit – zu jeder Zeit ihres Lebens leicht und mit wenig Aufwand befriedigt werden können, wuchs und wächst stetig an und sorgt so in der Summe für immer weiter steigende Kapazitäten im Bereich des skeptischen Denkens, der Wissenschaft und der Philosophie.
Die Sprichwörter, dass Wissen Macht bedeute und Zeit wertvoll sei, finden hierin ihren Ursprung und werden in der westlichen Welt so stark sozialisiert, dass sie längst als einflussreiche Handlungsgrundlagen gelten dürfen.
Bei alledem sollte jedoch auch klar sein, dass es zumeist wohl einige wenige waren, welche (zum Teil voneinander unabhängig) die entscheidenden „Entdeckungen“ gemacht und dann an ihre Gruppe (sowie durch Austauschprozesse und viel Zeit über größere Distanzen hinweg) weitergegeben haben. Aus diesem Umstand leitet sich bereits hier ab, dass die folgenden Ausführungen längst nicht auf jeden Menschen zutreffen (müssen). Das konsequente skeptische Denken ist kein Massenphänomen, welches nur der Freisetzung durch freie Zeit bedarf, sondern eher eine verstreute Denkhaltung, welche der richtigen – im Sinne einer auch geistig dazu befähigten – Person bedarf, um im Sinne des „Fortschritts“ wirken zu können.
Auch darf der Einfluss der zunehmenden individuellen Freiheit13 und der damit verbundenen (durch die Gesellschaft auferlegten) Pflicht, das eigene Leben zu hinterfragen und selbst(-bestimmt) zu gestalten, nicht außer Acht gelassen werden, denn auch solche Prozesse können die Freisetzung skeptischer Kapazitäten begünstigen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Mischung aus (unergründbarer) Motivation, der geistigen Kapazität (Befähigung) zur Skepsis und freier Zeit zu einem skeptischen Denken führen kann, welches diesen Prozess wiederum intensiviert, indem es Erfindungen14 möglich macht, welche noch mehr Zeit freisetzen oder die geistige Kapazität der Skepsis verstärken.
Schaut man einmal im Wörterbuch nach, so bedeutet das Wort skeptisch so etwas wie „sachlich prüfend“ oder „zweifelnd“. Auch der griechische Ursprung dieses Wortes: sképsis – was so viel heißt wie „Bedenken“ oder „Betrachtung“ – beziehungsweise das Verb sképtesthai für „schauen/spähen“ oder „betrachten“ weisen in diese Richtung.
Mit den Worten von Dr. Christoph Binkelmann – Sekretär der Schellingkommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften – lässt sich skeptisches Denken im Allgemeinen als philosophisches Hinterfragen, die Überprüfung von Annahmen, die Relativierung von Glaubensfundamenten sowie als Zweifel und Reserviertheit gegenüber Wahrheitsbehauptungen definieren. Hiervon ausgehend bildet sich die Bezeichnung Skeptizismus. Dieser Begriff ist die Oberbezeichnung für (philosophische) Ansätze, welche das kritische Anzweifeln als Grundprinzip des Denkens ansehen. Dadurch, dass dieser Begriff eine Vielzahl verschiedener Formen zusammenfasst, ist es schwierig, von „dem Skeptizismus“ zu sprechen. Je nach Ausarbeitung hat der Skeptizismus (wie jeder andere erkenntnistheoretische Ansatz) seine Vor- und Nachteile (etwa in Form von Schwachstellen).
Der Skeptizismus stellt, je nach Richtung, jedwede Erkenntnis – sei diese nun auf die „Wahrheit“ oder die „Wirklichkeit“ bezogen – infrage oder schließt diese gar aus. Daher bilden die verschiedenen skeptizistischen Ansätze Antwortmöglichkeiten auf ein wichtiges Feld der Philosophie: die Erkenntnistheorie (auch als Epistemologie bekannt). Dieser Bereich der Philosophie fragt danach, ob und wie zu Erkenntnis gelangt werden könne und was das Resultat eines solchen Erkenntnisprozesses – nämlich das sogenannte „Wissen“ – ausmache. Die Erkenntnistheorie ist somit für alle Bestrebungen im Bereich der Wissenschaft und Philosophie wichtig, da sie den Sinn und Zweck jeglichen geistigen, technischen oder etwaig anderen Fortschrittswillens in Zweifel ziehen kann.
Das skeptische Denken – und somit auch der Skeptizismus – ist eng mit den Fortschritten des Menschen und der modernen Wissenschaft verknüpft, da die geistige Haltung zur Skepsis die zugrundeliegende Einstellung vieler Forschender und das skeptische Denken ihr mächtigstes Werkzeug ist. Ohne skeptisches Denken wären die Konzepte von Sprache womöglich nie erdacht sowie das Nutzen von Feuer oder langlebigerer und spezialisierterer Waffen vielleicht nie entwickelt worden und der Mensch noch immer eine Spezies von Jägern und Sammlern. Das skeptische Denken war also schon immer die zugrundeliegende und notwendige Fähigkeit, um Werkzeuge, Wissen und alle anderen Errungenschaften der Menschheit hervorzubringen. Aus diesem Grund sollen im Folgenden die geschichtliche Entwicklung des Skeptizismus – und somit auch die wichtigsten skeptizistischen Ansätze – behandelt werden.
