Die Rache der Väter (eBook) - S.A. Cosby - E-Book

Die Rache der Väter (eBook) E-Book

S. A. Cosby

5,0

Beschreibung

Nach Blacktop Wasteland (Platz 2 der Krimibestenliste) der neue Thriller von S. A. Cosby Virginia, USA: Eines Tages klingelt bei Ike Randolph, einem schwarzen Ex-Sträfling, die Polizei – sein Sohn Isiah und dessen weißer Ehemann Derek wurden ermordet. Obwohl Ike seinen Sohn und dessen Homosexualität nie wirklich akzeptiert hat, ist er am Boden zerstört. Dereks Vater Buddy Lee, der ebenfalls mal im Gefängnis saß, ging es mit seinem Sohn nicht anders. Er hat noch immer Kontakte zur Unterwelt und will um jeden Preis herausfinden, wer Derek auf dem Gewissen hat. Also machen sich Ike und Buddy Lee gemeinsam auf die Suche nach den Mördern und den Fehlern der Vergangenheit, immer in der Hoffnung, ihren Söhnen wenigstens im Tod Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ...

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Seitenzahl: 474

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Die Sprache von S. A. Cosby ist präzise und packend. Seine Beschreibungen sind bildhaft und lassen die Szenen vor dem inneren Auge zum Leben erwachen. Es ist schwer, sich dem Sog dieser Geschichte zu entziehen, da man förmlich in das Geschehen hineingezogen wird.
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S. A. COSBY

DIE RACHE DER VÄTER

ROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHEN ENGLISCH VON JÜRGEN BÜRGER

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem TitelRazorblade Tears bei FLATIRON BOOKS.

Text Copyright © 2021 by S. A. CosbyPublished by arrangement with FLATIRON BOOKS. All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von FLATIRON BOOKS durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Deutsche Originalausgabe

1. Auflage 2022© 2022 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.www.arsvivendi.com

eISBN 978-3-7472-0441-2

Für meine Mutter Joyce A. Cosby,die mir zwei sehr wichtige Talente mitgegeben hat:Entschlossenheit und Neugier

Schlag ich aus Tränentropfen Feuerfunken.

William Shakespeare, König Heinrich VIII.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

DANKSAGUNGEN

1

Ike versuchte sich an eine Zeit zu erinnern, als Männer mit Dienstmarken, die frühmorgens vor seiner Tür auftauchten, etwas anderes brachten als Kummer und Leid, doch sosehr er sich auch bemühte, es fiel ihm nichts ein.

Die beiden Männer standen nebeneinander auf dem schmalen Absatz der Betontreppe vor seiner Eingangstür, die Hände auf den Gürteln mit ihren Dienstmarken und Waffen. In der Morgensonne schimmerten die Marken wie Goldnuggets. Die Cops bildeten ein krasses Gegensatzpaar. Der eine war ein großer und doch drahtiger asiatischer Mann, der nur aus spitzen Winkeln und harten Kanten bestand. Der andere, ein rotgesichtiger Weißer, hatte die Statur eines Kraftdreikämpfers und einen massigen Kopf auf seinem breiten Hals. Beide trugen weiße Anzughemden mit Clipkrawatten. Unter den Achseln des Weißen breiteten sich Schweißflecken aus, die vage den Konturen von England beziehungsweise Irland ähnelten.

Ikes empfindlicher Magen begann Purzelbäume zu schlagen. Fünfzehn Jahre waren seit seiner Entlassung aus dem Coldwater State Penitentiary vergangen. Danach hatte er sich erfolgreich der Rückfallstatistik widersetzt und in all den Jahren nicht einmal einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens kassiert. Und doch stand er jetzt mit trockener Zunge und kratzigem Hals da, während die beiden Cops ihn fixierten. Es war schlimm genug, in den guten alten US of A als schwarzer Mann mit den Cops zu reden. Bei jeder Interaktion mit einem Polizeibeamten fühlte man sich wie am Rand eines imaginären Abgrunds. Und wenn man obendrein ein Ex-Knacki war, fühlte es sich so an, als wäre dieser Abgrund mit glitschigem Schweineschmalz bedeckt.

»Ja?«, sagte Ike.

»Sir, ich bin Detective LaPlata. Das hier ist mein Partner, Detective Robbins. Dürfen wir reinkommen?«

»Wozu?«, fragte Ike.

LaPlata seufzte schwer und lang. Es klang wie die tiefste Note in einem Bluessong. Ike spannte sich an. LaPlata warf Robbins einen kurzen Blick zu. Robbins zuckte die Achseln. LaPlatas Kopf sank nach vorn, dann hob er ihn wieder.

Ike hatte im Knast gelernt, Körpersprache zu lesen. Die beiden strahlten nichts Aggressives aus, zumindest nicht mehr als die meisten Cops während einer normalen Zwölfstundenschicht. Wie LaPlatas Kopf nach vorn gesunken war, das war beinahe … traurig gewesen.

»Haben Sie einen Sohn namens Isiah Randolph?«, sagte LaPlata schließlich.

Und da wusste er es. Er wusste es – so wie er damals gewusst hatte, wenn auf dem Gefängnishof jeden Moment eine Schlägerei losgehen würde. Wie er gewusst hatte, dass ein Crackhead versuchte, ihn wegen eines Tütchens abzustechen. Wie er gewusst hatte, tief in sich drin, dass sein Homeboy Luther an dem Abend, als er mit diesem Mädchen aus der Satellite Bar nach Hause gegangen war, seinen letzten Sonnenuntergang gesehen hatte.

Es war wie ein sechster Sinn. Die Fähigkeit, eine Tragödie zu spüren, Sekunden, bevor sie Wirklichkeit wird.

»Was ist mit meinem Sohn, Detective LaPlata?«, fragte Ike und wusste die Antwort bereits. Wusste, dass sein Leben nie wieder dasselbe sein würde.

2

Es war ein schöner Tag für eine Beerdigung.

Schneeweiße Wolken trieben über einen tiefblauen Himmel. Die Luft war immer noch frisch und kühl, obwohl es bereits die erste Aprilwoche war. Doch hier in Virginia konnte es durchaus innerhalb der nächsten zehn Minuten wie aus Eimern regnen und dann eine Stunde später so heiß wie der Hintern des Teufels sein.

Unter einem salbeigrünen Zelt fanden die verbliebenen Trauergäste und die beiden Särge Schutz. Der Geistliche nahm eine Handvoll Erde von einem Haufen unmittelbar neben dem Zelt. Der Haufen war mit einem verwitterten Stück Kunstrasen bedeckt.

Der Geistliche bewegte sich zu den Kopfteilen der Särge. »Erde zu Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub.« Seine Stimme hallte über den Friedhof, während er Erde über die Särge streute. Den Teil über die allgemeine Auferstehung und das Ende aller Tage ließ er aus.

Der Bestattungsunternehmer trat vor. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit einem koksgrauen Teint, der zu seinem Anzug passte. Trotz der milden Witterung glänzte sein Gesicht vor Schweiß, als würde sein Körper auf den Kalender, und nicht auf das Thermometer reagieren. »Damit sind wir am Ende des Trauergottesdienstes für Derek Jenkins und Isiah Randolph. Die Familien bedanken sich für Ihr Kommen. Friede sei mit Ihnen«, sagte er. Seine Stimme hatte nicht die Theatralik der Stimme des Geistlichen. Außerhalb des Zeltes war sie kaum zu hören.

Ike Randolph ließ die Hand seiner Frau los und starrte auf seine Hände hinab. Seine leeren Hände. Die Hände, die seinen Jungen gehalten hatten, als er gerade mal zehn Minuten alt war. Die Hände, die ihm beigebracht hatten, wie man sich die Schuhe zuband. Die Hände, die Salbe auf seine Brust gerieben hatten, als er mit Grippe im Bett gelegen hatte. Die ihm vor Gericht mit eng sitzenden Fesseln an den Gelenken zum Abschied gewinkt hatten. Grobe, schwielige Hände, die er in seinen Taschen vergraben hatte, als Isiahs Mann ihm eine Hand zur Begrüßung entgegengestreckt hatte.

Ike ließ das Kinn auf die Brust sinken und sah das kleine Mädchen auf Myas Schoß an. Eine Hautfarbe wie Honig mit dazu passenden Haaren. Arianna war in der Woche vor dem Tod ihrer Eltern drei Jahre alt geworden. Hatte sie eine Ahnung, was hier gerade passierte? Als Mya ihr gesagt hatte, dass ihre Daddys schliefen, schien sie das anstandslos zu akzeptieren. Er beneidete sie um die Flexibilität ihres Verstands. Sie konnte mit alldem hier auf eine Art umgehen, die ihm unmöglich war.

»Ike, da drin liegt dein Junge. Das ist unser Baby«, schluchzte Mya.

