Die rebellische Pianistin. Das Leben von Johanna Kinkel - Verena Maatman - E-Book

Die rebellische Pianistin. Das Leben von Johanna Kinkel E-Book

Verena Maatman

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Beschreibung

Johanna Kinkel: Romantische Komponistin und revolutionäre Poetin. Leser:innen von biografischen Romanen über starke Frauen aus Kunst, Literatur und Musik Bonn, 1821: Johanna träumt davon, Musikerin zu werden. Aber erst Jahre später, als ihre Ehe scheitert und sie gegen alle Konventionen ihren Mann verlässt, setzt sie ihren Traum um. Sie brilliert als Pianistin und Dirigentin – bis ihr Gottfried begegnet, ein evangelischer Theologieprofessor, in den sie sich verliebt. Johanna ist jedoch geschieden und katholisch. Die empörte Gesellschaft entzieht ihr alle Engagements, Johanna droht der finanzielle Ruin. Wird sie trotzdem an ihrer Liebe festhalten? Eine Wiederentdeckung einer vergessenen Frau und ihrer Musik! »Sie haben die Gabe, alle Menschen um Sie herum mit Ihrer Begeisterung anzustecken. Sie brennen regelrecht für die schönen Künste, aber auch für Freiheit und Gerechtigkeit.« »Eine unterhaltsame Biografie, die mir angenehme Lesestunden bereitet hat.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ein sehr lebendiges Bild der Zeit.« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Eine kurzweilige und packende Biographie über eine außergewöhnliche Frau. Absolut lesenswert.« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Johanna Kinkel, eine heute eher vergessene Komponistin der Romantik, damals aber in einer Reihe mit Felix Mendelssohn Bartholdy oder Franz Liszt, erfährt in diesem Roman anhand einer Biografie eine tolle Ehrung.« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Johannas Schicksal lässt sicher niemanden kalt, mit ihr muss man beim Lesen einfach mitfiebern. Wer sich für außergewöhnliche Persönlichkeiten und Musik interessiert und historische Romane mag, liegt mit dieser gut recherchierten, mitreißenden Romanbiographie genau richtig.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Ulla Mothes

© 2022 by Verena Maatman

Alle Rechte über Agentur Molden, Köln

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Teil I

Johanna Mockel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil II

Johanna Mathieux

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Teil III

Johanna Kinkel

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Magdalena,

die so gern singt und dichtet wie die Protagonistin dieses Romans.

Prolog

Bonn, November 1848

»Stell dir vor, du gleitest auf einem Boot über einen stillen See in das sanfte violett-blaue Licht des Abendrots hinein; und dann hörst du auf einmal aus der Tiefe – ganz leise – das Glockengeläut einer längst versunkenen Stadt.«

Johanna intonierte die träumerische Melodie von Chopins Nocturne in Es-Dur. Ihre Finger streichelten die Tasten und wanderten wie selbstverständlich von einem Akkord zum nächsten. Nach ein paar Takten hielt sie inne. »Verstehst du, was ich meine, Helene?«, fragte sie ihre Schülerin.

Das Mädchen nickte langsam. »Bei Ihnen klingt alles so leicht und mühelos, aber wenn ich die vielen Vorzeichen sehe, wird mir angst und bange.«

Johanna lächelte. »Denk an das Bild von dem Boot, das dem Abendrot entgegenfährt, nicht an die vielen schwarzen Punkte, Striche und Vorzeichen in den Noten. Chopin ist ein Lyriker. Er erzählt mit seiner Musik immer eine Geschichte.«

Sie stellte Chopins Ballade in f-Moll aufs Pult. Auch bei diesem Stück musste sie immer an eine Bootsfahrt denken. »Wenn du seine Kompositionen spielst, lass deine Gedanken auf dem Fluss der Harmonien treiben. Dann reist du durch traumhafte Orte und exotische Klangwelten. Chopin zu spielen ist wie ein Spaziergang durch den Garten Eden.«

Helene knabberte an ihrer Unterlippe. »Bitte spielen Sie noch etwas. Ich höre Ihnen so gern zu«, bat sie.

»Gut.« Eigentlich sollte sie das Mädchen animieren, selbst zu spielen, aber vielleicht war es besser, wenn sie ihrer Schülerin die Schönheit von Chopins zauberhaften Klängen näherbrachte, bevor diese vor lauter Vorzeichen völlig den Mut verlor. »Schließ die Augen und lass dich treiben.«

Johanna wartete, bis Helene die Augen geschlossen hatte. Dann begann sie, Chopins Ballade zu spielen: Die kurze Einleitung von sieben Takten war wie das Besteigen eines Kahns, der sanft auf den Wellen wiegte. Mit dem ersten Thema begann die Flussfahrt zunächst durch ruhige Gefilde. Dann brauste plötzlich ein Sturm auf und mündete in ein regelrechtes Klanggewitter. Das Unwetter legte sich wieder, und weiter ging es durch märchenhafte Landschaften. Johannas Finger perlten wie von selbst über die Tasten. Sie verschmolz mit der Musik. Sie war dem Alltag völlig entrückt.

Plötzlich zerriss ein gellender Schrei ihre Reise durch das Paradies. Die Tür zum Salon flog auf. Ein Mann in preußischer Soldatenuniform schob Johannas Kinderfrau Babette in den Raum. Sie war weiß wie ein Laken. Auf dem Arm trug sie Johannas vier Monate alten Sohn Hermann.

Sodann scheuchte der Eindringling ihre drei älteren Kinder in den Salon. Sie rannten auf Johanna zu und hielten sich ängstlich an ihren Röcken fest.

Johanna stand auf und stellte sich schützend vor ihre Kinder. »Was soll das?«, fuhr sie den Mann an. »Was machen Sie in meiner Wohnung?«

Ohne Vorwarnung zog der Soldat seinen Säbel blank.

Helene schrie auf. Johannas Herz setzte einen Schlag aus. Ihre Kinder weinten, und ihr ältester Sohn verkroch sich hinter dem Sofa.

Wie gelähmt sah Johanna den Eindringling an. »Was wollen Sie?«, fragte sie mit rauer Stimme.

Der Soldat fuchtelte mit dem Säbel herum. »Sie Hexe! Lichterloh brennen sollten Sie, wie einst Jeanne d’Arc!« Seine Augen blitzten hasserfüllt.

Der Mann ist irre. Ein kalter Schauer lief Johanna über den Rücken.

Hermann begann ohrenbetäubend zu schreien.

Das brachte den Soldaten noch mehr in Rage. Wütend ging er auf und ab und zerschnitt die Luft mit seinem Säbel. »Zuerst haben Sie Ihren Mann verhext, einen jungen, aufrechten Mann Gottes. Sie haben ihn auf den Grund der Hölle gezogen! Jetzt wiegelt er, in Ihrem Sinne, die Menschen zum Ungehorsam gegen die gottgewollte Obrigkeit auf! Die ganze Stadt ist durch Sie verhext worden!«

Er hat wahrhaftig den Verstand verloren. Johanna versuchte, etwas zu erwidern.

