Die politische Theorie des Neoliberalismus - Thomas Biebricher - E-Book

Die politische Theorie des Neoliberalismus E-Book

Thomas Biebricher

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Beschreibung

»Neoliberalismus« wird heute meist einfach mit ungebremstem Kapitalismus gleichgesetzt. Thomas Biebricher weist dagegen auf der Grundlage einer historischen Rekonstruktion nach, dass neoliberales Denken sich nicht nur mit ökonomischen, sondern auch mit politischen Fragen auseinandersetzt. Dieses Denken unterzieht er sodann einer kritischen Analyse und führt vor, welche Rolle die politischen Vorstellungen des Neoliberalismus im heutigen krisengeschüttelten Europa spielen.

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3Thomas Biebricher

Die politische Theorie des Neoliberalismus

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Einleitung

1. Was ist Neoliberalismus?

Teil

I

: Die politische Theorie des Neoliberalismus

2. Staat

3. Demokratie

4. Wissenschaft

5. Politik

Teil

II

: Die Disziplinierung Europas

6. Europäische Krisen: Ursachen und Konsequenzen

7. Ideen, Ungewissheit und die Ordoliberalisierung Europas

8. Epilog

Danksagung

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Informationen zum Buch

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7Einleitung

Gegen Ende von Bryan Singers Film Die üblichen Verdächtigen aus dem Jahr 1995 verrät der undurchsichtige Gangster Keyser Soze dem Publikum (s)ein Geheimnis: »Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.« Etwas Ähnliches ließe sich auch über den Neoliberalismus sagen, auch wenn es etwas übertrieben erschiene, ihm infernalische Implikationen zuzuschreiben. Der Begriff des Neoliberalismus ist gleichermaßen unklar wie umstritten. Während die einen ihn als Synonym für die entfesselten Kräfte des Turbokapitalismus betrachten,[1]  verstehen ihn andere als die moderatere Variante des altliberalen Imperativs des Laissez-faire. Und während manche einen jahrzehntelangen weltweilten Siegeszug neoliberaler Regime verzeichnen,[2]  tun andere den Neoliberalismus als fiktionalen Fiebertraum seiner Gegner ab, der überhaupt nicht existiere – geschweige denn die Welt regiere; entsprechend solle der Begriff schnellstens in Rente geschickt werden. Aus Sicht dieser letzten Position ist der Neoliberalismus begrifflich nicht nur weitgehend sinnentleert, sondern zudem mittlerweile dermaßen politisch aufgeladen, dass er eigentlich nur noch als polemisches Instrument in politischen Diffamierungskampagnen taugt. Und tatsächlich trifft dies insofern zu, als es heute schlicht keine bekennenden Neoliberalen mehr gibt.[3]  Seitdem er in den frühen 1990er Jahren (wieder) in den akademischen und politischen Diskurs eingeführt wurde, sind es fast ausnahmslos seine Kritiker, die den Begriff benutzen. 8Dies hat dazu geführt, dass man heute selbst im kritischen Lager zögert, von Neoliberalismus zu sprechen, da die Rede davon die Sprecherin automatisch als potentielle Ideologin mit antikapitalistischer Schlagseite disqualifiziert. Bezeichnet man jemanden heute als neoliberal, wird dies als Beleg für die fehlende Bereitschaft zur Diskussion auf der Grundlage von Argumenten gewertet, der gegenüber man lieber der polemischen Anklage den Vorzug gibt. Falls der Neoliberalismus also tatsächlich die Welt regierte, wäre es kurioserweise ein Neoliberalismus, der ganz ohne Neoliberale auskommt und den noch nicht einmal seine Gegner beim Namen zu nennen wagen – ein wahrhaft teuflischer Trick.

Wie ich im Folgenden darlegen werde, ist der Neoliberalismus aber weit mehr als eine chimärische Ausgeburt der übersteigerten Phantasie seiner Kritiker. Das neoliberale Denken entwickelte sich in Reaktion auf die Krise des Liberalismus in den 1930er Jahren, und es gibt einen gemeinsamen neoliberalen Nenner, wenn auch einen sehr kleinen: Es handelt sich nicht um eine geteilte Doktrin, sondern vielmehr um das, was ich als die neoliberale Problematik bezeichne, die sich um die Bedingungen der Möglichkeit von funktionierenden Märkten dreht. Diese Problematik kennzeichnet das Werk diverser Denker, die sich in diesem Sinne zu Recht als Neoliberale bezeichnen lassen. Dazu gehören die deutschen Ordoliberalen Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, aber auch Friedrich August Hayek, Milton Friedman und James Buchanan.[4]  Ihrem Denken entstammen die Ideen, Entwürfe und Argumente, die im ersten, zentralen Teil des Buchs untersucht werden. Hier werden die wichtigsten Elemente der politischen Theorie des Neoliberalismus rekonstruiert, analysiert und problematisiert. Das neoliberale Denken verfügt über eine genuin politische Dimension, die einen integralen Bestandteil der neoliberalen Problematik darstellt und keineswegs nur ein zu vernachlässigendes Anhängsel des vielbeschworenen Glaubens an selbstregulierende Märkte.

9Im Mittelpunkt dieses ersten Teils des Buches stehen vier zentrale Kategorien des neoliberalen politischen Denkens: Staat, Demokratie, Wissenschaft und Politik. Die neoliberalen Positionen bezüglich dieser Kategorien und der damit verbundenen Themen und Fragen variieren teilweise beträchtlich, bis hin zu expliziten Widersprüchen, und eines der zentralen Anliegen dieser Studie besteht darin, die daraus resultierenden Heterogenitäten und Spannungen zwischen den diversen Perspektiven herauszuarbeiten und abzubilden, die entsprechend in unterschiedliche Variationen neoliberalen Denkens gruppiert werden.

Im zweiten Teil wenden wir uns der Welt des »real existierenden Neoliberalismus« zu,[5]  wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Europa der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit liegt. Für diese Schwerpunktsetzung lassen sich vor allem zwei Gründe anführen. Erstens geht es mir um eine Analyse des Neoliberalismus in seinem aktuellen Zustand: Welche Transformationen lassen sich im Zuge der großen Krisen der letzten fünfzehn Jahre beobachten, und inwiefern unterscheidet sich der Neoliberalismus heute vom Neoliberalismus vor der Zeit der großen Wirtschaftskrisen? Zweitens konzentriert sich die Untersuchung auf Europa, weil die Europäische Union (EU) sowie die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) gemeinsam das bei weitem avancierteste Labor zur Entwicklung neuer neoliberaler politischer Formen darstellen. Hier finden sich neoliberale Vorstellungen nicht nur in nationalstaatliche Strukturen und internationale (Handels-)Regime eingelagert, sondern auch in Form einer supranationalen Föderation (inklusive gemeinsamer Währung), eine Konfiguration, die Gegenstand ausführlicher Überlegungen von Seiten einiger Neoliberaler war, die darin, trotz aller damit verbunden Schwierigkeiten, eine potentielle institutionelle Patentlösung zur Umsetzung eines neoliberalen Projektes bzw. zur Bewältigung der neoliberalen Problematik sahen. Dementsprechend widmen sich Kapitel 6 und 7 Darstellung und Diskussion der zentralen Funktionsmechanismen von EU/WWU und der Frage, inwieweit sie neoliberalen Vorstellungen über Föderationen im Allgemeinen und europäische Integration im Besonderen entsprechen.

Auf der Basis einiger vorläufiger Überlegungen zur Bedeutung 10von Ideen und Diskursen im Hinblick auf politische Praktiken und unter Bedingungen krisenbedingter Unsicherheit wird zuletzt die hier vertretene zeitdiagnostische These vorgestellt, dass die Eurozone in ihrer aktuellen institutionellen Ausgestaltung zunehmend den politischen Vorstellungen des Ordoliberalismus als einer spezifischen Variante des Neoliberalismus entspricht. In diesem Sinne erleben wir im Moment die Ordoliberalisierung Europas. Denn nicht nur hat Wettbewerbsfähigkeit oberste Priorität als Ziel aller Reformen, die Eurozone verfügt darüber hinaus heute über eine Wettbewerbsordnung, die all ihre Mitgliedsländer in eine bestimmte, als wünschenswert angesehene Form der Konkurrenz zwingt, die zumindest bis zum Anbruch des Coronazäns in einer allgemeinen Politik der Austerität resultierte. Des Weiteren implementiert diese Wirtschaftsverfassung in ihren Strukturmerkmalen viele ordoliberale Überzeugungen im Hinblick auf die Rolle, die Staat, Demokratie und Wissenschaft bei der Regierung des Marktes spielen sollen – wobei es sich in diesem Fall natürlich um einen Markt der Jurisdiktionen handelt. Diese Form von Governance ist zutiefst skeptisch gegenüber pluralistischer Demokratie und verlegt sich stattdessen auf einen technokratischen Politikmodus mit autoritären Anklängen.

Wenn es zutrifft, dass das Signum unserer Zeit der Aufstieg des Autoritarismus ist, dann sollten wir nicht davon ausgehen, dass damit das Ende des Neoliberalismus besiegelt ist. Im Gegenteil beinhalteten bestimmte Variationen des neoliberalen Denkens von jeher eine autoritäre Dimension, die nun zunehmend in seiner real existierenden Form sichtbar wird, sei es in Europa oder anderswo. Versteht man den Neoliberalismus richtig, nämlich als kapitalistische Märkte, die in autoritäre politische Formen eingebettet sind, dann ist dieser Neoliberalismus keineswegs am Ende – womöglich hat er gerade erst begonnen. Dementsprechend widmet sich der abschließende Epilog der Frage des Verhältnisses von Neoliberalismus und Autoritarismus, aber auch den Auswirkungen, die die Corona-Krise auf die Ordoliberalisierung Europas hat – soweit sich dies heute schon beurteilen lässt.