Er zuckte zusammen. Ihre Worte hörten sich an wie die Schreie eines Hasen, der in eine Falle geraten war. Ike vernahm das Quietschen und Schrammen der Klappstühle, als die Leute aufstanden und zum Parkplatz gingen. Er spürte Hände auf Schultern und Rücken. Hörte ermutigende Worte, die mit halbherziger Ehrlichkeit gemurmelt wurden. Es war nicht so, dass es die Leute nicht berührte. Es war vielmehr so, dass sie wussten, wie wenig diese Worte die Wunde in seiner Seele lindern konnten. Diese Plattitüden und klischeehaften Predigten auszusprechen schien unaufrichtig, aber was blieb ihnen sonst? Das machte man eben so, wenn jemand starb.

Es war eine kleine Trauergemeinde, und es dauerte nicht lange, bis sich die Stuhlreihen leerten. Keine fünf Minuten später waren Ike, Mya, Arianna, die Totengräber und ein Mann, den Ike vage als Dereks Vater erkannte, die einzigen Menschen auf dem Friedhof. Viele aus Ikes Familie waren nicht erschienen. Und soweit er es sagen konnte, waren nur wenige von Dereks Leuten gekommen. Die meisten Trauergäste waren Isiahs und Dereks Freunde gewesen. Ike bemerkte Dereks Familienangehörige. Sie fielen auf unter all den bärtigen Hipstern und androgynen Ladys, die Dereks und Isiahs soziales Umfeld ausgemacht hatten. Schlanke, drahtige Männer und Frauen mit harten, gefühllosen Augen und sonnengebräunten Gesichtern. Sie trugen blaue Kragen um ihre geröteten Hälse. Eine knappe halbe Stunde nach Beginn der Predigt hatte er bemerkt, wie ihre Gesichter langsam hochrot wurden. Das war, als der Geistliche erwähnte, dass es keine unverzeihliche Sünde gab. Dass selbst widerwärtige Sünden von einem gütigen Gott vergeben werden könnten.

Arianna zog an einem von Myas Zöpfen.

»Lass das, Mädchen!«, sagte Mya scharf.

Und Arianna schwieg einen Augenblick. Ike wusste, was als Nächstes kam. Diese bedeutungsschwangere Pause war das Vorspiel für das große Weinen. Isiah hatte es auch immer so gemacht.

Arianna begann zu heulen. Ihre Schreie durchbohrten die Stille der Beerdigung und klingelten Ike in den Ohren. Mya versuchte sie zu beruhigen. Sie entschuldigte sich und strich ihr über die Stirn. Arianna holte tief Luft, begann dann aber nur noch lauter zu schreien.

»Bring sie ins Auto. Ich komme gleich nach«, sagte Ike.

»Ike, ich gehe nirgendwohin. Noch nicht«, fauchte Mya.

Ike stand auf. »Bitte, Mya. Bring sie zum Auto. Gib mir nur ein paar Minuten, dann komme ich und passe auf sie auf, und du kannst hierher zurückkommen.« Seine Stimme versagte beinahe.

Mya erhob sich und zog Arianna dicht an ihre Brust. »Gut, wenn du es sagst.« Sie drehte sich um und ging zum Wagen. Als sie sich entfernten, verebbte Ariannas Heulen zu einem Wimmern. Ike legte seine Hand auf den schwarzen Sarg mit dem goldenen Rand. Sein Sohn befand sich in diesem rechteckigen Behälter. Verpackt und konserviert wie ein Stück haltbar gemachtes Fleisch. Der Wind frischte auf und ließ die Troddeln am Rand des Zeltes wie die Flügel eines sterbenden Vogels flattern. Derek lag daneben in dem silbernen Sarg mit der schwarzen Bordüre. Isiah würde neben seinem Ehemann begraben werden. Sie waren zusammen gestorben, und jetzt würden sie zusammen ruhen.

Dereks Vater erhob sich von seinem Platz. Er war ein magerer, wettergegerbter Kerl mit schulterlangen, grau melierten Haaren. Er ging zu den Fußenden der Särge und blieb neben Ike stehen. Die Totengräber inspizierten ihre Schaufeln, während sie darauf warteten, dass diese beiden Männer als Letzte der Trauergäste gingen.

Der magere Mann kratzte sich am Kinn. Der graue Schatten eines Barts bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts. Er hustete, räusperte sich, hustete wieder. Als er sich gesammelt hatte, wandte er sich Ike zu. »Buddy Lee Jenkins. Dereks Vater. Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt.« Er streckte eine Hand aus.

»Ike Randolph.« Ike nahm Buddy Lees Hand, schüttelte sie zweimal und ließ sie dann los. Stumm wie Steine standen sie vor den Särgen.

Buddy Lee hustete wieder. »Waren Sie beim Hochzeitsempfang?«

Ike schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht«, sagte Buddy Lee.

»Ich glaub, ich hab Sie letztes Jahr auf der Geburtstagsparty von ihrem Mädchen gesehen«, sagte Ike.

»Ja, ich war da, bin aber nicht lange geblieben.« Buddy Lee zupfte an seinem Sakko. »Derek hat sich für mich geschämt. Kann’s ihm aber nicht verübeln.«

Ike wusste nicht, was er dazu sagen sollte, also sagte er nichts.

»Ich wollt mich nur bei Ihnen und Ihrer Frau bedanken, dass Sie alles geregelt haben. Ich hätt’s mir nicht leisten können, ihnen so eine schöne Beerdigung auszurichten. Und Dereks Mama hat’s sowieso nicht interessiert«, sagte Buddy Lee.

»Wir haben nichts damit zu tun. Sie hatten sich schon um alles gekümmert. Sie hatten wohl so was wie ein vorab bezahltes Beerdigungspaket gebucht. Wir mussten nur noch ein paar Papiere unterschreiben«, sagte Ike.

»Mann. Haben Sie mit siebenundzwanzig schon Ihre Beerdigung geplant? Ich todsicher nicht. Scheiße, ich hatte mit siebenundzwanzig ja nicht mal nen Plan für nen Job«, sagte Buddy Lee.

Ike strich mit der Hand über den Sarg seines Sohnes. Was immer er sich für diesen Augenblick vorgestellt haben mochte, war jetzt ruiniert.

»Das Tattoo auf Ihrer Hand, das ist von den Black Gods, stimmt’s?«, fragte Buddy Lee.

Ike betrachtete seine Hände. Die undeutliche Zeichnung eines Löwen mit zwei gekreuzten Krummsäbeln über dem Kopf auf seiner rechten Hand und das Wort RIOT auf der linken waren seit seinem zweiten Jahr im Coldwater State Penitentiary seine stummen Begleiter. Er schob die Hände in die Taschen. »Ist lange her.«

Buddy Lee saugte an seinen Zähnen. »Wo haben Sie gesessen? Ich hab fünf Jahre in Red Onion abgerissen. Ziemlich harte Typen da unten. Hab da auch ein paar Black-God-Jungs kennengelernt.«

»Ist jetzt nicht böse gemeint, aber ich rede wirklich nicht gern darüber«, sagte Ike.

»Hey, ich hab’s ja auch nicht böse gemeint, aber wenn Sie nicht drüber reden wollen, wieso lassen Sie sich das Tattoo nicht wegmachen? Scheiße, ich hab gehört, man kann so was in einer Stunde erledigen«, sagte Buddy Lee.

Ike zog die Hände aus den Taschen und starrte auf den schwarzen Löwen auf seiner Hand. »Dass ich nicht drüber reden will, heißt nicht, dass ich’s vergessen möchte. Es erinnert mich daran, warum ich nie wieder dorthin zurückwill«, sagte er. »Ich lasse Sie jetzt mit Ihrem Jungen allein.« Er drehte sich um und begann sich zu entfernen.

»Sie müssen nicht gehen. Für ihn und mich ist es jetzt zu spät«, sagte Buddy Lee. »Für Sie und Ihren Jungen ist’s auch zu spät.«

Ike blieb stehen und drehte sich halb zu Buddy Lee um. »Wie meinen Sie das?«

Buddy Lee überhörte die Frage. »Als er vierzehn war, hab ich Derek dabei erwischt, wie er unten am Bach im Wald hinter unserem Trailer einen anderen Jungen geküsst hat. Hab meinen Gürtel abgezogen und ihm eine ordentliche Abreibung verpasst … als hätte er was geklaut oder so. Ich hab ihn beschimpft. Hab gesagt, er wär ein Perverser. Hab ihm so den Arsch versohlt, bis seine Beine mit Striemen übersät waren. Er hat geheult und geheult. Hat gesagt, es täte ihm leid. Er wüsste selbst nicht, warum er so war. Haben Sie mit Ihrem Sohn deswegen nie Stress gehabt? Nie? Keine Ahnung, vielleicht waren Sie ein besserer Daddy als ich.«

Ike biss die Zähne zusammen. »Warum reden wir über das alles?«, fragte er.