Doch der Soldat baute sich drohend vor ihr auf. »Aber das reicht Ihnen nicht. Jetzt wollen Sie mit Ihren sogenannten Kinderliedern, die Sie in der Zeitung veröffentlichen, unschuldige, kleine Wesen zu Aufrührern heranziehen. Revolutionslieder sind das! Abartig! Pervers! Und die Erwachsenen lullen Sie ein mit Ihren betörenden Klavierklängen. So wie eben. In Wahrheit ist Ihre Musik Gift! Pures Gift!« Er spie ihr die Worte regelrecht ins Gesicht.

Er riecht nach billigem Schnaps, dachte Johanna angewidert. »Sie haben nun hinlänglich Ihre Meinung geäußert. Ich habe sie zur Kenntnis genommen. Aber nun möchte ich Sie bitten zu gehen«, sagte sie kühl.

Der Mann dachte jedoch nicht daran. »Eine Frau hat zu schweigen!« Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Und ich werde dafür sorgen, dass Sie nie wieder etwas sagen oder schreiben.« Unvermittelt riss er den Säbel hoch.

Babette und Helene schrien auf.

Johanna war starr vor Angst. Jetzt tötet er mich vor den Augen meiner Kinder.

Teil I

Johanna Mockel

Kapitel 1

Bonn, Mai 1821

Immer wenn sie mit ihrer Mutter auf den Markt ging, kam es Johanna so vor, als betrete sie die Oper.

»Erdbeeren! Frische Erdbeeren!«, rief ein stämmiges Marktweib im typischen Singsang des Vorgebirgsdialekts.

»Möhren, heute nur zum halben Preis!«, übertönte sie die hagere Händlerin vom Nachbarstand.

»Unsere Erdbeeren sind die besten!«, krakeelte die Vorgebirgsfrau daraufhin eine halbe Oktave höher.

Johanna genoss das akustische Schauspiel mit allen Sinnen. Es war wie ein Duett auf der Bühne, in dem zwei Opernsängerinnen um die Wette eiferten und immer höher, immer lauter, immer intensiver sangen.

Plötzlich mischte sich eine krächzende Stimme dazu:

»Napoleon ist tot!« Erstaunt drehte sich Johanna um.

Ein etwa dreizehnjähriger Junge schwenkte eine Zeitung wie eine Fahne hin und her. »Napoleon ist tot! Gestorben auf Sankt Helena. Lesen Sie die näheren Umstände in dieser Zeitung!«

Die Marktweiber verstummten und überließen dem Zeitungsburschen die Bühne. Offensichtlich verfügte er über Neuigkeiten, die noch sensationeller waren als der niedrige Möhrenpreis.

Einige Passanten liefen auf den Jungen zu und rissen ihm die Zeitungen fast aus der Hand.

»Schnell! Kauf eine Zeitung für Papa!« Johannas Mutter drückte ihr einen Groschen in die Hand. »Das wird ihn interessieren.«

Geschickt schlüpfte Johanna durch die Menschenmenge hindurch. Sie war knapp elf Jahre alt und ziemlich klein und wendig.

Als sie mit einer Zeitung wieder bei ihrer Mutter angelangt war, hatte das übliche Marktgeschehen erneut Fahrt aufgenommen, und die beiden Marktweiber priesen aus voller Kehle ihre Möhren und Erdbeeren an.

Die Sonne stieg höher, und es war auf einmal unangenehm feuchtwarm unter all den Menschen. Johannas dunkelbraune Locken klebten ihr am Kopf. Sie hätte dennoch gern weiter den Rhythmen und Melodien des rheinischen Dialekts gelauscht und überlegt, wie sie die unterschiedlichen Stimmen in Noten festhalten würde. Aber ihre Mutter hatte es eilig, zurück nach Hause zu kommen.

»Kannst du dich noch an die Franzosen erinnern?«, fragte sie Johanna auf dem Heimweg.

»Bien sûr!« Johanna hatte immer ein französisches Wort auf den Lippen, sobald es um Frankreich und die Franzosen ging. In der Schule bei Fräulein Probst sprachen sie dauernd Französisch, und Johanna mochte die völlig anders klingende Sprache sehr. Sie hatte den Eindruck, als ob alles, was man sagte, gleich viel eleganter wirkte als in der heimischen Mundart. »Die Franzosen waren hier, als ich klein war. Bevor die Preußen kamen, die so steif sind wie Zinnsoldaten. Damals haben wir auch auf der Straße französisch gesprochen.«

»Du hast wirklich ein gutes Gedächtnis«, sagte ihre Mutter. »Aber sprich nicht von ›Zinnsoldaten‹, wenn du über die Preußen redest.«

»Alle sagen das.«

»Nein, nicht alle. Höchstens einige. Und ich möchte nicht, dass du das sagst.«

»Warum nicht?«

Ihre Mutter seufzte. »Frag mir keine Löcher in den Bauch. Tu einfach, was ich dir sage.«

Johanna schürzte die Lippen. Die Antwort war mal wieder typisch. Immer wenn es interessant wurde, sollte sie Ruhe geben. Ich werde Papa nachher fragen, nahm sie sich vor. Er ließ sich immer bereitwillig auf all ihre Warum-Fragen ein.

»Napoleon ist tot!«, rief Johanna, sowie ihre Mutter die Haustür aufgeschlossen hatte. Sie rannte ins Arbeitszimmer ihres Vaters und schlang die Arme um seinen Hals.

»Was sagst du da?« Durch Johannas ungestüme Umarmung rutsche ihm die Lesebrille halb von der Nase. Aber er lächelte.

»Hier!« Stolz reichte ihm Johanna die Zeitung und stand erwartungsvoll neben ihm.

Er legte das Blatt vor sich auf den Schreibtisch und vertiefte sich in die Lektüre, dabei bildeten sich zwei tiefe, strenge Furchen auf seiner Stirn – ein deutliches Zeichen für Johanna, dass sie ihn jetzt nicht mit Fragen stören sollte. Sie musste ihren Wissensdrang noch ein wenig zügeln. Daher ging sie leise zum Bücherregal und zog einen Gedichtband heraus. Sie liebte Texte in Reimform. Es war Musik in Worten. Zu gern probierte sie, auf die Reime zu singen oder sich dazu eine Melodie auszudenken.

Schließlich faltete ihr Vater die Zeitung zusammen und nahm die Lesebrille ab.

»Hattest du ihn gern?«, fragte sie.

»Wen? Napoleon?«

Sie nickte.

Er wiegte den Kopf hin und her. »Die Franzosen haben das Rheinland besetzt, als ich noch sehr jung war. Sie brachten ihre Gesetze, ihre Lebensweise, ihre Sprache mit an den Rhein, und ich habe mich schnell an sie gewöhnt. Ihr Kriegsherr und späterer Kaiser Napoleon hat allerdings ganz Europa umgekrempelt.« Gedankenverloren blickte er auf die Aufsätze seiner Schüler, die er korrigiert hatte, bevor Johanna zu ihm ins Arbeitszimmer gerannt war.

»Wie? Umgekrempelt?«, bohrte sie nach.

