Signorina Vivaldi - Verena Maatman - E-Book

Signorina Vivaldi E-Book

Verena Maatman

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Beschreibung

Ein venezianisches Waisenmädchen im 18. Jahrhundert, das trotz aller Widrigkeiten eine steile Karriere zu einer gefeierten Violinvirtuosin macht – für alle LeserInnen von historischen Romanen und Künstlerbiografien »Du hast die Gabe, mit deinem Spiel die Herzen der Menschen zu berühren, in ihnen Gefühle und Emotionen zu wecken, von denen viele vielleicht gar nicht ahnen, dass sie in ihnen schlummern.« Venedig, Weihnachten 1702: Das Waisenmädchen Anna Maria wünscht sich vom Christkind Vater oder Mutter. Kurz darauf geht ihr Wunsch in Erfüllung, als Antonio Vivaldi seinen Dienst als Maestro di violino im Waisenhaus antritt. Er entdeckt Anna Marias außergewöhnliche Musikalität und gibt ihr Geigenunterricht. Er behandelt sie mit so viel Liebe und Verständnis, als wäre sie seine eigene Tochter. Doch den Menschen um sie herum ist dies ein Dorn im Auge. Als Vivaldi infolge knapper finanzieller Mittel entlassen wird, bricht für Anna Maria eine Welt zusammen. Wird sich ihr Traum von einem Leben voller Musik trotzdem erfüllen? »Die Musik lag während des Lesens in der Luft und Venedig ist vor meinem inneren Auge auferstanden. Ein historischer Roman voller Atmosphäre und Musik.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Verena Maatmann ist ein fesselnder historischer Roman gelungen. Zahlreiche historische Persönlichkeiten kreuzen unseren Weg.« ((Leserstimme auf Netgalley))   

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

© Verena Maatman 2021

Alle Rechte über Agentur Molden, Köln

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Redaktion: Ulla Mothes

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Preludio

Teil I

Das Waisenmädchen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil II

Die junge Solistin

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Teil III

Die Maestra

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Finale

Nachwort

Meinen Roman widme ich allen Waisenkindern von heute und wünsche ihnen von Herzen, dass sie – wie Anna Maria dal Violin – die Chance erhalten, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen.

Preludio

Weihnachten, 1702

Vorsichtig lugte Anna Maria durch den Türspalt des Beichtstuhls, in dem sie sich versteckt hatte. Nach der Messe war sie eilig dort hineingeschlüpft, denn sie wollte unbedingt die Krippe, die vor dem Altar aufgebaut war, in Ruhe aus der Nähe betrachten. Die anderen Mädchen ihres Schlafsaals wurden gerade von Schwester Carmela aus der Kirche geführt. Offensichtlich war ihr Fehlen nicht bemerkt worden. Geduldig wartete sie, bis auch die größeren Mädchen, die Nonnen sowie die auswärtigen Gäste die Kirche verließen.

Als alles still war, wagte sie sich aus ihrem Versteck. Dichter Weihrauch hing in der Luft, und die unzähligen Kerzen, die während des Hochamts entzündet worden waren, hüllten die Kirche in ein strahlendes Licht. Es war Weihnachten, der Geburtstag des Jesuskindes. Wie wunderschön die Lichter funkelten! Wann ihr eigener Geburtstag war, wusste Anna Maria nicht. Sie war irgendwann vor sechs Jahren in der Säuglingsklappe des Ospedale della Pietà abgelegt worden, so wie die meisten anderen Mädchen, die hier mit ihr lebten. Das hatte Schwester Carmela einmal erzählt.

Leise lief Anna Maria zur Krippe vor dem Altar. Sie wollte die Figuren der Heiligen Nacht ganz für sich allein betrachten. Ein goldglitzernder Stern hing über dem Stall, in dem das zu sehen war, wovon sie Tag und Nacht träumte: eine Familie.

Der heilige Josef hielt seinen Mantel fürsorglich um die Jungfrau Maria, die ihr neugeborenes Kind in der Krippe anlächelte. Wie wunderschön die Muttergottes war! Das kleine Jesuskind streckte ihr seine Ärmchen entgegen. Anna Maria konnte den Blick nicht abwenden. Minutenlang betrachtete sie das friedliche Bild, das sich ihr bot. Doch plötzlich bildete sich ein dicker Kloß in ihrem Hals. Warum habe ich keine Eltern? Warum wurde ich als Säugling einfach vor das Waisenhaus gelegt? Warum liebten mich meine Eltern nicht?

Um nicht zu weinen, schwenkte sie ihren Blick auf die anderen Figuren der Heiligen Nacht. Ein paar Hirten waren mit ihren Schafen auf dem Feld. Ein strahlend weißer Engel wies ihnen den Weg zum Stall, und mehrere andere Engel mit Instrumenten in den Händen waren im Hintergrund zu sehen. Sie singen und spielen zu Ehren des Herrn, dachte Anna Maria, so wie die Musikerinnen des Ospedale della Pietà, die heute den Gottesdienst gestaltet hatten. Voller Inbrunst hatten sie das Halleluja angestimmt, nachdem der Priester gerufen hatte: »Heute ist der Heiland geboren!« Anna Maria hatte eine Gänsehaut bekommen und sich vorgenommen, fleißig Geige zu üben, um als großes Mädchen einmal Violinistin zu werden und das Halleluja mitspielen zu können.

Sie ging etwas näher an die Hirten heran. Sie schienen arm zu sein, denn ihre Kleider waren grau und einfach. Der Herr hat die Armen besonders lieb, erinnerte sie sich. Das hatte Schwester Carmela neulich gesagt, als sie ihr eine gute Nacht gewünscht hatte. Also muss er mich auch lieb haben, folgerte sie. Schließlich war sie auch arm; alle Waisenkinder waren das.

Sie kehrte zurück zur Heiligen Familie. Sie war ratlos. Wenn Gott sie also besonders lieb hatte, warum hatte er ihr dann keine Eltern gegeben, die sie so liebten wie Maria und Josef das Jesuskind? Josef war noch nicht einmal der richtige Vater des kleinen Jesus, sofern sie die Nonnen richtig verstanden hatte. Trotzdem kümmerte er sich liebevoll um ihn.