Buddy Lee zuckte die Achseln. »Wenn ich nur fünf Minuten mit Derek reden könnte, wissen Sie, was ich dann sagen würde? ›Es ist mir scheißegal, wen du vögelst. Vollkommen egal.‹ Was meinen Sie, was würden Sie Ihrem Jungen sagen?«

Ike starrte ihn an. Starrte durch ihn hindurch. Er bemerkte die Tränen in den Augenwinkeln des Mannes und biss die Zähne so fest zusammen, dass er schon befürchtete, ihm könnten die Backenzähne zerspringen. »Ich gehe jetzt«, sagte er und stampfte zu seinem Wagen.

»Glauben Sie, die kriegen den, der das getan hat?«, rief Buddy Lee ihm nach.

Ike ging schneller. Als er das Auto erreichte, rollte der Geistliche gerade in seinem rabenschwarzen BMW vom Parkplatz. Reverend J. T. Johnson drehte keine Sekunde den Kopf, grüßte weder Ike noch Mya.

Ike lief die Zufahrt hinunter und erwischte den Geistlichen, kurz bevor er auf den Highway einbiegen konnte. Ike klopfte an sein Fenster. Reverend Johnson ließ die Scheibe herunter.

Ike beugte sich vor und streckte seine Hand in den Wagen. »Ich denke, ich sollte mich bedanken, dass Sie die Trauerfeier für meinen Sohn abgehalten haben.«

Reverend Johnson nahm Ikes Hand und schüttelte sie mehrmals. »Nichts zu danken, Ike«, sagte er. Der tiefe, volle Bariton löste sich aus seiner Brust wie ein Güterzug auf geschmierten Gleisen. Er versuchte, die Hand zurückzuziehen, doch Ike hielt sie fest.

»Ich sollte mich bei Ihnen bedanken, aber ich kann’s nicht.« Ike packte fester zu. Der Geistliche zuckte zusammen. »Ich muss Sie das jetzt einfach fragen. Warum haben Sie die Trauerfeier abgehalten?«

Reverend Johnson runzelte die Stirn. »Ike. Mya hat mich gebeten –«

»Ich weiß, dass Mya Sie darum gebeten hat. Aber ich frage Sie, warum Sie es getan haben? Denn ich konnte sehen, dass Sie es eigentlich nicht wollten«, sagte Ike und verstärkte den Griff um Johnsons Hand weiter.

»Ike, meine Hand …«

»Sie haben die ganze Zeit von widerwärtigen Sünden geredet. Wieder und immer wieder. Fanden Sie meinen Sohn widerwärtig?«

»Ike, das habe ich nie gesagt.«

»War auch gar nicht nötig. Mag sein, dass ich mein Geld mit Rasenmähen verdiene, aber Beleidigungen erkenne ich sofort, wenn ich sie höre. Sie glauben, mein Sohn wär so was wie ein Monster gewesen, und haben dafür gesorgt, dass das alle bei der Beerdigung mitbekommen. Mein Junge lag keine anderthalb Meter von Ihnen entfernt, und Sie konnten gar nicht aufhören, davon zu labern, dass ihm seine Sünden vergeben würden. Seine widerwärtigen Sünden.«

»Ike, bitte …«, sagte Reverend Johnson. Mehrere Autos standen inzwischen hinter dem BMW.

»Sie haben mit keiner Silbe erwähnt, dass er Reporter war. Oder dass er seinen Abschluss an der vcu als Jahrgangsbester gemacht hat. Sie haben nichts davon gesagt, dass er auf der Highschool mit der Basketballmannschaft die State-Meisterschaft gewonnen hat. Sie haben immer nur von Widerwärtigkeiten geredet. Ich weiß nicht, was er Ihrer Meinung nach war, aber er war einfach nur …« Ike hielt inne. Das Wort steckte ihm im Hals wie ein Hähnchenknochen.

»Bitte lassen Sie meine Hand los«, keuchte Reverend Johnson.

»Mein Sohn war keine beschissene Widerwärtigkeit!«, sagte Ike. Seine Stimme war kalt wie ein Gebirgsbach. Er verstärkte noch einmal seinen Griff und spürte, wie die Mittelhandknochen zerbröselten. Reverend Johnson stöhnte.

»Ike, lass ihn los!«, sagte Mya.

Ike drehte den Kopf nach rechts. Seine Frau stand neben ihrem Wagen. Inzwischen war die Schlange hinter ihnen zehn Autos lang. Ike ließ Reverend Johnsons Hand los. Der Geistliche gab Vollgas, schoss auf den Highway und wurde von deutscher Ingenieurskunst davongetragen.

Mya stieg auf der Beifahrerseite ein, während Ike hinter das Lenkrad glitt.

Sie verschränkte die Arme vor ihrer schmalen Brust und lehnte den Kopf gegen die Seitenscheibe. »Was sollte das gerade?«, fragte sie.

Ike drehte den Zündschlüssel um und ließ den Wagen anrollen. »Du hast doch gehört, was er in seiner Predigt gesagt hat. Du weißt, was er über Isiah gesagt hat«, antwortete er.

Mya seufzte. »Als ob du nicht schon Schlimmeres gesagt hättest. Aber jetzt, wo er tot ist, möchtest du ihn verteidigen, ja?«

Ike umklammerte das Lenkrad. »Ich habe ihn geliebt. Das habe ich wirklich. Genau so sehr wie du«, presste er durch die zusammengebissenen Zähne.

»Wirklich? Wo war denn diese Liebe, als er morgens, mittags und abends in der Schule drangsaliert wurde? Oh, genau, da hast du ja gesessen. Damals hat er deine Liebe gebraucht. Jetzt, wo er unter der Erde liegt, nicht mehr.« Tränen rollten ihr über das Gesicht.

Ikes Kiefermuskeln arbeiteten. »Deshalb hab ich ihm das Kämpfen beigebracht, als ich nach Hause kam«, sagte er.

»Tja, das kannst du am besten, stimmt’s?«

»Willst du noch mal zurück und –«, setzte Ike an.

»Fahr uns einfach nach Hause«, schluchzte Mya.

Er trat aufs Gas und verließ den Parkplatz des Friedhofs.

3

Buddy Lee richtete sich im Bett kerzengerade auf. Jemand hämmerte so fest gegen die Tür seines Trailers, dass alles zu beben schien. Er warf einen Blick auf die Uhr, die auf der Milchkiste stand, die ihm als Nachttisch diente. Es war sechs. Die Beerdigung hatte bis zwei gedauert. Buddy Lee hatte einen Zwischenstopp beim Piggly Wiggly gemacht und ein Pack Bier gekauft. Die letzte Dose hatte er gegen halb fünf geknackt. Dann hatte er sich aufs Bett fallen lassen und war weggedämmert.

Das Hämmern an der Tür ging wieder los. Cops. Mussten Cops sein. Niemand hämmert so brutal gegen die Tür wie dein Freund und Helfer. Buddy Lee rieb sich die Augen.

Hau ab.

Der Gedanke flammte in seinem Kopf auf wie ein LED-Schriftzug. Der Impuls war so heftig, dass er aufgestanden war und zwei Schritte zur Hintertür gemacht hatte, bevor er überhaupt realisierte, was er da tat. Er holte tief Luft.

Hau ab.

Der Gedanke pulsierte in seinem Kopf, obwohl er seit zehn Jahren aus Red Onion raus war. Obwohl er nur eine Flasche schwarzgebrannten Schnaps im Schrank hatte und zwei Joints in seinem Truck. Obwohl er sich im Prinzip aus allem rausgehalten hatte, seit er vor drei Jahren als Fahrer bei Kitchener Seafood angefangen hatte. Tja, jetzt musste er sich keinen Kopf mehr darum machen, sich aus allem rauszuhalten, denn Ricky Kitchener hatte ihn gefeuert, statt ihm eine Woche Sonderurlaub wegen des Trauerfalls zu geben.

Buddy Lee ließ die Knöchel knacken und ging zur Vordertür. Die Temperatur war in die Höhe geschossen, seit er eingenickt war, also schaltete er die Klimaanlage ein, bevor er die Tür öffnete.

Ein kleiner, gedrungener Mann stand auf den vier Hohlblocksteinen, aus denen die Stufe vor Buddy Lees Eingangstür bestand. Seine Glatze war umgeben von einem Kranz rostfarbener Haare. Auf seinem weißen T-Shirt waren die gesammelten Flecken der Woche zu sehen und zeugten wie undefinierbare Hieroglyphen von seinen Essgewohnheiten.

»Hey, Artie«, sagte Buddy Lee.