Die Geschichte des Skeptizismus ist ebenso lang wie die Geschichte der Philosophie und somit der gesamten Wissenschaft. Auch an dieser Stelle wird es einen eher knapp bemessenen Einblick in einzelne Richtungen des skeptischen Denkens und einen unvollständigen geschichtlichen Überblick geben. Jedoch sei erneut darauf hingewiesen, dass bei Interesse eine Fülle an tiefergehenden Originalquellen und Sekundärtexten zur Verfügung steht. Sextus Empiricus Grundriss der pyrrhonischen Skepsis beschreibt zum Beispiel den am besten und weitesten ausgearbeiteten skeptizistischen Denkansatz: die pyrrhonische Skepsis.
3 Und viele Vertretende anderer Fachdisziplinen behaupten dies auch gerne über ihre jeweiligen Fächer.
4 Oder gar das Spielzeug im Überraschungseikarton an der Kasse in einem Supermarkt einer vierdimensionalen Rasse transzendentaler Wesen.
5 Für viele gut ersichtlich und deshalb im Folgenden häufiger als Beispiel herangezogen.
6 Denn in Kapitel V wird das Konzept der Schutzmechanismen eingeführt, welches die Motivation hinter vielen Gedanken und Handlungen – wenn auch nicht endgültig – erklären kann.
7 Damit sind in diesem Zusammenhang die Fähigkeiten und notwendigen Voraussetzungen gemeint, um eine bestimmte Arbeit verrichten zu können.
8 Biologisch gesprochen: Eines hoch entwickelten Gehirns, wie etwa das menschliche.
9 Inzwischen gilt es als belegt, dass auch einige andere Tierarten über komplexere Formen der Sprache verfügen, auch wenn diese nicht unbedingt an die differenzierte Form der menschlichen Sprache heranreichen müssen.
10 Nach denen die hier angedeuteten Zeitabschnitte wie Stein-, Kupfer-, Bronze- oder Eisenzeit benannt sind.
11 In diesem Kontext sei auf das Konzept Zeitwohlstand verwiesen.
12 Hier sei etwa die in vielen griechischen Polis (antike griechische Stadtstaaten) betriebene Sklaverei zu nennen.
13 Durch die anwachsenden Prozesse der (Neo-)Liberalisierung in den letzten Jahrzehnten beziehungsweise Jahrhunderten.
14 Beispielsweise die komplexe Sprache, Schrift oder das Bildungswesen.
Um die Geschichte der antiken Skepsis im Sinne dieses Werkes vermitteln zu können, wird sie im Folgenden allgemein eingeführt und danach auf den Ansatz des Pyrrhonismus im Besonderen eingegangen werden.
Am Anfang der europäischen Geistesgeschichte stehen die sogenannten Vorsokratiker, welche sich lieber auf ihr eigenes Erkunden und Nachdenken verließen, als auf das „Wissen“, welches überliefert wurde. Sie (oder Dritte) beschrieben diese Vorgehensweise oft in Schriftstücken, welche – zumindest zum Teil – erhalten sind.
Als wichtige antike Skeptiker gelten heute die altgriechischen Sophisten, welche ein relativierendes Denken sowohl betrieben als auch lehrten und dadurch zu wahren Meistern der Rhetorik, gut bezahlten Anwälten und angesehenen Lehrern wurden. So lehnten zum Beispiel viele Sophisten reine Spekulationen – vor allem über die Götter und die Existenz an sich – ab und ließen sich nicht zu den einfachen Erklärungen ihrer Zeit hinziehen. Stattdessen wurden die Götter häufig als bloße Erfindung der Menschen gedeutet. Eine These, die in der modernen, westlich geprägten Welt erst im letzten Jahrhundert wieder richtig salonfähig wurde.
Der wohl bekannteste Sophist war Protagoras, welcher den sogenannten Homo-mensura-Satz verfasste. Dieser erhebt den Menschen zum Maß aller Dinge, wodurch objektive, absolute und universell gültige Sachverhalte und Welterklärungen abgelehnt werden. Sie werden durch die relativistische Ansicht ersetzt, dass alles Sein immer nur subjektiv und (als) wandelbar betrachtet werden kann, und dass diese subjektiven Ansichten selbst bloße Meinungen ohne objektive Gültigkeit seien. Ebenfalls in der Reihe hervorstechender Sophisten zu nennen ist Gorgias. Anhand seiner drei Thesen:
Dass nichts existiere.
Dass, selbst wenn etwas existiere, es doch nicht erkennbar sei.