»Die Fürsten wurden abgesetzt und flohen, was teilweise nicht so schlecht war; aber Napoleons Truppen richteten auch große Verwüstungen an und sorgten für viel menschliches Leid. Daher kann ich nicht sagen, dass ich Napoleon mochte.« Er ging zum Bücherregal und nahm einen Atlas heraus. »Sieh mal, hier ist er überall gewesen.«

Johanna beugte sich über die Karte, die ihr Vater aufgeschlagen hatte. Er zeigte ihr Korsika, wo Napoleon geboren worden war, dann deutete er auf Paris und auf die vielen Gebiete in Europa, wohin Napoleon mit seinen Truppen gezogen war.

»So weit«, sagte sie ehrfürchtig. Sie war bislang nur bei ihren Verwandten in Köln gewesen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie viele Tage sie bis Italien oder Russland unterwegs sein würde.

Ihr Vater lehnte sich zurück, stützte die Ellbogen auf den Armlehnen seines Stuhls ab und presste die Fingerkuppen aneinander, wie immer, wenn er nachdachte. Johanna wusste, dass er gleich weiterreden würde, ohne dass sie ihn dazu auffordern musste.

»Vor sechs Jahren hatte alles ein Ende. Napoleon wurde besiegt und nach Sankt Helena, eine einsame Insel am Ende der Welt, verbannt.«

Er schlug eine andere Seite im Atlas auf und zeigte ihr Napoleons Ort der Verbannung. »Die Könige und Fürsten kamen zurück und haben die alte Ordnung mehr oder weniger wiederhergestellt. Aber unser Rheinland, das wurde den Preußen zugesprochen. Und die mag hierzulande niemand besonders gern.«

»Wieso nicht?«

Ihr Vater schmunzelte, sodass sich ein Grübchen auf seiner rechten Wange bildete. »Weil sie protestantisch und völlig humorlos sind.«

»Deswegen sagen viele, dass sie steif sind wie Zinnsoldaten, oder?«

»Genau.«

Sie musste unbedingt herausbekommen, warum sie das nicht sagen sollte, wenn es doch wahr war. »Warum will Mama nicht, dass ich das sage?«

»Hm.« Er kratzte sich am Kinn. »Weil es despektierlich und nicht nett ist. Das sollten die Preußen nicht hören.«

»Aha.« Johanna beschloss, sich mit der Antwort zufriedenzugeben. Jedoch brannte ihr noch eine andere Frage unter den Nägeln. »Wenn die Preußen so unbeliebt sind, warum sind sie dann bei uns? Können wir sie nicht einfach bitten zu gehen? Oder sie wegjagen?«

Ihr Vater lachte auf. »Nein, das können wir ganz und gar nicht! Die Preußen haben das effektivste Militär der Welt. Gegen sie hätte ein Haufen unorganisierter Rheinländer keine Chance. Außerdem: Wer kommt dann?«

»Dann regieren sich die Rheinländer selbst.«

Er seufzte. »Ich glaube, das bekommen wir in hundert Jahren nicht hin. Weißt du, es ist besser, die jetzige Situation zu akzeptieren, wie sie ist. Wir haben es doch gut. Ich habe eine angesehene Arbeit als Lehrer, wir haben ein schönes Häuschen und genug zu essen, du kannst zu Fräulein Probst in die Schule gehen und zeichnen, nähen, Klavierspielen und Fremdsprachen lernen. Das wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen; damals durften lediglich adlige Mädchen solch schönen Dinge lernen. Wenn wir uns auflehnen, nur weil die Preußen anders sind als wir und wir sie nicht mögen, dann könnten wir all das in Gefahr bringen. Das lohnt sich nicht.«

»Hm. Stimmt.« Johanna war zwar nicht gänzlich überzeugt, ließ es aber dabei bewenden.

»Kommt ihr bitte zu Tisch?«, rief ihre Mutter aus der Küche. Sie hatte inzwischen eine Kartoffelsuppe gekocht und mit Frühlingszwiebeln und Petersilie, die sie vorhin auf dem Markt gekauft hatte, hübsch angerichtet.

Als sie die Teller mit der dampfenden Suppe füllte, erinnerte sich Johanna wieder an die unterschiedlichen Tonhöhen, Klangfarben und Melodien, die sie auf dem Markt gehört hatte, und sagte plötzlich: »Wenn ich groß bin, möchte ich Musikerin werden.«

Ihr Vater lächelte. »Nun, wenn du einmal verheiratet bist, kannst du auf privaten Soireen oder überhaupt in deinem Salon viele mit deinem Klavierspiel erfreuen.«

»Nein, so meine ich das nicht. Ich will das als Beruf machen. So wie du Lehrer bist. So richtig.«

»Ich hör wohl nicht recht!« Die dunkelblauen Augen ihrer Mutter funkelten gefährlich.

»Doch.« Johanna erwiderte ihren Blick mit denselben dunkelblauen Augen. »Ich will Pianistin und Komponistin werden.«

»Das geht nicht«, sagte ihre Mutter. »Du bist ein Mädchen.«

Johanna legte den Löffel beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kann besser Klavier spielen als alle anderen in der Schule und als jeder Junge, den ich kenne.«

»Das mag sein.« Die Stimme ihres Vaters klang mild, wie immer, wenn er zwischen Mutter und ihr vermittelte. »Aber du kannst trotzdem nicht Musikerin werden.«

»Und achte bitte auf deine Essmanieren!«, schimpfte ihre Mutter.

Johanna nahm den Löffel wieder auf. »Warum darf ich keine Musikerin werden?«

Ihr Vater seufzte. »Du wirst eines Tages heiraten und Kinder bekommen. Dann hast du kaum mehr Zeit für die Musik.«

Ein Weilchen sagte niemand etwas. Nur das Klappern der Löffel in den Tellern war zu hören.

Sie nahm einen erneuten Anlauf. »Du hast mir vorhin selbst erzählt, Papa, wie schnell sich die Welt ändert. Erst wurden die Fürsten von den Franzosen verjagt, dann die Franzosen von den Preußen. Was ist, wenn sich die Welt wieder und wieder ändert und Frauen in zehn Jahren selbst Geld verdienen dürfen?«

Ihre Mutter lachte. »Du wirst hoffentlich niemals Geld verdienen müssen.« Ihre Eltern wechselten belustigte Blicke. »Und wenn doch: Dann wirst du kochen und nähen können.«

»Das können alle Frauen.« Johanna ließ nicht locker. »Ich muss durch etwas Besonderes hervorstechen, um Geld zu verdienen.«

Ihr Vater legte die Serviette beiseite. »Du wirst wie jede Frau deines Standes einen Mann heiraten, der sich um den Unterhalt der Familie kümmert.«

»Und wenn mich kein Mann haben will?«

»Was redest du denn da?« Verwirrt starrte er sie an. »Wie kommst du darauf?«

Johanna war sich nur allzu sehr bewusst, dass sie, anders als andere Mädchen ihres Alters, niemals als »hübsch«, »goldig« oder »elegant« bezeichnet wurde. Stattdessen hatte sie Attribute wie »gewitzt«, »vorlaut« und »gescheit« aufgeschnappt, die sich ihre Lehrerinnen und die Bekannten ihrer Eltern zugeraunt hatten, wenn sie über sie sprachen und dachten, sie höre es nicht.