»Du bist mit deiner Miete eine Woche überfällig, Jenkins.«

Buddy Lee rülpste und hatte das Gefühl, alle Biere aus dem Pack würden in seinem Mund einen Überraschungsauftritt hinlegen. Er schloss die Augen und versuchte, sich in Gedanken einen Kalender vorzustellen. War schon wieder der Fünfzehnte? Zeit war merkwürdig bedeutungslos geworden, seit die Cops ihm ein Foto von Dereks Gesicht gezeigt hatten, auf dem die Schädeldecke ausgeblendet worden war.

Buddy Lee öffnete die Augen. »Artie, du weißt, dass mein Sohn gestorben ist, oder? Heute war die Beerdigung.«

»Hab ich gehört, ja, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Miete fällig ist. Das mit deinem Jungen tut mir leid, ehrlich, aber du bist ja nicht zum ersten Mal im Rückstand. Ich hab’s dir ja ein paarmal durchgehen lassen, aber ich muss es morgen haben, sonst müssen wir uns mal ganz anders unterhalten.« Arties winzige Rattenaugen lagen matt und braun in seinem Kopf wie alte Pennies.

Buddy Lee lehnte sich gegen den heruntergekommenen Türrahmen und verschränkte seine sehnigen Arme. »Ja, ich sehe schon, Artie, du machst gerade echt harte Zeiten durch. Wie schaffst du’s nur, deine fantastische Garderobe in Schuss zu halten?«

»Du kannst hier Witze reißen, soviel du willst, Jenkins, aber wenn ich bis morgen nicht die ganze Kohle habe, und das schließt die Miete für die Parzelle und den Trailer mit ein, dann werde ich –«, sagte Artie, aber Buddy Lee trat auf den ersten Hohlblockstein herunter. Das hatte Artie nicht erwartet. Er machte einen unbeholfenen Schritt zurück und fiel dabei fast hin.

»Was wirst du? Was willst du dann tun? Die Cops rufen? Runter zum Gericht gehen und mich mit einem Räumungsbefehl aus diesem abgeranzten Trailer schmeißen? Herr, erbarme dich, was werde ich nur tun ohne diese Scheißvilla hier, in der das Klo seit vierundneunzig nicht mehr richtig spült?«

»Du hast hier keinen Freifahrtschein, Buddy Lee! Das hier sind keine Sozialwohnungen. Wenn du so eine willst, zieh rüber nach Wyndam Hills. Ich hab gewusst, dass ich nie an einen Ex-Knacki hätte vermieten sollen. Meine Frau hat’s mir gesagt, aber ich hab nicht auf sie gehört. Jedes Mal, wenn ich einem eine Chance geben möchte, werd ich aufs Kreuz gelegt«, sagte Artie. Speichel klebte auf seinen Lippen.

»Tja, irgendwer muss dich ja aufs Kreuz legen, seit dich deine Frau nicht mehr dazu kriegt, mehr als einmal im Monat zu duschen«, sagte Buddy Lee.

Artie zuckte zusammen, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. »Leck mich, Buddy Lee, ich hab’s an den Drüsen. Du weißt doch selbst, dass du Abschaum bist. Wie alle aus der Jenkins-Sippe. Deshalb war dein Sohn auch eine –« Artie kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Mit anderthalb Schritten hatte Buddy Lee die Distanz zwischen ihnen überwunden und drückte ein Klappmesser, dessen braunes Heft nach langjährigem Einsatz glatt und glänzend war, mit der Klinge voran gegen Arties Bauch. Er packte Arties T-Shirt und senkte seinen Mund dicht an das Ohr des kleineren Mannes.

»Deshalb war mein Sohn eine was? Na los. Sag’s schon. Spuck’s aus, damit ich dich von den Eiern bis zum Hals aufschlitzen kann. Damit ich dich aufschneiden kann wie ein geschlachtetes Schwein und deine Innereien rausquellen lassen kann, als gäb’s bei uns Sonntagabend Gekröse«, sagte Buddy Lee.

»Ich … ich … will doch nur meine Miete«, keuchte Artie.

»Nein, du kommst her, obwohl mein Junge in der Erde liegt und noch nicht mal kalt geworden ist, und spielst dich auf, als wärst du der Größte. Seit ich hier bin, hab ich dich deine verkackten Sprüche raushauen lassen, weil ich keinen Ärger wollte. Aber heute hab ich meinen Jungen begraben, und jetzt hab ich wirklich kein verdammtes bisschen mehr zu verlieren. Also, mach schon. Spuck’s aus. Sag es!« Seine Brust hob und senkte sich, während er heftig ein- und ausatmete.

»Das mit Derek tut mir leid. Mein Gott, es tut mir so verdammt leid. Bitte, lass mich los«, sagte Artie.

Aus seinen Achselhöhlen waberte ein stinkender Geruch, der Buddy Lees Augen tränen ließ. Zumindest redete er sich das ein. In dem Moment, als der Name seines Jungen erwähnt wurde, glitt die Klapperschlange in seinem Herzen, die Artie geweckt hatte, zurück in ihr Loch. Artie war ein kleinlicher, unappetitlicher Mistkerl, aber er hatte Derek nicht umgebracht. Er war nur ein weiteres Arschloch, das nicht verstand, wer oder was Derek gewesen war. Das war etwas, das sie gemeinsam hatten.

»Geh zurück in dein beschissenes Haus, Artie«, sagte Buddy Lee. Er ließ das Shirt los und steckte sein Messer wieder ein.

Artie wich in kleinen Schritten seitlich zurück. Als er das Gefühl hatte, genügend Distanz zwischen sich und Buddy Lee gebracht zu haben, blieb er stehen und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jetzt geht’s um deinen Arsch, Jenkins! Ich ruf die Cops. Wegen der Miete brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen. Du wirst heute Nacht in einer Gefängniszelle schlafen.«

»Geh einfach, Artie«, sagte Buddy Lee. Seine Stimme war matt und teilnahmslos, hatte jede Spur von Draufgängertum verloren.

Artie blinzelte heftig. Die plötzliche Deeskalation verwirrte ihn. Buddy Lee kehrte ihm den Rücken zu und ging in seinen Trailer. Die Klimaanlage hatte bestenfalls die Absicht bekundet, ein bisschen abzukühlen.

Er streckte sich auf dem Sofa aus. Das Klebeband auf der Armlehne zog an ein paar Haaren auf seinem Unterarm. Er kramte in seiner Gesäßtasche und nahm seine Brieftasche heraus. Hinter dem Führerschein steckte ein kleines, zerknittertes Foto von ihm und dem einjährigen Derek. Sie saßen zusammen auf einem Gartenstuhl aus Aluminium, und er hielt den Jungen in der Armbeuge. Auf dem Foto trug Buddy Lee kein Hemd. Das Haar reichte ihm bis auf die Schultern, und es war schwarz wie ein Pikass. Derek trug ein Superman-T-Shirt und eine Windel.

Buddy Lee fragte sich, was der junge Kerl auf dem Foto wohl von dem alten Mann denken würde, der er geworden war. Dieser Kerl da war vollgepumpt mit Schießpulver und Benzin. Wenn er ganz genau hinschaute, konnte er auf der rechten Seite den Hauch eines blauen Auges erkennen. Ein Andenken, das er sich geholt hatte, als er Schulden für Chuly Pettigrew eintrieb. Der Mann auf diesem Foto war ungestüm und gefährlich, immer bereit für eine Schlägerei und führte nie etwas Gutes im Schilde. Wenn Artie in seiner Gegenwart schlecht über Derek gesprochen hätte, dann hätte dieser Mann bis Einbruch der Dunkelheit gewartet und ihm dann die Kehle durchgeschnitten. Hätte zugesehen, wie er auf dem Schotter verblutete, bevor er ihn an einen dunklen, verlassenen Ort gebracht hätte. Dort hätte er ihm die Zähne ausgeschlagen und die Hände abgeschnitten und ihn unter fünfzig Pfund Kalk in einem flachen Grab verscharrt. Dann wäre der Mann auf dem Foto nach Hause gefahren, hätte mit seiner Frau geschlafen und keine Minute seiner üblichen Nachtruhe verpasst.

Derek war anders. Welche Fäulnis auch immer im Wurzelwerk des Stammbaums der Jenkins schwärte, Derek hatte nichts davon mitbekommen. Sein Sohn steckte so voller positiver Möglichkeiten, dass er vom Tag seiner Geburt an von innen heraus gestrahlt hatte wie eine Sternschnuppe. Er hatte in seinen siebenundzwanzig Jahren mehr erreicht als eine ganze Jenkins-Generation.

Buddy Lees Finger begannen zu zittern. Als das Zittern schlimmer wurde und sich auf seine ganze Hand ausdehnte, fiel ihm das Foto zu Boden. Er vergrub den Kopf in den Händen und wartete, dass die Tränen kamen. Sein Hals brannte rau. Sein Magen schlug ein Rad. Seine Augen fühlten sich an, als wollten sie platzen. Es kamen immer noch keine Tränen.

»Mein Junge. Mein süßer kleiner Junge«, murmelte er wieder und wieder, während er vor- und zurückschaukelte.