Dass, selbst wenn es erkennbar sei, es doch nicht mitteilbar sei.
lässt sich erkennen, wie „weit“ das skeptische Denken zu dieser Zeit bereits getrieben wurde.
Auch Sokrates wird manchmal zu den antiken Skeptikern gezählt, ist ihm doch von verschiedenen Autoren der berühmte Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ in den Mund gelegt worden. Dieser Ausspruch ist jedoch durch ungenaue Übersetzung und Überlieferung sowie die Komprimierung des ursprünglichen Textes (Dialogs) in einen Einzeiler ein wenig in seiner Bedeutung geändert worden (die Vorlage findet sich in Platons Apologien 21a–23b). Klingt es nun danach, als würde Sokrates behaupten, eine Sache sicher zu wissen, nämlich nichts zu wissen, so war es doch ursprünglich eher derart gemeint, dass Sokrates sich darüber bewusst sei, kein absolutes Wissen zu haben. Der Satz greift also nicht nur die Gewissheit über jegliches andere Wissen an, sondern zieht sich und seine Aussage selbst mit in Zweifel, wodurch er zwar konsequenter, aber auch selbstrelativierender wird. Was Sokrates hier tatsächlich gemeint hat, lässt sich also besser mit dem Zitat „Nichts ist sicher und nicht einmal das ist sicher“ umschreiben, welches dem antiken Skeptiker Arkesilaos zugeordnet wird.
Sokrates‘ Aussage lässt sich also ganz im Sinne des skeptischen Denkens betrachten, ist jedoch mit schwierigen Folgen für das alltägliche Leben und Erleben verbunden. Denn wenn wir Menschen uns über nichts sicher sein können, verschlechtert dies wiederum die Erfüllung eines unserer Grundbedürfnisse: desjenigen nach Sicherheit. Diese Konsequenz soll bereits den Vorsokratikern bewusst gewesen sein und zu einer sogenannten Aporie – einer Rat- oder Ausweglosigkeit – geführt haben, welche womöglich dem Gefühl des Absurden ähnelte.
Abgesehen von den vorgenannten Gruppen und Einzelpersonen lässt sich die antike Skepsis vor allem in zwei Hauptrichtungen, die Akademische Skepsis und die Pyrrhonische Skepsis aufteilen. Die akademische Skepsis war dabei schulbildend und vertrat eine (aus Sicht der Pyrrhoneer) eher gemäßigte Skepsis, der häufig Inkonsequenz, mangelnde Folgerichtigkeit und – in Bezug auf die spätere Akademie – negativer Dogmatismus vorgeworfen wird. Aus diesem Grund wird im Folgenden auch nur die pyrrhonische Skepsis vorgestellt, welche sich als einflussreicher erwiesen hat und zudem besser zum Verständnis der folgenden Inhalte beitragen kann.
Die pyrrhonische Skepsis erwies sich als langlebig, konsequent durchdacht und gilt heute als die älteste europäische Form des Skeptizismus. Sie wurde von Pyrrhon von Elis begründet, jedoch war sie im Unterschied zur akademischen Skepsis nicht schulbildend, sondern glich mehr einer philosophischen Strömung oder Bewegung.
Laut Dr. Christoph Binkelmann galt Sextus Empiricus, dem Verfasser des Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, der Skeptizismus mehr als eine Art (Denk-)Technik denn als eigene Denkschule. Das Ziel der Pyrrhoneer war also nicht, bestimmte Wahrheiten oder Lehrsätze zu übermitteln und somit auch nicht, eine bestimmte Theorie zu verbreiten, sondern die Technik des eigenständigen Denkens zu lehren. Mit dem Vokabular dieses Buches ließe sich also davon sprechen, dass sie reflektiertes und differenziertes Denken zu vermitteln gedachten. Ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise ist die sophistische Darstellung des Sokrates in den Werken Platons, in welchen die Figur Sokrates durch die Straßen Athens geht und seine Mitbürger durch ständiges Hinterfragen ihrer Grundsätze und Antworten sowohl zur Weißglut als auch zu neuen Erkenntnissen bringt.15
Im Sinne dieses eigenverantwortlichen Denkens positionierte man sich entgegen dem Dogmatismus, welcher oft in Gestalt von Glaubensgemeinschaften oder Ideologien daherkommt, sich im Besitz der Wahrheit wähnt und seine eigenen Grundsätze (Dogmen) als (einzig) wahr propagiert. Auch von „negativem Dogmatismus“, also der Ansicht, Wahrheit sei grundsätzlich nicht erkennbar,16 hielt der Pyrrhonismus Abstand. Die pyrrhonische Skepsis war selbstbezogen, schloss also die Möglichkeit mit ein, in ihren Ansätzen falschzuliegen, wodurch sie konsequenter und schwieriger angreifbar ist als die von ihr kritisierten (negativen) Dogmatismen. Die Abgrenzung zu den Dogmatismen entspringt im Übrigen der durch Sextus Empiricus vorgenommenen Dreiteilung der Philosophen in Dogmatiker, Akademiker17 und (pyrrhonische) Skeptiker.