Sie räusperte sich. »Vielleicht bin ich nicht gerade so hässlich wie ein Nagetier, aber ich werde niemals so hübsch wie Mama werden. Ob sich jemals ein Mann für mich interessieren wird, ist also fraglich.«

Ihr Vater verschluckte sich an einem Stück Brot und hustete so heftig, dass Johanna prompt ihre Worte bereute. Ihre Eltern liebten sie und waren unendlich stolz auf sie, obwohl sie nicht die feinen Züge ihrer Mutter besaß, die der Abbildung der römischen Göttin Minerva im Lateinbuch ihres Vaters ähnelten.

Die Gesichtsfarbe ihres Vaters war ungewöhnlich dunkelrot vom Husten. Als er wieder Luft bekam, sagte er: »Ich weiß nicht, wer dich hat glauben machen, du seiest nicht hübsch. Alle, die das behaupten, sind Dummköpfe, denen ich die Leviten lesen werde! Also, wer sagt das?«

Johanna lächelte und griff nach seiner Hand. »Lass gut sein, Papa, es macht mir nichts aus.« Es rührte sie, dass er sie verteidigen wollte. Aber sie wollte das selbst können. »Ich finde es erstrebenswerter, klug zu sein und … gut Klavier spielen zu können.«

Er sah sie einen Augenblick perplex an, dann schmunzelte er. »Deine Gesprächsführung hätte selbst Sokrates beeindruckt!«

Johanna strahlte. Da sie sein Bücherregal hoch und runter las, hatte sie auch mit Sokrates bereits Bekanntschaft gemacht. Wenn ihr Vater sie mit diesem alten Griechen verglich, der unendlich klug gewesen war, dann war sie auf dem besten Weg. »Also könnte ich Musikerin werden.«

Er seufzte. »Darüber reden wir noch einmal, wenn du groß bist.«

Johanna hätte das Thema gern abschließend ausdiskutiert, aber sie hielt es für weiser, den jetzigen Verhandlungsstand zu akzeptieren. Irgendwann werden Mama und Papa schon einsehen, dass ich Musikerin werden muss!

Kapitel 2

Bonn, 1826

»Johanna, was machst du denn da?« Mathilde, die füllige, rotbäckige Köchin vom Gasthof am Markt, sah entsetzt auf die Platte, auf der Johanna das Mahl für die Gäste anrichtete.

»Das Fleisch mittendrin platzieren, die Beilagen drumherum drapieren, sodann mit Soße hübsch verzieren«, sang Johanna. Wenn sie Mathildes Rezepte und Arbeitsanweisungen in Reime setzte und sich dazu eine Melodie ausdachte, konnte sie sie sich besser merken. Und außerdem: Wenn sie schon so viel Zeit mit Kochen und Backen vertun musste, wollte sie dabei wenigstens etwas Sinnvolles tun und ihre tondichterischen Fähigkeiten ausbauen. »Wieso, stimmt etwas nicht?«

Mathilde seufzte. »Ach Kindchen, du ertränkst alles in der Bratensoße. Wie willst du denn so die Platte ohne Malheur an den Tisch der Gäste bringen?«

»Hm.« Johanna blies sich eine dunkelbraune Locke aus dem Gesicht, die vorwitzig unter ihrer Haube hervorguckte. Sie hatte keine Ahnung.

Die anderen drei Mädchen in ihrem Alter, die auf Geheiß ihrer Mütter ebenfalls im renommierten Bonner Gasthof am Markt die hohe Kunst des Kochens und Backens erlernten, kicherten hinter vorgehaltener Hand.

»Weißt du was, Johanna?« Mathilde nahm mit einem Löffelchen die überschüssige Soße weg. »Es wäre mir lieber, wenn du dich nebenan ans Klavier setzen würdest und ein bisschen spieltest. Ich mache das hier fertig, und später kannst du beim Dessert wieder helfen.«

»Gern!« Das ließ sich Johanna nicht zweimal sagen. Es war gar nicht so schlecht, sich in der Küche dämlich anzustellen;obwohl sie das eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte. Aber auf diese Weise konnte sie ihr Rezeptlied gleich einmal auf dem Klavier ausprobieren. Zwar war das Instrument ein wenig verstimmt, aber immer noch besser als das Spinett ihrer Mutter, das ihr zu Hause als einziges Tasteninstrument zur Verfügung stand und das über wesentlich weniger Oktaven verfügte als ein richtiges Klavier.

Sie klappte den Klavierdeckel hoch und schlug einen C-Dur-Akkord an. Mit der rechten Hand spielte sie die Melodie, die sie sich ausgedacht hatte, mit der linken improvisierte sie eine Begleitung. Es klang gar nicht schlecht, aber noch nicht wirklich rund. Sie rief sich das Rezept des Sauerbratens in Erinnerung, das Mathilde ihnen am Vormittag diktiert hatte. Das verlangte nach würzigem Es-Dur. Oder doch eher nach gehaltvollem c-Moll? Sie modulierte in verschiedene Tonarten, änderte den Rhythmus, spielte mit den Harmonien und vergaß die Zeit.

Plötzlich fiel ein Schatten auf ihre Hände. Erschrocken sah sie auf.

Mathilde stand neben ihr. »Die beiden englischen Gentlemen dort hinten, die den Sauerbraten bestellt hatten, möchten dich sprechen.«

»Was? Wieso? Sie haben doch vorhin den Braten vor dem Ertrinken gerettet, oder nicht?«, fragte Johanna verdattert. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass etwas anderes als eine perfekt angerichtete Platte Mathildes Küche in Richtung Gastraum verlassen hatte.

»Natürlich.« Die Köchin stemmte beide Arme in die Seiten. »Du lernst schließlich bei einer hochgeachteten Cuisinière.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der beiden vornehmen Herren, die am Fenster saßen. »Es sind Musikdirektoren aus London. Sie fanden wohl dein Klavierspiel recht erquicklich, soweit ich das verstanden habe. Du hast bei Fräulein Probst Englisch gelernt, du wirst sie besser verstehen als ich. Also lauf schon los.«

Tatsächlich hatte es Johanna Spaß gemacht, in der Mädchenschule von Fräulein Probst neben Zeichnen, Handarbeiten und Klavierspielen auch Französisch und Englisch zu lernen. Leider war die Schule vor Kurzem geschlossen worden. Zwar brachte ihr der Vater, wenn er am Nachmittag aus dem Lycée nach Hause kam, immer noch zwei Stunden Geografie, Latein und deutsche Literatur bei, aber Englisch sprach er nicht. Daher war ihr jetzt etwas mulmig zumute, als sie auf die beiden englischen Herren am Fenster zuging.

Die Gentlemen hatten ihr Essen beendet und sogen an ihren Pfeifen, die einen angenehm süßlich-herben Duft verbreiteten.