Unsere Untersuchung beginnt mit einem genaueren Blick auf die möglichen Gründe für und gegen die weitere Verwendung des Begriffs ›Neoliberalismus‹. Soweit ich sehen kann, gibt es zwei Argumentationslinien, auf die die Gegner des Begriffs zurückgreifen. 11Das erste Argument lautet, Neoliberalismus sei auf einen bloßen politischen »Kampfbegriff« oder gar ein »Schimpfwort« [6]  reduziert worden, und die Vertreter dieser Perspektive sprechen sich stattdessen für die Verwendung eines weniger werturteilsgeladenen analytischen Vokabulars aus, um politökonomische Ideen, Politiken oder Institutionen zu beschreiben. Das zweite Argument fokussiert auf das eng damit verbundene Problem, das der Neoliberalismus mit vielen anderen Begriffen teilt, die zumindest für eine gewisse Zeit zu intellektuellen Modewörtern aufsteigen: Gerade wegen ihrer Popularität und der damit verbundenen Verbreitung über disziplinäre Grenzen und die entsprechenden Zugänge hinweg lösen sie sich in amorphe Allerweltsbegriffe oder leere Signifikanten auf.[7]  Dem »Diskurs« und der »Globalisierung« war ein ähnliches Schicksal beschieden.

Dem Vorwurf, dass der Neoliberalismus nicht mehr ist als eine semantische Waffe in der Hand antikapitalistischer Kräfte und daher zugunsten von Konzepten und analytischen Kategorien verabschiedet werden sollte, die nicht als politisch suspekt gelten, liegt allerdings eine problematische Vorannahme zugrunde. Implizit wird nämlich die Möglichkeit einer Sprache vorausgesetzt, die (noch nicht) durch politische Parteinahmen kontaminiert ist und einen unverzerrten Zugang zur politischen Wirklichkeit bietet. Schließlich ist der Vorwurf nur dann stichhaltig, wenn tatsächlich eine Alternative zu dem vermeintlichen polemischen Vokabular des Neoliberalismus existierte. Aber diese Annahme ist nicht sonderlich plausibel. Zwar mögen im 20. Jahrhundert sowohl der Positivismus als auch der Kritische Rationalismus, wie er sich etwa in den Werken Karl Poppers findet (der kurzzeitig Mitglied der Mont Pèlerin Society war, eines transnationalen Netzwerks von Neoliberalen, auf das wir noch zurückkommen werden), von einer gänzlich transparenten Sprache geträumt haben, deren Eindeutigkeit nicht von einem Konnotationsüberschuss jenseits der ausdrücklichen Bedeutung beeinträchtigt wird, doch heute träumt kaum noch jemand diesen Traum.

12Die typische Entgegnung auf diesen Punkt besteht darin, einzugestehen, dass zwar gewichtige philosophische Gründe gegen die Vorstellung einer gänzlich unverzerrten Sprache sprechen, es aber dennoch einen großen Unterschied macht, ob man mehr oder weniger verzerrte bzw. verzerrende Terminologien verwendet. Anstelle von Neoliberalismus solle man daher eher von Marktwirtschaft oder einfach Kapitalismus sprechen. Abgesehen davon, dass auch einige der frühen Neoliberalen sich gegen die Verwendung der Bezeichnung ›Kapitalismus‹ aussprachen, »weil sie an ein System denken läßt, das vor allem den Kapitalisten nützt«,[8]  verweist dies auf ein grundsätzlicheres Problem: Die Reinigung sozialtheoretischer Sprache von allen vermeintlichen Verzerrungen ist, wenn überhaupt, dann nur um den Preis der Abstraktion möglich, was uns dann aber unter Umständen jeglichen Vokabulars beraubt, das auch über ein zeitdiagnostisches Potential verfügte. Worin besteht der intellektuelle Mehrwert, wenn wir Gesellschaften als schlicht kapitalistisch charakterisieren? Diese Beschreibung traf auch vor zweihundert Jahren und sogar schon davor zu. Sie trifft zudem ebenso auf Schweden zu wie auf die Vereinigten Staaten von Amerika – und so gut wie jede andere heute existierende Gesellschaft. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Aussage, die so wahr ist, dass sie zur Trivialität wird. Doch insofern die Sozialwissenschaft nicht auf die Generierung ewiger Gesetzmäßigkeiten abzielt, tut sie gut daran, zeiträumliche Kontexte ernst zu nehmen, und erfordert konsequenterweise terminologische Instrumente, die unterhalb der Abstraktionsebene von ›Kapitalismus‹ und ›Marktwirtschaft‹ operieren, um das Spezifische an jenen Kontexten zu erfassen. Solch diagnostisches Potential ist von beträchtlichem analytischen und kritischen Wert für jeden Versuch, das zu erfassen, »was unsere Gegenwart ausmacht«;[9]  wie sie sich von der Vergangenheit unterscheidet und wie sie anders sein könnte. Trotz aller Unannehmlichkeiten, die der Begriff verursacht, kann der Neoliberalismus dennoch als ein vielversprechender Kandidat bei der Suche nach einer solchen kritisch-diagnostischen Terminologie zur Untersuchung der gegenwärtigen Welt gelten – zumindest vielver13sprechender als Alternativen wie z. B. Spätkapitalismus, Postfordismus oder »fortgeschrittener Liberalismus«,[10]  die mit noch schwerwiegenderen definitorisch konzeptionellen Problemen zu kämpfen haben.

Worin bestehen nun die definitorischen Schwierigkeiten im Hinblick auf den Neoliberalismus, und handelt es sich hier um eine Besonderheit dieses Begriffs oder um eine allgemeinere Unannehmlichkeit, die mit dem Versuch einhergeht, Traditionen und Strömungen des politischen Denkens zu etikettieren? Viele derjenigen, die sich gegen den Neoliberalismus aussprechen, weil der Begriff in Debatten häufig rein polemisch gebraucht wird, sehen den Grund dieses polemischen Potentials in dessen weitgehender Inhaltsleere. So ist es die vermeintliche Unbestimmtheit des Neoliberalismus, die ihn in eine perfekte diskursive Waffe verwandelt, die reich an antagonistischen Konnotationen, aber arm an greifbarem Inhalt sei. Es gibt keinerlei Grund, diese Schwierigkeiten herunterzuspielen, die ja schon im Begriff des Liberalismus wurzeln. Der Liberalismus ist eine Denkströmung, die sich – positiv ausgedrückt – dadurch auszeichnet, dass sie von einer beneidenswert reichhaltigen Vielfalt gekennzeichnet ist und von einer überraschend heterogenen Gruppe von Denkern und Denkerinnen als intellektuelle Heimat angesehen wird. Weniger positiv ausgedrückt ließe sich der Liberalismus als Denktradition beschreiben, die man, wenn überhaupt, dann nur mit allergrößter Mühe auf ein bestimmtes Kernmerkmal oder gar Wesen festlegen kann.[11]  Schließlich gibt es ernstzunehmende Argumente dafür, dass selbst der absolutistische und semi-autoritäre Denker Thomas Hobbes ein Vertreter der liberalen Tradition ist. Dies ist ein klarer Indikator für die ungemeine Bandbreite der Positionen, die sich als der liberalen Tradition zugehörig charakterisieren lassen, und man würde vermuten, dass dies auch bei einem seiner genealogischen Erben, nämlich dem Neoliberalismus, entsprechende Auswirkungen hat. Abgesehen von diesen allgemeinen Schwierigkeiten, die mit dem Versuch der politisch-intellektuellen Etikettierung verbunden sind, ist der Neoliberalismus mit einem weiteren Problem behaf14tet, das von der besonderen zeiträumlichen Dynamik herrührt, die den Begriff des Liberalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts erfasst hat. Es geht um die damals vor allem in der anglo-amerikanischen Welt langsam einsetzende Transformation des Begriffs ›Liberalismus‹. Vor allem hier begannen liberale Denker, Elemente dieser Tradition mit einer eher sozialdemokratisch-progressiven Agenda zu verknüpfen. Der New Liberalism eines John Dewey oder eines T. H. Green führte vor allem in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien zu einer weitreichenden Bedeutungsverschiebung, die bis heute die Suche nach einer gemeinsamen politischen Sprache für die kontinentaleuropäische und die anglo-amerikanische Welt erschwert.[12]  Schließlich ist das Resultat dieser Bedeutungsverschiebung eine Konstellation, in der die kontinentaleuropäische Sozialdemokratin aus dem linken Spektrum auf der anderen Seite des Atlantiks als ›liberal‹ bezeichnet und ein Liberaler im kontinentalen Sinne vermutlich als Konservativer charakterisiert würde. Diese transatlantische Divergenz der Bedeutungen von Liberalismus hat natürlich auch Auswirkungen auf die Verwendung der Begrifflichkeit des Neoliberalismus: Trotz all der erwähnten Vorbehalte ist ›Neoliberalismus‹ ein etablierter Begriff im politischen Diskurs Europas. Aber angesichts der konträren Bedeutung von Liberalismus im nordamerikanisch-angelsächsischen Kontext überrascht es nicht, dass der Neoliberalismus kaum zum Repertoire des dortigen politischen Diskurses gehört. Das Publikum würde sich vermutlich fragen, wie es sein kann, dass Neoliberalismus in etwa das Gegenteil von dem bedeutet, was hier gewöhnlich als Liberalismus bezeichnet wird. Im anglo-amerikanischen Diskurs wiederum bezeichnet man gewöhnlich Positionen, die im europäischen Kontext als neoliberal gelten, als »libertarian«. Doch dieser ›Libertarianismus‹ erfährt im europäischen Kontext das spiegelbildliche Schicksal des Neoliberalismus in den USA und in Großbritannien: 15Trotz der Bedeutung, die der Begriff im akademischen Raum hat, spielt er im politischen Diskurs keinerlei Rolle.