Das Ziel der Pyrrhoneer war angeblich, durch die Suche nach Wissen zur Gemütsruhe zu gelangen. Als sie damit scheiterten, da sie bei jedem untersuchten Sachverhalt auf (gleichstarke) Argumente für jede Perspektive trafen (Isosthenie), beschlossen sie, von da an Urteilsenthaltung (Epoché) zu betreiben. Sobald sie jedoch diese Gesinnung der Urteilsenthaltung annahmen, stellte sich die gesuchte Seelenruhe (Ataraxie) in Form einer Affektlosigkeit und Gelassenheit von selbst ein. Hierdurch erreichten sie das Ziel vieler antiker Philosoph(i)en: das Glück der Weisen (Eudaimonie). So will es zumindest der Mythos.
Die hieraus ableitbare („lebenspraktische“) Technik des Pyrrhonismus ist somit das Finden von (gleichwertigen) Pro- und Contra-Argumenten (dies wird auch als Isosthenie bezeichnet) für jede Frage oder Problemstellung, um somit aufzuzeigen, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt und man sich logischerweise des Urteils zu enthalten habe (Epoché). Um dies zu erreichen, wird auf die sophistische Fähigkeit zurückgegriffen, für oder gegen alles argumentieren zu können und somit beide (alle) Seiten eines Disputs gleichermaßen stark oder schwach darzustellen.
Eines der argumentativen Herzstücke der Skepsis nach Sextus Empiricus sind dabei die sogenannten Tropen (Argumente oder „Figuren“), aus deren Zusammenspiel sich die skeptische Haltung ergibt: Zunächst gibt es die Argumentation für die Relativität, welche auf den Zehn Tropen basiert. Diese Relativität lässt sich sowohl auf den Urteilenden (erster bis vierten Tropus), das Beurteilte (achter und zehnter Tropus) sowie Urteilenden und Beurteiltes zusammen (fünfter bis siebter sowie neunter Tropus) beziehen. Die Notwendigkeit der Zurückhaltung (aufgrund der Relativität der Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit) ergibt sich laut Sextus (Sextus Empiricus: I [36]–[38]) aus:18
1. „der Unterschiedlichkeit der Lebewesen“
Zum Beispiel die Verschiedenheit der von unterschiedlichen Tierarten wahrgenommenen Lichtspektren, der Fähigkeit zum „Farbsehen“ oder zum Wahrnehmen von ultraviolettem Licht.
2. „der Verschiedenheit der Menschen“
Zum Beispiel die unterschiedliche geschmackliche Bewertung desselben Gerichtes durch zwei verschiedene Menschen.
3. „der verschiedenen Beschaffenheit der Sinnesorgane“
Zum Beispiel der Fähigkeit von Haien, elektrische Spannungen über weite Entfernungen hinweg wahrzunehmen.
4. „den Umständen“
Zum Beispiel, ob sich eine Person im Kino auf den Film einlassen kann oder dringend einmal auf die Toilette muss.
5. „den Stellungen, den Entfernungen und den Orten“
Zum Beispiel, ob die Höhe eines Turmes von einigen Kilometern oder von einem Meter Entfernung aus beurteilt wird.
6. „den Beimischungen“
Zum Beispiel, ob ein Objekt durch Wasser, Nebel oder eine Brille hindurch betrachtet wird.
7. „der Quantität und Zurichtung der Gegenstände“
Zum Beispiel, ob wir uns eine einzelne und ruhig dasitzende Biene betrachten, welche uns gelb und schwarz erscheint, oder ob wir es mit einem ganzen – sich wild bewegenden – Schwarm Bienen zu tun haben, welcher hierdurch bräunlich wirkt.
8. „der Relativität“
Zu diesem Tropus gibt es kein einfaches Beispiel, da Sextus hier auf einen vorhergegangenen „Beweis“ zurückgreift, nach dem alles relativ ist.
9. „dem ständigen oder seltenen Auftreten“
Zum Beispiel dem größeren Wertschätzen des Beobachtens eines Kometen gegenüber dem Beobachten der Sonne, allein aufgrund des selteneren Auftretens eines – ansonsten ebenso „langweiligen“ – Himmelskörpers und aus
10. „den Lebensformen, den Sitten, den Gesetzen, dem mythischen Glauben und den dogmatischen Annahmen.“
Zum Beispiel der Strafbarkeit bestimmter Praktiken in dem einen und der Legalität derselben Praktik in einem anderen Land.