Anna Maria straffte die Schultern. »Lieber Gott«, flüsterte sie, »ich habe gehört, dass reiche Kinder zu Weihnachten Geschenke bekommen.« Sie hielt inne und fuhr mit der Zungenspitze über ihre Lippen. »Ich bin zwar nicht reich, aber da du die armen Kinder ganz besonders liebst, dachte ich, dass du mir vielleicht auch etwas schenken könntest?« Nervös sah sie dem Jesuskind ins Gesicht. Hoffentlich würde es nicht wütend werden, dass sie seinen himmlischen Vater so frech um ein Geschenk bat. »Es kostet auch kein Geld«, fügte sie schnell hinzu.

Das Jesuskind lächelte nach wie vor, es konnte also nicht allzu schlimm gewesen sein, was sie gerade gesagt hatte. »Ich hätte auch gern Mutter und Vater«, sagte sie. »Ich weiß, dass Schwester Carmela wie eine Mutter für uns ist. Aber wir sind achtzig Kinder im Schlafsaal, sie kann sich eigentlich nur um die richtig kümmern, die krank sind.« Sie schwieg kurz. »Die anderen Nonnen sind leider ziemlich biestig und kommen als Mutter nicht infrage.« Sie dachte daran, wie Schwester Immacolata und Schwester Teodora die Mädchen anbrüllten, wenn sie trödelten oder im Bett noch schwatzten.

Anna Maria sah sich um. Sie musste sich beeilen, denn jeden Augenblick konnte eine Nonne kommen und ihr Zwiegespräch mit Gott beenden. »Wenn es aus irgendeinem Grund nicht möglich ist, lieber Gott, dass ich Vater und Mutter bekomme, vielleicht dann wenigstens ein Elternteil?« Ihr Blick fiel auf den heiligen Josef. »Oder auch jemanden, der nicht in Wirklichkeit mein Vater oder meine Mutter ist, sich aber um mich kümmern würde – so wie sich der heilige Josef um das Jesuskind gekümmert hat?«

Die Tür zur Sakristei quietschte.

Anna Maria zuckte zusammen. Jetzt würde eine Nonne sie entdecken und ausschimpfen, dass sie allein hier war und nicht wie alle anderen Mädchen im Speisesaal saß.

Doch aus der Sakristei trat ein Mann mit roten Haaren. Er hatte eine Tonsur, gehörte also zum Klerus. Aber er war nicht der Priester, der unter der Woche die Frühmesse las, und auch nicht der, der das Hochamt am Sonntag und an den Feiertagen zelebrierte.

Wer ist das, fragte sie sich. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

Er war recht jung, nicht besonders hübsch, aber er hatte ein freundliches Gesicht.

Nun entdeckte er Anna Maria vor der Krippe. Er lächelte und ging auf sie zu. »Na, mein kleiner Engel«, sagte der Mann, »hast du mit unserem Herrgott noch etwas zu besprechen?«

Anna Maria nickte. »Ich bin aber schon fertig«, sagte sie und wollte an ihm vorbeirennen, um durch die Seitentür ins Waisenhaus zurückzuschlüpfen.

Doch in dem Moment wurde ebendiese Tür aufgerissen und Schwester Teodora stand wie ein Racheengel im Türrahmen. Ihre stahlblauen Augen funkelten zornig hinter den Brillengläsern, und ihr Kropf wölbte sich unnatürlich unter ihrem Habit. »Hier bist du also, du ungezogene Göre!«

Anna Maria erstarrte.

Schwester Teodora stapfte grimmig auf sie zu.

Gleich wird sie mich an den Ohren mit sich ziehen. Anna Maria duckte sich.

Doch statt dem krallenartigen Griff der Nonne um ihr Ohrläppchen fühlte sie plötzlich einen sanften Druck auf ihrer Schulter. Der Mann mit den roten Haaren hielt schützend einen Arm um sie.

»Liebe Schwester Teodora«, sagte er. Seine Stimme klang weich und fest zugleich. »Bitte schimpfen sie nicht mit dem armen Kind. Es ist meine Schuld, dass sich das Mädchen noch hier in der Kirche aufhält. Ich habe es ermutigt, noch eine Weile zu unserem Herrn zu beten. Denn die Gebete, die wir in der Heiligen Nacht verrichten, schätzt der Herr besonders.«

Die Nonne gab ein unverständliches Brummen von sich.

»Nun geh, liebes Kind, der Herr segne und beschütze dich.« Er zeichnete ihr ein Kreuz auf die Stirn und wandte sich dann an die Nonne. »Und Sie auch, liebe Schwester Teodora. Seien Sie heute besonders gut zu den armen Kindern.«

Schwester Teodora runzelte die Stirn und nickte knapp. »Komm«, sagte sie zu Anna Maria, aber fasste sie nicht an.

Er hat mich beschützt, so wie der heilige Josef die Gottesmutter und das Jesuskind beschützt hat, dachte Anna Maria. Konnte es möglich sein, dass Gott ihr Gebet so schnell erhört hatte?

Teil I

Das Waisenmädchen

1703–1709

Kapitel 1

September 1703

Von überall strömten Klänge und Missklänge auf sie ein. Helle und dunkle Klangfarben, Streich- und Blasinstrumente, unterschiedliche Stimmlagen. Schräge Geigenklänge mischten sich mit atemberaubenden Soprankoloraturen, ein brummender Kontrabass ließ die Luft vibrieren.

Anna Maria schloss die Augen und versuchte, in dem akustischen Wirrwarr eine Ordnung zu erkennen. Vergeblich. Es war der alltägliche Klang des Ospedale della Pietà: Das Üben, Ausprobieren und Proben der Mädchen, die alles daransetzten, ein Instrument zu erlernen, um später einen privilegierten Posten im Chor oder Orchester des Waisenhauses einzunehmen. Das zu schaffen, war auch ihr höchstes Ziel.