Sollten uns diese terminologischen Komplikationen letztlich doch dazu veranlassen, das Konzept des Neoliberalismus aufzugeben? Meiner Ansicht nach sollten die begrifflichen Schwierigkeiten, die mit dem Neoliberalismus verbunden sind, nicht geleugnet werden; aber viel wichtiger ist doch die Frage, inwieweit wir es hier tatsächlich mit einem spezifischen Problem des Neoliberalismus zu tun haben und ob es sich überhaupt um ein Problem in dem Sinn handelt, dass es das Resultat vermeidbarer (Denk-)Fehler oder womöglich doch anderer Natur ist. Der entscheidende Punkt besteht meiner Ansicht nach darin, zu klären, was wir mit Begriffen zu erreichen hoffen, die eine politische Ideologie, einen intellektuellen Diskurs oder eine Denktradition bezeichnen sollen. Man denke etwa an Begriffe wie Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, Kritische Theorie, Poststrukturalismus oder den Neuen Materialismus. In jedem dieser Fälle ist es gänzlich unmöglich, Grenzlinien mit geometrischer Genauigkeit zu ziehen, die uns beispielsweise die eindeutige Unterscheidung zwischen Konservatismus und seinen engsten intellektuellen Verwandten von Liberalismus bis Autoritarismus ermöglichen würden. Der Liberalismus wurde bereits als Paradebeispiel für die Definitionsschwierigkeiten von intellektuellen Traditionen angeführt, die sich auf komplexe Art und Weise über die Zeit und geokulturelle Kontexte hinweg entwickeln. Obwohl ein oberflächlicher Blick genügt, um sich über die Verschwommenheit dieser Konzepte klarzuwerden, wird doch selten die Forderung erhoben, aufgrund der entsprechenden terminologisch konzeptionellen Defizite nicht mehr länger von Konservatismus oder Liberalismus zu sprechen. Und wäre der Anspruch, der sich mit der Verwendung dieser Begriffe verbindet, tatsächlich, die Vermessung des intellektuell-politischen Geländes mit geometrischer Präzision durchzuführen, dann müssten wir schließlich nicht nur den Neoliberalismus, sondern auch so gut wie alle anderen Termini aus der kartographischen Werkzeugkiste entfernen, die ja alle Denkströmungen und mehr oder weniger kongruente politische Positionen erfassen und abbilden sollen, welche ebenfalls von einer untilgbaren Heterogenität gekennzeichnet sind. Die Tatsache, dass die Forderung nach einer Verabschiedung all jener Begrifflichkeiten bislang kaum nennenswerten Widerhall gefunden 16hat, verweist auf die unausgesprochene Erwartung an diese Begriffe, uns nicht unbedingt exakte Marker des intellektuell-politischen Terrains zu liefern, sondern eine mehr oder weniger vage Orientierung zu bieten, die aber beständiger Revision und Hinterfragung bedarf. Je genauer wir untersuchen, was eine bestimmte Tradition vermeintlich repräsentiert, desto weniger eindeutig erscheint sie uns. Umgekehrt gilt: Je mehr wir über eine bestimmte Person der politischen Geistesgeschichte herausfinden, desto schwieriger wird es, sie eindeutig einer bestimmten Tradition zuzuordnen. Wir sollten dies aber nicht als eine Art pathologischen Befund, sondern vielmehr als das alltägliche Geschäft der politischen Theorie betrachten. Und zuletzt sollten wir dieses Geschäft, dem sich so viele Studien in der politischen Ideengeschichte, aber auch in der zeitgenössischen politischen Theorie widmen, keinesfalls als staubtrockene Buchhaltungsaufgabe betrachten. Im Gegenteil handelt es sich um eine eminent politische Praxis. Schließlich ist es der politische Gehalt dieser Konstruktion politischer Traditionen, der neben den bereits erwähnten Gründen hauptverantwortlich dafür ist, dass die Kontroversen über eine bestimmte Definition von beispielsweise Konservatismus, der gemäß Denkerin X dazugehört, wohingegen Denker Y nicht Teil davon ist, schlichtweg unabschließbar sind. Die Debatte um eine bestimmte Definition von Konservatismus und der entsprechenden Repräsentanten mag nicht die wichtigste Aufgabe der politischen Theorie sein. Gleichwohl handelt es sich bei der Bestimmung politischer Traditionen und der politisch-intellektuellen Kartographie um alles andere als um triviale Angelegenheiten, denn in diesen Terminologien vollzieht sich letztlich die Praxis politischer Kontestation. Auch wenn also immer wieder die Verschwommenheit massiv umkämpfter politischer Genrebezeichnungen und Ideologien beklagt wird, sollte sich die politische Theorie zwar deren Grenzen und Gefahren bewusst sein, sie aber dennoch als ein wichtiges Medium politischer Kontestation begreifen und entsprechend benutzen – und dies gilt a fortiori auch für den Neoliberalismus.

Nach dieser vorläufigen Verteidigung der Verwendung des Begriffs des Neoliberalismus sind im Folgenden noch die zwei zentralen und möglicherweise kontroversen Grundannahmen sowie die damit korrespondierenden methodischen Entscheidungen zu erläutern, die dieser Studie zugrunde liegen.

17Zunächst gehe ich davon aus, dass es möglich ist, eine analytische Unterscheidung zwischen Neoliberalismus als intellektuellem Projekt bzw. intellektueller Tradition und Neoliberalismus als einer Reihe von konkreten politischen Projekten in verschiedenen empirischen Kontexten vorzunehmen. Ich bin zwar letztendlich sowohl an der Theorie als auch der Praxis des Neoliberalismus in diesem Sinn interessiert, aber der Ausgangs- und Schwerpunkt der Studie ist die Ebene der Theorie. Diese Herangehensweise kann möglicherweise als ein »ideenbasiertes Verständnis des Neoliberalismus«[13]  angesehen werden und sieht sich als solches mit Kritik konfrontiert, die vor allem aus einer eher materialistischen Perspektive vorgebracht wird, aus deren Sicht die ideationale Dimension des Neoliberalismus in allererster Linie und womöglich ausschließlich von ideologischer Bedeutung ist.[14]  Diese Perspektive verweist auf die vermeintliche Kluft zwischen neoliberaler Theorie und Praxis und wirft nicht-materialistischen Ansätzen vor, die Einbettung von Ideen in interessenbasierten und institutionellen Machtstrukturen zu verkennen, die die Resilienz jener Ideen verbürgten.[15]  Zwar habe ich keinerlei grundsätzliche Einwände gegen die kritische Erforschung des ›real existierenden Neoliberalismus‹, der ja Gegenstand des zweiten Teils dieses Buchs ist, aber ich sehe gewisse Probleme für den Fall, dass dies der ausschließliche Fokus ist, denn materialistische Ansätze haben mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen. Erstens definieren Materialisten gewöhnlich ein bestimmtes Politikregime, z. B. Privatisierung und Vermarktlichung, als neoliberal, aber wie könnte man zu einer solchen Definition gelangen, ohne das neoliberale Schrifttum und die darin enthaltenen Ideen und Entwürfe in Betracht zu ziehen? Über Jahrzehnte gab es schlicht keinen Neoliberalismus außer in der Form eines intellektuellen Diskurses; primär die politische Praxis als Ausgangspunkt einer Untersuchung zu wählen, erscheint vor diesem Hintergrund zumindest erklärungsbedürftig. Hinzu kommt, dass die vermeint18liche Diskrepanz zwischen neoliberaler Theorie und Praxis oft stark überzeichnet ist, womöglich auch aus einem gewissen Desinteresse an neoliberaler Theorie heraus, die bisweilen als kaum mehr als die dogmatische Lehre von sich selbst regulierenden Märkten angesehen wird. Handelte es sich hier um eine zutreffende Interpretation, dann wäre die Kluft zwischen diesen beiden Dimensionen des Neoliberalismus tatsächlich beträchtlich, aber die Charakterisierung des Neoliberalismus als ökonomistischer Marktabsolutismus lässt auf ein zumindest problematisch verengtes, wenn nicht gar falsches Verständnis schließen.[16]  Denn neoliberale Theorie ist zutiefst interessiert an der Verbindung und den Schnittstellen von Politik, Gesellschaft und Ökonomie. Nehmen wir sie als politische Ökonomie ernst, dann werden auch die Korrespondenzen zwischen diesen Entwürfen und dem Neoliberalismus der Praxis sichtbar. Natürlich wäre es falsch zu behaupten, dass es eine genaue Entsprechung von neoliberaler Theorie und Praxis im Verhältnis 1 : 1 gibt oder dass Akteure regelmäßig und bewusst versuchen, neoliberale Ideen umzusetzen, oder gar, dass jene sich ganz von selbst realisieren – ich hege keine hegelianischen Ambitionen.

Daraus aber den Schluss zu ziehen, neoliberaler Theorie jegliche Wirkmächtigkeit abzusprechen, ließe auf eine äußerst verengte Vorstellung des politischen Lebens schließen, die seiner ideationalen Dimension keinerlei Bedeutung zumisst.[17]  Und nicht zuletzt wäre der Preis, den wir dafür entrichten, neoliberale Theorie nicht ernst zu nehmen, sondern auf ihre Funktion als ideologischer Schleier neoliberaler Praktiken zu reduzieren, auch ein politischer. Man stelle sich die Reaktion eines Anhängers des Neoliberalismus auf typische Kritikpunkte an diesem vor, wie z. B. die Zunahme sozialer Ungleichheit oder Ähnliches: Offensichtlich würde die Erwiderung lauten, dass dies nicht dem Neoliberalismus an sich, son19dern seiner stümperhaften oder doch zumindest unvollständigen und selektiven Umsetzung anzulasten ist, die dafür verantwortlich ist, dass uns die Wohlstandsgewinne und andere vermeintliche Segnungen, die mit Neoliberalisierungsprozessen einhergehen sollen, vorbehalten bleiben. Die Lösung für gesellschaftliche Probleme bleibt also mehr Neoliberalismus und nicht weniger. Dieser diskursiven Strategie kann nur effektiv der Riegel vorgeschoben werden, indem wir uns mit dem Neoliberalismus auf der Ebene von Theorien und Ideen befassen, um zu zeigen, dass das Problem nicht in der lückenhaften Implementierung liegt, die nicht dem Geist der Ideen entspricht, sondern dass die Ideen selbst das Problem sind.