4

Ike saß im Wohnzimmer und trank an einem Rum auf Eis. Er hatte den Anzug ausgezogen und trug jetzt ein weißes Unterhemd und Jeans. Trotz der Eiswürfel brannte der Rum, als er seine Kehle hinunterlief. Mya und Arianna machten ein Nickerchen. In der Küche standen auf jeder verfügbaren Oberfläche Behälter mit Hühnchen, Schinken und Käsemakkaroni. Ein paar von Isiahs und Dereks Freunden hatten vegetarisches Barbecue mitgebracht. Was zum Teufel das auch sein mochte.

Ike leerte das Glas in einem großen Schluck. Er zuckte zusammen, behielt den Rum aber unten. Er überlegte, sich mehr zu holen, entschied sich dann jedoch dagegen. Sich zu betrinken würde nichts besser oder leichter machen. Er musste diesen Schmerz spüren. Ihn in seinem Herzen lebendig halten. Er hatte ihn verdient. In seinem Hinterkopf hatte er immer gedacht, er und Isiah würden sich irgendwann verstehen können. Er hatte einfach angenommen, die Zeit würde den Gletscher zwischen ihnen schon schmelzen lassen, und sie würden beide so etwas wie eine Offenbarung haben. Isiah würde am Ende verstehen, wie schwer es für seinen Vater war, seinen Lebensstil zu akzeptieren. Im Gegenzug würde Ike akzeptieren können, dass sein Sohn schwul war. Aber die Zeit war ein Fluss aus Quecksilber, der sich seinem Zugriff entzog. Aus zwanzig wurde vierzig. Aus Winter wurde Frühling. Und ehe er sich’s versah, war er ein alter Mann, der seinen Sohn beerdigte und sich fragte, wohin zum Teufel der Fluss ihn gebracht hatte.

Ike hielt das leere Glas an seine Stirn. Er hätte den verdammten Gletscher zu Fuß überqueren sollen, statt auf die Schmelze zu warten. Hätte sich mit Isiah zusammensetzen und versuchen sollen, zu erklären, was er empfand. Ihm sagen sollen, dass er das Gefühl hatte, als Vater versagt zu haben. Und so, wie Isiah war, hätte er ihm gesagt, dass seine Sexualität überhaupt nichts zu tun hatte mit Ikes miserabler Erziehungskompetenz. Vielleicht hätten sie dann beide gelacht. Vielleicht hätte es das Eis gebrochen.

Ike stieß einen tiefen Seufzer aus. Eine hübsche Fantasie.

Er stellte das Glas auf den Couchtisch, lehnte sich auf seinem Ruhesessel zurück und schloss die Augen. Den Sessel hatte er sich selbst geschenkt, um seine müden Knochen auszuruhen, wenn er den ganzen Tag lang Torf und Mulch geschleppt hatte.

Das Handy vibrierte in seiner Tasche. Er sah auf das Display. Es war einer der Detectives, die an Isiahs Fall arbeiten sollten.

»Hallo«, sagte Ike.

»Hallo, Mr. Randolph, Detective LaPlata am Apparat. Wie geht’s Ihnen?«

»Ich habe gerade meinen Sohn beerdigt«, antwortete Ike.

LaPlata schwieg einen Moment und sagte dann: »Tut mir leid, Mr. Randolph. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um die Leute zu finden, die das getan haben. In diesem Zusammenhang: Wäre es in Ordnung, wenn wir vorbeikommen und mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen? Wir versuchen gerade herauszufinden, ob einer von Isiahs und Dereks Freunden oder Kollegen sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat. Wir haben Schwierigkeiten, sie dazu zu bewegen, mit uns zu reden.«

»Na ja, Sie sind Cops. Eine Menge Leute reden nicht gern mit den Cops, selbst wenn sie unschuldig sind«, sagte Ike.

LaPlata seufzte. »Wir versuchen nur, eine Spur zu finden, Mr. Randolph. Bislang haben wir niemanden, der auch nur ein schlechtes Wort über Ihren Sohn oder seinen Freund zu sagen hat.«

»Sie waren … sie waren verheiratet«, sagte Ike.

Mehr betretenes Schweigen in der Leitung. »Entschuldigung. Wir haben mit dem Arbeitgeber Ihres Sohns gesprochen. Wussten Sie, dass er vor einiger Zeit eine Morddrohung erhalten hat?«

»Nein, das wusste ich nicht. Ich und Isiah … wir standen einander nicht so nahe, wie es hätte sein können. Deshalb glaube ich nicht, dass ich Ihnen irgendwie helfen kann«, sagte Ike.

»Was ist mit Ihrer Frau, Mr. Randolph?«

»Es ist jetzt gerade wirklich kein guter Zeitpunkt, um mit ihr zu sprechen«, sagte Ike.

»Mr. Randolph, ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss, aber –«

»Ach ja? Hat jemand Ihrem Sohn in den Kopf geschossen, sich dann über ihn gestellt und ein ganzes Magazin in sein Gesicht entleert?« Das Handy knackte in Ikes Hand, als er es fester umklammerte.

»Nein, aber –«

»Ich muss jetzt auflegen, Mr. LaPlata«, sagte Ike. Er drückte auf die BEENDEN-Taste und legte das Handy auf den Couchtisch neben das leere Glas.

Er ging hinüber zu dem Pressspanregal, in dem ihr Fernseher und ein Dutzend gerahmte Fotos standen. Isiah in seinem gold-blauen Trikot der Red Hill County Highschool, kniend und mit einer Hand auf einem Basketball. Der kleine Isiah mit Mya, als sie ihren Abschluss auf der Schwesternschule machte. Isiah, Mya und Ike an dem Tag, als Isiah seinen Collegeabschluss machte. Mya stand zwischen ihnen wie eine entmilitarisierte Zone, damit sie nicht stritten – das kam dann später, bei der Grillparty, die sie für Isiah veranstalteten, als er seinen Abschluss in Journalistik machte. Es hatte ein Tag sein sollen, an den man sich später erinnern würde. So kam es dann auch, allerdings aus den falschen Gründen. Ike nahm das Abschlussfoto in die Hand und strich mit seinen schwieligen Fingern über das Glas, bevor er es ins Regal zurückstellte.

Er durchquerte die Küche und ging durch die Hintertür zum Schuppen. Er öffnete die Tür, ging hinein und knipste das Licht an. Es roch intensiv nach Benzin und Eisen. Der Schuppen war zwölf mal zwölf Meter groß und mit Oberlicht und Belüftung ausgestattet. Auf der einen Seite wurden Werkzeuge und Gerätschaften für den Garten mit militärischer Präzision gelagert. Zwei Laubbläser und zwei Rasentrimmer hingen an Haken und glänzten wie Ausstellungsstücke. Harken und Schaufeln standen nebeneinander wie Gewehre in einer Waffenkammer. Ein Rasenmäher und ein Kantenstecher standen nebeneinander ohne die geringste Spur von Gras oder Erde. Auf der rechten Seite des Schuppens hing ein Sandsack in einer Ecke hinter schwebendem Staub. Das einzelne, von der Decke hängende Licht warf seltsame Schatten auf die Wand hinter dem Sack. Ike ging hinüber und begann, auf seinen Fußballen zu hüpfen. Er tänzelte und täuschte an, dann ließ er einen Hagel Schläge auf den Sack niedergehen, schnelle Links-Rechts-Kombinationen, und spürte das Stechen des gealterten Leders auf seinen ungeschützten Knöcheln.

Als Kind war Isiah ein sportliches Naturtalent gewesen. Wenn er am Sandsack arbeitete, waren seine Bewegungen kraftvoll und fließend. Seine Beinarbeit war hervorragend, seine Kopfbewegungen gewandt.

Nach Ikes Entlassung war das Boxen die einzige Sache gewesen, die Isiah gern mit ihm zusammen gemacht hatte. Sie mussten nicht reden, wenn sie ihre Fäuste bandagierten und das brüchige Rindsleder malträtierten. Ike hatte sich gewünscht, dass sich Isiah an den Golden Gloves, den landesweiten Meisterschaften für Amateurboxer, beteiligte oder sich einem Nachwuchsteam anschloss. Er hatte gehofft, die Kluft zwischen ihnen mit dem Boxen überbrücken zu können. Doch Isiah wollte nicht kämpfen. Ike bearbeitete und drängte ihn, aber er war nicht umzustimmen. Er war so stur wie jeder andere vierzehnjährige Jugendliche. Am Ende hatte Ike einmal zu viel gedrängt, und Isiah hatte es auf den Punkt gebracht: »Ich bin nicht wie du. Mir macht es keinen Spaß, Leuten wehzutun.«

Danach waren sie nie wieder zusammen in den Schuppen gegangen.