Sie hob die Geige, klemmte sie unters Kinn und begann, die G-Dur-Tonleiter zu spielen. Sie konzentrierte sich auf ihren eigenen Klang und blendete all die anderen Geräusche um sich herum aus. Sie liebte es, auf der tiefsten Saite anzufangen und die Schwingungen auf ihrer Schulter zu spüren, die sich sodann einen Weg durch ihren kleinen Körper bahnten. Langsam kletterten ihre Finger nach oben. Bis in die dritte Lage. Weiter kam sie noch nicht. Clarissa, das ältere Mädchen mit den engstehenden grünen Augen und den vielen Sommersprossen, das ihr und ihren Altersgenossinnen das Geigenspiel beibrachte, hatte gesagt, dass in der dritten Lage erst einmal Schluss sei. Höhere Lagen seien den älteren Mädchen vorbehalten. Warum eigentlich? Was soll schon passieren, wenn ich noch eine weitere Oktave dranhänge? Sie würde allenfalls schiefe Töne erzeugen. Das Risiko würde sie eingehen. So wagte Anna Maria einen weiteren Lagenwechsel. Und dann noch einen. Sie musste die Finger jetzt enger aneinandersetzen.

»Was machst du denn da?« Clarissa packte ihren rechten Arm, sodass Anna Maria nicht mehr streichen konnte. »Ich habe doch klar und deutlich gesagt, dass bei der dritten Lage Schluss ist.«

»Ich wollte aber sehen, wie es weitergeht«, verteidigte sich Anna Maria. »Es hat doch auch gut geklappt.«

»Gar nichts hat geklappt.« Clarissas grüne Augen funkelten böse. »Es hat grauenvoll geklungen!«

»Das stimmt nicht!« Anna Maria stampfte mit dem Fuß auf. Wie konnte Clarissa sagen, dass es grauenvoll geklungen hatte? Sie hatte doch selbst gehört, dass sie die Tonleiter sauber gespielt hatte.

»Sei still! Du kannst das noch nicht richtig hören, so klein wie du bist.«

»Ich kann das wohl hören!«, protestierte Anna Maria. »Vielleicht kannst du es nicht richtig hören?«

Sie spürte erst den Windhauch und dann den brennenden Schmerz auf ihrer Wange. Clarissa hatte ihr eine Ohrfeige verpasst. Fast wäre ihr die Geige aus der Hand gefallen.

»Was ist hier los?« Schwester Filomena, die zierliche Musiklehrerin mit Dutzenden von Fältchen im Gesicht, stand plötzlich neben ihr. Schlagartig wurde es still. Alle Mädchen hatten aufgehört zu spielen und starrten in ihre Richtung.

»Anna Maria will einfach nicht hören!«, zeterte Clarissa. »Ich habe ausdrücklich gesagt, dass wir die G-Dur-Tonleiter nur bis zur dritten Lage spielen, aber sie ist maßlos und hat einfach weitergemacht. Ihr Spiel war natürlich völlig unsauber. Auf meine Rüge hin erdreistete sie sich, mir zu sagen, ich könne nicht richtig hören!«

»Und deswegen musstest du sie schlagen?« Schwester Filomena runzelte die Stirn.

»Sie muss lernen, sich demütig gegenüber der Musik und den Älteren zu verhalten.« Clarissa verschränkte die Arme vor der Brust.

Anna Maria rieb sich die schmerzende Wange. Wahrscheinlich würde Schwester Filomena ihrer Peinigerin recht geben. Denn »Demut« war neben »Dankbarkeit« eines der wichtigsten Wörter im Ospedale della Pietà. Anna Maria schätzte, dass die Nonnen sie jeweils hundert Mal am Tag in den Mund nahmen.

Schwester Filomena musterte sie streng. »Anna Maria, wenn du meinst, wie Ikaros in die Lüfte fliegen zu können, dann beweise es uns und spiele die Tonleiter bis zum Ende des Griffbretts.«

Anna Maria hatte nicht die leiseste Ahnung, wer Ikaros sein sollte. Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Freundin Faustina, die vor lauter Schreck an ihren Fingernägeln kaute. Clarissa hingegen grinste hämisch. Die anderen Mädchen bildeten einen Halbkreis um sie und starrten sie an. Viele warteten sicher nur darauf, dass sie jetzt einen Fehler machte.

Ihre Zunge war trocken und klebte ihr am Gaumen. Aber sie musste der Aufforderung von Schwester Filomena nachkommen. Sie schloss die Augen und ließ die Finger einen nach dem anderen die Tonleiter hinaufklettern. Immer höher und höher. Bis sie ganz oben auf der E-Saite die Finger fast übereinanderlegen musste, um sauber zu intonieren. Dann war das Griffbrett zu Ende. Sie war angelangt. Einen Augenblick herrschte Stille.

»Brava!«, hörte sie die Stimme von Schwester Filomena.

Anna Maria öffnete die Augen.

Einige Mädchen starrten sie mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an, als ob sie gerade ein Weltwunder vollbracht hätte, andere nickten ihr anerkennend zu.

Schwester Filomena lächelte mit ihren tausend Fältchen. »Ich muss sagen, im Gegensatz zu Ikaros kannst du dich in schwindelerregenden Höhen wirklich sicher bewegen.«

Anna Maria lächelte zaghaft. Wer um alles in der Welt ist Ikaros?

Schwester Filomena wandte sich an Clarissa, die missmutig auf der Unterlippe kaute. »Ich wünsche nicht, dass du jüngere Mädchen, die dir anvertraut werden, schlägst. Egal, ob sie sauber oder unsauber spielen. Außerdem solltest du beurteilen können, ob jemand richtig intoniert oder nicht. Das ist beim Musizieren essenziell. Wenn du das nicht hörst, kannst du eine künftige Position im Orchester vergessen.«

Clarissa senkte den Kopf. Ihre Wangen wurden puterrot, als ob gerade sie geohrfeigt worden wäre.

»Komm mit, Anna Maria.« Schwester Filomena nahm ihre Hand.

Anna Maria erstarrte, als sie die knochige Hand der Nonne spürte. Was mag nun passieren? Hilfesuchend sah sie sich nach Faustina um, die jedoch nur mit den Schultern zuckte.

Schwester Filomena führte sie hinaus in den Korridor und öffnete auf der anderen Seite des Gangs die Tür zu einem langen, engen Zimmer ohne Fenster. In der Mitte stand ein Notenpult, auf einem alten Stuhl lag ein Stapel Noten. Ansonsten war es völlig leer.

Anna Maria bekam eine Gänsehaut.

