Die Rebellion der inneren Kinder - Maria Schubert - E-Book

Die Rebellion der inneren Kinder E-Book

Maria Schubert

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Beschreibung

Warum nur verhalten wir Menschen uns oft so zerstörerisch? Warum konsumieren wir so exzessiv und interessieren uns so wenig für die Schäden, die wir damit anrichten? Warum nehmen wir Armut, Ausgrenzung und soziale Ungerechtigkeit so unberührt hin, solange sie uns nicht selbst betreffen? Warum sind unsere sozialen Beziehungen so häufig geprägt von Manipulationen und Machtkämpfen? Liegt das einfach in der Natur des Menschen? Dieses Buch sagt: Nein. In unseren Gesellschaften tobt ein unsichtbarer Aufstand - die Rebellion der inneren Kinder. Tiefgreifende Konflikte zwischen Gefühl und Verstand bestimmen den Menschen und sein Zusammenleben. Um die vielen ökologischen und sozialen Probleme der Gegenwart nachhaltig lösen zu können, sollten wir uns zuallererst mit uns selbst versöhnen.

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Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Widmung

Für meinen Bruder Jacob,

der durch mein Verhalten wohl das meiste Leid hat ertragen müssen

und es am wenigsten verdient hat.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Teil I

Die Theorie der inneren Beziehung

1. Das innere Kind und der innere Erwachsene – Begriffe und Charakter

1.1 Meine Weltanschauung

1.2 Die Tiefenpsychologie und wofür man sie braucht

1.3 Das innere Kind und der innere Erwachsene

1.4 Die Theorie der inneren Beziehung

1.5 Das innere Kind: Grundbedürfnisse und -empfindungen

1.6 Zusammenfassung: Das Wesen des Menschen

2. Die innere Beziehung

2.1 Das Unbewusste: Was wissen wir eigentlich von uns?

2.2 Der innere Dialog: Gespräche mit uns selbst

2.3 Eigenschaften und Funktionen des inneren Erwachsenen

2.4 Verdrängung: Unbewusste Gefühle

2.5 Kompensation: Der Haken am Veganismus

2.6 Zusammenfassung: Angst in der inneren Beziehung

3. Die innere Beziehung von außen: Kommunikation und Handeln

3.1 Verbale und nonverbale Kommunikation

3.2 Unstimmigkeiten in der Kommunikation

3.3 Prinzipien menschlichen Handelns

3.4 Eltern und Kinder: Die Ausbildung des inneren Erwachsenen

3.5 Folgen von Verdrängung und Abwertung: Blockierte, verzweifelte und frustrierte innere Kinder

3.6 Laissez-faire: Die Wirkung von Alkohol

3.7 Der Idealfall: Die liebevolle innere Beziehung

3.8 Zusammenfassung: Anwendung der Theorie im Alltag

Überleitung zum zweiten Teil

Teil II

Die Rebellion der inneren Kinder

4. Die Grundlagen der Rebellion

4.1 Methodik: Wie diese Analyse zustande kommt

4.2 Das innere Kind in der Gesellschaft

4.3 Der innere Erwachsene in der Gesellschaft

4.4 Beispiele kultureller Verzerrungen: Scham bei Nacktheit und die Abneigung gegen Homosexualität

4.5 Die Ursprünge der Rebellion der inneren Kinder

4.6 Zusammenfassung: Wo wir die Rebellion im Alltag sehen

5. Die sichtbaren Zeichen der Rebellion

5.1 Gemeinsamkeiten der modernen westlichen Gesellschaften

5.2 Der narzisstische Mensch

5.2.1 Narzissmus, Konsum und Umwelt

5.3 Der selbstoptimierte Mensch

5.4 Der beschleunigte Mensch

5.5 Der entfremdete Mensch

5.6 Der abhängige Mensch

5.6.1 Liebe und Abhängigkeit

5.7 Der extremistische Mensch

5.7.1 Sensorischer Extremismus: Sexuelle Kompensation

5.7.2 Ideologischer Extremismus: Politische und religiöse Extreme

5.8 Zusammenfassung: Weitere Menschenbilder

6. Die Begegnung mit der Rebellion

6.1 Die individuelle Ebene: Der Mythos der psychischen Erkrankungen

6.1.1 Ineffiziente Strategien: Die Flucht in die Körpermedizin

6.1.2 Effiziente Strategien: Hinwendung zum inneren Kind

6.2 Die soziale Ebene: Kind-Moral und Erwachsenen-Moral

6.2.1 Ineffiziente Strategien: Moralismus

6.2.2 Effiziente Strategien: Verständnis, Mitgefühl, Unterstützung

6.3 Die staatliche Ebene: Politik und Demokratie

6.3.1 Ineffiziente Strategien: Verbote und Bestrafung

6.3.2 Effiziente Strategien: Resozialisierung

6.4 Zusammenfassung: Gift und Heilmittel für die inneren Kinder

7. Ausblick: Wo es hingehen könnte

Wirtschaftliches Handeln: Kurzsichtiges Nutzendenken vs. vorausschauende Nachhaltigkeit

Globale Gesellschaft: Soziale Spaltungen vs. Integration

Politische Ideologien: Sicherheitsfanatischer Überwachungsstaat vs. freiheitliche Demokratie

Individuelle Lebenswelt: Grenznahes Leistungsstreben vs. entspanntes Leben

Nachwort: Wie unser Leben aussehen könnte

Literaturverzeichnis

Danksagung

Vorwort

Dies ist die zweite Version dieses Buches, die ich veröffentliche. Die erste Version erschien 2016, wobei ich dazu sagen muss, dass es insgesamt wahrscheinlich eher die vierte oder fünfte Version war. Dieses Buch hat einen langen Entstehungsprozess durchlaufen. Die ersten Zeilen habe ich 2008 geschrieben, während meines Freiwilligen Ökologischen Jahres. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie ich damals auf der Terrasse des Müritzhofs saß, im schönsten Hochsommer, mit dem Laptop auf dem Tisch und dem Blick auf die Wiesen und die Wälder am Rande der Müritz. Ein paar Monate zuvor hatte ich das Buch „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ gelesen, das zum Ausgangspunkt dieses Buches wurde. Damals wusste ich noch nicht, was aus den Gedanken, die ich niederschrieb, werden würde. Es gab keinen Plan für dieses Buch. Es hat sich mit mir und meinem Leben entwickelt, ohne konkretes Ziel. Von einer gezielten Ausarbeitung kann man überhaupt erst ab dem Jahr 2013 sprechen. Da nämlich hatte ich die eigentliche Idee einer „Rebellion der inneren Kinder“. Von da an hatte ich zumindest eine Vision für dieses Buch, die ich in den Folgejahren nach und nach realisiert habe.

Als ich das Buch 2016 erstmals als E-Book im Selbstverlag veröffentlichte, war eine gedruckte Ausgabe bereits fest eingeplant. Eigentlich wollte ich mir damit nur ein paar Wochen Zeit lassen. Aber dann kamen viele Dinge dazwischen und anderthalb Jahre vergingen ohne weitere Bemühungen. Anfang 2018 beschloss ich, mich nun endlich um die gedruckte Ausgabe zu kümmern. Es war an der Zeit; ich hatte seit der Buchveröffentlichung kaum etwas zu Ende gebracht und brauchte wenigstens den Abschluss dieses Projekts. Für die Überarbeitung plante ich ein bis zwei Wochen ein. Ich wollte nur ein paar Stellen „glattschleifen“ und meinem Erkenntnisstand anpassen. Ich erzählte einem Brieffreund, was ich vorhatte. Er bot mir daraufhin sofort an, das Buch gegenzulesen, und weil er ein kluger Kopf ist und ein großes literarisches Talent besitzt, nahm ich das Angebot an. Allerdings stellte es mich auch vor ein Problem: Ich wusste, dass er mein bisher größter Kritiker werden würde. Um ihn zu erreichen, musste ich mich anstrengen. Ich entschied, noch einmal intensiver in die Überarbeitung zu gehen. Aus den veranschlagten ein bis zwei Wochen wurden schließlich sechs Monate.