Ike ließ ein paar Ellbogenstöße los. Er sprang zurück, nahm das Kinn zur Brust hinunter und entfesselte eine stakkatoartige Serie rechter und linker Haken. Das gleichmäßige Schlagen seiner Knöchel auf die straffe Oberfläche des Sandsacks hallte durch den ganzen Schuppen.

Ike hatte Isiah immer zu sehr unter Druck gesetzt, und Isiah hatte umgehend mit Gegendruck geantwortet. Mya sagte, sie wären einander so ähnlich, dass eigentlich Ike ihn hätte zur Welt bringen müssen. Ihre letzte Unterhaltung vor ein paar Monaten war zu einer verbalen Rangelei geworden, die mit einer zugeschlagenen Tür endete. Isiah war vorbeigekommen, um seiner Mutter zu sagen, dass er und Derek heiraten würden. Mya hatte ihn umarmt. Ike war in die Küche gegangen und hatte sich einen Drink eingeschenkt. Nach einigen weiteren Küssen seiner Mutter war Isiah ihm in die Küche gefolgt.

»Du stimmst nicht zu?«, hatte Isiah gesagt.

Ike hatte seinen Rum runtergestürzt und das Glas auf den Rand der Arbeitsfläche gestellt. »Es steht mir nicht zu, zuzustimmen oder nicht. Nicht mehr. Aber du weißt ja, dass es hier nicht nur um dich geht. Ihr habt jetzt dieses kleine Mädchen.«

»Deine Enkelin. Sie heißt Arianna, und sie ist deine Enkelin«, hatte Isiah gesagt. Eine Ader auf seiner Stirn hatte zu pulsieren begonnen.

Ike hatte die Arme verschränkt. »Hör zu, ich habe schon vor langer Zeit aufgegeben, dir zu sagen, was du tun sollst. Aber dieses kleine Mädchen wird es sowieso schon schwer genug haben, denn sie ist zur Hälfte schwarz. Ihr habt ihrer Mama Geld gegeben, damit die sie für euch austrägt. Sie hat zwei schwule Daddys. Und was jetzt? Soll sie bei deiner Hochzeit das Blumenmädchen machen? Wollt ihr das Jefferson Hotel mieten und eine Riesennummer draus machen? Und in ein paar Jahren bringst du sie dann in den Kindergarten, und die anderen kleinen Kinder können sie fragen, welcher denn ihre Mommy ist? Habt ihr jemals auch nur ansatzweise darüber nachgedacht?«

»Das fällt dir also als Erstes ein, wenn ich dir erzähle, dass ich die Liebe meines Lebens heiraten werde? Keine Glückwünsche. Nicht mal ein falsches ›Freut mich für dich‹. Sondern: Was könnten die Leute denken. Was könnten die Leute sagen. Eilmeldung, Isaac: Ich bin schon damit klargekommen, was die Leute sagen, als ich damals erklären musste, dass mein Vater ein Knastbruder ist. Dir wär’s vermutlich lieber, wenn wir uns um Mitternacht in einer Hütte im Wald das Jawort geben. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, aber nicht jeder denkt so wie du. Nicht jeder ist von seinen Kindern angewidert. Und die Leute, die so denken wie du, sind in absehbarer Zeit alle tot«, hatte Isiah gesagt.

Ike konnte sich nicht erinnern, das Glas wieder in die Hand genommen zu haben. Er erinnerte sich auch nicht daran, es gegen die Wand geschmissen zu haben. Er erinnerte sich nur, dass Isiah auf dem Absatz kehrtmachte und im Hinausgehen die Tür hinter sich zuschlug.

Drei Monate später waren sein Sohn und dessen Ehemann tot. Vor einem schicken Weinladen in der Innenstadt von Richmond mit mehreren Schüssen niedergestreckt. Als sie auf dem Boden lagen, hatten die Täter noch mal nachgesetzt. Profi-Methode. Ike fragte sich, ob das letzte Bild, das Isiah von seinem Vater hatte, ein auf einem Küchenschrank zersplitterndes Glas war.

Er begann zu schreien. Es baute sich nicht erst langsam in seiner Brust auf und brach dann hervor, sondern drang in einem langen, wilden Aufheulen unmittelbar aus ihm heraus. Der Sandsack begann schubweise zu zucken und zu hüpfen. Jede Art von Technik wurde zugunsten eines animalischen Triebes über Bord geworfen. Die Haut auf seinen Knöcheln platzte auf und hinterließ auf dem Sandsack rote Klecksbilder wie von einem Rorschachtest. Schweißperlen liefen über sein Gesicht. Tränen lösten sich aus seinen Augen und zogen heiße Bahnen über die Wangen. Tränen für seinen Sohn. Tränen für seine Frau. Tränen für das kleine Mädchen, das sie nun großziehen mussten. Tränen für die, die sie waren, und für das, was sie alle verloren hatten. Jeder Tropfen fühlte sich an, als würde er sein Gesicht aufschlitzen wie eine Rasierklinge.

5

Buddy Lee warf einen Blick auf die Uhr. Fünf vor acht. Auf dem Schild stand, dass Randolph Lawn Maintenance montags bis samstags um acht Uhr morgens öffnete. Ike müsste jeden Moment aufkreuzen.

Die Klimaanlage im Truck war nicht viel besser als die in seinem Trailer. Die Luft, die aus den Schlitzen kam, war bestenfalls lauwarm. Das System benötigte dringend eine Ladung Freon, aber diese Woche war seine Stromrechnung fällig. Wenn es um die Frage ging, entweder einen funktionierenden Kühlschrank zu Hause oder eine funktionierende Klimaanlage in seinem Truck zu haben, würde der Kühlschrank jederzeit gewinnen.

Buddy Lee wechselte den Radiosender. Heutzutage spielte niemand mehr richtigen Country. Ein Langholztransporter schoss an der Tankstelle vorbei, an der Buddy Lee geparkt hatte. Randolph Lawn Maintenance befand sich in einer eingeschossigen Blechlagerhalle gegenüber einem Spee-Dee Mart unweit des Red Hill Florist. Buddy Lee wohnte in Charon County, das ungefähr fünfzehn Meilen von Red Hill entfernt war. Er fand es erstaunlich, dass sein Sohn und Ikes Sohn nur zwanzig Minuten voneinander entfernt aufgewachsen waren, einander aber erst auf dem College gefunden hatten.

Er wollte gerade wieder in die Tankstelle gehen und sich noch einen Becher Kaffee holen, als er einen weißen, hinten doppelt bereiften Truck vor das Tor von Randolph Lawn Maintenance rollen sah. Der Truck hielt an, und Ike sprang heraus, um das Tor zu öffnen. Er schob das Maschendrahttor aus dem Weg und fuhr auf den Parkplatz.

Bevor Buddy Lee aus seinem eigenen klapprigen Truck stieg, begann er zu husten. Er wusste, es würde wieder schlimm werden. Seine Speiseröhre fühlte sich an, als würde sie sich wie ein Kaubonbon ziehen. Seine Lungen strengten sich an, Sauerstoff in seinen

Blutkreislauf zu pumpen. Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Nach sechzig qualvollen Sekunden ließ der Husten nach. Er spuckte Schleim auf den Boden und joggte über den zweispurigen Highway, der die Stadt halbierte.

Das Innere der Halle war so karg wie ein militärisches Kasernengebäude. Ein abgenutzter Couchtisch stand rechts neben dem Eingang, flankiert von einem metallenen Klappstuhl auf der einen und einem abgewetzten Lederzweisitzer auf der anderen Seite. Ein altmodischer Getränkeautomat mit Glasfront stand vor der linken Wand. Die meisten Fächer des Automaten waren leer. Die drei anderen enthielten jeweils eine schlichte blaue Dose mit der Aufschrift COLA. An den Wänden hingen zahlreiche Plakate, die für eine breite Palette an Rasen- und Gartenprodukten warben und entweder versprachen, das Gras zu beseitigen oder es wachsen zu lassen. In der hinteren Wand des Eingangsbereichs befand sich ein Sicherheitsfenster und links daneben eine Tür. Ike stand neben dem Fenster. An einem seiner Finger baumelte ein dicker Schlüsselbund.

»Hey, Ike«, sagte Buddy Lee.

Ike steckte den Schlüsselbund wieder in die Tasche. »Hey. Buddy Lee, richtig?«

Buddy Lee nickte. »Hey, hast du mal ne Minute? Ich möchte gern mit dir über was reden.«

»Klar, paar Minuten sind immer drin. Aber viel Zeit hab ich nicht. Ich muss meine Mitarbeiter aufteilen«, sagte Ike. Er zog den Schlüsselbund wieder heraus und öffnete die Masonit-Tür.