Die Nonne zündete eine Kerze an und kramte in dem Notenstapel herum. Die Kerze warf gespenstische Schatten an die Wand, die Anna Maria erschauern ließen.

Schließlich lächelte Schwester Filomena zufrieden und stellte ein Blatt auf das Notenpult. »Spiel das mal!«

Anna Maria atmete erleichtert aus. Es erwarteten sie keine Höllenqualen, sondern die Nonne wollte nur, dass sie noch etwas auf der Geige spielte.

Sie ließ den Blick über das Notenblatt schweifen. Es war eine richtige Melodie, keines der Kinderlieder, die Clarissa sie sonst spielen ließ. In ihrem Inneren sang sie die Melodie, um sie zu begreifen. Dann hob sie die Geige und spielte. Sie war begeistert von dem, was sie hörte. Es war eine hübsche Melodie mit einem eigenartigen Rhythmus und vielen Tonsprüngen. Sie verhaspelte sich zweimal. »Darf ich noch einmal?«, fragte sie.

Die Nonne nickte und ließ sie das Stück erkunden.

In der Zwischenzeit hatten die Mädchen im benachbarten Musiksaal aufgehört zu musizieren. Außer Anna Marias Spiel war es ganz ruhig.

»Es ist so ein wunderbares Stück!«, sagte sie leise. »Darf ich es irgendwann noch einmal spielen?«

»Ja.« Schwester Filomena entzündete eine weitere Kerze. »Aber nicht irgendwann, sondern morgen, wenn der Komponist dieses Stückes kommt. Ich möchte, dass du es ihm vorspielst.«

Anna Maria stand der Mund offen. Konnte das wirklich wahr sein?

»Er heißt Don Antonio Vivaldi«, fuhr die Nonne fort. »Er ist Kaplan an unserer Kirche und Geiger in San Marco. Morgen tritt er seine Stelle als maestro di violino bei uns an.«

»Ist er … streng?«

Schwester Filomena zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen.« Sie beugte sich vor. »Anna Maria, unser Herrgott hat dir ein großes Talent geschenkt. Du musst viel üben, um es ganz zu entfalten. Aber es ist wichtig, dass du trotzdem immer demütig bleibst und Mädchen wie Clarissa nicht vor den Kopf stößt; denn deine Begabung werden dir viele neiden.«

Anna Maria nickte. So ganz hatte sie zwar nicht verstanden, was Schwester Filomena meinte. Aber die Nonne schien sie gern zu haben. Jedenfalls lächelte sie so herzlich mit ihren unzähligen Falten.

»Wer ist eigentlich Ikaros?«, wagte Anna Maria zu fragen.

Schwester Filomena lachte. »Natürlich, das kannst du noch nicht wissen, denn das habt ihr im Schulunterricht noch nicht durchgenommen.« Sie strich ihr über den Kopf. »Ikaros ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Er war nicht demütig, sondern überheblich. Er behauptete, fliegen zu können. Doch er ist abgestürzt. Sein Hochmut hat ihm das Genick gebrochen.«

Anna Maria schluckte. So wollte sie nicht enden. »Ich bleibe demütig. Versprochen!«

Kapitel 2

Jeden Abend, wenn Schwester Teodora oder Schwester Carmela das Abendgebet gesprochen hatten und das Licht löschten, begann das wahre Leben. Anna Maria freute sich diebisch auf diesen Augenblick. Dann konnte sie sich im Schutze der Dunkelheit mit Faustina unterhalten, die im Nachbarbett lag.

»Was hat Schwester Filomena vorhin mit dir gemacht?«, flüsterte Faustina, kaum dass das Licht gelöscht war. »Hat sie dir wehgetan?«

»Nein, sie hat mich ein Stück von Don Vivaldi spielen lassen und mir gesagt, ich solle ihm morgen vorspielen.«

»Was? Dem neuen maestro di violino?«

»Ja.«

Faustina rollte näher zu ihr heran. »Das ist ja spannend. Erzähl weiter.«

Doch in dem Moment riss Schwester Teodora die Tür auf. »Silenzio!«, brüllte sie. »Die Nächste, die ich beim Sprechen erwische, landet in der Einzelzelle.«

Anna Maria zuckte zusammen. Sie war noch nie zur Strafe in die Einzelzelle gebracht worden. Aber Faustina hatte dort schon einmal eine Nacht verbringen müssen und am Morgen darauf Schauergeschichten erzählt. In der Einzelzelle war es nämlich stockdunkel und grässlich kalt. Sie hatte immerzu Angst gehabt, ein Gespenst könne sie anfallen.

Als Schwester Teodora wieder draußen war, zupfte Faustina aufgekratzt an Anna Marias Ärmel. »Was ist nun? Erzähl weiter.«

Aber Anna Maria wollte zum einen nicht riskieren, eine Nacht in völliger Dunkelheit und Einsamkeit in der Einzelzelle zu verbringen, und zum anderen hatte sie auch nicht mehr zu erzählen. Sie drückte daher die Hand ihrer Freundin und hüllte sich dann in die Decke.

Vor Aufregung konnte sie jedoch nicht einschlafen. Am nächsten Tag würde sie einen echten Komponisten kennenlernen! Wie er wohl sein mag? Sicherlich war er ein wichtiger Mann. Ein Priester obendrein. Priester waren immer wichtig. Aber auch unnahbar und streng. Und sie kannte noch nicht viele Stücke. Clarissa und die anderen älteren Mädchen, die sie im Geigenspiel unterwiesen, übten mit ihr und den anderen Kindern immer nur Tonleitern und Volkslieder. Ich würde so gern die Melodien der großen Messen spielen!

Blass und müde gehorchte Anna Maria am nächsten Morgen dem unbarmherzigen Weck-Kommando von Schwester Teodora und taumelte schlaftrunken mit den anderen Mädchen in den Waschsaal. Sie zitterte vor Kälte, und der bloße Gedanke an das eisige Wasser ließ ihre Zähne aufeinanderklappern. Doch wehe, sie tauchte ihre Hände nur oberflächlich ins kalte Wasser! Da würde sie sich sofort eine scharfe Rüge von Schwester Teodora einhandeln.