Schüchtern trat Johanna an ihren Tisch und räusperte sich. »Excuse me, my name is Johanna Mockel … ähm … Sie wollten mich sprechen?«

»Oh, yes, my dear young lady«, sagte der Ältere der beiden und strahlte von einem Ohr zum anderen. »Wir haben Ihr Klavierspiel gehört und wollten Sie fragen, welcher Komponist diese wunderbare Melodie geschrieben hat?«

Johanna war erleichtert, dass der Mann so gut Deutsch sprach, auch wenn er das »r« so drollig rollte. Sie lächelte und nahm die Hände hinter den Rücken. »Ich habe mir die Melodie vorhin ausgedacht.«

»Really?« Der ältere Mann zog die Brauen hoch.

Der Jüngere nickte anerkennend mit dem Kopf. »Das erklärt, weshalb wir das Stück noch nicht gekannt haben.« Er nahm einen Zug aus seiner Pfeife. »Henry Blacksmith ist mein Name, und das ist mein Kollege James Miller.« Er deutete auf den älteren Mann. »Miller leitet in London ein Kammerorchester und ich einen Chor.«

»Oh, sehr erfreut.« Johanna wusste nicht recht, was sie sagen sollte. »Konzertieren Sie mit Ihren Ensembles in Bonn?«

Miller schüttelte den Kopf. »Nein, wir unternehmen eine Dampfschifffahrt von Köln bis Mainz, um die Burgen und Orte entlang des Rheins zu besichtigen und die malerische Landschaft zu genießen. Wir hoffen, dadurch die neue romantische Musik, die in Deutschland gerade entsteht, besser zu verstehen.«

»Sie meinen die Musik von Carl Maria von Weber und Franz Schubert?«, fragte Johanna.

»Genau. Es gibt aber auch andere, jüngere Komponisten, die es unserer Meinung nach sehr weit bringen werden.«

»Wer denn?« Johanna fand das Gespräch so interessant, dass sie vergaß, sich vornehm zurückzuhalten, wie es sich für ein junges Mädchen gehörte.«

Miller lachte. »Felix Mendelssohn Bartholdy zum Beispiel. Aber ehrlich gesagt, scheinen auch Sie uns ein vielversprechendes Talent zu sein. Wollen Sie uns nicht etwas von den alten Meistern vorspielen? Die Wirtin haben wir bereits um Erlaubnis gebeten.«

Johanna warf Mathilde einen Blick zu. Die gutmütige Köchin stand im Durchgang zur Küche und hatte das Gespräch offenbar die ganze Zeit verfolgt. Sie nickte.

»Was möchten Sie denn hören?«, fragte Johanna. »Bach, Mozart oder Beethoven?«

»Alle drei Meister, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Blacksmith schmunzelte.

Johanna ging zum Klavier und begann mit dem Bach-Präludium in C-Dur. Sie kannte das Stück in- und auswendig. Die arpeggierten Akkorde strahlten eine solche innere Ruhe und Perfektion aus, dass sie schon nach zwei Takten alles um sich herum vergaß und ganz in den Harmonien aufging. Als sie den Schlusston gespielt hatte, merkte sie, dass Miller und Blacksmith hinter ihr standen.

»Diese Musik ist so erhaben«, sagte Miller leise. »Sie ist wie ein Gebet.«

»Das denke ich auch immer, wenn ich Bach spiele«, sagte Johanna.

»Machen Sie mit Mozart weiter«, forderte Miller sie auf.

Johanna entschied sich für Mozarts C-Dur-Sonate. Somit blieb sie in der heiteren, glanzvollen Tonart. Anders als Bach sprühte das Stück förmlich vor Fröhlichkeit. Der erste Satz mit seinen schnellen Läufen gelang ihr fehlerfrei. Der langsamere zweite Satz war innig und elegant zugleich, und im dritten Satz ließ sie ihre Finger wieder schnell über die Tasten laufen.

»Bravo!« Blacksmith klatschte in die Hände, und Miller nickte anerkennend. »Mozart würde sich freuen, wenn er hören könnte, wie ein junges Mädchen seine Musik so brillant spielt. Bei Ihnen klingt alles so kinderleicht. Und glauben Sie mir, ich habe unendlich viele Stunden an dieser Sonate geübt und bin nicht sicher, ob ich sie so herrlich darbieten könnte wie Sie.«

Johanna wurde rot.

»Und jetzt Beethoven, bitte.«

Sie hielt einen Moment inne. Vor Beethoven hatte sie Respekt. Mehr als vor Bach und Mozart, denn er stammte aus ihrer Stadt und lebte noch. Er könnte, wenn er nicht in Wien wäre, sagen, ob sie seine Musik richtig interpretierte oder nicht. Leider hatte sie in Bonn nicht die Gelegenheit, namhafte Künstler spielen zu hören, die vielleicht sogar mit dem Meister selbst ihre Interpretationen besprachen. Sie musste allein aus dem Notenbild darauf schließen, wie die Musik dieses berühmten Komponisten klingen sollte.

»Was ist, Fräulein Johanna?« Miller lehnte sich an die Wand und sah sie aufmunternd an. »Es hat Sie doch nicht etwa der Mut verlassen?«

Johanna kaute auf ihrer Unterlippe. »Um ehrlich zu sein, doch. Bei Beethoven denke ich immer, dass ich nicht gut genug bin, seine Musik zu spielen.«

Blacksmith tätschelte ihr väterlich die Schulter. »Das Gefühl haben wir alle. Auch Miller und ich. Das wird auch immer so bleiben, denn Beethoven … nun ja, er ist ein Titan.«

Blacksmith’s Worte beruhigten sie. Johanna legte die Hände auf die Tasten und begann, die dunklen eingängigen Harmonien der Mondscheinsonate zu spielen. Sofort tauchte sie ein in die bedrohlich melancholische Stimmung. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass auch Miller, der immer noch an der Wand lehnte, in diese Stimmung versunken war.

»Sie haben wirklich Talent«, sagte er, als sie geendet hatte.

»Beethoven würde sich sehr freuen, wenn er hören könnte, wie Sie seine Musik interpretieren.« Blacksmith lächelte. »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, dass Sie seiner Musik nicht gerecht werden.« Er wies auf Johannas Rezeptbuch, in das sie vorhin Notizen zu ihrem Kochrezept-Lied geschrieben hatte. »Jetzt möchte ich Ihre Melodie von eben noch einmal hören. An was haben Sie gedacht, als Sie sie improvisierten?«

Johanna lachte. »An den Sauerbraten, den Sie verspeist haben.«

Blacksmith fiel die Kinnlade herunter. »Wie bitte?«

Sie nahm ihr Notizbuch mit Mathildes Rezepten zur Hand. »Die Köchin diktiert uns die Rezepte. Damit ich sie mir besser merken kann, schreibe ich sie in Reimform auf und versuche, mir passende Melodien dazu auszudenken.«

Miller gluckste vor Lachen. »Sie haben wirklich Fantasie.«

Auch Blacksmith schmunzelte. »Das möchte ich hören.«

Johanna spielte ihre Melodie und sang dazu das Sauerbraten-Rezept.