Buddy Lee folgte ihm in den hinteren Teil der Halle. Paletten mit Dünger, Unkrautvernichtungsmitteln und Pestiziden standen in langen Zehnerreihen da und erstreckten sich bis zu einer Wand mit einem breiten Rolltor. Rechts neben dem Rolltor waren lange Elemente von metallenen Raseneinfassungen gestapelt. Ein kleiner Metallschreibtisch mit Laptop und Rolodex stand unmittelbar hinter dem Sicherheitsfenster. Hinter dem Schreibtisch befand sich ein abgetrennter kleiner Büroraum, in dem sich Ike an einen weiteren Metallschreibtisch setzte. Buddy Lee nahm auf dem ramponierten Holzstuhl davor Platz. Der Schreibtisch war so spartanisch wie der Eingangsbereich: ein Laptop, ein Stiftehalter, ein Ein- und ein Ausgangskorb, sonst nichts. Neben dem Schreibtischsessel stand ein niedriger Aktenschrank mit zwei Schubfächern.

»Hast du schon mal daran gedacht, dir so eines von diesen Dingern zu besorgen, ähm, ich weiß gerade nicht, wie man die nennt, jedenfalls sind’s so Metallkugeln, die gegeneinanderklackern. Sieht aus wie ein Zaubertrick.«

»Nein«, sagte Ike.

Buddy Lee strich über den Dreitagebart auf seinem Kinn. Der Geruch von Schweiß und billigem Whiskey hüllte ihn ein wie eine Wolke. »Es ist heute genau zwei Monate her«, sagte er.

Ike verschränkte die Arme vor seiner massigen Brust. »Ja, ich weiß.«

»Wie geht’s dir? Ich meine, seit der Beerdigung und allem?«, fragte Buddy Lee.

Ike zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ganz okay, denke ich.«

»Hast du irgendwas von den Cops gehört?«

»Die haben mich ein einziges Mal angerufen. Seitdem nichts mehr.«

»Ja, mich haben sie auch nur einmal angerufen. Spurenmäßig schienen die nicht viel zu haben.«

»Ich schätze, sie arbeiten dran«, erwiderte Ike.

Buddy Lee fuhr mit den Händen über seine Jeans. »Ich bin auf meine alten Tage häuslich geworden. Ich geh zur Arbeit, anschließend zurück in meinen Trailer. Dazwischen trink ich ein paar Bier. Das war’s dann so ziemlich. Wenn sich’s vermeiden lässt, hab ich mit den Cops nichts zu schaffen. Aber heute Morgen bin ich um sechs aufgestanden und nach Richmond gefahren. Ich bin da aufs Revier und hab nach den Detectives gefragt, die am Mordfall Derek Jenkins und Isiah Randolph arbeiten. Weißt du, was die zu mir gesagt haben?« Ein Zittern lag in seiner Stimme.

»Nein, weiß ich nicht.«

»Detective LaPlata sagte, der Fall würde momentan ruhen. Kein Mensch weiß irgendwas, und falls doch, redet zumindest keiner«, sagte Buddy Lee. Er schluckte schwer. »Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber das passt mir nicht.«

Ike sagte nichts.

Buddy Lee stützte das Kinn auf seiner Faust ab. »Ich seh ihn in meinen Träumen. Derek. Der hintere Teil seines Kopfs ist aufgeplatzt. Sein Gehirn schlägt wie ein Herz. Blut strömt ihm übers Gesicht.«

»Stopp!«

Buddy Lee blinzelte. »Sorry. Es ist nur, dass ich immer wieder dran denken muss, was der Cop gesagt hat. Dass ihre Freunde nicht mit denen reden. Ich meine, verdenken kann ich’s ihnen nicht. Ich denke, wir wissen beide, dass es gefährlich sein kann, mit deinem Freund und Helfer zu reden.«

»Es schockt mich nicht gerade, dass der Fall ruht. Für die haben zwei … zwei Männer wie Isiah und Derek eben nicht die höchste Priorität«, sagte Ike.

Buddy Lee nickte. »Ja. Ich war nie ein Fan von diesem Schwulenzeug, aber ich hab meinen Jungen geliebt. Ich hab’s nicht immer gezeigt, und ich war auch viel weg, aber ich schwöre, ich hab ihn mit jeder Faser geliebt. Ich glaube, bei dir und deinem Sohn ist das genauso. Und deshalb wollte ich mit dir reden.«

»Worüber genau wolltest du mit mir reden?«, fragte Ike.

Buddy Lee holte tief Luft. Er hatte seit einer Woche an seinem Vortrag gefeilt, aber jetzt, da er kurz davorstand, alles laut auszusprechen, wurde ihm klar, wie verrückt es war. »Wie schon gesagt, ich kann’s keinem verübeln, wenn er nicht mit den Cops redet. Aber was, wenn die gar nicht mit den Cops reden müssten? Was, wenn sie stattdessen mit uns reden würden? Die Leute erzählen doch wahrscheinlich zwei trauernden Vätern Sachen, die sie der Polizei niemals sagen würden.« Die Worte sprudelten wie in einem langen, zusammenhängenden Satz aus ihm heraus.

Ike legte den Kopf schief. »Was, willst du, dass wir einen auf Privatdetektiv machen?«

»Dieses Arschloch läuft frei herum. Steht morgens auf und isst ein dickes, fettes Frühstück. Anschließend zieht er los und macht, was er eben tagsüber so macht. Und am Abend holt er sich wahrscheinlich irgendeine Muschi ins Bett. Dieses Arschloch hat unsere Kinder umgebracht. Er hat sie durchsiebt, Mann. Und dann hat er sich über sie gestellt und hat ihnen den Kopf weggeschossen. Also, ich weiß ja nicht, wie’s bei dir ist, aber ich komm nicht klar, solange dieser Dreckskerl noch am Leben ist«, sagte Buddy Lee. Die Augen traten ihm aus den Höhlen.

»Sagst du da gerade, was ich denke, dass du es sagst?«, fragte Ike.

Buddy Lee leckte sich über die Lippen. »Das Black-God-Tattoo hast du nicht, weil du ein Möchtegern bist. So ein Tattoo kriegt nur ein hohes Tier. Und das wird man nur, wenn man was vorzuweisen hat. Und in deinem Fall ist das offenbar so einiges. Also, ich bin kein hohes Tier, aber ich hab auch meinen Teil hinter mir.«

Ike lachte leise.

»Was ist daran so witzig?«

»Du müsstest dich mal reden hören. Du klingst wie ein Weißbrot in einem alten Hillbilly-Krimi. Wie ein Komparse aus Mein Name ist Gator. Sieh dich um. Für mich arbeiten hier vierzehn Leute, meine Sekretärin nicht mitgezählt, die mal wieder zu spät ist. Ich hab feste Verträge für fünfzehn Objekte. Bei mir zu Hause ist ein kleines Mädchen, das ich jetzt mit großziehen muss, weil dein Sohn und mein Sohn meine Frau zur Erziehungsberechtigten bestimmt haben. Ich hab Verpflichtungen. Die Leute sind von mir abhängig, müssen was zu essen auf den Tisch bekommen. Und du willst … was genau von mir? Dass ich mit dir eine verkackte Rolling Thunder- oder John Wick-Nummer abziehe? Du bist besoffen, aber ich kann nicht glauben, dass du so besoffen bist«, sagte Ike.

Buddy Lee rieb Zeigefinger und Daumen aneinander. Ike hörte das Kratzen der Schwielen, die übereinanderglitten.

»Dann hast du also Angst, dir die Finger schmutzig zu machen, ja? Oder geht’s dir am Arsch vorbei, dass der Kerl, der unsere Söhne ermordet hat, frei rumläuft?«

Ikes Gesicht verwandelte sich in eine starre Maske. Seine Hände ballten sich unter dem Schreibtisch zu Fäusten. »Du denkst, es wär mir egal? Ich musste meinen Sohn in einem geschlossenen Sarg beerdigen, weil der Bestatter es nicht hingekriegt hat, sein Gesicht wieder zusammenzusetzen. Meine Frau wird mitten in der Nacht wach, weint und ruft Isiahs Namen. Ich sehe seine Tochter an und begreife, dass sie sich nicht daran erinnern können wird, wie seine Stimme geklungen hat. Jeden Morgen beim Aufstehen und jeden Abend beim Schlafengehen bete ich, dass er mich nicht gehasst hat, als er diese Welt verlassen hat. Du siehst ein paar Tattoos und glaubst genau zu wissen, wer zum Teufel ich bin? Du weißt gar nichts über mich, Mann. Hast du gedacht, du kommst hier rein und kriegst den großen, bösen Nigger dazu, für dich irgendwelche Leute umzulegen?«

Buddy Lee sah die Muskeln auf Ikes Hals hervortreten wie eine dreidimensionale Landkarte. Mit Pupillen, die so klein wie Nadelstiche waren, beugte Buddy Lee sich vor. »Nicht irgendwelche Leute. Die Dreckskerle, die Derek und Isiah umgebracht haben. Und ich hab nicht darum gebeten, dass du es für mich tust. Wir können uns mehr als nur eine Kanone besorgen.«

»Verpiss dich aus meinem Büro«, sagte Ike langsam. Die Worte klangen wie Hohlblocksteine, die über Asphalt gezogen werden.