Die zweite methodologische Grundannahme betrifft meine Herangehensweise an das neoliberale Denken. Das Ziel dieser Studie besteht nicht nur in Rekonstruktion und Analyse, sondern auch in einer Kritik des neoliberalen Denkens. Im Unterschied zu denjenigen, die sich für eine (bestimmte Art von) Ideologiekritik im Hinblick auf neoliberale Theorie aussprechen,[18]  ist die Stoßrichtung meiner Kritik etwas anders gelagert und basiert auf zwei gleich wichtigen Komponenten. Zum einen destilliere ich aus der neoliberalen Theorie ihre genuin politischen Elemente und untersuche sie im Hinblick auf interne Inkonsistenzen sowie Spannungen innerhalb und zwischen diversen Variationen des Neoliberalismus, um darüber hinaus auch zu klären, inwieweit sie ihren eigenen Ansprüchen und Maßstäben (nicht) genügen kann. In diesem Sinn lässt sich hier also von einem Verfahren der immanenten Kritik sprechen. Wie allerdings die altehrwürdige Debatte über diesen Kritikmodus zeigt, beruht die Stärke immanenter Kritik zwar einerseits darauf, dass sie die Auseinandersetzung auf dem Terrain ihres Objekts sucht und daher gewissermaßen nie fehlgehen kann – andererseits ergibt sich ihre größte Schwäche aber ebenfalls aus dieser Herangehensweise. Indem immanente Kritik sich auf jenes Terrain und die entsprechenden Bedingungen der Auseinandersetzung einlässt, verlegt sie diese de facto außerhalb des Radius einer eng interpretierten immanenten Kritik. Daher besteht die zweite Komponente meines kritischen Ansatzes in einem Fokus auf all das, was in neoliberaler Theorie unausgesprochen bleibt, also die Annahmen und Bedingungen, die stillschweigend vorausgesetzt 20werden, die daraus resultierenden Limitierungen und blinden Flecken sowie die Implikationen und potentiellen Auswirkungen bestimmter Vorstellungen, wenn sie denn realisiert würden. Worauf ich damit abziele, ist eine gehaltvolle und nuancierte Kritik neoliberalen Denkens, die dieses ernst nimmt und nicht von vornherein aburteilt. Eine Kritik, die es nicht nötig hat, sich zwingend von jedem einzelnen Element im neoliberalen Denken zu distanzieren, nur um sicherzustellen, dass dieses dämonisch Andere streng getrennt bleibt von seinem nicht-neoliberalen Antipoden, dessen Reinheit um jeden Preis erhalten werden muss, so dass es keinerlei Korrespondenzen und teilweisen Übereinstimmungen geben darf, ganz abgesehen von der wahnwitzigen Vorstellung, es ließe sich etwas von den Vertretern des Neoliberalismus lernen. Die Kritik, die ich hier entwickele, intendiert also weder eine Widerlegung noch eine Demaskierung neoliberalen Denkens im Sinne einer Ideologiekritik; ihr Ziel besteht vielmehr in der Problematisierung der politischen Theorie des Neoliberalismus in ihren diversen Aspekten.

211. Was ist Neoliberalismus?

Neoliberalismus ist ein unangenehmer, aber wichtiger Begriff, der als Ressource für kritische Untersuchungen sozioökonomischer und politischer Verhältnisse in der kapitalistischen Gegenwart dienen kann. Nichtsdestotrotz bleibt die potentielle Nützlichkeit des Begriffs bzw. des Konzeptes mit einem Fragezeichen versehen, da seine Bedeutung unklar ist, wenn er nicht gar völlig sinnentleert ist, wie manche Kritiker behaupten. Es ist daher keineswegs überraschend, dass die Neoliberalismus-Forschung sich gezwungen sieht, eine eindeutige und nachvollziehbare Definition ihres Gegenstandes zu liefern, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, im Zentrum ihrer Agenda flottiere ein gänzlich leerer Signifikant umher. Die Folge ist eine Vielzahl von Studien, die versuchen, den Neoliberalismus entweder über eine Reihe vermeintlich typisch neoliberaler Politiken wie etwa Deregulierung und Privatisierung[1]  oder mit Verweis auf einen konzeptionellen Kern zu definieren, der das Wesen des Neoliberalismus darstelle.[2]  Diese Bemühungen sind allerdings mit Schwierigkeiten behaftet. Die diversen Politik-Listen wirken unvermeidlicherweise immer etwas arbiträr, denn warum sind es etwa gerade Deregulierung und Privatisierung und nicht auch Vermarktlichung und Responsibilisierung, die das archetypische Politik-Regime des Neoliberalismus ausmachen? Angesichts der Spannbreite und internen Heterogenität dessen, was in der Literatur als »variegierter«[3]  und »polymorphischer«[4]  Neoliberalismus charakterisiert wird, scheint sich dieser einerseits vehement gegen eine »generische und transhistorische Definition«[5]  zu sträuben – 22und dies gilt nicht nur für seine real existierenden Manifestationen, sondern auch für seinen Diskurs. Andererseits kann die Lösung kaum darin bestehen, dass man von einer »Reihe von distinkten, aber miteinander verbundenen Neoliberalismen« ausgeht,[6]  denn damit verschärfte sich das Problem nur noch weiter, müsste doch nun jeder einzelne Neoliberalismus definiert und darüber hinaus auch die Verbindung zwischen ihnen konzeptionell erfasst werden.

Damit sind die Herausforderungen benannt, denen sich jede Untersuchung des Neoliberalismus zu stellen hat. Das Hauptziel dieses Kapitels besteht daher darin, eine Vorstellung von Neoliberalismus zu entwickeln, die nicht den Fehler begeht, mit einfachen und eindeutigen Definitionen eine »transzendentale ›Feststellung‹ des Neoliberalismus«[7]  vorzunehmen, um ihn so konzeptionell mit Verweis auf ein wie auch immer geartetes Wesen oder einen Kern zu fassen. Stattdessen geht es um ein Verständnis, das hinreichend differenziert ist, um seine internen Heterogenitäten adäquat abzubilden, ohne den Neoliberalismus in multiple Neoliberalismen aufzulösen, die keinerlei grundlegende Gemeinsamkeit aufweisen. Zu diesem Zweck schlage ich folgende konzeptionelle Strategie vor.

Angesichts der Abwesenheit selbsterklärter Neoliberaler in der heutigen Zeit und dem bisweilen geäußerten Verdacht, dass der Neoliberalismus niemals existiert habe, sondern schlicht ein »Fiebertraum der Linken« sei,[8]  halte ich es für eine sinnvolle Herangehensweise, die Bedeutung zu klären, die der Neoliberalismus für diejenigen hatte, die sich selbst als Neoliberale bezeichneten. Anders formuliert, besteht der erste Schritt in der Erarbeitung eines Verständnisses des neoliberalen Projekts (bzw. der neoliberalen Projekte) in der Rekonstruktion seines historischen Entstehungskontextes, der pointiert als die Krise des Liberalismus zusammengefasst werden kann. Der Neoliberalismus muss in erster Linie als eine Reaktion auf diese Krise aufgefasst werden, wobei die zukünftigen Neoliberalen ausführlich die Faktoren erörterten, die ihrer Ansicht nach zum Niedergang des Liberalismus geführt hatten. Aus diesen 23Diskussionen und den entsprechenden Positionierungen lässt sich das herausdestillieren, was ich als neoliberale Problematik bezeichne und womit, konzeptionell gesprochen, die richtige Balance zwischen Einheit und Heterogenität neoliberalen Denkens hergestellt werden kann. Der Neoliberalismus war nie ›eins‹ mit sich selbst, und die historische Herangehensweise wurde hier nicht in der Hoffnung gewählt, es ließe sich ein Ursprung des Neoliberalismus finden, an dem sein Wesen noch isoliert von allen kontingenten Zusätzen in seiner unberührten Reinheit anzutreffen wäre – denn diesen Ort gibt es nicht. Trotz der unbestreitbaren Spannungen innerhalb des neoliberalen Diskurses, die ihn schon in seinen Anfängen kennzeichneten, bestand das einende Band zwischen jenen, die sich damals als Neoliberale bezeichneten, in einer geteilten Problematik, die ihr Denken antrieb. Im Mittelpunkt dieser Problematik stand zwar der Markt, aber es handelte sich nichtsdestotrotz um eine inhärent politische Problematik, wie ich in Abgrenzung von konventionell ökonomistischen Lesarten des Neoliberalismus im Folgenden zeigen werde.