Als sie ihr Gesicht benetzte, sah sie sich verstohlen nach Schwester Teodora um. Wenn die biestige Nonne nicht hinsah, würde sie sich heute den Hals sparen. Es war immer so unangenehm, wenn das kalte Wasser von dort den Bauch und den Rücken hinunterlief. Tatsächlich war Schwester Teodora gerade vollauf mit Faustinas schwarzen Locken beschäftigt. »Diese Haare sind so widerborstig wie du«, schimpfte die Nonne und fuhr mit dem Kamm so rabiat durch Faustinas Haare, dass diese die Lippen aufeinanderpresste, um nicht laut zu schreien.

Arme Faustina, dachte Anna Maria und beeilte sich, ihre eigenen glatten, dunkelblonden Haare mit einer schlichten Haarspange zusammenzufassen.

Als sie das graue Kittelkleid übergestreift hatte, ging sie neben Faustina hinunter in den Speisesaal, in dem bereits die älteren Mädchen aus den anderen Schlafsälen versammelt waren. Ihre Freundin hatte immer noch Tränen in den Augen von den Strapazen des Kämmens. Schweigend nahmen sie ihre Plätze auf einer der langen Holzbänke ein.

Schwester Teodora ging zum Lesepult. Sofort erhoben sich alle Mädchen und sprachen das Morgengebet. Dann setzten sie sich wieder und warteten darauf, dass ihnen die Mädchen, die Küchendienst hatten, den Brei brachten. Dieser war heute undefinierbar grün-braun und hatte eine wabbelige Konsistenz. Anna Maria hatte den Eindruck, Schnecken oder sonstige Weichtiere zu kauen, und musste bei dem Gedanken fast würgen. Wahrscheinlich waren die Spendengelder wieder einmal fast aufgebraucht, und die Mutter Oberin hatte befohlen, beim Essen zu sparen.

Sie spürte einen sanften Stoß gegen den Knöchel.

»Bist du krank?«, wisperte Faustina. »Du rührst ja nur in deinem Brei herum, ohne zu essen.«

»Ruhe dahinten!«, donnerte die unheilvolle Stimme von Schwester Teodora. Die Nonne starrte angestrengt in ihre Richtung, hatte aber anscheinend noch nicht ausmachen können, woher das Flüstern gekommen war.

Anna Maria wagte nicht, ihrer Freundin zu antworten. Sie schüttelte nur unmerklich den Kopf und zwang sich ein paar Löffel der klebrigen Pampe hinein. Wie schön wäre ein Stück Brot!

Nach dem Frühstück begaben sich die Mädchen in den Schulunterricht zu der fülligen und resoluten Schwester Agata. Sogleich rief die Schulschwester Anna Maria vor die Klasse, um ihr Rechenaufgaben zu stellen.

Anna Maria stand auf und ging mit zittrigen Beinen nach vorn. Sie konnte zwar das kleine Einmaleins, doch die Schulschwester durchbohrte sie immer mit ihrem Blick, dass sie alles vergaß und nicht selten in der Ecke knien musste.

»Acht mal sieben«, schleuderte ihr Schwester Agata entgegen.

Ihr Kopf war leer.

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Schwester Filomena stand im Türrahmen. »Entschuldigen Sie bitte, Schwester Agata, ich müsste Anna Maria zu Don Antonio Vivaldi bringen.«

»Mitten im Unterricht?«, bellte Schwester Agata und stemmte die Hände in die Seiten.

»Es ist mit der Mutter Oberin abgesprochen«, sagte Schwester Filomena und senkte demütig den Blick.

Anna Maria verfolgte gebannt die Hackordnung unter den Nonnen. Wer würde siegen? Die dicke Schulschwester oder die zierliche Musiklehrerin?

Schwester Agata bedeutete Anna Maria mit einem grimmigen Kopfnicken, dass sie mit Schwester Filomena hinausgehen könne.

Anna Maria atmete erleichtert aus. Da war sie dem gefürchteten Kopfrechnen gerade noch einmal entkommen.

»Ich habe Don Antonio bereits von dir erzählt«, flüsterte Schwester Filomena ihr beim Hinausgehen zu. »Er erwartet uns schon.«

Sie liefen einen langen Korridor entlang. Um diese Zeit war es im Ospedale ungewöhnlich still. Die jüngeren Mädchen drückten die Schulbank, und die älteren kopierten in der Schreibstube Noten oder handarbeiteten. Denn wer als Musikerin nicht geeignet war, musste klöppeln und sticken. Wer auch darin nicht gut war, endete in der Küche oder in der Waschküche. Anna Maria fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Sie wollte eine gute Geigerin werden und ihr Leben lang Musik machen!

Schwester Filomena hielt vor einer großen Holztür an. Sie klopfte zweimal.

»Herein!«, rief eine männliche Stimme, und die Nonne schob Anna Maria durch die Tür.

Sie stand in einem hellen, frisch getünchten Zimmer mit großen Fenstern, durch die der blaue Himmel und das glitzernde Wasser der Lagune zu sehen waren. Ein rothaariger Mann stand vor dem Fenster und sah hinaus. Jetzt drehte er sich um.

Anna Maria hielt die Luft an. Das war doch der Mann, der sie am Weihnachtsfest vor Schwester Teodoras Zorn beschützt hatte! Er ist Don Antonio Vivaldi?

Auch er schien die Sprache verloren zu haben. Doch er fing sich schnell und trat auf sie zu. »Wir kennen uns doch schon, mein Kind.« Warm und freundlich klang seine Stimme. »Du bist also die kleine Anna Maria, die die G-Dur-Tonleiter über drei Oktaven spielen kann?«

Sie nickte und lächelte zaghaft.

»Dann spiele sie mir doch einmal vor«, sagte er und setzte sich.

Schwester Filomena reichte Anna Maria eine Geige.

Als sie die leere G-Saite strich und die Schwingungen durch ihren Körper fluteten, wusste sie, dass alles gut werden würde. Zwar musste sie Don Antonio von ihrem Können überzeugen. Doch merkwürdigerweise empfand sie keine Nervosität, denn sie spürte, dass er ihr wohlgesonnen war.

Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, da war sie auch schon ganz oben auf dem Griffbrett angelangt. Sie sah ihn an.

Er nickte anerkennend.

»Nun spiel ihm das vor, Kind«, hörte sie Schwester Filomena hinter sich, die ihr sodann ein Notenblatt aufs Pult stellte.