Für die Neuausgabe habe ich Vorwort, Einleitung und Nachwort komplett neu geschrieben. Auch in anderen Bereichen des Buches habe ich im Zuge der Überarbeitung einiges gekürzt und/oder neu geschrieben. Seit der Erstveröffentlichung habe ich mich persönlich und fachlich doch stärker weiterentwickelt als ich gedacht hatte; das galt es einzuarbeiten. Die Hauptaussagen des Buches sind allerdings dieselben geblieben. Ich habe sie nur neu verpackt.

Ich hoffe, dass ich Ihnen mit dieser Ausgabe ein Buch vorlegen kann, dem man höchstens am Rande anmerkt, dass es nicht unter der Aufsicht eines Verlags entstanden ist. Vorab möchte ich mich bei allen Menschen bedanken, die das ermöglicht haben. Dieses Buch ist ein echtes Herzensprojekt von mir und ich freue mich sehr, dass ich es nun endlich auch in gedruckter Form zur Verfügung stellen kann.

Einleitung

Dieses Buch handelt vom Wesen des Menschen. Es ist hauptsächlich ein Buch darüber, wer wir sind und warum wir tun, was wir tun. Es richtet sich an Menschen, die psychologisch interessiert sind und sich fragen, was bei uns Menschen eigentlich schief läuft, dass wir oft so rücksichtslos, kurzsichtig und destruktiv handeln. Ich möchte hier meine ganz persönlichen Antworten auf diese Frage vorstellen.

Dieses Buch ist eng mit mir und meiner Geschichte verwoben. Da es eine lange Geschichte ist, will ich nur die Eckpunkte festhalten. Ich wurde 1989 in Stralsund, einer kleinen Stadt im Nordosten Deutschlands geboren und hatte dort eine ziemlich normale und auch recht glückliche Kindheit. Das änderte sich, als ich in die Pubertät kam. Ich wurde depressiv, weil ich mit mir selbst überfordert war und meine Eltern sich in ihre eigenen endlosen Konflikte verstrickten. Ich bin – wie ich heute weiß – hochsensibel, d. h. ich nehme mich und die Welt überdurchschnittlich bewusst und intensiv wahr und bin seit jeher gefordert, mit einer regelrechten Flut von Eindrücken, Gefühlen und Gedanken zurechtzukommen. Das war schon als Kind so, doch als Teenager wurde mir meine Hochsensibilität zum Verhängnis. Weil ich nicht gelernt hatte, bei mir selbst zu bleiben und mich ausreichend abzugrenzen, verlor ich mich zunehmend in den Erwartungen anderer Menschen. Meine Eltern waren zu sehr mit sich beschäftigt, um mich aufzufangen und meine Wut auf die Welt, in der ich mich oft so fremd und unverstanden fühlte, abzufedern. Erst als ich versuchte, mein Leben zu beenden, erkannten meine Eltern die Ernsthaftigkeit meiner inneren Not. Ich kam in psychotherapeutische Behandlung, die mir Besserung brachte, aber nicht verhindern konnte, dass meine Depression am Ende meiner Schulzeit beinahe nahtlos in eine Angststörung überging. Diese Angststörung hat mein weiteres Leben intensiv und nachhaltig geprägt. Ich machte nach meinem Abitur ein Freiwilliges Ökologisches Jahr und begann, in Halle/Saale Südasienkunde und Politikwissenschaft zu studieren – was ich formell bis heute tue –, aber meine Hauptbeschäftigung in den letzten Jahren war es, die menschliche Psyche zu erforschen.

Alles begann 2007 mit dem Buch „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ von den beiden US-amerikanischen Psychologinnen Erika J. Chopich und Margaret Paul, das ich im Rahmen meiner Selbsttherapie las. Ihr Konzept geht davon aus, dass ein Teil von uns, das innere Kind, immer kindlich bleibt und dass wir diesen Teil mit unserem Verstand, dem inneren Erwachsenen, kontinuierlich selbst beeinflussen. Ich wurde von dieser Idee eingenommen. Mir war es noch nicht bewusst, aber ab diesem Moment begann ich, jeden Menschen durch das Kind-Erwachsenen-Schema zu betrachten. Das brachte mir viele neue Erkenntnisse, aber die Haupterkenntnis war: Ich bin nicht die Einzige, die im Kampf mit ihrem inneren Kind ist. Mein Leiden beruht nicht auf irgendeinem defekten Mechanismus in mir, isoliert vom Rest der Gesellschaft. Nein, ich bin das Resultat und ein Teil eines viel, viel größeren Problems, nämlich des Umstands, dass wir als Gesellschaft unsere inneren Kinder völlig aus den Augen verloren haben.

Ich bin dieser Spur über Jahre gefolgt und habe nicht nur mich, sondern auch die Menschen in meiner Umgebung aufmerksam beobachtet und analysiert. Irgendwann fing ich an, Bücher zu lesen, die sich mit dem Menschen und der Gesellschaft befassen. Parallel zu meinem Studium tauchte ich immer tiefer in die Psychologie und in die Philosophie ein, auf der Suche nach Antworten und Bestätigungen meiner alltäglichen Beobachtungen. Mein Weltbild fügte sich Stück für Stück zusammen, bis ich die Vision für dieses Buch hatte. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass der Mensch von Natur aus alle Fähigkeiten hat, um eine Welt zu gestalten, in der er gut leben kann, ohne den Planeten oder andere Menschen für seine Zwecke auszubeuten. Und ich wollte, dass andere Menschen die Welt so sehen können wie ich sie sehe.

Das Kind-Erwachsenen-Schema ist durch den Einfluss, dem ich an der Universität ausgesetzt war und bin, mittlerweile eine Theorie geworden. Ich nenne sie die „Theorie der inneren Beziehung“. Sie ist nicht im strengen Sinne wissenschaftlich, aber sie erfüllt die wichtigste Anforderung einer Theorie: Sie ordnet die Welt. Ich versuche, nah an der Wissenschaft zu argumentieren, aber dieses Buch ist nicht wissenschaftlich. Es ist ein philosophisches Buch. Ich verstehe mich als Philosophin im Sinne Friedrich Nietzsches: „Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig außerordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; […] Ein Philosoph: ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, - aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder zu sich zu kommen…“1. Das ist der Weg, den ich in den letzten Jahren gegangen bin und dessen Geist auch dieses Buch trägt.

Was möchte ich erreichen? Vor allem möchte ich meine Gedanken mit anderen Menschen teilen. Ich möchte Menschen Hoffnung und Mut machen: Es gibt Lösungen für die Probleme der Welt und jeder von uns kann ein Teil der Lösung sein. Ich bin Idealistin, natürlich, und ich glaube daran, dass wir die Welt besser machen können. Für mich liegt der Schlüssel zu einer besseren Welt aber nicht in der Außenwelt, sondern in unserem Inneren. Er liegt in der Liebe zu unseren inneren Kindern. Meine tiefe Überzeugung ist, dass wir automatisch freundliche, liebevolle, friedfertige Menschen werden, wenn wir nur wieder lernen, uns selbst zu achten, zu schätzen, zu versorgen und anzuleiten.

Meine Lösungsvorschläge für unsere gesellschaftlichen Probleme werden nicht jedem gefallen. Sich selbst infrage zu stellen und an den Grundfesten seiner Überzeugungen zu rütteln, ist nicht jedermanns Sache. Das ist in Ordnung. Ich möchte die Menschen erreichen, die so verzweifelt oder so optimistisch sind, dass sie auch für Gedanken offen sind, die sie in der Tiefe treffen. Mir ist bewusst: Nicht jeder Mensch hat Interesse an Psychologie und nicht jeder Mensch ist in der Lage, sich selbst zu verändern, um die Welt zu verändern. Aber es gibt einige, die beides wollen und nur daran scheitern, dass sie zu wenig über das menschliche Denken, Fühlen und Handeln wissen. Für sie habe ich dieses Buch geschrieben und hoffe, damit einen Beitrag zu einem konstruktiven Fortschritt unserer Gesellschaft zu leisten.

1 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse (1886) [E-Book: 9. Hauptstück].