Aus diesen Gründen ergibt sich für Sextus und die pyrrhonischen Skeptiker eine umfassende Relativität, welche die Möglichkeit endgültiger Urteile verneint. Da also alles relativ sei, ergäbe sich aus der fehlenden Urteilsfähigkeit die Notwendigkeit der Zurückhaltung. Die Argumente hierfür werden wiederum mithilfe von – diesmal sind es fünf – Tropen (Sextus Empiricus: I [164]) ausformuliert und begründen die Relativität aus:19
1. dem Widerstreit
Also der möglichen Strittigkeit jedwedes Themas.
2. dem unendlichen Regress
Also der Unmöglichkeit, für irgendetwas eine letztendliche Begründung zu finden, da alles wiederum eine Vorbedingung hat, welches wieder eine Vorbedingung hat…
3. der Relativität
Welche in den vorangegangenen zehn Tropen begründet wurde.
4. den dogmatischen Voraussetzungen
Welche inkonsequent und doch notwendig wären, um eine klare Position einnehmen zu können.
5. der Diallele
Einer häufig von Dogmatikern angewandten Kreisargumentation, in der A sich aus B und B sich aus A ableitet und die somit keine logisch zulässige Argumentationsform darstellt. Mithilfe dieser Fünf Tropen sollte also noch einmal klargestellt werden, dass es endgültige Wahrheiten aus skeptischer Sicht nicht geben könne.
Schlussendlich werden noch die – von Dogmatikern und anderen Nicht-Pyrrhoneern angewandten – Argumentationsweisen in Form der Zwei Tropen benannt und als unzulässig deklariert. Hiernach würden die Dinge prinzipiell aus sich selbst oder aus etwas anderem erkannt werden. Beide Ansätze sind jedoch unzulässig, da sich im ersten Fall alle Naturforscher in jeder Frage einig sein müssten und im zweiten Fall Kreisschlüsse oder unendliche Regresse entstünden.20
Nach der Zeit des Sextus Empiricus (um 200 nach Christus) geriet der Skeptizismus zusammen mit vielen anderen geistigen Errungenschaften der Antike in Vergessenheit. Der Dogmatismus hatte in Form des christlich geprägten Mittelalters in Europa fürs Erste den erkenntnistheoretischen Kampf gewonnen. Dieser Wettstreit umfasst vor allem die Frage danach, wie und ob Wissen erlangt werden kann. In den Augen der christlichen Kirche waren diese Fragen unanzweifelbar mit „ja“ und „durch Gott“ zu beantworten. Da eine skeptizistische Betrachtungsweise schnell das Glaubensfundament und somit die Macht der Kirche infrage gestellt hätte, gab es im Mittelalter keine nennenswerten Fortschritte auf dem Gebiet des Skeptizismus.
Der Denkansatz des Skeptizismus kam in der Renaissance – unter anderem durch die beginnende Reformation der christlichen Kirche und die Übersetzung der Schriften des Sextus Empiricus ins Lateinische – wieder zum Vorschein. Große philosophische Bewegungen, die sich den Skeptizismus als ihr zentrales Thema erwählten oder als die Grundlage ihres Schaffens proklamierten, entstanden jedoch nicht mehr. Stattdessen wurde der Skeptizismus bis in die Moderne hinein von den verschiedensten Philosophierenden – von denen manche im Verlauf dieses Werkes noch behandelt werden – aufgegriffen, in ihrer jeweiligen Art des Denkens weiterentwickelt und angepasst.
So begründete zum Beispiel Michel de Montaigne, welcher mit den Werken des Sextus Empiricus vertraut war, einen lebensbejahenden Skeptizismus. Für ihn waren vor allem die menschliche Wahrnehmung durch die Sinne ein großer Unsicherheitsfaktor. Dieser Erkenntnis sollte den Menschen dazu bekehren, seine Wahrnehmung immer als höchst subjektiv und somit relativ zu betrachten, um dadurch Unabhängigkeit (von den Wahrnehmungsergebnissen und Weltdeutungen anderer) zu erlangen. Ein Eindruck seines Skeptizismus lässt sich unter anderem in der Apologie des Raimundus Sabundus gewinnen, welche in Montaignes Essais erschien. Auch ein Cousin Montaignes, Francisco Sanchez, entwickelte mit Quod nihil scitur („Dass nichts gewusst wird“) ein skeptizistisches Werk, mithilfe dessen er vor allem die aristotelische Form des Erkenntnisgewinns kritisierte.
Auch René Descartes ist in diesem Zusammenhang zu nennen. In seinen Meditationen über die Erste Philosophie bedient er sich eines methodischen Zweifels und dekonstruiert auf diese Weise nach und nach sämtliche seiner (Sinnes-)Wahrnehmungen. Selbst die Möglichkeit, dass ein böser Geist existiere, welcher ihm jede Einzelne seiner Sinneseindrücke von außen eingebe – ihm also seine gesamte Realität nur vorspiele – zieht er darin in Betracht. Hätte sein Werk an dieser Stelle geendet, würde Descartes heute womöglich zu den Skeptizisten gezählt werden (und nicht zu den Rationalisten). Jedoch verfolgt er im weiteren Verlauf seiner Meditationen eine Argumentation, welcher eine skepti(-zisti)-sche Person nicht guten Gewissens folgen kann: Er postuliert eine absolute Gewissheit (dass er existiere), auf der er dann die Existenz Gottes und somit die Wirklichkeit der Welt um ihn herum sowie seine Wahrnehmung derselben begründet.