Anna Maria erkannte die Melodie. Sie hatte sie am Vortag das erste Mal gespielt. Es war die Komposition von dem Mann mit den freundlichen Augen und der warmen Stimme, der ihr gegenübersaß. Jetzt, wo sie wusste, wer die Melodie geschrieben hatte, konnte sie sie noch viel besser verstehen. Die gebundenen Viertel mussten so weich und geschwungen sein wie seine Augenbrauen; die kürzeren Achtelnoten hingegen so gewitzt wie sein schelmischer Blick.

Als sie das Stück zu Ende gespielt hatte, beugte er sich vor. »Du spielst sehr schön, Anna Maria. Ich würde dich ab jetzt gern unterrichten. Möchtest du das?«

Anna Maria strahlte. »Ja!«, rief sie. In dem Moment begriff sie, dass sich dieser Mann ab jetzt jeden Tag um sie kümmern würde … so wie ein Vater um seine Tochter. Unglaublich! Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, dachte sie, und ihr Herz klopfte vor Freude. Ich bekomme einen Vater!

Die Nonne lächelte. Jede einzelne ihrer Falten schien sich zu freuen.

»Sie haben mir nicht zu viel versprochen«, sagte Don Antonio zu Schwester Filomena. Dann strich er Anna Maria über den Kopf. »Nun musst du aber wieder in den Schulunterricht gehen. Wir sehen uns heute Nachmittag zu unserer ersten gemeinsamen Geigenstunde.«

Als Anna Maria draußen war, drückte sie Schwester Filomenas Hand.

Die Nonne zwinkerte ihr zu. »Das wäre geschafft! Jetzt lauf zurück zu Schwester Agata.«

Kapitel 3

»Ein Ton muss so aufgebaut werden wie ein Menschenleben«, sagte Don Antonio. »Am Anfang ist er leise und zart, dann wird er immer kräftiger, um zum Ende hin wieder schwächer zu werden.« Er demonstrierte seine Erklärung auf der Geige, indem er den Bogen rasch vom Frosch bis zur Spitze zog.

»Der Klang hat einen dicken Bauch«, stellte Anna Maria fest.

»Genau!« Don Antonio lachte. »Du hast es erfasst. Aber der dicke Bauch wird nicht durch Druck erzeugt, sondern durch Geschwindigkeit.«

Sie probierte es aus, zog den Bogen erst langsam, dann schnell, dann wieder langsam über die Saite. Leise – laut – leise, mit fließenden Übergängen.

Ihr Lehrer schien sehr zufrieden. »Jetzt versuche noch einmal, dass Largo der Sonate zu spielen, und gestalte vor allem die langen Noten genauso, wie wir es besprochen haben.«

Anna Maria probierte es aus und merkte sofort, dass sie auf diese Weise einen viel volleren Klang erzeugte, der den ganzen Raum ausfüllte.

Don Antonio unterrichtete sie allein in dem hellen Zimmer, in dem sie ihm vorgespielt hatte. Sie musste daher nicht wie früher gegen die anderen Mädchen anspielen, die im selben Saal alle etwas anderes übten. Jetzt gehörten der Raum und der Klang ganz ihr und ihrem Lehrer.

»Sehr gut!«, lobte Don Antonio. »Beim Schlusston musst du den rechten Arm von der Saite nehmen, aber in der Bewegung fortfahren, damit der Ton nachklingt. So.« Er machte es ihr vor.

Nachdenklich sah sie ihn an. »Wohin geht der Ton, wenn wir ihn nicht mehr hören?«

Er fuhr sich mit der Hand durch die roten Haare. »Das ist eine wirklich gute Frage, Anna Maria. Der Ton lebt weiter, ist aber für das menschliche Ohr nicht mehr vernehmbar.«

»Also so, wie wenn ein Mensch stirbt. Dann lebt er ja auch im Himmel weiter, kann aber von uns Lebenden nicht mehr gesehen werden.«

Er nickte. »Ja, genauso verhält es sich auch mit Tönen.«

Anna Maria überlegte. »Das heißt, meine Eltern können mich hören, wenn sie tot sind?«

»Wahrscheinlich«, sagte er leise. »Weißt du denn, ob deine Eltern tot sind?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber … es wäre besser. Denn wenn sie nicht tot sind, sondern leben, bedeutet es, dass sie mich nicht haben wollten.«

Er ging in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. »Mein liebes Kind …« Seine Stimme war brüchig. »Das bedeutet es nicht zwangsläufig. Es könnte sein, dass deine Eltern so arm sind, dass sie dich nicht hätten ernähren können und dich daher im Waisenhaus abgegeben haben, damit du überlebst.«

Das war eine Möglichkeit, an die sie zuvor noch nicht gedacht hatte. »Dann kommen sie doch bestimmt ab und zu vorbei und lauschen von draußen, oder?«

»Ganz bestimmt.«

Sie wandte den Kopf zum Fenster. Auf dem Kanal herrschte ein emsiges Treiben. Zwei Gondeln mit gut gekleideten Kaufleuten steuerten stadteinwärts, ein Lastkahn schipperte mit Obstkisten in die andere Richtung. Im Hintergrund ragte der Campanile von San Giorgio empor; unzählige Tauben flatterten durch die Luft. »Geht der Ton durch die dicken Mauern durch?«

Don Antonio stand wieder auf. »Ja, wenn ich komme, höre ich euch von draußen musizieren. Wenn die Fenster geöffnet sind, höre ich euch sogar schon aus der Ferne.«

Anna Maria überlegte. »Wenn meine Eltern also leben und mich von draußen hören, meinst du, dass sie mich lieb haben, wenn ich besonders schön Geige spiele?« Sie hatte ihren Lehrer unbemerkt geduzt. Die Nonnen schimpften immer, wenn sie Erwachsene duzten, aber Don Antonio schien es nicht zu stören.

»Auf jeden Fall.« Seine Augenlider klapperten jetzt fast so schnell auf und ab wie die Sechzehntelnoten, die sie neulich durchgenommen hatten.