Als sie geendet hatte, hörte sie, dass die beiden Engländer sich einander etwas zuflüsterten. Sie verstand allerdings nichts.

Schließlich räusperte sich Miller. »Wir möchten Ihren Eltern vorschlagen, Sie nach London zu schicken. Dort würden Sie eine hervorragende musikalische Ausbildung genießen und bald eine berühmte Pianistin werden.«

Johanna konnte kaum glauben, was sie soeben gehört hatte. Es war schon so lange ihr sehnlichster Wunsch, Musikerin zu werden.

Blacksmith lächelte. »Wir hätten niemals gedacht, dass wir in einem Bonner Gasthaus eine so begabte Pianistin hören würden, die vortrefflich improvisiert.«

»Danke. Die Köchin lässt mich zum Glück oft Klavier spielen«, sagte Johanna. »Das kann ich besser als kochen.«

»Dann sollten Sie das Kochen an den Nagel hängen und nur noch Klavier spielen und auch das Komponieren ernsthaft betreiben. Was meinst du, James?« Er sah zu seinem Kollegen hinüber.

»Unbedingt!«, sagte Miller. »Sie müssen aber dafür den Generalbass studieren. Das könnten Sie bei uns in London machen.«

Johanna hätte vor Glück jauchzen können, andererseits war ihr auch etwas unbehaglich zumute. Die beiden Gentlemen waren zwar ausgesprochen nett, aber man hörte ja so einiges. Ihre Eltern würden sie unmöglich mit zwei Herren in ein fremdes Land ziehen lassen. »Ich muss meine Eltern fragen«, erklärte sie.

»Of course! Deshalb möchten wir Sie gern nach Hause begleiten, um mit Ihren Eltern zu sprechen.« Miller zwinkerte. »Ich frage die Wirtin, ob Sie heute früher gehen dürfen.« Er drehte sich um, und sogleich erschien Mathilde im Gastraum. Er wechselte ein paar Worte mit ihr und nickte Johanna sodann zu. Mathilde war einverstanden.

Während die Herren zahlten, legte Johanna die Schürze ab und schlüpfte in die hellblaue Jacke, die sie kürzlich unter der Aufsicht ihrer Mutter genäht hatte. War das eine Tortur gewesen! Aber vielleicht würden die unliebsamen Tätigkeiten wie das Kochen und Nähen bald ein Ende haben, und sie würde in ein fernes Land ziehen, um Pianistin und Komponistin zu werden.

Eine Viertelstunde später stand Johanna mit den beiden englischen Herren vor der Tür zu ihrem Elternhaus, das nahe des Dampfschiffanlegers am Rhein lag. Ihr Herz hämmerte. Was Mama und Papa wohl zu dem Vorschlag der beiden Musikdirektoren sagen werden? Sie nahm den Ring des Türklopfers und ließ ihn auf den eisernen Beschlag fallen.

Im Innern des Hauses hörte sie Holzschuhe auf dem Dielenboden klappern. Sodann öffnete ihre Mutter die Tür. Sie trug noch ihre Kittelschürze und war offensichtlich nicht auf Besuch eingestellt.

»Johanna. Wieso bist du schon da?« Ihr Blick schweifte zu den beiden Herren. »Und wer sind Sie?«

»James Miller und Henry Blacksmith«, sagte Miller. »Wir haben im Gasthof am Markt gespeist und währenddessen dem Klavierspiel Ihrer Tochter gelauscht, Mrs Mockel.«

»Wieso spielst du Klavier, wenn du kochen lernen sollst?« Der strenge Blick ihrer Mutter durchbohrte Johanna förmlich.

Sie räusperte sich. »Mathilde hat mich gebeten …«

»Was wir eigentlich sagen möchten, Madam«, fuhr Miller fort, »ist, dass Ihre Tochter ein außerordentliches musikalisches Talent hat. Wir können das beurteilen, denn wir sind Musikdirektoren und leiten namhafte Londoner Ensembles.«

»Aha.« Johannas Mutter schien unschlüssig, was sie dazu sagen sollte. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Mein Mann ist noch nicht zu Hause, er unterrichtet am hiesigen Lycée.« Sie trat einen Schritt zurück. »Aber kommen Sie doch bitte herein.«

Johanna atmete auf. Zumindest hatte ihre Mutter den beiden Herren nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen. Schade, dass Papa noch nicht aus der Schule zurück ist. Er würde dem Vorschlag der beiden Gentlemen sicherlich positiver gegenüberstehen als ihre Frau Mama.

Nachdem es sich die beiden Musikdirektoren auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten und an dem Kaffee nippten, den ihre Mutter serviert hatte, begann Miller erneut zu sprechen. »Mrs Mockel, wir möchten Ihnen und Ihrem Mann vorschlagen, Ihre Tochter zu uns nach England zu schicken. Wir würden sie dort zur Konzertpianistin und Komponistin ausbilden.«

»Bitte was?« Ihre Mutter vergoss vor Schreck ein paar Tropfen Kaffee auf die weiße Tischdecke.

Johanna zupfte nervös an einem Hautfetzen ihres rechten Daumens.

»Ihre Tochter würde von den besten Musikern Londons unterrichtet werden und mit ziemlicher Sicherheit eine glänzende Karriere als Musikerin machen!« Der ältere Herr schilderte in allen Details die musikalischen Ausbildungsmöglichkeiten, die Englands Hauptstadt zu bieten hatte.

»Wir würden uns dafür einsetzen, dass Ihre Tochter ein Stipendium erhält, sodass Sie nicht finanziell belastet werden«, warf Blacksmith ein.

»Mein Mann ist Lehrer. Wir können sehr gut allein für unsere Tochter sorgen«, sagte Johannas Mutter beleidigt. »Aber wir brauchen gar nicht weiter über Ihren Vorschlag zu reden.« Ihre Augen sprühten vor Empörung. »Johanna wird eines Tages heiraten und muss daher kochen und nähen lernen. Wenn sie nebenher ihr Klavierspiel perfektionieren will, soll mir das recht sein. Doch keinesfalls gestatte ich, dass sie allein in ein fremdes Land geht, um sich dort ausschließlich der Musik zu widmen.«

»Aber Ihre Tochter ist ein musikalisches Genie! Sie kann improvisieren, wie ich es noch niemals bei einem jungen Mädchen gehört habe. Sie müssen ihr mehr Zeit für die Musik einräumen.« Miller warf Blacksmith einen verzweifelten Blick zu.

»Die Musik wird sie nicht ernähren«, sagte ihre Mutter bestimmt. »Das wird nur ein Ehemann tun. Deswegen muss Johanna lernen, eine gute Hausfrau zu werden.«

»Sie hat das Potenzial, die Bühnen Europas zu erobern. Wollen Sie ihr das verwehren?«

Ihre Mutter stand auf. »Ich will, dass meine Tochter glücklich wird. Auch wenn Sie der Ansicht sind, dass Johanna das große Glück mit der Musik machen kann, so bin ich gänzlich anderer Meinung.« Sie sah die beiden Männer herausfordernd an.

Johanna sank immer tiefer in die Sofakissen. Jetzt kam Mutter bestimmt gleich zu ihrem Lieblingsthema.