Teil I

Die Theorie der inneren Beziehung

1. Das innere Kind und der innere Erwachsene – Begriffe und Charakter

„Im Innersten unserer Seele sind und bleiben wir eben zeitlebens Kinder.“

SÁNDOR FERENCZI

1.1 Meine Weltanschauung

Wo fange ich an? Am besten mit Erkenntnisphilosophie. Ich werde das Fundament des Buches bauen, indem ich die darunter liegende Weltanschauung erläutere.

So eine ganz fundamentale Betrachtung der Welt besitzen alle Menschen, unabhängig davon, wer sie sind, wo sie leben und wie sie leben. Und die Weltanschauung ist alles andere als eine nebensächliche Glaubenssache; im Gegenteil, sie hat einen enormen Einfluss auf unser Erleben und unser Handeln. Der Gottesglaube ist ein Beispiel. An einen Gott zu glauben, der über uns wacht, kann einem Sicherheit und Geborgenheit in seiner Existenz geben. Ein solcher Glaube kann dabei helfen, Leid zu überwinden. Er kann aber auch den gegenteiligen Effekt haben, zum Beispiel wenn man glaubt, Leid wäre eine Strafe und eine Prüfung Gottes. Dann kann es sein, dass man sich eher am Leid festhält, weil man glaubt, man würde es verdienen. Wer an Karma und Wiedergeburt glaubt, muss fürchten, durch schlechte Taten nach dem Tod in ein schwieriges Dasein zu geraten, und/oder kann hoffen, durch gute Taten in ein besseres Leben wiedergeboren zu werden. Sein Glaube treibt den Karma-Gläubigen dazu an, das zu tun, was als „gut“ bestimmt ist. Eine Weltanschauung ist nichts, was man eben mal so am Rande irgendwie hat, nein, sie bildet die Pfeiler, auf denen unser Leben aufgebaut ist. Man kann sie nicht einfach ablegen oder so tun, als würde sie keine Rolle spielen. Sie spielt immer eine Rolle.

Es gibt da diese bekannte philosophische Fragestellung, deren Antwort uns Auskunft über einen wirklich elementaren Teil unserer Weltanschauung geben kann: „Wenn ein Baum in einem Wald umfällt, macht er dann ein Geräusch, auch wenn niemand es hört?“ Das ist eine Frage, deren Beantwortung an unseren Vorstellungen der Welt hängt. Die Realisten würden sagen: Na klar macht der Baum ein Geräusch. Zumindest verursacht sein Umfallen Schallwellen, die mit den entsprechenden Sinnesorganen wahrnehmbar wären. Denn, so würden die Realisten sagen, die Welt existiert unabhängig von uns. Der Realismus scheint in unserem Kulturkreis heute die vorherrschende Betrachtung der Welt zu sein. Aber sie ist nicht die einzig mögliche. Die Skeptiker nämlich würden sagen: Vielleicht macht der Baum auch kein Geräusch. Vielleicht erzeugt er keine Schallwellen. Vielleicht existiert er gar nicht. Vielleicht existiert die Welt nur in unserem Kopf. Die Agnostiker würden zusätzlich sagen: Wir können die Frage nicht beantworten. Wir können nichts sicher wissen, schon gar nicht über die Welt außerhalb von uns.

Ich fühle mich in gewissen Maßen allen Strömungen verbunden. Ich bin skeptisch in dem Sinne, dass ich grundsätzlich alles hinterfrage, was ich über mich und die Welt zu wissen glaube. Agnostisch bin ich in dem Sinne, dass ich mir darüber bewusst bin, dass ich manche Fragen nicht beantworten kann. Ich weiß nicht, ob die Welt und ich wirklich existieren. Ich kann die Welt ja nur über meine Wahrnehmung erfassen. Es gäbe keine Außenwelt für mich, wenn ich keine Sinne hätte, die sie mir zugänglich machen würden. Wer weiß, vielleicht spielt mir mein Gehirn auch nur vor, es gäbe eine Außenwelt. Ich könnte genauso gut Teil eines Computerspiels sein, das Götter oder Aliens spielen wie wir „Die Sims“. Ich könnte auch in der Matrix sein und in der „Realität“ mit einem Stecker im Kopf bewegungslos in einem Kasten liegen. Ich kann die Frage nach der Existenz der Welt nicht mit absoluter Sicherheit beantworten. Das Gleiche gilt für die Frage nach Gott, die Frage nach dem Sinn unseres Seins und die Frage nach dem Jenseits.

Eine sehr skeptisch-agnostische Weltanschauung ist aber wenig alltagstauglich. Die Unsicherheit über meine Existenz und deren Sinn würde mich verrückt machen, wenn ich die ganze Zeit darüber nachdenken würde. Der schottische Philosoph David Hume, einer der bekanntesten Vertreter des Skeptizismus, schrieb, er könnte den zweifelnden Gedanken nur durch das Leben entkommen: „[…] da die Vernunft außerstande ist, diese Wolken zu zerstreuen, genügt Natur allein zu diesem Zweck, und heilt mich von philosophischer Melancholie und Delirium, entweder durch das Lockern dieser Neigung des Geistes oder durch Zerstreuung und lebendige Eindrücke meiner Sinne, die alle diese Trugbilder vernichten.“2 Hume schildert, er müsse nur hinausgehen, sich unter Menschen mischen und etwas Unterhaltsames tun, danach kämen ihm die philosophischen Fragen „kalt“ und „lächerlich“ vor. Ich handhabe es wie Hume: Um an meinen Zweifeln nicht zu ersticken, habe ich mich mit dem eingerichtet, was ich habe. Und was ich habe, sind Wahrnehmungen einer inneren und äußeren Welt. Im Alltag bin ich also meistens Realistin: „Je pense, donc je suis“ (Ich denke, also bin ich), um es mit Descartes’ berühmtem Satz zu sagen. Da ich nicht nur Geist, sondern auch Körper bin, würde ich den Satz ergänzen: „Je pense et je sens, donc je suis“ (Ich denke und fühle, also bin ich). Wenn ich noch präziser sein wollen würde, müsste es heißen: „Je perçois, donc je suis.“ (Ich nehme wahr, also bin ich). Damit will ich sagen: Aus pragmatischen Gründen gehe ich davon aus, dass das Universum, die Erde und ich existieren. Aber ich bin mir darüber im Klaren, dass der Zugang dazu einzig und allein an meiner Wahrnehmung und deren Verarbeitung hängt.

Die Welt, wie auch immer sie beschaffen ist, ist ein Abbild in unserem Kopf. Dieses Abbild gehört uns ganz alleine, und niemand hat Zugang dazu außer uns. Man nennt das „Qualia“. Die Qualia beschreibt das Phänomen, dass sich unser Erleben nur begrenzt mit anderen Menschen teilen lässt. Wir können zwar darüber sprechen, was in uns passiert und wir können zeigen, was wir fühlen, aber niemand kann sich wirklich in uns hineinversetzen und wahrnehmen, was wir wahrnehmen. Wir können aus realistischer Perspektive annehmen, dass wir mit gesunden Augen und Gehirn alle dieselbe grüne Wiese sehen, weil der Lichtreiz gleich verarbeitet wird. Extreme Realisten lehnen die Idee der Qualia daher gänzlich ab. Ich dagegen halte daran fest. Es ist wahrscheinlich, dass „grün“ für andere Menschen genauso aussieht wie für mich, aber sicher kann ich mir da nicht sein. Das betrifft genauso unsere Gefühle. Fühlen sich Wut, Angst, Scham, Trauer, Schmerz bei jedem Menschen gleich an? Keine Ahnung. Gefühle mögen sich im Ausdruck gleichen und die gleichen körperlichen Zustände in uns auslösen – aber ob sie sich gleich anfühlen, lässt sich nicht klären.