Die Geburt des Neoliberalismus: Das Walter-Lippmann-Kolloquium und die Krise des Liberalismus

Vermutlich sah kaum einer der Teilnehmer des Walter-Lippmann-Kolloquiums voraus, dass ihr Treffen retrospektiv als die Geburt einer ganzen Denkströmung angesehen werden würde, als sie in den letzten Augusttagen des Jahres 1938 am Institut International de Coopération Intellectuelle zusammenkamen. Der Zweck des fünftägigen Kolloquiums war die Diskussion des Buchs Die Gesellschaft freier Menschen,[9]  das der US-amerikanische Journalist Walter Lippmann im Jahr zuvor veröffentlicht hatte. Neben ihm nahmen fünfundzwanzig weitere Denker aus diversen vornehmlich europäischen Ländern teil.[10]  In den Diskussionsprotokollen des Treffens 24findet sich erstmals der Begriff Neoliberalismus als Bezeichnung für eine gemeinsame Agenda und ein geteiltes Projekt.[11]  Natürlich suggeriert die Rede von der Geburt des Neoliberalismus, den entsprechenden Diskussionsprotokollen und Lippmanns Buch zunächst, dass es womöglich doch den einen, klar lokalisierbaren Ursprung inklusive neoliberalen Gründungstexts gäbe, die dann doch als Kernelemente eine eindeutig elegante definitorische Erfassung des Neoliberalismus ermöglichen würden. Aber sowohl das Narrativ als auch die Metaphorik der Geburt erweisen sich in ihrer vermeintlichen Einfachheit als trügerisch.

Weder gibt es einen einzigen Ursprung des Neoliberalismus, noch gibt es einen entsprechenden Gründungstext, der von Lippmann oder einem beliebigen anderen Neoliberalen verfasst worden wäre.[12]  Die Dinge liegen wesentlich komplizierter, beginnend mit der Tatsache, dass der Veranstalter Louis Rougier den Begriff des Neoliberalismus nach Ende des Kolloquiums in die Protokolle hineinschrieb, es aber bis heute unklar ist, ob sich tatsächlich im Zuge der Diskussionen unter den Beteiligten ein Konsens über die 25offizielle Annahme dieses Labels herauskristallisierte.[13]  Und damit nicht genug der Komplikationen beim ersten Aufgalopp des Neoliberalismus, dessen schwerwiegendste der sich bereits am Horizont abzeichnende Zweite Weltkrieg war, der das neoliberale Projekt mit all seinen Plänen für ein Forschungszentrum, regelmäßige Treffen und einer intensivierten Netzwerkbildung zunächst abrupt zum Erliegen brachte. Nach dem Kolloquium würde es beinahe eine ganze Dekade dauern, bis eine ähnliche Zusammenkunft erstmals wieder stattfand – sozusagen die zweite Geburt des Neoliberalismus –, und zwar im Jahr 1947, als sechzig Teilnehmer in der Schweiz die bereits erwähnte Mont Pèlerin Society gründeten, die bis heute als eine Art Internationale des Neoliberalismus gilt,[14]  obwohl es das Wort Neoliberalismus nie in das offizielle Statement of Aims der Society schaffte, auf das sich die Gründungsmitglieder verständigt hatten.

Nichtsdestotrotz bietet das Kolloquium einen guten Ausgangspunkt für eine Untersuchung des neoliberalen Projektes, denn die Agenda des Kolloquiums und die der Gründungskonferenz der Mont Pèlerin Society in Kombination mit den Werken der zentralen Teilnehmer kann uns tatsächlich bei der Rekonstruktion des Entstehungskontextes des Neoliberalismus als intellektuell-politisches Projekt und den damit verbundenen Plänen und Zielen behilflich sein.

Lippmanns Gesellschaft freier Menschen war ein Buch, dem es nicht an internen Widersprüchen mangelte, doch seine Diagnose und Gesamteinschätzung der Zeit erschien den zukünftig führenden Neoliberalen durchaus plausibel. Lippmann beschrieb und analysierte einen Liberalismus, der sich im freien Fall befand, und forderte einen entschlossenen Kraftakt, um ihn in seiner volatilen Entwicklungsdynamik zu stabilisieren und zu konsolidieren. Wenn 26dies nicht gelinge, so Lippmann, drohe der Liberalismus nur allzu bald in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Dies war der Anlass für Hayek in London und Röpke in Genf, die manche dieser Sorgen teilten, ein Treffen zu organisieren, auf dem nicht nur Lippmanns Thesen, sondern der bedenkliche Zustand des Liberalismus insgesamt diskutiert werden sollte. Dementsprechend lässt sich der neoliberale Entstehungskontext pointiert als Krise des Liberalismus zusammenfassen.

Worin bestanden nun die wesentlichen Faktoren, die als Symptome dieser womöglich lebensbedrohenden Krise des Liberalismus anzusehen sind? Am Ende der 1930er Jahre waren die Anhänger des Liberalismus – und nicht nur sie – zu der Überzeugung gelangt, dass dessen Niedergang mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs eingesetzt hatte.[15]  Der Krieg hatte natürlich in vielerlei Hinsicht katastrophale und traumatische Auswirkungen, insbesondere aber für eine im weitesten Sinne liberale Weltanschauung, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens erschütterten die Gräuel des Krieges, der nicht unmenschlicher hätte geführt werden können, das allgemein optimistische Geschichtsverständnis, das in vielen Varianten des Liberalismus verbreitet war; die Westfront etwa wurde zum »Schauplatz von Massakern […], wie es sie wahrscheinlich nie zuvor in der Kriegsgeschichte gegeben hatte«.[16]  Der Rückfall in vier Jahre Barbarei ließ die Rede vom Fortschritt (durch Handel) hohl oder einfach nur zynisch klingen. Eine Ära schien angebrochen zu sein, in der die Vorstellung von Fortschritt zunehmend flüchtig und durch »ein Gefühl von Katastrophe und Orientierungslosigkeit« abgelöst wurde.[17]  Zweitens verkomplizierte der Krieg die liberale Position auch insofern, als bis dahin Ideen (sozialistischer) staatlicher Planung nicht mehr als genau das waren: Ideen, die leicht als unrealistisch und heillos utopisch abgetan werden konnten. Der Erste Weltkrieg bewies aber, dass Ökonomien in recht weitreichendem Maße auf der Grundlage von zentralisierter Planung funktionieren konnten, ohne zu kollabieren – was im Übri27gen während des Zweiten Weltkriegs noch deutlicher werden sollte. Zumindest in manchen Varianten des Liberalismus war vor dem Krieg das Hauptargument gegen den Sozialismus gewesen, dass dieser nicht nur aus normativen Gründen abzulehnen, sondern auch schlicht unrealisierbar sei. Diese Position zu vertreten, war vor dem Hintergrund der Kriegsökonomie deutlich schwieriger geworden. In gewisser Weise kann man die berühmte Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus, in der auch einige Vertreter der sogenannten Österreichischen Schule wie Ludwig von Mises und Hayek vertreten waren, als einen Versuch des Nachweises verstehen, dass trotz aller erfolgversprechender Erfahrungen während des Krieges Planungsexperimente ohne Märkte und dort gebildete Preise weiterhin letztlich zum Scheitern verurteilt waren.

Während der 1920er Jahre waren noch Anstrengungen unternommen worden, die liberale Zivilisation des 19. Jahrhunderts wiederaufzubauen,[18]  doch am Ende jenes Jahrzehnts erwiesen sich all diese Bemühungen als fruchtlos, musste doch der Liberalismus einen weiteren herben Rückschlag in Form der Weltwirtschaftskrise hinnehmen. Hatten die Liberalen noch im Rahmen der Debatte über die Wirtschaftsrechnung theoretisch nachzuweisen versucht, dass der Sozialismus unweigerlich kollabieren musste, so kollabierte nun umgekehrt der globale Kapitalismus ganz praktisch. Angesichts der enormen sozialen und wirtschaftlichen Verwüstungen, die die Krise mit sich brachte, überrascht es kaum, dass die typisch liberale Parteinahme zugunsten von kapitalistischen Märkten als unverzichtbaren Wohlstands- und Wachstumsgeneratoren einiges an Anziehungskraft einbüßte bzw. diese gänzlich verlor, und zwar vor allem bei denjenigen, die von Massenarbeitslosigkeit und Verarmung betroffen waren. Die Krise und ihre sozioökonomische Schadensbilanz führten so zu massiven Problemen für den Liberalismus, da der Druck auf gewählte Regierungen dermaßen wuchs, ein aktives Krisenmanagement zu betreiben und zumindest die größten sozialen Verwerfungen zu lindern, dass er kaum noch zu ignorieren war. Es sind vor allem zwei Entwicklungen, anhand derer sich diese Zäsur illustrieren lässt und die von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Entstehungskontext des Neoliberalismus sind.

Zunächst handelt es sich um den New Deal, den Präsident 28Franklin Roosevelt nebenbei gesagt als ›liberal‹ charakterisierte und den Lippmann in seinem Buch insbesondere ins Fadenkreuz genommen hatte, sah er in ihm doch eine Art ›schleichenden Totalitarismus‹. Die Reformen, die unter dem Label des New Deal zusammengefasst sind, manifestierten durch den Aufbau eines Sozialversicherungssystems nicht nur einen signifikanten Ausbau des amerikanischen Sozialstaates auf der Bundesebene; sie dokumentierten auch einen tiefgehenden Wandel in der allgemeinen Philosophie des Staates. Dieser übernahm ausdrücklich eine neue Art von Verantwortung für seine Bevölkerung, die nicht länger ausschließlich im Schutzversprechen gegen äußere Feinde, der Rechtsdurchsetzung und der Bereitstellung eines Minimums an öffentlicher Infrastruktur bestand. Nun gehörte allgemein auch die sozioökonomische Wohlfahrt zu den Staatsaufgaben, und zwar insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit den schädlichen Auswirkungen einer kapitalistischen Wirtschaftsweise.[19]  Stoisch das Abflauen von Krisen abzuwarten und alle Verantwortung für die sozialen Kosten von sich zu weisen, war eine Haltung, die im Zuge der Krise zunehmend in Misskredit geraten war, und Regierungen überall in der nordatlantischen Welt begannen, ihre Rolle im Hinblick auf Wirtschaft und Gesellschaft neu zu überdenken. Nicht zuletzt die Theorien John Maynard Keynes’ repräsentierten diesen Einstellungswandel, was uns zum nächsten Faktor der liberalen Krise führt: dem Aufstieg des Keynesianismus.