»Wahres Glück findet eine Frau unseres Standes nur in der Ehe«, fuhr diese wie erwartet fort. »Eine solche glückbringende Verbindung erhoffe ich für meine Tochter. Musik kann bei der Suche nach einem geeigneten Ehemann nützlich sein, sie ist aber nicht das Wichtigste. Im wirklichen Leben muss eine Frau einen Haushalt führen können.«

»Aber, gute Frau …«, setzte Miller an. Doch Blacksmith winkte ab, und Johanna wusste in dem Moment, dass die Herren begriffen hatten, dass sie ihre Mutter nicht umstimmen konnten. Die einmalige Gelegenheit, Pianistin und Komponistin zu werden, floss vor ihrem geistigen Auge den Rhein hinab. Denn auch wenn sie abends nach dem Schul-, Koch- und Nähunterricht immer noch eifrig Klavier spielte, reichte die Zeit nicht, um sich das Repertoire und die Fingerfertigkeit einer Konzertpianistin anzueignen. Außerdem hatte sie, seitdem Fräulein Probst ihre Schule geschlossen hatte, gar keine Klavierlehrerin mehr.

Die beiden Herren standen auf und verbeugten sich vor ihrer Mutter. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Mrs Mockel«, sagte Miller. »Selbstverständlich respektieren wir Ihre Ansicht.« Sie drehten sich zu Johanna um, die ebenfalls aufgestanden war. »Wir wünschen Ihnen viel Glück, young lady.« Miller lächelte traurig.

»Bleiben Sie der Musik treu«, sagte Blacksmith, und sie empfahlen sich.

Als die Haustür ins Schloss fiel, ballte Johanna die Fäuste. »Du weißt ganz genau, dass es mein sehnlichster Wunsch ist, Musikerin zu werden.«

»Und du weißt ganz genau, was ich davon halte.« Die Stimme ihrer Mutter kletterte eine Oktave höher. »Was fällt dir eigentlich ein, ohne Vorwarnung diese beiden Herren mitzubringen?«

»Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie heute im Gasthof essen würden und gleich darauf mit dir und Papa sprechen wollten.« Johanna war außer sich.

»Da erfindet man eine Ausrede. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.«

Johanna traten Tränen der Wut in die Augen. Die einmalige Gelegenheit, die ihr die beiden Engländer geboten hatten, war dahin. Sie würde eine biedere Hausfrau werden. An jedem einzelnen Tag, an dem sie in Zukunft ihrem noch nicht vorhandenen Ehemann das Frühstück richten und seine Socken stopfen würde, würde sie daran denken, dass sie ein ganz anderes Leben hätte führen können, wenn sich ihre Mutter vor einigen Minuten anders verhalten hätte.

Sie ging ins Wohnzimmer, setzte sich ans Spinett und begann zu spielen. Aber die fröhliche Mozart-Sonate gelang ihr heute nicht. Nach einer Weile gab sie es auf und hämmerte stattdessen eine leidenschaftliche Beethoven-Sonate in die Tasten, dass die Wände wackelten. Doch der Tonumfang des Spinetts reichte für die Beethoven-Sonate nicht aus. Die tiefsten und höchsten Töne der Sonate waren auf dem Spinett nicht vorhanden. Wütend und frustriert erging sich Johanna in aufwühlenden Arpeggi.

Aus der Küche hielt ihre Mutter mit dem Klappern der Kochtöpfe und Pfannen dagegen.

Gleich beschweren sich bestimmt die Nachbarn. Aber das war Johanna egal. Eine Stunde lang ließ sie an Beethoven ihre Wut aus und war danach völlig erschöpft.

Da hörte sie das leise Quietschen der Haustür. »Guten Tag, ihr Lieben!«, rief ihr Vater.

Wenn er wüsste, wie dick die Luft ist, dachte Johanna missmutig. Sie stand vom Klavierschemel auf und lief ihm entgegen.

Doch ihre Mutter war schneller bei ihm. »Stell dir vor«, rief sie. »Es waren zwei Musikdirektoren aus England da, die Johanna mitnehmen wollten, um sie dort zu einer Konzertpianistin auszubilden. Hat man dafür Worte?«

Ihr Vater hob die Augenbrauen und sah zu Johanna. »Wirklich?«

»Ich habe natürlich abgelehnt«, ereiferte sich ihre Mutter. »Was fällt denen eigentlich ein? Als ob wir es nötig hätten, unsere einzige Tochter Geld verdienen zu lassen.«

Johanna sagte nichts.

Ihr Vater küsste sie auf die Stirn. »Ich wusste doch immer, dass du außerordentlich talentiert bist, Johanna.«

»Aber das ist doch gar nicht der Punkt!«, fuhr ihre Mutter aufgebracht fort.

Er legte einen Arm um seine Frau. »Du hast alles richtig gemacht, Marianna. Ich würde niemals zustimmen, mein Töchterchen so weit wegziehen zu lassen.« Er legte seinen anderen Arm um Johanna. »Tausend Tode würde ich sterben, wenn ich dich allein auf einer nebligen, nassen Insel wüsste, die nicht auf dem Landweg zu erreichen ist. Tag und Nacht würde ich vor Sehnsucht weinen.«

Das war zu viel. Johanna brach in Tränen aus. Natürlich wäre sie ängstlich gewesen, ohne ihre Eltern so weit in die Ferne zu ziehen. Aber sie hätte es trotzdem gemacht, um Musikerin zu werden. Doch die Chance war vertan.

»Ach, Johanna.« Ihr Vater streichelte ihr über die Haare, als wäre sie ein kleines Kind. »Du wirst deinen Weg schon gehen. Auch ohne die Engländer.«

Sie rieb sich die Augen.

»Da du nun offiziell von zwei Musikdirektoren als hochbegabt eingestuft worden bist, sollten wir ein richtiges Klavier anschaffen.« Er zwinkerte.

Ihre Mutter setzte zum Protest an, doch ihr Vater brachte sie durch einen Kuss zum Schweigen. »Johanna wird das Kochen und Nähen nicht vernachlässigen«, sagte er. »Aber um musikalisch weiterzukommen, braucht sie ein richtiges Klavier mit mindestens sechs Oktaven. Auf unserem kleinen Spinett wird sie niemals eine Beethoven-Sonate spielen können.«

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte! »Danke, Papa!«, rief Johanna und schlang beide Arme um ihn. Bislang hatte sie zwar auf den Klavieren in der Schule bei Fräulein Probst und im Gasthof spielen können, aber ein eigenes Instrument zu Hause war doch etwas anderes.

»Gern.« Er lächelte. »Außerdem werde ich morgen mit dem ehemaligen Kapellmeister des Kurfürsten sprechen. Franz Anton Ries. Er hat bereits Beethoven unterrichtet, als er jung war.«

Johanna öffnete und schloss den Mund wie ein Karpfen. Hatte sie richtig gehört?

Ihr Vater legte den Kopf schräg. »Da wird er meiner kleinen Johanna auch so einiges beibringen können, ohne dass sie gleich nach England entschwinden muss.«

Wieder schluchzte Johanna auf. Dieses Mal vor Glück.