Alles, was wir von der Welt wissen, stellen uns unsere Sinne und unser Gehirn zur Verfügung. Unsere Sinnesorgane sind, wenn sie gesund und funktionsfähig sind, zwar sehr verlässlich, aber unser Gehirn ist es nicht. Es filtert Wahrnehmungen heraus, verzerrt sie und schafft sogar gänzlich neue. Schädigungen in speziellen Arealen des Gehirns können dazu führen, dass sich die „Realität“ massiv verändert. Dann existiert zum Beispiel eine Seite des Körpers nicht mehr oder man kann nicht erkennen, ob der Gegenstand, den man vor sich hat, eine Tasse oder ein Topf ist. Gleiches gilt, wenn wir Rauschmittel zu uns nehmen. Unter Alkohol-, Medikamenten- oder Drogeneinfluss kann sich unsere Wahrnehmung erheblich ändern. Im Alkoholrausch sehen wir manches mit gänzlich anderen Augen. Das zeigt, wie sehr die Welt an uns hängt und wie verletzlich ihr Abbild in uns ist.

Aber selbst wenn wir organische Schäden und Rauschmittel außen vor lassen, bleibt das Problem, dass Wahrnehmung variiert. Das gilt weniger für die einfachen Sinneswahrnehmungen wie Formen, Farben, Geräusche, Geschmacksrichtungen und Gerüche, sondern eher für die etwas komplexeren Dinge. Wir erleben die Welt durch Filter. Diese Filter werden durch unsere individuelle Psychologie bestimmt. In manchen Punkten kann sich die Welt für uns gravierend unterscheiden. Jeder von uns legt unterschiedliche Interpretationen, Erwartungen, Erfahrungen und Bewertungen auf sich und die Welt. Diese Betrachtungen der Welt liegen nicht nur auf Wahrnehmung, sondern sie formen auch die Filter. Unser Gehirn spielt gerne Pippi Langstrumpf, ganz nach dem Motto: Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. Was wir nicht sehen wollen, sehen wir nicht. Oder umgekehrt: Was wir sehen wollen, sehen wir. Der eine sieht die Auren von Menschen, der andere kann nicht einmal ihren Gemütszustand ablesen. Der eine fühlt sich von einer winzigen Bemerkung angegriffen, der andere stört sich nicht einmal an klaren Beschimpfungen. Unsere Welt ist abhängig von der Art, wie wir sie betrachten. Wer glaubt, alle Männer wären Schweine, der wird diesen Schweinen auch permanent begegnen. Wer glaubt, alle Frauen wären zickig, der wird es auch immer wieder mit Zicken zu tun bekommen. Ganz einfach deshalb, weil unsere Aufmerksamkeit so gelenkt wird, dass sich unsere Erwartungen erfüllen. Das funktioniert nach dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung und ich muss wohl nicht näher erläutern, dass man damit kein „objektives“ Bild der Welt bekommt.

Absolute Objektivität gibt es für mich nicht. Ich schließe mich Arthur Schopenhauer an: „[…] bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt.“3 Ich akzeptiere, dass jeder Mensch die Welt mindestens ein kleines bisschen anders betrachtet. Deswegen habe ich eine Weltanschauung, die man die „Vielzahl individueller Realitäten“ nennen könnte. Damit meine ich, dass wir letztlich alle unsere eigenen Realitäten haben. Ich glaube Menschen, die Geister wahrnehmen, die Auren von Bäumen sehen oder religiöse Visionen haben. In meiner Realität kann das sein. Das heißt aber nicht automatisch, dass ich die Existenz von Geistern, Auren oder Göttern anerkenne. In meiner Realität gibt es sie nicht, folglich existieren sie für mich nicht und ich hatte noch nie einen Anlass, meine Ansicht ernsthaft zu überdenken. Es ist aus meiner Sicht nur möglich, dass sie in den Realitäten anderer Menschen vorkommen, weil ich es dem menschlichen Gehirn zutraue.

Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch seine eigene Realität hat, dann ist es im Umgang miteinander notwendig, sich auf eine gemeinsame Realität zu einigen. In vielen Punkten funktioniert das problemlos: Die Wiese sieht für alle Menschen mit unbeschädigtem Farbensehen grün aus, egal ob die Farbe sich im Qualia-Bereich unterscheiden mag. Wir können uns auf diese Farbe einigen und auch darauf, dass alle anderen Dinge im selben Farbton ebenfalls grün sind. Weil das so gut klappt, müssen wir das auch nicht weiter ausdiskutieren – nicht im Alltag und nicht hier. Bei anderen Punkten wird es schwieriger, und unglücklicherweise sind das genau die Punkte, die dieses Buch berührt. Bei einem solchen Medium ist es unmöglich, dass Autor und Leser ihre Realitäten durch Diskussion angleichen. Der Autor kann nur seine Realität beschreiben und mit Argumenten verteidigen. Das werde ich versuchen.

Ich hoffe, ich kann mich mit Ihnen auf die folgenden Eckpunkte einigen: Wir leben in einem Raum-Zeit-Gefüge auf einem Planeten namens Erde, der von Naturgesetzen und verschiedenen Regelmäßigkeiten bestimmt wird. Wenn es schon eine menschenunabhängige Realität gibt, dann gibt es trotzdem nicht die eine richtige Sicht auf die Welt und keine absoluten Wahrheiten. Wenn es Unterschiede in den Realitäten der Menschen gibt, dann ist nicht die eine Realität absolut richtig und die andere absolut falsch. Maximal ist die eine Realität wahrscheinlicher als die andere, weil sie von vielen Menschen als Realität anerkannt wird. Aber: Nur weil die Menge den Kaiser für bekleidet hält, ist er das nicht unbedingt. Bis ins Mittelalter war die vorherrschende Realität, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Heute ist die allgemein anerkannte Realität die, dass sich die Erde um die Sonne dreht – das ist angesichts der vielen Beobachtungen des Planetensystems wahrscheinlicher als die andere Theorie.

Wenn Sie an einen oder mehrere Götter glauben, werde ich Ihnen mit meinen Ausführungen eher nicht in die Quere kommen. Wenn Gott die Bezeichnung für die Zusammenhänge der Welt ist, dann glaube ich an Gott. Ich nutze den Begriff allerdings nicht, weil ich ihn für verbrannt halte. Für viele Menschen ist ein Gott eine Art unsterbliche Person, die mit den Menschen spricht, über sie wacht und über ihr Schicksal entscheidet. An einen solchen Gott glaube ich nicht. Ich glaube an Naturgesetze und an Kausalitäten. Ich glaube außerdem an Zufälle und nicht an Bestimmung. Wenn ich meinen Mathelehrer in der Stadt treffe, dann ist das für mich eine Kombination aus Kausalitäten, die zu einem zufälligen Berührungspunkt geführt haben: Ich bin gerade in dem Moment die Straße entlang gelaufen, als er es auch getan hat, weil wir beide in der Nähe einkaufen gehen wollten. Wir haben beide unabhängig voneinander eine freie Entscheidung getroffen und das hat dazu geführt, dass unsere Wege sich kreuzen. Aus meiner Perspektive hat das niemand so „gewollt“ oder von vornherein so „festgelegt“. Wenn Sie an eine Planung der Welt glauben, dann könnte das an einigen Stellen mit meinen Ausführungen kollidieren, weil ich dem Menschen große Spielräume in seiner Lebensgestaltung einräume.

Die Variabilität der Weltanschauungen und die Vielzahl der Realitäten werden in diesem Buch immer mal wieder eine Rolle spielen. Wir leben in einer sehr realistischen Welt, in der viele Menschen ihre Weltanschauung für die einzig denkbare und „richtige“ halten. Diese Sichtweise werde ich herausfordern und in Frage stellen. Damit zum eigentlichen Thema.