Bereits 1924 hatte Keynes in Oxford einen berühmten Vortrag gehalten, in dem er schon im Titel »Das Ende des Laissez-faire« verkündete.[20]  Zur damaligen Zeit mag dies noch etwas voreilig gewesen sein, aber die 1930er Jahre bestätigten Keynes’ Sichtweise, obwohl der Keynesianismus erst in der Nachkriegszeit der 1940er und 1950er Jahre in voller hegemonialer Blüte erstrahlen würde. Keynes befürwortete grundsätzlich eine aktive staatliche Wirtschaftspolitik im weitesten Sinne. Gemäß der von Wohlfahrtsökonomik und ökonomischem Liberalismus geteilten Sichtweise war davon auszugehen, dass sich kapitalistische Märkte mehr oder weniger automatisch von externen Schocks oder Krisen erholen und in Richtung markträumender Gleichgewichte tendieren, die Profit, 29Wachstum und Beschäftigung garantierten. Keynes argumentierte stattdessen, es sei sehr wohl möglich, dass Märkte in suboptimalen Gleichgewichten verharrten, wo Stagnation, Arbeitslosigkeit und Inflation drohten, wäre nicht der Staat zu einer stimulierenden Wirtschaftspolitik bereit. Diese konnte die Form einer expansiven Geldpolitik annehmen, indem etwa Zinssätze gesenkt würden, um den Preis von Geld zu reduzieren, aber vor allem sollte durch öffentliche Investitionen die aggregierte Nachfrage erhöht werden, um dadurch die Privatwirtschaft zur Ausweitung der Produktion und zu zusätzlichen Investitionen zu bewegen. Je länger sich die Weltwirtschaftskrise hinzog, desto plausibler erschien Keynes’ Vorstellung dysfunktionaler Märkte ohne inhärente Selbstkorrekturmechanismen, die im Krisenmodus feststeckten. Darüber hinaus lieferte sein Werk, das in der Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes von 1936 gipfelte, Regierungen ein dringend benötigtes Tableau von Politikinstrumenten, das einen proaktiveren Umgang mit kränkelnden Ökonomien ermöglichte. Das Erstarken dieser aktivistischen Regierungsphilosophie, der gemäß es sogar erlaubt sein sollte, Staatsdefizite in Kauf zu nehmen, um Geld in eine kriselnde Wirtschaft zu pumpen, war ein gewichtiger Faktor, der zur Formierung des Neoliberalismus beitrug, obwohl das Verhältnis zwischen den diversen Neoliberalen und (dem) Keynes(ianismus) komplexer ist, als man annehmen könnte.[21]  Insgesamt waren aber Keynes und noch viel mehr der Keynesianismus, wie er dann von Ökonominnen und Ökonomen wie Joan Robin30son und Nicolas Kaldor entwickelt wurde, für den Liberalismus der 1930er Jahre und auch noch weit darüber hinaus ein rotes Tuch:[22]  Der Aufstieg des Keynesianismus signalisierte in aller Deutlichkeit den Niedergang des Liberalismus; beide Entwicklungen waren untrennbar miteinander verbunden.

Die letzte Entwicklung, die eine zentrale Rolle in der Krise des Liberalismus spielte, war gleichzeitig auch vermutlich die besorgniserregendste für die Teilnehmer des Kolloquiums von 1938: das Erstarken zutiefst illiberaler Kräfte vom bolschewistischen Kommunismus am linken Ende des politischen Spektrums bis zum europäischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus am anderen Ende.

Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass die schiere Existenz der Sowjetunion eine massive Herausforderung für diejenigen Liberalen war, die immer argumentiert hatten, der Sozialismus könne schlichtweg nicht funktionieren. Obwohl es zu jener Zeit kein Geheimnis mehr war, dass sich die Sowjetunion zu einem zutiefst repressiven Regime gewandelt hatte, unter dem Bevölkerungsgruppen und Individuen systematisch verfolgt wurden, verwiesen seine Apologeten darauf, wie viel besser als manch kapitalistische Ökonomie die sowjetische Wirtschaft die Weltwirtschaftskrise überstanden habe, wodurch wiederum auch in kapitalistischen Ländern das Interesse an planwirtschaftlichen Ideen zunahm. So repressiv und totalitär die Sowjetunion 1938 auch gewesen sein mag, es gab jedenfalls keinerlei Grund anzunehmen, ihre kollektivistische Ökonomie stünde kurz vor dem Zusammenbruch. War die Erfahrung des Kriegssozialismus ein Stachel im Fleisch des Liberalismus, durch den bestätigt war, dass Planwirtschaft zumindest in überschaubaren Größenordnungen funktionieren konnte, so war die Sowjetunion ein veritabler Pfahl und der Beweis, dass ganze Gesellschaften auf der Grundlage zentraler Planung koordiniert werden konnten – allerdings auf Kosten von basalen Rechten und hunderttausenden Menschenleben.

Auch weite Teile Europas waren 1938 Schauplatz antiliberaler Triumphe – doch hier entstammten die entsprechenden Kräfte vor allem dem rechten Lager. In Deutschland war der Nationalsozialis31mus seit 1933 an der Macht, wodurch die Kolloquiums-Teilnehmer Röpke und Rüstow sich schon früh gezwungen sahen, ins Exil zu gehen. In Italien herrschte der Faschismus bereits seit den 1920er Jahren, im spanischen Bürgerkrieg hatte Francos Falange mit deutscher Hilfe die republikanischen Kräfte besiegt und in anderen Ländern wie etwa Ungarn und Finnland waren faschistoide Bewegungen und Parteien zwar nicht an der Macht, gewannen aber beständig an Boden. Wie im Fall der Sowjetunion machten auch die faschistischen und nationalsozialistischen Regime nicht den Eindruck, dass sie bald zusammenbrechen würden. Für einen liberal gesinnten Beobachter muss die politische Landschaft also geradezu apokalyptisch gewirkt haben. Schließlich waren sich Faschismus und Kommunismus in einem einzigen Punkt völlig einig, nämlich in ihrer entschiedenen Feindschaft gegenüber allem Bürgerlich-Liberalen:[23]  »Für eine ganze Generation erschien der Liberalismus in Europa dem Tode geweiht.«[24] 

Dies sind die hervorstechendsten Symptome der Krise des Liberalismus, und das neoliberale Projekt muss als Reaktion auf das verstanden werden, was die Neoliberalen in spe als eine Krise wahrhaft existenziellen Ausmaßes wahrnahmen, wie die Diskussionsprotokolle des Kolloquiums belegen, auf dem die Analyse dieser Krise und die dafür verantwortlichen Entwicklungen das zentrale Thema waren. Diese Lesart des neoliberalen Projekts als eine Reaktion auf eine Art antiliberales Syndrom liefert uns den ersten Anhaltspunkt beim Versuch der Klärung der inhaltlichen Ausrichtung dieses Projekts, indem wir nun im nächsten Schritt nachvollziehen, gegen wen und was es sich positionierte, und das analysieren, was in den Worten Michel Foucaults als das »Feld der Gegnerschaft«[25]  des Neoliberalismus bezeichnet werden kann.

32Das Feld der Gegnerschaft

Es gibt kaum Grund daran zu zweifeln, dass der zentrale intellektuelle und politische Gegner für den Neoliberalismus das war, was seine frühen Repräsentanten zumeist pauschal als ›Kollektivismus‹ bezeichneten, wenn sie sich auch bisweilen eines nuancierteren Vokabulars bedienten. Diese Wortwahl verdeutlicht bereits eine wichtige Position, die eine terminologische Strategie vorwegnimmt, die sich später in vielen Theorien des Totalitarismus findet. Aus dieser Perspektive verläuft die wirklich signifikante politische Konfliktlinie nicht zwischen rechts und links oder Kommunismus und Faschismus, sondern vielmehr zwischen Liberalismus und Totalitarismus bzw. Individualismus und Kollektivismus. Mit anderen Worten, es mag zwar Unterschiede zwischen faschistischen und kommunistischen Regimen geben, aber aus Sicht des Neoliberalismus besteht der entscheidende gemeinsame Nenner beider in ihrem kollektivistischen Wesen. Hayeks Der Weg zur Knechtschaft von 1944, gewidmet »den Sozialisten in allen Parteien«, exemplifiziert diese Position geradezu lehrbuchartig.[26]  Angetrieben von der Sorge, dass die Alliierten zwar den Krieg gewinnen, aber den Kampf um die Ideen verlieren könnten und so planwirtschaftliche Elemente auch nach dem absehbaren Kriegsende beibehalten würden, versuchte Hayek nachzuweisen, dass die wohlmeinenden Fürsprecher moderater planerischer Elemente damit unwillentlich denjenigen in die Händen spielten, gegen die sie im Krieg gekämpft hatten bzw. noch immer kämpften. Was gegen den Kollektivismus in all seinen Variationen verteidigt werden müsse, so Hayek, ist »eine individualistische Kultur«, die durch Faschismus und Kommunismus gleichermaßen gefährdet sei.[27]  Auch andere Kolloquiums-Teilnehmer wie etwa Lippmann und Rüstow äußerten sich in ähnlicher Weise. Darüber hinaus bestätigt etwa Euckens grundlegende Unterscheidung zwischen Zwangsverwaltungswirtschaft und Verkehrswirtschaft, die sich in den Grundlagen der Nationalökonomie von 1940 findet, indirekt, dass Ziel und Zweck der zentralisierten Planung im Rahmen des ersten Typs von zu vernachlässigender Be33deutung sind.[28]  So ist also zunächst im Hinblick auf das neoliberale Feld der Gegnerschaft festzuhalten, dass die Neoliberalen der 1930er und 1940er Jahre eingeschworene Antikollektivisten waren, die sich in erster Linie gegen Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus definierten.[29] 