»Aber sie können gar nicht wissen, dass ich es bin, die spielt.«

Er räusperte sich. »Bald werden sie es wissen. Wenn du größer bist und bei unseren Samstagskonzerten die Violinsoli spielst, wird ganz Venedig von dir sprechen.«

Gedankenverloren starrte Anna Maria auf ihre Geige. Wenn sie doch schon so weit wäre, dass sie im Orchester durch Solostellen brillieren könnte! »Dann werden sie vielleicht ein bisschen stolz auf mich sein.«

Er strich ihr über den Kopf. »Ganz sicher werden sie stolz auf dich sein, mein Kind. Und wenn deine Eltern schon tot sein sollten, dann sind sie oben im Himmel stolz auf dich.«

Sie sah zu ihm auf. »Bist du auch stolz auf mich?«

Er lächelte. »Sehr stolz sogar.« Er wandte sich ein wenig ab, und Anna Maria sah, dass er sich verstohlen mit dem Ärmel über sein Gesicht fuhr. Weinte er etwa?

»Ich bin froh, dass du jeden Tag kommst«, sagte sie, um ihn zu trösten. »Wusstest du, dass ich mir das vom Christkind gewünscht habe?«

»Was?« Verdutzt sah er sie an.

»Na, dass jemand kommt und wie ein Vater für mich ist.«

Er schluckte. »Ehrlich?« Seine warmen, braunen Augen glitzerten, und seine Augenlider klimperten wieder schneller.

Sie nickte. Dann fiel ihr ein, dass er Priester war. »Hätte ich das nicht tun dürfen?«, fragte sie ängstlich.

»Doch, natürlich. Du darfst unseren Herrn um alles bitten.«

Sie atmete auf. Dann war das ja geklärt. Ich darf den lieben Gott darum bitten, eine gute Geigerin zu werden. Vielleicht erhört Er diese Bitte ebenso wie die nach einem Ersatzvater.

Kapitel 4

Anna Maria war die Einzige ihrer Altersgenossinnen, die von Don Antonio unterrichtet wurde. Daher stand sie, seitdem sie von ihm Unterricht erhielt, im Fokus der Aufmerksamkeit. Jeden Abend vor dem Zubettgehen quetschten die anderen Mädchen sie über das einzige männliche Wesen aus, das einen Fuß in das Mädchen-Waisenhaus setzen durfte.

»Was macht ihr im Unterricht?«, wollten sie wissen.

Hunderte Male hatte Anna Maria schon erzählen müssen, dass Don Antonio die Achtelnoten kurz, die Sechzehntelnoten lang und die Halben und Ganzen mit dickem Bauch gespielt haben wollte. Wissbegierig sogen die kleinen Mädchen alles auf und hingen an ihren Lippen.

Doch damit gaben sie sich nicht zufrieden. Sie wollten sein Wesen erfassen. »Wie ist er? Was sagt er?«

»Er ist … wie der heilige Josef«, sagte sie schließlich.

»Wie meinst du das?« Ihre Freundin Faustina sah sie mit großen Augen an.

Anna Maria druckste herum. »Na ja, der heilige Josef hat sich um das Jesuskind gekümmert und es lieb gewonnen, obwohl er nicht der richtige Vater war. Und Don Antonio ist genauso …«

»Soll das heißen, er liebt dich so wie ein Vater sein Kind?«, fragte Faustina ungläubig.

»Ich denke schon.«

»So ein Quatsch!«, schnaubte die pummelige Berta, die erst vor Kurzem ins Ospedale gekommen war, nachdem ihre reichen Eltern gestorben waren. »Das kann auch nur einem Findelkind wie dir einfallen, das von seinen Eltern wie Unrat abgelegt worden ist. Wahrscheinlich sollen wir dich jetzt ›Signorina Vivaldi‹ nennen?«

Anna Maria traten Tränen in die Augen. Berta hatte bei ihren Eltern ein liebevolles Zuhause gehabt. Warum musste sie jetzt so gehässig sein?

»Lass sie in Ruhe!«, rief Faustina. »Immerhin kann es sein, dass Anna Marias Eltern tot sind und jemand anderes sie vor dem Waisenhaus abgelegt hat.«

Berta lachte höhnisch auf. »Ja, das kann sein, aber viel wahrscheinlicher ist es, dass ihre Mutter eine Hure ist, so wie deine auch.«

»Gemeine Kuh!« Faustina wollte sich auf sie stürzen.

Doch unbemerkt hatte Schwester Carmela den Schlafsaal betreten. Anna Maria mochte sie sehr. Schon oft hatte die junge Nonne neben ihrem Bett gesessen und sie getröstet, wenn sie krank oder traurig war. Dann hatte sie spannende Geschichten von Prinzen und Prinzessinnen, Bettlern und Mägden erzählt, die sich ineinander verliebten und um die Welt zogen. Sie hatte eine besonders weiche, melodische Stimme, der Anna Maria stundenlang zuhören konnte.

Jetzt schien Schwester Carmela jedoch verärgert zu sein. Streng sah sie Berta an. »Es reicht! So etwas will ich nie wieder hören!«

Berta zog einen Schmollmund.

Die junge Nonne legte einen Arm um Faustina. »Ihr seid alle Kinder Gottes, egal ob ihr eure Eltern kanntet oder nicht; egal ob eure Eltern reich waren oder arm, ob sie tugendhaft gelebt haben oder nicht.«

Anna Maria sah verstohlen zu Faustina hinüber. Wieso kam Berta darauf, dass die Mutter ihrer Freundin eine Hure war? Was auch immer das ist. Es klingt jedenfalls schlimm.

Schwester Carmela riss sie aus ihren Gedanken. »Geht ins Bett und schlaft. Morgen wird Don Antonio eure Klassen besuchen und hören, was ihr könnt. Dann solltet ihr ausgeschlafen sein.«

»Was?« Ein aufgeregtes Stimmengewirr machte sich breit und glich dem Summen in einem Bienenstock. »Wir sollen ihm vorspielen?«

»Genaueres kann ich nicht sagen«, sagte die junge Nonne und lächelte. »Er möchte sich einen Überblick verschaffen über euer musikalisches Vorankommen.«

Als das Licht gelöscht war, starrte Anna Maria an die Decke. Bis jetzt hatte Don Antonio ihr gehört. Also, eigentlich nicht wirklich, denn er hatte immer schon die älteren Mädchen unterrichtet, die alle für ihn schwärmten. Aber sie war bislang seine jüngste Schülerin gewesen. Ab dem morgigen Tag würde sich das ändern. Dann würde er alle Mädchen aus ihrem Schlafsaal hören und vielleicht einige von ihnen unterrichten wollen. Ob er mich dann immer noch ganz besonders mag? Sie würde jedenfalls alles daransetzen, ihn niemals zu enttäuschen. Sie nahm sich vor, immer seine beste Schülerin zu bleiben.