Neben Montaigne und Descartes ist auch Voltaire ein bekannter Vertreter des Skeptizismus in der Neuzeit. Ihm wird unter anderem das Zitat: „Zweifel ist keine angenehme Voraussetzung, aber Gewissheit ist eine absurde“ zugeordnet, mit welchem er ausdrücken wollte, dass der Zweifel (zum Beispiel in Form des Skeptizismus) zwar – im Sinne der Vereinbarkeit mit dem eigenen Leben – kein leichter Ansatz sei, dafür jedoch der „sinnvollere“. Auf dieser Basis dekonstruierte Voltaire bestehende Tatsachen und Wahrheiten zu Arbeitshypothesen und verneinte die Möglichkeit, absolute Wahrheiten erkennen zu können. Die Skepsis war für ihn der einzig logische Standpunkt.
Auch David Hume war ein wichtiger Skeptiker der Neuzeit. So beschrieb er in seinem Essay The Natural History of Religion, dass Zweifel, Ungewissheit und Enthaltung des Urteils das einzige Ergebnis sei, zu dem die schärfste und sorgsamste Untersuchung führen könne (Hume 1757: 116–117).21 Und genau diese Enthaltung des Urteils im Angesicht der Ungewissheit findet sich bereits in der pyrrhonischen Skepsis. Des Weiteren beschrieb Hume das sogenannte Induktionsproblem. Dieses besagt, dass wir Menschen annähmen, es gäbe in der Natur ein Prinzip von Ursache und Wirkung, nur weil uns dies so erscheine und wir daran gewöhnt seien. Das Prinzip der Kausalität sei aber allein aus der Erfahrung nicht zu beweisen, denn darüber, wie sich bestimmte Dinge in der Zukunft verhalten würden, läge in der Gegenwart noch kein Wissen vor. So sei es durchaus denkbar, dass morgen die Sonne im Westen auf und im Osten untergehe, auch wenn sie dies bisher nie getan habe.
Vor allem im letzten Jahrhundert gab es einige Philosophierende – etwa Ludwig Wittgenstein oder die amerikanischen Neo-Pyrrhonisten –, welche sich selbst in der skeptizistischen Tradition (häufig in Anlehnung an den Pyrrhonismus) sahen oder dieser zugeordnet werden können. Auch die gedanklichen Grundlagen des Werkes von Albert Camus, auf welche das nächste Kapitel noch häufiger zurückkommen wird, lassen sich zum Teil auf einen skeptischen Denkansatz zurückführen. So legt Camus in seinem Drama Die Besessenen (Bes: 399) der Figur Stawrogin folgenden Satz in den Mund: „Schließlich kann man nicht intelligent sein und zugleich glauben, das ist unmöglich“. Warum dieser Satz sowohl für Camus’ Philosophie als auch allgemein für die Philosophie des Absurden wichtig ist, wird ebenfalls in Kapitel III behandelt.
Als eine der wichtigsten Entwicklungen des Skeptizismus im letzten Jahrhundert kann wohl die von Hilary Putnam (wieder) in die Fachdiskussion eingebrachte „Gehirn im Tank“-Hypothese, welche heute eine der bekanntesten philosophischen Gedankenexperimente darstellt, gelten. Dieses Gedankenexperiment greift die von Descartes formulierte Möglichkeit eines bösen Geistes, welcher uns die Wirklichkeit nur vortäusche, wieder auf und gibt ihr ein modernes Setting. So befindet sich in diesem fiktiven Experiment ein Gehirn in einem Tank. In diesem Tank wird es durch (von einem Computer künstlich erzeugte) elektrische Impulse auf solche Art stimuliert, wie es ein „normaler Körper“ in einer „normalen Realität“ tun würde. Die Frage, welche sich daraus ergibt und die sich auf unser aller Wirklichkeitsempfinden übertragen lässt, ist folgende: Ist das (menschliche) Gehirn in der Lage, festzustellen, ob es sich in der realen oder in einer simulierten Welt befindet?
In der gegenwärtigen (Pop-)Kultur findet sich eine ganze Reihe von Beispielen, welche unter dem Einfluss der skeptischen (Denk-)Haltung stehen und auf die im Kapitel VI noch weiter eingegangen werden wird. Vor allem die Idee beziehungsweise Möglichkeit, wir könnten in einer Simulation leben, hat starke Eindrücke in den Unterhaltungsmedien hinterlassen.
Doch auch in den sogenannten „harten Wissenschaften“ werden solcherlei Möglichkeiten erforscht. Insbesondere die – durch große Geldmittel geförderte – Forschung mehrerer Physiker-Teams daran, ob unser Universum ein Hologramm sei, hat in den letzten Jahren immer wieder öffentliches Interesse gewonnen.