1.2 Die Tiefenpsychologie und wofür man sie braucht

Kommen wir zu dem Menschen, an dem man einfach nicht vorbeikommt, wenn man sich mit Psychologie beschäftigt: Sigmund Freud, der Österreicher mit dem strengen Blick, dessen Name auf der ganzen Welt bekannt ist und über den viele doch nur wissen, dass er irgendwas Bedeutendes für die Psychologie geleistet hat. Die ersten Aufsätze von Freud habe ich gelesen, als ich 20 Jahre alt war. Die Neugier trieb mich an; ich wollte wissen, was dieser Mann so Geniales geschrieben hat, dass er zu den bedeutendsten Intellektuellen der westlichen Welt zählt. Wer Freud gelesen hat, der wird vermutlich schmunzeln, wenn ich sage, dass ich zuerst nichts verstanden habe. Da waren einfach zu viele unbekannte Begriffe, die in unbegreifliche Zusammenhänge gebracht wurden. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mit den Begriffen vertraut war und in etwa nachvollziehen konnte, was Freud uns sagen wollte. Ich denke, dass ich mittlerweile verstanden habe, warum sein Werk so bedeutsam ist: Die gesamte Tiefenpsychologie, auch die hier vorgestellte Theorie der inneren Beziehung, geht maßgeblich auf Freud zurück. Es muss an dieser Stelle sein, wenigstens einen kurzen Blick auf die Grundelemente von Freuds Theorie zu werfen.

Freud war der Ansicht, dass unsere Psyche von Trieben bestimmt ist. Er unterschied Sexual- und Ich-Triebe, wobei die Energie der Sexualtriebe – die Libido – von größter Bedeutung für unser Seelenleben ist. Dann ging Freud davon aus, dass es drei Systeme in der menschlichen Seele geben würde: „Unbewusstes“, „Vorbewusstes“ und „Bewusstes“. Und schließlich postulierte er drei Instanzen „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“. Nun muss das nur noch zusammengebracht werden.

Freud zufolge ist das Es der Ausgangspunkt aller Triebe und deckt sich im Kern mit dem Unbewussten. Das Über-Ich beherbergt die Wertvorstellungen und ist in allen Systemen präsent, und das Ich dient als eine Art Koordinationsinstanz, die zwischen äußeren Einflüssen, dem Es und dem Über-Ich vermittelt. Laut Freud wird unser psychisches Erleben also davon bestimmt, dass Triebe in den verschiedenen Systemen durch die verschiedenen Instanzen gelenkt werden. Ich stelle mir einen Trieb wie einen Wasserlauf vor, den man aus der Luft beobachtet: Er hat eine Quelle (das Es) und läuft dann durch verschiedene Landschaften (die Systeme). Das Unbewusste ist ein dichter Bergwald, der den noch kleinen Bach verbirgt. Das Vorbewusste ist der Waldrand, kurz bevor der Wasserlauf sichtbar wird, und das Bewusste ist das Tal, in dem sich der nun breite Fluss deutlich vor uns ausbreitet. Das Über-Ich kann man sich als Felsen vorstellen, die den Wasserlauf in sein Bett drängen. Und das Ich ist der Mensch, der Kanäle anlegt, Wassermühlen baut und Binnenschifffahrt betreibt. So in etwa kann man das theoretische Fundament der Psychoanalyse sehen, auch wenn das natürlich nur ein Bild und die Freud’sche Theorie ein bisschen komplexer ist.

Die Psychoanalyse, für die Freud so bekannt ist, ist eine Art der Psychotherapie. Freud war Psychiater. Er hatte mit Geisteskranken zu tun und sein Anliegen war es, diese bisher als unheilbar geltenden Krankheiten zu heilen. Die Psychoanalyse war sein „Heilmittel“ und sollte helfen, Menschen wieder in einen „normalen“ Geistes- und Gemütszustand zu bringen. Dafür musste zunächst verstanden werden, was in ihrem Unbewussten vor sich ging. Bildlich gesprochen: Der Fluss, der aus den Wäldern auftauchte, war bei den Patienten Freuds nicht klar, sondern trüb und voller toter Fische. Irgendetwas musste im Wald (im Unbewussten) passiert sein und die Psychoanalyse erforschte, was das war.

Methode der Wahl war das „freie Assoziieren“, das viele von uns heute als das klassische Bild einer Psychotherapie im Kopf haben: Der Patient liegt auf einer Couch und spricht ohne (Selbst-)Zensur alles aus, was ihm gerade in den Kopf kommt. Freud und seine Kollegen erhofften sich davon, unbewusste Triebregungen an die Oberfläche zu bringen, um sie als solche bewusst zu machen und ihnen damit die Möglichkeit zu entziehen, neurotische Symptome zu produzieren. Man nannte diese Art der Psychologie „Tiefenpsychologie“, weil sie gewissermaßen in die Tiefe der menschlichen Seele abtauchte. Die Gegenströmung dazu bildeten vor allem die behavioristischen Zweige der Psychologie, die Verhalten mithilfe von Lernprozessen (Konditionierung) zu erklären versuchten.

Freuds Gedanken wurden schon zu seinen Lebzeiten vielfach aufgegriffen und rege diskutiert. Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass die Geschichte der Menschen hinter den Anfängen der Tiefenpsychologie äußerst spannend ist. Freud war Dreh- und Angelpunkt einer Gemeinschaft, in der sich Menschen mit verschiedenen Erfahrungshorizonten und Interessenschwerpunkten zusammenfanden, um das Geheimnis der menschlichen Seele zu ergründen. Sämtliche Tiefenpsychologen zu Freuds Zeiten hatten zumindest zeitweise Kontakt zu Freud und oft auch zueinander. Die Begründer der Psychoanalyse – genauer gesagt diejenigen, die selbst Schriften publizierten – waren Menschen in einem engen fachlichen und persönlichen Beziehungsgeflecht.4

Aus und mit der Psychoanalyse Freuds haben sich viele verschiedene tiefenpsychologische Schulen entwickelt. Sie sind untereinander recht unterschiedlich und haben oft nur noch wenig mit den psychoanalytischen Vorstellungen gemein. Aber eines hält sie alle zusammen: Das Unbewusste. Das Unbewusste war lange eins der zentralen Streitthemen zwischen den Tiefenpsychologen und den wissenschaftlichen Psychologen, weil man es nicht messen konnte. Heute geht das, daher nähern sich die psychologischen Schulen auch wieder an. Im Vergleich zu wissenschaftlichpsychologischen Konzepten jedoch ist die Tiefenpsychologie nach wie vor eher spekulativ und interpretiert Wahrgenommenes, ohne sich dabei den modernen wissenschaftlichen Prinzipien zu verpflichten.

Die Theorie der inneren Beziehung ist keine psychoanalytische Theorie – weswegen ich mich auch nicht weiter mit der Psychoanalyse beschäftigen werde –, aber sie ist eine tiefenpsychologische Theorie. Ich nehme Elemente der wissenschaftlichen Psychologie auf, bleibe aber dem freien Interpretieren eher verbunden als der wissenschaftlichen Genauigkeit. Damit zu den näheren Ursprüngen der Theorie.

1.3 Das innere Kind und der innere Erwachsene

Die Idee eines „inneren Kindes“ stammt aus den USA und wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt. Maßgeblich beteiligt an der Entwicklung des Konzepts waren der Psychologe John Bradshaw und die beiden bereits erwähnten Psychotherapeutinnen Erika J. Chopich und Margaret Paul. Die psychotherapeutische Schule, zu der dieses Konzept zählt, bezeichnet man auch als „Self-Parenting“. Beim „Self-Parenting“ geht es darum, sein Fühlen als das eines Kindes zu betrachten und elterliche Fürsorge für sich zu übernehmen. Es ist heute eine zunehmend einflussreiche psychotherapeutische Richtung mit verschiedenen Konzepten. Es bestehen Verwandtschaften und eine hohe Kompatibilität mit Ansätzen wie dem des „inneren Teams“, aber auch mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden. Ich werde mich damit aber nicht weiter beschäftigen, sondern mich auf Chopich und Paul konzentrieren, weil ihr Konzept das ist, auf das ich aufbaue.

Chopich und Paul veröffentlichten ihr Buch „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ im Jahr 1990 und stellten darin den theoretischen Hintergrund ihrer psychotherapeutischen Arbeit vor. Ihr Ansatz ist nicht wissenschaftlich, sondern soll das Konzept, nach dem sie arbeiten, für den interessierten Laien nutzbar machen. Es ist also im weitesten Sinne ein Ratgeber.