In Teilen der jüngeren Literatur zu den Anfängen des Neoliberalismus wird argumentiert, dass diese Gegnerschaft durchaus erwähnungsbedürftig ist, da sich hier zeigen lässt, wie sich über die Jahre und Jahrzehnte die Hauptzielscheiben neoliberaler Kritik verschieben. Zwar verbindet man den zeitgenössischen Neoliberalismus aufs Engste mit der Kritik des Staates im Allgemeinen und der sozialstaatlichen Dimension im Besonderen, aber dies gilt nicht in gleicher Weise für seine Frühphase: »Zu jener Zeit konzentrierten neoliberale Autoren ihre Energien auf den Widerstand gegen die sozialistischen und faschistischen Spielarten innerhalb des [Pla34nungs-]Diskurses«, schreibt etwa Ben Jackson. »Der Hauptfeind der Neoliberalen war weder der in der Entstehung begriffene Sozialstaat, noch war es die keynesianische Ökonomie.«[30]  Dies ist ein wichtiger Punkt, der uns an die Schwierigkeiten erinnert, die mit dem Versuch verbunden sind, geschichtliche Phänomene zu definieren, deren Konturen sich über die Zeit verschieben. Und natürlich hat Jackson durchaus Recht, schließlich befasste sich etwa eine Diskussionsrunde des Kolloquiums ausschließlich mit der Frage, ob und inwieweit der Liberalismus in der Lage sei, seinen sozialen Verpflichtungen gerecht zu werden.[31]  Liest man heute Hayeks als berüchtigt geltenden Weg zur Knechtschaft, so stellt man überrascht fest, dass das Buch zwar natürlich nicht mit polemischen Angriffen gegen die Vorstellung gesellschaftlicher Planung geizt, aber daneben auch einräumt: »Die Beschränkung der Arbeitszeit oder die Forderung bestimmter sanitärer Vorschriften ist mit der Beibehaltung des Leistungswettbewerbs durchaus vereinbar. […] Die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs ist sehr wohl auch mit einem ausgedehnten System der Sozialfürsorge vereinbar – solange dieses so organisiert ist, daß es den Wettbewerb nicht lahmlegt.«[32]  Diese Passagen sind allerdings schwer mit der zentralen These des Buchs in Einklang zu bringen, dass noch die zurückhaltendsten Planungsversuche aller Wahrscheinlichkeit nach auf den abschüssigen Weg zur Knechtschaft führen. Diese Spannung im Zentrum von Hayeks gesamter Argumentation war Keynes’ einziger, aber eben auch verheerender Kritikpunkt, den er in einem Brief an Hayek so formulierte: »Sie geben hier und da zu, dass die Frage ist, wo man die Linie zieht. Sie stimmen zu, dass die Linie [zwischen Unternehmensfreiheit und Planung] irgendwo gezogen werden muss und dass das logische Extrem keine Option darstellt. Aber Sie geben uns keinerlei Hinweise darauf, wo sie zu ziehen ist.«[33] 

Anders formuliert könnte man sagen, die relative Bedeutung dieser beiden Gegnerschaften wandelt sich zwar über die Zeit, aber es ist unmöglich, die Kritik des Sozialstaats konzeptionell 35von der Kritik des Totalitarismus zu trennen, und zwar selbst im frühen Neoliberalismus.[34]  Foucault mag dies etwas zu stark formuliert haben, als er von einer »antiliberalen Invariante«[35]  sprach, die die Gegner-Analysen des frühen Neoliberalismus kennzeichne und suggeriere, alle Wege des Planens führten letztendlich in den Abgrund des Totalitarismus. Aber Lippmanns Gleichsetzung des »gemäßigten Kollektivismus«,[36]  den er im New Deal erblickte, mit Faschismus und Kommunismus und auch Röpkes Kritik an den sozialpolitischen Expansionsplänen auf der Basis des Beveridge-Plans in Großbritannien zeichnen ein bedrohliches Bild des Sozialstaatsausbaus, das an die Metaphorik Hayeks erinnert: »Der Wohlfahrtsstaat ist also nicht nur der Prozeß, dem jede selbsttätige Bremse fehlt, und nicht nur ein solcher, der sich mit aller Kraft ständig auf seiner Bahn vorwärts bewegt. Er ist zugleich eine Einbahnstraße, auf der die Umkehr so gut wie unmöglich oder doch ungeheuer schwierig ist. […] Das bedeutet eine zunehmende Zentralisierung der Entscheidung und Verantwortung und eine wachsende Kollektivierung der Bedingungen der Wohlfahrt und Lebensplanung des einzelnen.«[37] 

Zusammenfassend lässt sich das neoliberale Feld der Gegnerschaft also folgendermaßen beschreiben. Die Hauptantagonisten 36des Neoliberalismus sind offensichtlich Kommunismus und Nationalsozialismus/Faschismus, die aus neoliberaler Perspektive nicht mehr als unterschiedliche Manifestationen der gleichen Grundmischung aus Kollektivismus und Totalitarismus darstellen. Wichtig an diesem Sektor des Feldes der Gegnerschaft sind aber auch die Verbindungen, die zwischen diesen extremsten Varianten illiberaler Politik und anderen Phänomenen hergestellt werden, die bisweilen als die Vorstufen des radikalen Illiberalismus begriffen werden, wie etwa der Sozialstaat sowie – in indirekterer Weise – der Keynesianismus und dementsprechend auch seine Unterstützer, insbesondere die Gewerkschaften. Der Sozialstaat und die in neoliberalen Diskursen omnipräsente, aber nur unzureichend definierte Vorstellung von ›Planung‹, die mit jenem einhergehen soll, repräsentieren demnach Kollektivismus in nuce. Allerdings gibt es eine beträchtliche Bandbreite neoliberaler Positionen im Hinblick auf die Unvermeidbarkeit und Irreversibilität der Dynamik in Richtung Kollektivismus. Darüber hinaus wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Ausmaß der Gefahr, die vom Sozialstaat ausgeht, auch von seiner spezifischen Konfiguration abhängig ist.[38] 

Gegen diese Gegner positioniert sich also der Neoliberalismus beim Versuch, eine allgemein liberale Agenda oder doch zumindest bestimmte Einzelelemente gegen den illiberalen Zeitgeist der 1930er Jahre zu revitalisieren. Selbstverständlich ist es nicht sonderlich überraschend, dass der Neoliberalismus auf eine Revitalisierung liberaler Ideen abzielt, wenn das Ansinnen seinerzeit auch eher aussichtslos erschienen sein mag. Die weit weniger selbstverständliche Komponente dessen, was man als Formel des Neoliberalismus bezeichnen könnte, kann mit Hilfe eines zweiten, genaueren Blicks auf das Feld der Gegnerschaft identifiziert werden.

Narrative des liberalen Niedergangs

Für die große Mehrheit der frühen Neoliberalen, die am Walter-Lippmann-Kolloquium und an der Gründungstagung der Mont Pèlerin Society teilnahmen, stand fest, dass der Niedergang des Liberalismus nicht nur das Resultat des Erstarkens externer Gegner, 37sondern auch selbstverschuldet war. Diese internen Schwächen und Probleme des Liberalismus würde man adressieren und beheben müssen, sollte dieser wieder zu einem ernstzunehmenden Wettbewerber im damals vielbeschworenen Kampf der Ideen gemacht werden. Der Frage nach den internen Faktoren, die beim Niedergang des Liberalismus eine Rolle spielten, war eine besondere Diskussion beim Lippmann-Kolloquium gewidmet,[39]  und auch bei den Treffen der Mont Pèlerin Society wurden die Voraussetzungen einer liberalen Erneuerung ausführlich diskutiert. Es ist also kaum übertrieben, den Neoliberalismus als Ergebnis einer kollektiven liberalen Selbstbefragung und bisweilen eher nüchternen Bilanzierung anzusehen, die als Voraussetzung für das Wiedererstarken von Ideen angesehen wurden, deren Dominanz hundert Jahre zuvor noch unangefochten schien. Aber auch wenn es dem Neoliberalismus um eine Revitalisierung einer im weitesten Sinne liberalen Agenda ging, so erschöpft sich sein Projekt doch nicht in einem bloßen Versuch der Wiederbelebung überkommener liberaler Vorstellungen. Um der Herausforderung begegnen zu können, die von den diversen Formen des (gemäßigten) Kollektivismus ausging, würden das intellektuelle Recycling klassisch liberaler Ideen und eine simple Wiederentdeckung der großen Wahrheiten eines Adam Smith oder Adam Ferguson nicht ausreichen.[40]  Der Liberalismus würde sich einer tiefgreifenden Modernisierung unterziehen müssen, wenn er in der Auseinandersetzung mit keynesianischen und kollektivistischen Ideen eine Erfolgschance haben sollte, wie es Hayek in aller Klarheit in seinem Eröffnungsvortrag beim Gründungstreffen der Mont Pèlerin Society formulierte: »Meiner Ansicht nach wird es zur Bewältigung unserer Aufgabe nicht ausreichen, dass unsere Mitglieder das vertreten, was man als ›vernünftige‹ Auffassungen bezeichnet hat. Der Altliberale, der dem traditionellen Glauben nur aus Traditionalismus anhängt, mag zwar lobenswerte Vorstellungen haben, doch für unsere Zwecke ist er kaum von Nutzen. Was wir benötigen, sind Leute, die sich mit den Argumenten 38der anderen Seite auseinandergesetzt haben, die mit ihnen gerungen haben und sich zu einer Position durchgekämpft haben, von der aus sie Entgegnungen auf die kritischen Einsprüche gegen sie haben und positive Begründungen und Rechtfertigungen für sie liefern können.«[41]  Der Liberalismus musste modernisiert werden, um in den ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts bestehen bzw. überleben zu können; das neoliberale Projekt konnte also kein rein restauratives sein.