An dieser Stelle sei somit wieder auf die These zurückgekommen, dass unsere Welt – egal ob in der (Pop-)Kultur, Wissenschaft oder anderen Bereichen – vom skeptischen Denken durchdrungen und womöglich sogar erst unter Mitwirkung dessen entstanden ist. Dabei muss jedoch klargestellt werden, dass dies kein Versuch sein soll, Geschichte als sinnvollen oder logischen Ablauf im Sinne eines absoluten Motivs (des skeptischen Denkens) darzustellen, wie es beispielsweise Karl Marx mithilfe des auf den Sozialismus ausgerichteten ewigen Klassenkampfes versucht hat.
Vielmehr soll dies ein Versuch im Sinne des Skeptizismus sein, den bisher entwickelten Antworten auf die Fragen nach dem Phänomen des Absurden und der Erscheinung der Depression eine weitere anbei zu stellen. Auch sei darauf hingewiesen, dass skeptisches Denken zwar eine – nicht nur begriffliche – Nähe zum Skeptizismus aufweist, sich jedoch nicht (vollständig) mit diesem deckt. Somit sind, wenn im folgenden Werk von skeptischem Denken die Rede ist, nicht zwangsläufig skeptizistische Haltungen gemeint, sondern vielmehr verschiedenste Positionen auf der Bandbreite des skeptischen – im Sinne eines reflektierten und differenzierten – Denkens.
Um die These vom allgegenwärtigen Einfluss der skeptischen Denkhaltung – Abseits der Motive des Absurden und der Depression – untermauern zu können, werden im Folgenden zwei weitere Beispiele hierzu gegeben.
„Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.“
Friedrich Nietzsche (KSA 2: 190)
Woran macht sich die enorme Wichtigkeit der skeptischen Haltung für unser heutiges Leben in der westlich geprägten Welt fest? Zunächst sei hier ein Bereich betrachtet, in dem die Skepsis scheinbar am offensichtlichsten am Werke war: Religion und Glaube. Obwohl es verschiedene Zahlen zu diesem Thema gibt, lässt sich folgende Entwicklung des letzten Jahrhunderts in vielen der westlich geprägten Staaten deutlich erkennen: Der Anteil von Personen, welche sich eindeutig einer der großen Religionsgemeinschaften zugehörig fühlen, nimmt ab. Stattdessen differenziert sich das Bild immer weiter aus, denn eine Vielzahl von Glaubensansätzen ist mittlerweile salonfähig geworden. Immer mehr Menschen reflektieren ihren eigenen Glauben und machen sich von den alteingesessenen Institutionen los. Diese Personen lassen sich grob in vier Gruppen einteilen:
Gläubige, die „Minderheitsreligionen“ angehören.
Gläubige, die eine persönliche Form des (Gottes-)Glaubens praktizieren.
Ungläubige, die sich dem skeptizistischen Ansatz der Agnostik/dem Agnostizismus zugehörig fühlen.
Negativ-Gläubige, daher Atheisten, welche den Glauben (an Gott) ablehnen.
Problematisch bei der genaueren Erfassung von Zahlen zu solchen Gruppen ist, dass die Bedeutung der Frage nach dem Glauben mittlerweile für viele sehr stark abgenommen hat. So bildet sich eine immer größer werdende fünfte Gruppe aus Menschen, welche sich nicht klar positionieren lassen wollen oder können. Auch von einer großen Anzahl Personen, welche eigentlich dem Agnostizismus zuzuordnen wären, sich selbst jedoch – ob aufgrund einer Modeerscheinung, fehlender Informiertheit oder anderen Gründen ist unklar – als Atheisten bezeichnen, ist auszugehen. Da auch der Atheismus ein Theismus, also ein Glaube ist,22 hat dieser Ansatz einen dogmatischen – und somit nicht skeptischen – Kern.
Wie hoch letztendlich der Anteil der Agnostiker – also der Personen, die sich (in skeptizistischer Manier) des Urteils über die Existenz einer höheren Instanz enthalten23 – genau ist, bleibt unklar, doch ihre Zahl steigt – im Zuge der gemeinsamen Anteilssteigerung mit Atheisten, Agnostikern und Nicht-Gläubigen24 in einigen westlich geprägten Staaten – vermutlich weiter an. Und ein Mitwirken der skeptischen Denkhaltung ist hier durchaus wahrscheinlich.
Letztlich gibt allein schon der folgende Unterschied ein Gefühl dafür, wie sehr sich unsere Welt unter dem Einfluss des skeptischen Denkens gewandelt hat: In den letzten Jahrhunderten lebten viele Menschen in einer Welt mit großen und beherrschenden religiösen Institutionen, welche – unter anderem durch ihre politische Macht und durch die Verfolgung von „Ungläubigen“ – einen großen Einfluss auf das Leben genommen haben. Demgegenüber differenziert sich die heutige Menschheit (in den westlich geprägten Staaten) – ohne Verfolgung von Ungläubigen und bei sinkender Stigmatisierung solcher – immer weiter aus und reflektiert die Macht und Zerstörungskraft blinden Glaubens zusehends.