Worum geht es? Chopich und Paul schreiben: „Jeder von uns hat zwei verschiedene Persönlichkeitsaspekte: den Erwachsenen und das Kind. Wenn diese beiden Teile in Kontakt miteinander sind und zusammenarbeiten, entsteht ein Gefühl der Ganzheit. Wenn die beiden Teile jedoch nicht in Kontakt miteinander sind, sei es, dass wir verletzt sind, nicht richtig funktionieren können oder unreif geblieben sind, entsteht in uns ein Gefühl von Konflikt, Leere und Alleinsein.“5 Die Idee ist, dass wir unser psychisches Erleben in zwei Teile teilen können: Das innere Kind, das sich in der Sphäre des Seins, Fühlens und Erlebens bewegt, und der innere Erwachsene, dem die Sphäre des Machens, Denkens und Handelns obliegt. Beide Teile agieren miteinander wie ein Kind und ein Erwachsener, woraus sich eine weitere Unterscheidung ergibt.

Laut Chopich und Paul kann der innere Erwachsene lieblos (autoritär oder gleichgültig) oder liebevoll agieren und das innere Kind kann sich ungeliebt oder geliebt fühlen. Handelt der innere Erwachsene lieblos, fühlt sich das innere Kind ungeliebt und abgetrennt. Diesen Zustand bezeichnen Chopich und Paul als „Ego“. Handelt der innere Erwachsene dagegen liebevoll, fühlt sich das innere Kind geliebt und es entsteht eine Verbindung, die Chopich und Paul das „Höhere Selbst“ nennen. Weder Ego noch Höheres Selbst sind beständig, man kann also durchaus in der einen Situation aus dem Ego heraus handeln (dann handelt der innere Erwachsene lieblos gegenüber dem inneren Kind) und in einer anderen Situation aus dem Höheren Selbst heraus handeln (dann handelt der innere Erwachsene liebevoll gegenüber dem inneren Kind). Chopich und Paul gehen davon aus, dass verschiedenste Formen von Unzufriedenheit, Frustration, Ängsten, depressiven Gefühlen, Leere usw. ein Ergebnis von liebloser Behandlung des inneren Kindes sind.

Die therapeutische Arbeit, die darauf aufbaut, nennen Chopich und Paul „Inner Bonding Therapy“.6 Dabei versucht man, sich die Kommunikationsstränge zwischen dem inneren Kind und dem inneren Erwachsenen bewusst zu machen und dem inneren Erwachsenen liebevolles Verhalten anzugewöhnen, damit sich das innere Kind wohl und sicher fühlt. Es geht also vor allem darum, sich selbst besser kennen zu lernen und herauszufinden, was einem gut tut. Ein spezielles psychisches Leiden muss nicht vorliegen; das Inner Bonding kann auch zur allgemeinen Verbesserung des Wohlbefindens dienen.

Selbsttherapeutische Konzepte wie dieses haben den Vorteil, dass sie von äußeren Gegebenheiten (dazu zählen auch Psychotherapeuten) weitgehend unabhängig sind. Wenn man sich das theoretische Wissen angeeignet hat, braucht man nur noch ein gewisses Maß an Interesse für die eigene Innenwelt und die Bereitschaft, sich in ihr zu bewegen. Man muss sich Zeit nehmen, um sich zu beobachten, kann das aber jederzeit und überall tun – auch wenn man gerade mit alltäglichen Dingen beschäftigt ist. Die Rolle des Therapeuten soll sich auf die Begleitung des Prozesses beschränken. Der Therapeut kann emotionalen Beistand leisten, Erfahrungen weitergeben und eigenen Gedanken beisteuern. Sobald er eine Richtung und/oder einen Weg vorgibt oder sich anderweitig zu sehr einmischt, stört er den natürlichen Entwicklungsprozess. Die so gering angesetzte Funktion des Therapeuten soll dazu beitragen, dass die Klienten jederzeit das Gefühl haben, freiwillig und selbstbestimmt ihren eigenen Weg zu gehen, ohne eine Überformung fürchten zu müssen. Da das Konzept des Inner Bonding mit anderen therapeutischen Schulen gut verträglich ist, kann es auch ergänzend eingesetzt werden. Unter meinen Therapeuten beispielsweise war kein Einziger, der mit diesem Konzept gearbeitet hat. Ich habe das einfach nebenbei getan und bin dabei nie mit den Inhalten meiner institutionellen Therapien in Konflikt gekommen. Das liegt sicher auch daran, dass das Erwachsenen/Kind-Schema eine Form der Selbstbetrachtung ist, die viel Raum für andere Zugänge und Methoden lässt.

Das Inner Bonding ist natürlich kein Allheilmittel. Es ist nicht für jeden Menschen in jeder Lebenssituation geeignet. Für die Bewältigung von ganz akuten Krisen ist es beispielsweise ungeeignet. In Notlagen wie einer schweren Depression hilft es wenig, sich intensiv selbst zu reflektieren. Dafür braucht man ein Mindestmaß an innerer Ruhe und Geduld. Inner Bonding ist ein langwieriger Prozess, bei dem es eine Weile dauern kann, bis er Resultate zeigt. Man lernt ja um, und das braucht seine Zeit. Manchmal – wie in meinem Fall – benötigt man zusätzliche Fähigkeiten. In einigen Fällen ist es auch nicht ganz ungefährlich, sich unbegleitet ins Innere zu bewegen. Wenn wir Dinge lange und gründlich verdrängt haben, dann hatte das seinen Grund. Das Hervorholen solcher Inhalte kann überwältigend und extrem belastend sein. Dann ist es besser, wenn man therapeutisch begleitet wird.

Insgesamt aber bietet das Konzept von Chopich und Paul eine große Bandbreite an individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Und da es letztlich nur darum geht, zu sich selbst zu finden, kann man nicht allzu viel falsch machen.

1.4 Die Theorie der inneren Beziehung

Mir geht es in diesem Buch nicht darum, eine neue Art der Psychotherapie zu beschreiben. Ich möchte Gesellschaftsanalyse betreiben und kein Selbsthilfebuch zur Hand geben – dafür hätte ich ohnehin nicht die Kompetenz.

Für meine Zwecke bedurfte das Grundkonzept von Chopich und Paul einer Anpassung. Die beiden Autorinnen hatten das innere Kind und den inneren Erwachsenen in der Innenwelt beschrieben. Mich aber interessierte die Außenwelt. Mir war aufgefallen, dass man den Menschen auch von außen derartig teilen kann, und diesen Gedanken dachte ich in den vergangenen Jahren weiter. Dabei veränderten sich meine Vorstellungen des inneren Kindes und des inneren Erwachsenen sowie deren Zusammenwirken ganz automatisch. Manches aus dem Ursprungsmodell verwarf ich, anderes modifizierte oder konkretisierte ich. In den Büchern, die ich las, fand ich zahlreiche neue Anregungen, die in mein Denken einflossen. So entwickelte sich Stück für Stück ein komplexes theoretisches Gebäude.

Dieses theoretische Gebäude nenne ich die Theorie der inneren Beziehung. Das Grundmodell von Chopich und Paul sowie einige dazugehörige Mechanismen habe ich unverändert gelassen. Folgende Annahmen habe ich ohne Abweichung übernommen:

Die Teilung alles Psychischen in ein fühlendes „inneres Kind“ und in einen denkenden „inneren Erwachsenen“.

Das komplexe Zusammenspiel dieser beiden Teile, darunter auch die Fähigkeit des inneren Erwachsenen, das innere Kind zu beeinflussen.

Die Möglichkeit von Differenzen zwischen dem inneren Kind und dem inneren Erwachsenen.