»Aber das Kochen und Nähen wird nicht vernachlässigt, junges Fräulein«, meldete sich ihre Mutter wieder zu Wort. »Nach dem Kochen im Gasthof und dem Unterricht bei deinem Vater wirst du erst unter meiner Anleitung das Nähen vervollkommnen, bevor du dich ans Klavier setzt.«

»Aber dann habe ich kaum Zeit zu musizieren«, protestierte Johanna.

»Wenn es dir an Zeit fehlt, wirst du als Erstes auf die Musik verzichten. Und das war das letzte Wort in dieser Sache«, beschied sie.

Johanna wusste, dass weiterer Widerspruch zwecklos war. Zwar wollte sie in Zukunft mit der Musik Geld verdienen, sodass sie auf keinen Ehemann angewiesen war, der sie wegen ihrer Koch- und Nähfertigkeiten schätzte. Aber wenn ihre Frau Mama nur unter dieser Bedingung bereit war, ihr Klavierspiel zu fördern, dann sollte es eben so sein. Sie würde schon alles schaffen.

Kapitel 3

Es war Sommer geworden, und in Ries’ Wohnung war es stickig warm. Den alten Herrn schien das nicht zu stören. Er saß gemütlich im Sessel und knabberte an seiner Pfeife, während sich Johanna am Flügel mit einer Fuge von Johann Sebastian Bach abmühte. Verflixt! Jetzt hatte sie sich schon wieder vergriffen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und probierte es noch einmal. Wieder strauchelte sie. Und noch mal. Es war zum Verrücktwerden! Immer blieb sie an derselben Stelle hängen!

»Wenn du dich immer dort verspielst, dann hast du die Stelle nicht verstanden.« Ries ächzte, als er sich aus dem Sessel hochwuchtete und zu ihr an den Flügel kam. »Schau mal.« Er deutete mit dem Bleistift auf die tiefste Note. Dann zeigte er in dem Gewimmel an Noten auf eine andere Note, dann wieder auf eine andere und auf zwei weitere. »Da läuft der Hase hin.« Er summte die Noten, die er ihr gezeigt hatte. »Das ist das Fundament, das dem ganzen Stück zugrunde liegt.«

»Der Generalbass«, flüsterte Johanna ehrfürchtig.

»Genau. Dieses Fundament darf niemals bröckeln, sonst fällt alles in sich zusammen, wie eben bei dir, weil du ihm nicht das erforderliche Gewicht hast zukommen lassen.« Ries schlug eine andere Seite im Notenbuch auf. »Such mal aus diesem Stück den Generalbass heraus.«

Johanna beugte sich über die Noten und studierte sie. Es war ein Präludium, ebenfalls von Johann Sebastian Bach, das sie noch nicht geübt hatte. »Ich glaube, das ist er«, sagte sie nach einer Weile und schlug die Tasten an.

»Sehr gut, du bist ein helles Köpfchen, Johanna. Bis nächste Woche suchst du aus all diesen Stücken von Bach den Generalbass heraus.«

Sie hätte jubeln können vor Glück. Endlich würde sie etwas über den Generalbass erfahren, den sie unbedingt zum Komponieren brauchte!

Im Vorraum hörte sie Stimmen und das Rücken von Stühlen. Ihr Unterricht musste also gleich vorbei sein, die nächsten Schüler würden drankommen.

»Was ist mit der Fuge?«, fragte sie.

Ries lächelte schelmisch. »Die übst du natürlich auch noch einmal. Ich bin sicher, dass du dich jetzt nicht mehr verspielen wirst.«

Sie sprang auf. »Gut. Dann bis nächste Woche!«

Doch Ries hielt sie zurück. »Wenn du Zeit hast, dann bleib bitte noch.«

Fragend sah sie ihn an.

»Nebenan versammeln sich gerade die Mitglieder meines Musikalischen Kränzchens«, sagte er. »Wir singen und musizieren zusammen. Manchmal begleiten wir als Ensemble hochrangige Musiker, die nach Bonn kommen und hier konzertieren. Ich hätte gern, dass du im Alt mitsingst.«

Johannas Augen leuchteten. Natürlich hatte sie Zeit! Zu Hause wartete nur Mama mit dem halbfertig geschneiderten Wintermantel auf sie. Den brauchte sie jedoch bei der Hitze bestimmt nicht so schnell.

Ries schob sie hinaus in das angrenzende Zimmer. Dort standen etwa zwanzig Männer und Frauen jeglichen Alters in Grüppchen zusammen und unterhielten sich.

»Schönen guten Tag, ihr Lieben«, begrüßte Ries die Herrschaften. »Darf ich euch Johanna Mockel vorstellen? Sie ist seit Kurzem meine Schülerin und wird ab heute unseren Alt unterstützen.«

Die Chormitglieder klatschten in die Hände, und zwei Damen preschten freudig vor. »Herzlich willkommen, Johanna, komm mit. Hier sind die Noten.«

Ehe sie sich versah, stand Johanna inmitten der Sänger.

Ries hatte unterdessen die Flügeltür zum Unterrichtszimmer geöffnet, setzte sich auf den Klavierschemel und schlug einen Dreiklang an. »Auf ›la‹«, rief er.

Der Chor sang den auf- und absteigenden Dreiklang auf die Silbe »la«. Schnell ordnete sich Johanna ein und sang mit.

Ries spielte den Dreiklang einen Halbton höher. Der Chor sang nach. Dann noch einen Halbton höher, und noch einen und noch einen. Immer höher trieb er die Sänger, bis Johanna dachte, sie könne keinen Viertelton mehr höher singen. Dann begann das Spiel wieder von unten mit der Silbe »mo«.

Etwa zehn Minuten dehnten sie auf diese Weise ihre Stimmbänder, bevor die Noten eines vierstimmigen Bach-Chorals zum Einsatz kamen, die Johanna bereits in den Händen hielt.

Zuerst spielte Ries ihn auf dem Flügel vor. Dann übte er mit den Sängern die einzelnen Partien: Mit dem Bass, dem Tenor, dem Alt und dem Sopran. Am Schluss sangen sie vierstimmig alle zusammen. Es war wundervoll.

»Wie gut, dass du bei uns mitsingst«, raunte ihr eine der Sängerinnen zu, als Ries abgeschlagen hatte. »Ich orientiere mich die ganze Zeit an dir.« Johanna lächelte. Sie merkte in der Tat, dass sie den Damen der Altstimme eine gute Stütze war, denn einige von ihnen waren in der Intonation immer dann unsicher, wenn die anderen Stimmen hinzukamen; sie hingegen nicht.

Als die Probe zu Ende war und sich Johanna anschickte zu gehen, winkte Ries sie zu sich. »Du kannst die Partitur bis nächste Woche mitnehmen, Mädchen. Ich weiß ja, wie sehr dich das interessiert.«

»Brauchen Sie sie denn nicht in der Zwischenzeit?«

Er lachte und tippte sich an die Schläfe. »Ich hab alles hier drin gespeichert. Ich kenne den guten Bach ja schon eine Weile.«