Neben dem Vorgenannten gibt es noch einen weiteren Zusammenhang, der mutmaßlich durch die skeptische Denkhaltung beeinflusst wurde. So existiert eine auffällig starke Korrelation zwischen dem Anteil der Menschen, die sich als atheistisch, agnostisch oder gottlos bezeichnen und der Alphabetisierungsrate beziehungsweise den Bildungschancen in ihren Staaten. Wenn nun eine bessere Bildung mit der erhöhten Wahrscheinlichkeit gleichgesetzt wird, im Laufe des Bildungsprozesses eine skeptische Denkhaltung herauszubilden (einen Zusammenhang, der im Folgenden gestützt werden wird), so ließe sich sagen, dass diese Bildung (und die dabei vermittelte skeptische Denkhaltung) der „Religiosität“ der Menschen entgegenarbeitet und somit einen Einfluss auf das Leben aller hat.
Dass es jedoch auch andersherum geht, beschreibt der Philosoph Malte Hossenfelder in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe des Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Laut Hossenfelder habe der antike Skeptizismus alle Antworten hinterfragt, ohne neue zu liefern, wodurch er in der ausgehenden Spätantike Platz für das Christentum (und dessen „Antworten“) gemacht habe (Hossenfelder 2017: 10):
„Das Neue setzt sich dann durch, wenn im Verlaufe der immer tieferen gedanklichen Durchdringung des in Geltung stehenden Systems Teile desselben ihre Funktion als Antworten auf wesentliche Fragen der Daseinsdeutung des Menschen verloren haben und dadurch ein Bedürfnis nach Neubeantwortung entsteht.“
Wird dieser Gedanke auf die Skepsis übertragen, so deutet sich an, dass ein purer Skeptizismus in der Masse niemals Fuß fassen kann. Die Mehrheit der Menschen mag zwar immer wieder durch ein skeptisches Hinterfragen ihrer Glaubens-, Werte- oder Sinnsysteme aufgescheucht werden, lässt sich jedoch kurz darauf beim nächsten (oder in abgewandelter Form beim alten) System nieder. In diesem Sinne mag der Skeptizismus beziehungsweise das skeptische Denken heute zwar als (wissenschaftliche) Methodik anerkannt sein, als Anleitung zur Lebensführung (wie in der Antike) vermag er indes nicht mehr (oder nur bei einer Minderheit) zu fungieren.
In diesem Sinne lässt sich also die These aufstellen (und diese wird in Kapitel V und VII Belege finden), dass die skeptische Denkhaltung zwar zu einer Ausdifferenzierung in Glaubens- und Religionsfragen und zu einem vermehrten Ablassen von der Gottesgläubigkeit geführt hat, jedoch gleichzeitig den Platz – oder gar ein Vakuum – für andere Glaubenssysteme schuf, ähnlich wie es laut Hossenfelder bereits zum Ende der Antike passierte.
Auch in den modernen Bildungswissenschaften und in der Forschung lässt sich der Einfluss der skeptischen Denkhaltung ablesen. So gibt es in der Didaktik einen großen Unterschied zu früheren Zeiten, in denen den Schülerschaften und Studierenden im Frontalunterricht die – zur jeweiligen Zeit gültige – Lehrmeinung aufs Auge gedrückt wurde. Dieser Ansatz weicht mehr und mehr der Meinung, dass den zu Belehrenden vielmehr die Chance gegeben werden müsse, sich die Ergebnisse selbst herzuleiten, kritisch zu hinterfragen und sie somit zum selbstständigen Denken und Handeln zu motivieren.
Von Studierenden des 21. Jahrhunderts wird ein reflektierter und differenzierter Umgang mit Quellen jeder Art und die Fähigkeit, ihr eigenes Vorgehen in einer wissenschaftlichen Arbeit planen, durchführen, erklären, kritisieren und verteidigen zu können, erwartet. Zunehmend werden – vor allem in den sogenannten Geisteswissenschaften – viele verschiedene Perspektiven auf eine Thematik gelehrt. Der zuvor beschriebene und sich selbst – in Form einer positiven Feedbackschleife – verstärkende Prozess der Entwicklung der skeptischen Denkhaltung hat es also in der Neuzeit dazu gebracht, sich im Gewand von Universitäten und Schulen zu institutionalisieren sowie möglichst weit zu verbreiten, und ist somit von einem unter vielen Erkenntnisansätzen zu der wissenschaftlichen Tugend aufgestiegen.
Mit dem Wiedereinbringen des von David Hume postulierten Induktionsproblems und seiner Wissenschaftstheorie nahm Karl Popper