Die Teilung der Psyche ist für den einen oder anderen vielleicht gewöhnungsbedürftig und sehr abstrakt. Das kann ich verstehen. Wir begreifen unsere Psyche ja zumeist als Einheit und das ist sie auch. Auch auf der anatomischen oder physiologischen Ebene hat diese Teilung keine Entsprechung. Zwar ordneten Chopich und Paul das innere Kind der rechten Hirnhälfte und den inneren Erwachsenen der linken Hirnhälfte zu, aber nach allem, was ich über das Gehirn gelesen habe, bezweifle ich das. Es ist wohl doch ein bisschen komplexer. Wenn man überhaupt nach organischen Entsprechungen der Teilung sucht, dann haben sie mit der evolutionären Entwicklung des menschlichen Gehirns zu tun. Die älteren Bereiche stützen dann das innere Kind, die jüngeren Bereiche den inneren Erwachsenen. Der innere Erwachsene sitzt u. a. im präfrontalen Cortex, während das innere Kind sich vor allem aus dem limbischen System speist.7

Aber das ist nur eine Überlegung, der man nicht nachgehen muss, weil die Teilung in einen Kind- und einen Erwachsenenteil ein Konstrukt ist. Sie ist eine Hilfestellung, die nützlich sein kann, um psychische Vorgänge zu verstehen. Sie baut auf einer ganz einfachen Teilung auf, die wir auch im Alltag vornehmen, nämlich der von Denken und Fühlen. Die Teilung an sich dürfte also gar nicht so fremd sein, wie sie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Es liegt einfach nur an den ungewohnten Begriffen.

Es wäre nicht notwendig gewesen, mit den Begriffen des „inneren Kindes“ und des „inneren Erwachsenen“ zu arbeiten. Ich hätte dem inneren Kind zahlreiche alternative Bezeichnungen geben können: primitiver oder erlebender oder fühlender Seelenteil, innerer Primat oder Es. Den inneren Erwachsenen hätte ich intellektueller oder interpretierender oder denkender Seelenteil, innerer Mensch oder Erwachsenen-Ich nennen können. Aber die Bilder eines „inneren Kindes“ und eines „inneren Erwachsenen“ sind so stimmig, dass ich sie nicht ändern wollte. Ich kann mich Chopich und Paul nur anschließen, dass man beide Seelenteile viel besser verstehen kann, wenn man sich Kinder und Erwachsene denkt. Im weiteren Verlauf des Buches werde ich noch zeigen, was „innere Kinder“ mit „echten“ Kindern und „innere Erwachsene“ mit „echten“ Erwachsenen gemeinsam haben.

Mir ist bewusst, dass die verwendeten Begriffe, gerade der des inneren Kindes, diverse Assoziationen hervorrufen können. Deswegen eine Klarstellung vorab: Was meine ich mit dem Begriff des inneren Kindes nicht? Nicht gemeint ist unsere spielerische Seite. Die gehört zwar zum inneren Kind, aber es ist nicht darauf beschränkt. Sie würden ein „echtes“ Kind ja auch nicht auf seinen Spieltrieb reduzieren, oder? Genauso wenig tue ich das. Auch nicht gemeint ist eine esoterisch-verherrlichende Vorstellung des inneren Kindes. Man kann das innere Kind romantisieren und es sich als transzendente Lichtgestalt vorstellen, aber ich bevorzuge die nichtspirituelle Sichtweise. Das innere Kind, so wie ich es verstehe, ist keinesfalls nur ein sanftes Wesen voller Liebe. Es kann auch aggressiv, feindselig, neidisch, eifersüchtig, machtbesessen oder gierig sein.

Nicht gemeint ist außerdem eine Art Überbleibsel des Ichs aus der Kindheit („Kind-Ich“), wie es oft in der Psychotherapie (und zum Teil auch bei Chopich und Paul) gesehen wird. Das innere Kind in der Theorie der inneren Beziehung sind nicht wir in unserer Kindheit. Einen Zusammenhang gibt es, aber er besteht nicht darin, dass ein Teil unserer Psyche in der Kindheit stehen bleibt und dann eine Teilpersönlichkeit von uns bildet. Das innere Kind, so wie ich es verstehe, speichert keine Erinnerungen ab. Bei Erinnerungen wirkt immer schon der innere Erwachsene mit.

Für mich symbolisiert das „innere Kind“ alle Antriebe und Empfindungen des Menschen, die in irgendeiner Art und Weise gespürt werden. Das innere Kind ist unser Körper, unser vegetatives Nervensystem und unsere Instinkte. Es ist unser Seelenmotor und der Ursprung all dessen, was uns im Alltag antreibt. Hunger, Freude, Angst, Erregung, Ekel, Lust, Spaß, Schmerz, Trauer, Scham, Heimweh – alle Empfindungen gehören zum inneren Kind.

Der innere Erwachsene dagegen ist der denkende, reflektierende Teil unserer Psyche. Er plant, steuert und lenkt unser Verhalten. Wir spüren ihn nicht, sondern wir hören ihn als Gedanken in unserem Kopf. Anders als das innere Kind lernt der innere Erwachsene, d. h. er speichert Erfahrungen ab, die wir in unserem Leben machen. Er sagt uns, in welchen Situationen wir was zu tun haben oder welche Handlungsoptionen wir haben. Er überlegt sich, was wir tun könnten. Der innere Erwachsene ist nicht einheitlich. Er ist vielmehr eine ganze Sammlung von verschiedenen Elementen, die auch mal in Konflikt geraten können. Dazu später mehr.

Das innere Kind und der innere Erwachsene sind untrennbar miteinander verbunden. Ihre Beziehung zueinander ist die „innere Beziehung“, der die Theorie ihren Namen verdankt. In der inneren Beziehung spielen das innere Kind und der innere Erwachsene zusammen. Jederzeit fühlen und denken wir etwas, und der Austausch zwischen beidem mündet in Handeln. Unser Denken beeinflusst unser Fühlen und unser Fühlen beeinflusst unser Denken. Sind wir freudig gestimmt, blenden wir Probleme aus und denken an schöne Erlebnisse. Denken wir an eine peinliche Situation, spüren wir Scham und würden das Erlebte am liebsten aus unserem Gedächtnis streichen. Wir können das innere Kind und den inneren Erwachsenen also theoretisch unterscheiden, praktisch aber bilden sie gemeinsam eine einheitliche Psyche.

Bevor ich mich genauer mit dem inneren Erwachsenen auseinandersetze, geht es zuerst um die Basis unseres Seins: das innere Kind. Was macht das innere Kind aus?

1.5 Das innere Kind: Grundbedürfnisse und -empfindungen

Wir wissen heute mit ausreichender Sicherheit, dass der Mensch – um es platt zu sagen – vom Affen abstammt. Biologisch gesehen sind wir eine Spezies aus der Familie der Menschenaffen (Hominiden). Es gibt eine ganze Menge offener Fragen, wie und wann sich der Mensch von den anderen Hominiden absetzte, aber wie auch immer unsere Evolution genau stattfand – unsere nächsten Verwandten im Tierreich sind heute der Gemeine Schimpanse und der Zwergschimpanse, auch Bonobo genannt. Beide Spezies leben in Zentralafrika und ähneln sich in ihrem Erscheinungsbild, sind auf den zweiten Blick aber doch recht unterschiedlich. Die Gemeinen Schimpansen sind kräftig und muskulös. Sie leben in kleinen, patriarchalisch organisierten Gruppen, die sich durch zum Teil heftige Rangkämpfe mit tödlichen Folgen für die Männchen auszeichnen.

Bonobos leben, von den Schimpansen getrennt, auf der südlichen Seite des Kongo-Flusses. Sie sind etwas schmächtiger und wirken eleganter als Schimpansen, und der niederländische Primatologe Frans de Waal schreibt augenzwinkernd über ihr Erscheinungsbild: „Sogar Schimpansen müssten zugeben, dass der Bonobo mehr Stil [od. „Klasse“, Anm. d. Verf.] hat.“8 Bonobos sind bei uns vor allem für ihre sehr freizügige und alltagspräsente Sexualität bekannt. Anders als Schimpansen leben sie in matriarchalisch organisierten Gruppen, in denen die Weibchen sich weniger durch Kämpfe als durch Erfahrung und Persönlichkeit als Anführer behaupten.

Auch wenn der Mensch durch eine wirklich beeindruckende Entwicklung gegangen ist, um der zu werden, der er heute ist, hat er natürlich immer noch einiges mit seinen nächsten Verwandten gemeinsam. Das betrifft das innere Kind mehr als den inneren Erwachsenen. Das innere Kind ist der evolutionär ältere Teil von uns, daher steht es den Tieren näher als der innere Erwachsene. Der innere Erwachsene wiederum ist natürlich auch nicht exklusiv menschlich. Andere Tiere haben zumindest Vorstufen von dem, was wir Verstehen, Entscheiden und Urteilen nennen. Die Theorie der inneren Beziehung ist aber nicht für Tiere konzipiert und ich werde sie auch nicht an Menschenaffen anlegen. Was ich tun möchte, ist, die Eigenschaften des inneren Kindes im Hinblick auf deren Ursprünge zu umreißen.