Buddy Lee rührte sich nicht. Sie sahen einander in die Augen, und Buddy Lee spürte, wie sich die Atmosphäre zwischen ihnen veränderte. Sie war geladen, wie ein Gewitter, das sich am Horizont zusammenbraut. Er kramte in seiner Tasche, bis er einen alten Kassenzettel fand, nahm einen von Ikes Stiften, kritzelte seine Mobilnummer auf die Rückseite und faltete den Zettel einmal, bevor er ihn auf den Schreibtisch legte. Dann stand er auf und ging zur Tür des kleinen Büros. Er blieb stehen und sah zu Ike zurück. »Wenn du heute Abend ins Bett gehst und betest, dass dein Junge dich nicht hasst, hör mal genau hin. Dann wirst du ihn nämlich fragen hören, warum du nichts unternimmst, um die Sache in Ordnung zu bringen. Wenn du so weit bist, ihm darauf zu antworten, rufst du mich an. Wenn nicht, tja, ich finde, dann solltest du über diesen Löwen da eine große, fette Pussy tätowieren lassen.«

Ike hörte den Klang der Türglocke, als Buddy Lee das Gebäude verließ.

Er atmete in kurzen, flachen Schüben, hob die Arme und ließ die Fäuste auf den Schreibtisch krachen. Der Stiftehalter hüpfte und fiel zu Boden. Ike schlug die Fäuste wieder auf die Tischplatte, und diesmal machte der Laptop einen kleinen Satz.

Dieser weiße Typ besaß wirklich die Frechheit, ihm gegenüberzusitzen und ihm zu sagen, Isiah würde ihn nicht kümmern. Er hätte ihn seine Scheißzähne fressen lassen sollen. Ike stand auf und verließ das Büro. In der Lagerhalle streckte er die Finger aus und versuchte das stechende Gefühl aus den Händen zu bekommen.

Glaubte Buddy Lee wirklich, er wäre der Einzige, der litt? Es verging kein Augenblick, in dem Ike nicht an Isiah dachte. Mit jedem Tag wurde es ein bisschen schwerer und ein bisschen leichter. Wann immer der Schmerz leicht nachließ, bekam er ein schlechtes Gewissen, als würde er sich respektlos gegenüber Isiahs Andenken verhalten, wenn er nicht jede einzelne Sekunde einen quälenden Schmerz in der Brust verspürte. Wenn es heftiger wurde, setzte er sich in den Schuppen und trank, bis er kaum noch stehen konnte.

Er hätte über den Schreibtisch springen und Buddy Lees mageren Arsch vom Stuhl reißen sollen. Hätte ihn gegen die Wand drängen und ihm den Unterarm auf den Hals drücken sollen. Er hätte ihm davon erzählen können, dass er in seinen Träumen die Leute fand, die Isiahs Gesicht weggeschossen hatten, und an einen schönen, ruhigen Ort brachte. Einen Ort, an dem es Zangen und Hämmer und eine Lötlampe gab. Er hätte ihm davon erzählen können, dass er sie in seinen Träumen mit Riot Randolph bekannt machte, dem Gangster mit den neun Leichen auf dem Kerbholz – diejenigen, die ihm eine Anklage wegen Totschlags eingehandelt hatten, nicht mitgerechnet.

Ike massierte seine Schläfen. Dieser Mann war er schon sehr lange nicht mehr gewesen. Nicht seit dem 23. Januar 2004. Das war der Tag, an dem er das Coldwater State Penitentiary verlassen hatte. Er war durch diese Tore geschritten und von Fremden in Empfang genommen worden. Einer Frau, die mit anderen Männern verkehrt hatte. Einem Sohn, eher Mann als Junge, der ihm nicht in die Augen sehen konnte. Von ihm geliebte Fremde, die bei seiner Berührung zusammenzuckten.

Er hatte sich in der ersten Nacht, die er wieder zu Hause war, entschieden. Er war fertig damit. Er würde ein anständiges Leben führen. Für ihn war Riot im Gefängnis gestorben. Ike opferte ihn für seine Familie. Genau wie Abraham versucht hatte, es für seinen Namensvetter zu tun. Zuerst wollte es niemand glauben. Die ersten paar Monate zu Hause kamen immer noch Cracksüchtige auf ihn zu und fragten, ob er was hätte. Jahrelang war es das Lieblingshobby des Red Hill Sheriff’s Department, ihn auf der Straße rauszuwinken und sein Auto zu durchsuchen. Im Lebensmittelladen machten die Leute entweder einen großen Bogen um ihn oder warfen ihm schräge Seitenblicke zu. Er ignorierte sie alle. Er behielt den Kopf unten und die Augen auf sein Ziel gerichtet. Mit einem altersschwachen Aufsitzmäher und einem rostigen Sichelmesser startete er seinen Rasenpflegeservice. Er arbeitete nicht einfach nur hart, er arbeitete härter als jeder andere im Umkreis von fünf Countys. Als Isiah mit dem College fertig war, hatte Ike das Haus und die Lagerhalle abbezahlt.

Er lernte, wie er sein Temperament beherrschen konnte. Im Knast hatte es so etwas wie gewaltfreie Konfliktlösung nicht gegeben. Man schlug zuerst zu, und man schlug gründlich zu. Wenn nicht, wusch man am Ende die Unterhosen eines anderen Arschlochs. Als er das erste Mal nach seiner Entlassung auf der Straße geschnitten wurde, war es verdammt hart. Es verlangte ihm alles ab, nicht hinter dem Kerl herzudüsen, ihn aus seinem Wagen zu ziehen und ihm sämtliche Zähne auszuschlagen.

Buddy Lee hatte es falsch verstanden. Ike hatte keine Angst, sich die Hände schmutzig zu machen. Er hatte keine Angst, Blut zu vergießen. Er hatte Angst, nicht mehr damit aufhören zu können.

6

Grayson öffnete sein Garagentor. Die Hitze war ein Lebewesen, das nach ihm griff und ihn mit einer erstickenden Umarmung berührte. Ein öliger Dunstschleier verlieh der Welt eine Sepiatönung, fast als wäre er in einer alten Fotografie gefangen. Die Nachmittagssonne durchstach die Abgase der Dieselwerkstatt im Osten und den Rauch und Dampf der Stahlbaufirma im Westen. Grayson schwang eines seiner kräftigen Beine über die Harley und zog den Helm über seinen großen Kopf. Lange blonde Haare kamen unter dem Helm hervor und fielen auf seinen Rücken. Er wollte gerade die Maschine anlassen, als Sara die Tür öffnete und ihm etwas zubrüllte.

»Dein Handy klingelt. Du weißt schon, das im Nachttisch, das ich nicht anpacken darf«, krähte sie.

Grayson zog den Helm wieder ab. »Bring’s her.«

»Ach, jetzt darf ich’s also anfassen, ja?«

»Bitch, bring mir das Scheißhandy«, sagte Grayson.

Sara öffnete den Mund, überlegte es sich dann aber anders und verschwand im Haus. Als sie zurückkam, hatte sie Jericho auf der Hüfte und das Mobiltelefon in der freien Hand. »Sag ihr, sie soll dich lieber nicht küssen, weil sie sonst meine Pussy leckt«, sagte sie und gab ihm das Handy.

»Red verdammt noch mal nicht so, wenn er dabei ist«, sagte er.

»Als ob du nicht viel schlimmere Worte benutzt«, erwiderte Sara.

»Verzieh dich wieder ins Haus.«

»Klar, behandle mich ruhig weiter so mies. Vielleicht kommst du eines Tages nach Hause, und ich bin weg.«

»Versprochen?«, sagte Grayson.

Sara zeigt ihm den Finger, bevor sie wieder ins Haus ging. Grayson stieß ein verächtliches Lachen aus. Später würde es wieder einen Hatefuck geben. Diese Leier spielten sie jetzt schon fünf Jahre. Keiner von ihnen würde irgendwo hingehen. Das wussten sie beide.

Grayson klappte das Prepaid-Handy auf. Er las die Nummer und schüttelte seinen zotteligen Kopf, bevor er ranging. »Hallo?«

»Hallo. Ich vermute, Sie wissen, warum ich anrufe.«

»Hab so eine Ahnung.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg eine volle Minute. »Also haben Sie sie noch nicht gefunden.«

»Es ist zwei Monate her. Ich hab die Jungs überall nach ihr suchen lassen. Hab sogar die Homeboys gefragt, die bei uns kaufen. Die Bitch ist auf und davon. Nach allem, was mit dem Reporter passiert ist, traut die sich nicht mehr, den Mund aufzumachen. Kein Grund zur Sorge«, sagte Grayson.