Das ›neue‹ Element im Neoliberalismus geht offensichtlich auf diese Modernisierungskomponente der neoliberalen Formel zurück. Entscheidend ist allerdings, dass eine kritische Durchsicht und Bilanzierung der altliberalen Agenda, ihrer Defizite und Irrwege, als unabdingbare Voraussetzung für diese dringend erforderliche Modernisierung angesehen wurde. Dies bedeutet, dass zum neoliberalen Feld der Gegnerschaft in seinem vollen Umfang auch Fehlentwicklungen innerhalb des Liberalismus gehören, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten. Gemäß dem neoliberalen Krisennarrativ waren hier die internen Faktoren zu verorten, die ihren Teil zum Abstieg des Liberalismus beigetragen hatten. Blicken wir nun also etwas genauer auf dieses Narrativ, das man in vier überlappenden Versionen bei Röpke, Rüstow, Friedman und Hayek findet, die zwar alle einige Jahre nach dem Kolloquium datieren, aber eine große Kongruenz mit den damaligen Diskussionslinien aufweisen.

Am Anfang der Version Röpkes steht eine rhetorische Frage: »Steht es möglicherweise so, daß er [der Liberalismus], weit entfernt, ein bloßes Opfer der Gesellschaftskrisis zu sein, durch seine Irrtümer zu ihrer Entstehung beigetragen hat? Und, wenn das der Fall sein sollte und wenn die Krisis der modernen Gesellschaft gleichzeitig die Krisis des Liberalismus ist, dürfen wir dann nicht auch hoffen, durch eine Reinigung und innere Verjüngung des Liberalismus entscheidend zu einer Überwindung der Krisis der Gesellschaft im ganzen beizutragen?«[42]  Seine Untersuchung des liberalen Niedergangs basiert auf der Unterscheidung zwischen einem »unvergänglichen« Kern des Liberalismus und diversen Abwei39chungen, die den vergänglichen Aspekt des Liberalismus repräsentieren. Drei Hauptprobleme werden in diesem Zusammenhang von Röpke identifiziert: Sie betreffen »erstens das Verhältnis des Liberalismus zu den Funktionen der Vernunft, zweitens sein Verhältnis zur Gemeinschaft und drittens dasjenige zum Wirtschaftsleben«. Die entsprechenden Fehlentwicklungen, die dem Liberalismus letztendlich eher geschadet haben, sind »Rationalismus, Individualismus und Wirtschaftsliberalismus«.[43]  Folgerichtig warnt Röpke vor der Hybris des Intellektualismus und der Gefahr des Individualismus, insofern sie zur Atomisierung der Gesellschaft führten. Im Hinblick auf die sozioökonomischen Zustände beklagt er zudem die Verengung der liberalen Agenda auf ökonomische Fragen, auf die später noch einmal ausführlich zurückzukommen sein wird.[44] 

Unter den Neoliberalen ist Rüstow zweifellos der vehementeste Kritiker des Liberalismus. Seine Ursachensuche hinsichtlich des Niedergangs des Liberalismus, dieser »dominanten Philosophie des Lebens in der westlichen Welt des 19. Jahrhunderts«,[45]  überschneidet sich vor allem mit Röpkes letztgenanntem Punkt. »In der Praxis bedeutete Liberalismus im 19. Jahrhundert in erster Linie wirtschaftliche Freiheit, das heißt die Freiheit des Marktsystems.«[46]  Allerdings entwickelt Rüstow eine sehr viel tiefer ansetzende Analyse des Problems, das er vor allem in einer irrigen Vorstellung von Märkten wurzeln sieht, die auf bestimmte religiöse Anschauungen zurückzuführen sein soll.[47]  Für Adam Smith wie auch für seine physiokratischen Vorläufer basierte das Wirtschaftsleben auf einem »günstigen Wirkmechanismus ökonomischer Gesetze«, der zu respektieren war, und dementsprechend galten »im Namen des Mottos ›Laissez-Faire! Laissez-Aller!‹ alle Versuche, die Wirtschaft (durch Interventionen) zu steuern, wie etwa im Rahmen des Merkantilismus, als fehlgeleitet und waren gleichzeitig eine Ehrerweisung gegenüber Gott wie auch eine Ermahnung, dafür zu sorgen, 40dass kurzsichtige menschliche Ängste und Sorgen nicht mit der ewigen Weisheit des Naturrechts in Konflikt geraten«.[48]  Aus dieser irrigen Vorstellung bezüglich der Sphäre der Ökonomie und der damit einhergehenden Unfähigkeit, ihre Verbindungen mit anderen Gesellschaftssphären adäquat zu erfassen, resultierte »eine unübersehbare Deformierung der Marktwirtschaft«.[49]  Ein revitalisierter Liberalismus würde sich von diesen falschen Anschauungen verabschieden und auch die zugrundeliegenden Glaubensinhalte hinter sich lassen müssen. Was sich hier als ein weiterer intellektueller Gegner des Neoliberalismus also herauskristallisiert, ist die (Nicht-)Politik des Laissez-faire. Dies ist ein wichtiger Punkt, der bis in die jüngeren Kontroversen über Neoliberalismus und Finanzkrise hinein ignoriert wird, in denen der Neoliberalismus oftmals für den Glauben an selbstregulierende Märkte steht.[50]  Wenn wir auf die intellektuellen Ursprünge des neoliberalen Projekts blicken, ist jedoch kaum zu übersehen, wie deutlich sich frühe Neoliberale von den miteinander verknüpften Vorstellungen von Laissez-faire-Politik und selbstregulierenden Märkten distanzierten.

Und es sind eben nicht nur die Ordoliberalen, auch der junge Milton Friedman vertritt seine eigene Version dieses Krisennarrativs, dessen Kernelement die Vorstellung eines »Liberalismus alter Schule« ist,[51]  der im 19. Jahrhundert auf diverse Abwege gerät. In Der Neoliberalismus und seine Zukunftsaussichten bekennt sich Friedman zunächst ausdrücklich zur neoliberalen Agenda: »Wir vertreten einen neuen Glauben, und es ist unsere Pflicht, allen 41Menschen klarzumachen, worin dieser Glaube besteht.«[52]  Genau wie bei Röpke und Rüstow erscheint die neoliberale Vorgeschichte auch in dieser Version als die des liberalen Niedergangs: »Der kollektivistische Glaube an die Fähigkeit des Staates, durch direkte Eingriffe alle Übel zu beheben, ist jedoch eine verständliche Reaktion auf den grundsätzlichen Fehler der individualistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Diese Philosophie sprach dem Staat, abgesehen von der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Durchsetzung von Verträgen, jegliche Aufgabe ab. Es war eine negative Philosophie. Der Staat konnte nur Schaden anrichten, Laissez-faire war die Regel.«[53]  In diesem Fall wird der Politik des Laissez-faire also sogar vorgeworfen, indirekt dem Aufstieg des Kollektivismus den Weg geebnet zu haben; demnach kann kein Zweifel daran bestehen, dass der »neue Glaube« des Neoliberalismus auf dieses Politikmodell verzichten muss.

Auch wenn es für diejenigen, denen er als Säulenheiliger der quasi-libertären Österreichischen Schule gilt, kaum zu glauben ist, war Hayek – so österreichisch er auch sein mag – doch genauso fest wie Rüstow und Röpke davon überzeugt, dass eine Modernisierung des Liberalismus eine kritische Bilanzierung seiner eigenen Fehler und Irrwege voraussetzte, wozu ausdrücklich die Vorstellung des Laissez-faire gehöre: »Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner Anhänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laissez-faire«, schreibt er in Der Weg zur Knechtschaft. In einem Lexikoneintrag zum Begriff »Liberalismus« führt Hayek zudem die grundlegende Differenzierung zwischen »zwei verschiedenen Quellen« ein,[54]  die zur Etablierung zweier verschiedener Traditionsstränge innerhalb des Liberalismus führten. Im Gegensatz zur konzeptionellen Rahmung Röpkes, der zwischen einem wahrhaft unvergänglich liberalen Kern und diversen Exzessen, Vereinseiti42gungen und Irrwegen unterscheidet, die letztlich negative Rückwirkungen auf den liberalen Kernbereich haben, ist der Liberalismus in Hayeks Vorstellungswelt von Beginn an zweigeteilt. Die erste Strömung ist eine eher konventionalistische Tradition, die von den Repräsentanten der Schottischen Aufklärung von Smith bis Hume personifiziert wird. Bei der zweiten handelt es sich um einen »›kontinentalen‹ oder ›konstruktivistischen‹« Liberalismus,[55]  der seine archetypische Ausprägung im Rationalismus Descartes’ sowie dem radikalen Antiklerikalismus und Antitraditionalismus Voltaires findet und der aus Hayeks Perspektive besonders gefährdet ist, seine liberale Orientierung zu verlieren. Die Geschichte des liberalen Niedergangs im Gefolge seiner Blütezeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird nicht viel anders als in den übrigen drei Narrativen erzählt, aber in Hayeks Version ist es nicht nur der Laissez-faire-Radikalismus eines Herbert Spencer, der als schädliche Fehlentwicklung des Liberalismus gilt. Wie bereits angedeutet, zeichnet sich etwa in den Arbeiten des späten Mill und insbesondere dem Werk T. H. Greens auf intellektueller Ebene schon eine Konvergenz des Liberalismus mit bestimmten sozialistischen/sozialdemokratischen oder progressiven Strömungen ab, die in das münden, was Hayek als »gemäßigten Sozialismus« bezeichnet.[56]  In Hayeks Interpretation ist der Niedergang des Liberalismus also das Resultat einer Spaltung der Denktradition in eine Fraktion der Laissez-faire-Anhänger einerseits und eine der Vertreter des quasi-sozialdemokratischen ›New Liberalism‹ andererseits; sei es Greens Variante in Großbritannien oder Deweys liberaler Progressivismus in den Vereinigten Staaten.