Grundsätzlich hat der Mensch von Natur aus nur zwei zentrale Strebungen, auf die sich alle Empfindungen und Bedürfnisse direkt oder indirekt beziehen: Überleben und Fortpflanzen. Jeder Organismus auf der Erde richtet sich auf diese beiden Ziele aus; sie sind Grundprinzipien des Lebens. Das gilt auch für das innere Kind des Menschen. Alles, was es empfindet und wozu es uns antreibt, soll der Selbsterhaltung dienen. Wie bei allen Spezies haben sich auch bei uns die Mechanismen durchgesetzt, die für unser Überleben irgendwie von Vorteil waren – auch wenn sie es möglicherweise im heutigen Lebensumfeld nicht mehr sind. Das ändert aber nichts daran, dass wir sie auch heute noch mitbekommen. Die Evolution ist ein langsamer Prozess, wie Darwin nicht müde wurde zu betonen.

Aus dem Streben nach Überleben und Fortpflanzen lässt sich eine Reihe von darauf ausgerichteten Empfindungen und Antrieben ableiten. An oberster Stelle stehen hier die körperlichen Empfindungen und Bedürfnisse, die direkt selbsterhaltend sind. Sie finden sich bei allen Tieren, nur in verschiedenen Entwicklungszuständen. Ich spreche von den ganz elementaren Wahrnehmungen des eigenen Körpers, die uns dessen Zustand und den Zustand der Umgebung übermitteln: Hunger, Harndrang, Übelkeit, Wohlbefinden, Schmerzen, Hitze und Kälte, Berührungen, Spannungszustand usw. All diese Empfindungen tragen eine Botschaft, die uns entweder vermittelt, dass der gegenwärtige Zustand gerade sehr angenehm ist, oder dass es Handlungsbedarf zur Änderung des gegenwärtigen Zustands gibt. Hunger beispielsweise signalisiert uns Nahrungsmangel, der uns dazu veranlasst, uns etwas zu essen zu besorgen. Kältegefühl signalisiert uns, dass unsere Körpertemperatur zu niedrig ist oder droht, es zu werden, und uns dazu antreibt, einen Ort mit höherer Umgebungstemperatur aufzusuchen oder uns besser vor der Umgebungskälte zu schützen. Schmerz meldet uns, dass wir verletzt wurden oder dass etwas in unserem Inneren nicht funktioniert wie es soll. Alle sensorischen Wahrnehmungen unseres Körpers und darauf bezogene Handlungsimpulse schreibe ich dem inneren Kind zu.

Außer den körperlichen Empfindungen und Bedürfnissen gehört zum inneren Kind das, was die Motivationsforschung als Basismotive oder Motivklassen des Menschen bezeichnet: das Leistungsmotiv, das Machtmotiv und das Anschluss- bzw. Bindungsmotiv. Diese Motive besitzen nicht alle Tiere, aber mindestens mit den Menschenaffen teilen wir sie. Motive sind ebenfalls auf die beiden Grundstrebungen Überleben und Fortpflanzen zurückzuführen. Das Leistungsmotiv regt uns dazu an, uns expansiv zu verhalten, Neues auszuprobieren und Fähigkeiten zu verbessern. Biologisch gesehen ist es damit für Fortbestand und Fortschritt einer Spezies in wechselnden Umweltbedingungen sehr wichtig. Das Machtmotiv spielt eine Rolle für soziale Hierarchien. Dass die in Gruppen organisierten Tiere danach streben, in der Rangordnung aufzusteigen, ist sowohl für das Individuum als auch für die Gruppe von großer Bedeutung. Für das Individuum sind die Alpha-Positionen attraktiv, weil sie mit besserem Zugang zu Nahrung und Fortpflanzungschancen einhergehen. Und die Gruppe wiederum profitiert davon, wenn sie von den fähigsten Individuen angeführt wird. Die Ranghöchsten sorgen für die Verteidigung der Gruppe, sichern die Aufteilung der Nahrung und schlichten Streitigkeiten. Das Bindungsmotiv schließlich dient dem sozialen Zusammenhalt. Alle sozialen Tiere haben Anschluss- und Bindungsmotive, die überhaupt erst das Leben in einer Gruppe ermöglichen. Ohne das Anschlussmotiv wäre Gruppenbildung nicht möglich, denn das Individuum würde sich für andere Individuen weder interessieren noch deren Kontakt suchen.

Noch eine Ebene unter den körperlichen Bedürfnissen und den Motiven liegen die Emotionen, die auch dem inneren Kind zugerechnet werden können. Emotionen sind ebenfalls weit verbreitet im Tierreich, aber auch hier in unterschiedlichem Entwicklungsstand. Ein Wurm empfindet wohl kein Heimweh. Bei einem Menschenaffen dagegen gibt es vermutlich ein Erleben, das mit unserer Vorstellung von Heimweh vergleichbar ist. Da Emotionen im Qualia-Bereich liegen und wir Menschenaffen nicht nach ihrem Empfinden befragen können, ist es zwar schwierig, das zu überprüfen, aber ihr Verhalten deutet darauf hin. Menschenaffen zeigen ähnliche Zeichen von Trauer wie wir, wenn sie von ihrer Gruppe getrennt und in einen anderen Zoo gebracht wurden, also werden sie wohl eine Art Heimweh empfinden.

Aber was sind eigentlich diese mysteriösen Emotionen? Ich gehe davon aus, dass Emotionen verfeinerte Mechanismen sind, die letztlich auch dem Ziel von Überleben und Fortpflanzen dienen. Sie sind für ganz unterschiedliche Zwecke vorhanden, die nicht nur von Emotion zu Emotion, sondern auch von Situation zu Situation unterschiedlich sind. Freude und Spaß beispielsweise belohnen Verhalten und unterstützen damit Motive. Wenn wir an einer Arbeit Spaß haben, dann stärkt das unser Leistungsmotiv, und wird eine abgeschlossene Arbeit mit Freude belohnt, bestärkt uns das, uns weiteren Aufgaben zu stellen. Empfinden wir den Kontakt zu einem Menschen als angenehm, dann dient das unserem Anschluss- und Bindungsmotiv. Wut lässt sich zurückführen auf die Aktivierung von Energien zur Verteidigung. Angst weist uns auf (mögliche) Gefahren für unser physisches und psychisches Wohlbefinden hin. Überraschung und Erschrecken sind Reaktionen auf unerwartete Ereignisse. Ekel sorgt dafür, dass wir uns von Dingen fernhalten, die für die Nahrungsaufnahme ungeeignet sind oder uns krank machen könnten. Trauer, Scham, Reue und Mitleid sind Emotionen, die unser Sozialverhalten regulieren.

Emotionen funktionieren wie eine Art Bindemittel; sie wirken antreibend, unterstützend und vermeidend. Solche Bindemittel müssen alle Tiere haben, denn sie sind wichtig, um Verhalten zu lenken. Was den Menschen von den Tieren hier im Besonderen unterscheidet, ist, dass er Gefühle bewusst erlebt und sprachlich benennt. Aber der Mensch ist auf keinen Fall das einzige fühlende Wesen. Er ist mit Sicherheit nur das einzige Wesen, das sich mit Emotionen in vielfältiger Hinsicht schwer tut.9

1.6 Zusammenfassung: Das Wesen des Menschen

Ich muss meinem Freund Eric meinen Dank aussprechen. Bei einem unserer Treffen schwärmte er von der Fernsehserie „The Walking Dead“, von der ich bis dahin nur wusste, dass sie existiert. Wie es der Zufall wollte, wurde die Serie kurz darauf im Fernsehen ausgestrahlt und ich entschied mich, kurz hineinzuschauen. Ich blieb sofort hängen. Mittlerweile zähle ich sie zu meinen Lieblingsserien.