Am nächsten Morgen herrschte emsiges Treiben im Waschraum. Anna Maria schaffte es kaum, an eine der Waschschüsseln mit dem eisigen Wasser zu kommen. Was putzten sich die anderen Mädchen nur so heraus? Dachten sie, dass sie Don Antonio mit ihrem Aussehen beeindrucken konnten? Sie wusste, dass ihn vor allem der Klang eines sauber gespielten Akkords faszinierte oder Fingerfertigkeit. Daher verstand sie nicht, weshalb die Mädchen so sehr darauf bedacht waren, ihre Haare zu glätten, die ohnehin fast vollständig unter ihren Hauben verschwinden würden.

Der Schulunterricht am Vormittag wollte nicht enden. Aufgeregt schwatzten die Mädchen mit ihren Nachbarinnen, und Anna Maria hatte den Eindruck, dass sich außer ihr niemand auf die Rechen- und Schreibaufgaben konzentrieren konnte, die ihnen Schwester Agata auftrug. Faustina und Gabriella, ein dunkelhaariges Mädchen, das Bratsche spielte und – ebenso wie Berta – noch nicht lange im Waisenhaus war, zappelten derart auf ihren Stühlen herum, dass die Schulschwester sie eine Stunde lang in der Ecke knien ließ.

Endlich ertönte der ersehnte Gong, und die Mädchen strömten zum Mittagstisch. Es gab nur eine dünne Suppe mit Brot.

Ich hab immer noch Hunger, dachte Anna Maria und hörte ihren Magen knurren, als sie ihren Suppenteller auskratzte. Wie soll ich es bloß bis zum Abendessen aushalten?

Die anderen Mädchen schienen sich heute nicht an dem kärglichen Mahl zu stören. Sie waren mit ihren Gedanken schon woanders. Als das Dankgebet gesprochen war, stoben sie auseinander.

Schwester Filomena stand im Türrahmen des Musiksaals und erwartete die kleinen Mädchen zum Vorspiel. Anna Maria winkte der Musiklehrerin, der sie das Privileg verdankte, von Don Antonio unterrichtet zu werden, kurz zu. Nachher würde sie bei ihr noch im Ensemblespiel unterrichtet werden.

Nun begab sie sich mit ihrer Geige erst einmal in den Schlafsaal. Nach dem Mittagessen hatte sie immer eine Stunde Zeit, allein zu üben. Das hatte Don Antonio für sie bei den Nonnen ausgehandelt, denn er wollte, dass sie, bevor sie sich nachmittags zu den anderen Kindern in die Ensembles gesellte oder seinem Unterricht beiwohnte, immer die Gelegenheit hatte, für sich zu üben.

Anna Maria liebte diese Stunde, in der sie den riesigen Schlafsaal für sich allein hatte. Reiche Kinder hatten alle eigene Zimmer, wusste sie von Berta, die in ihrem früheren Leben als Kaufmannstochter ein großzügiges Zimmer mit Himmelbett bewohnt hatte. Wenn man ihr Glauben schenken konnte … Für Anna Maria war es hingegen fast die einzige Stunde am Tag, in der sie sich nicht in Gesellschaft von Dutzenden anderer Kinder bewegte.

Sie spannte den Bogen und begann mit der H-Dur-Tonleiter. Eine schwierige Tonleiter. So viele Kreuzchen, so viele Möglichkeiten, falsch zu intonieren. Sie spielte sie ein paarmal hoch und runter. Danach widmete sie sich den Geläufigkeitsübungen, die Don Antonio für sie aufgeschrieben hatte, dann den Bogenübungen. Als die Kirchturmuhr von der gegenüberliegenden Seite des Kanals zweimal schlug, wusste sie, dass ihre Stunde nun vorüber war. Doch sie spielte einfach weiter. Nach dem Pflichtprogramm wollte sie sich nun noch einmal das wunderschöne Largo ansehen, das Don Antonio eigens für sie komponiert hatte.

Als sie das Notenblatt hervorholte, lächelte sie. Egal, welche Mädchen er nun unten in den Musiksälen entdeckte und künftig unterrichten würde, für sie hatte er bereits mehrere Stücke geschrieben. Don Antonio schenkte ihr Musikstücke, so wie ein Kaufmann seiner Tochter eine Haarspange oder Perlenohrringe schenkte. Andächtig ließ sie den Bogen über die Saiten streichen. Sie war eins mit ihrer Violine. Sie spürte den Klang in sich, der sich in dem riesigen Schlafsaal entfaltete.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Faustina stürmte herein. Ihre Haube hing unordentlich an einer Strähne ihrer schwarzen Locken. »Anna Maria! Don Antonio will, dass Pellegrina und ich im Bläserspielkreis mitspielen!«

Anna Maria ließ die Geige sinken und strahlte. Faustina spielte Flöte, Pellegrina Oboe. »Wie schön! Du wirst sehen, wie nett Don Antonio ist.«

»Ich bin schon ganz aufgeregt«, plapperte Faustina weiter und lief vor dem Fenster auf und ab. »Schon morgen findet die erste Probe statt.«

»Es ist wunderschön, wenn man im Ensemble spielt.« Anna Maria lächelte vor sich hin. »Wenn alle zeitgleich eine andere Stimme spielen, wird daraus ganz großartige Musik.«

Da erinnerte sie sich, dass sie sich auf den Weg machen musste, um rechtzeitig zu ihrem Streicherensemble zu gelangen. Schwester Filomena würde sie schon erwarten. »Steck deine Haube wieder fest«, sagte Anna Maria zu Faustina. »Sonst schwillt Schwester Teodoras Kropf so stark an, dass ihr Kragen platzt.«

Kapitel 5

Es wurde Frühling. Die feuchte Kälte, die in den alten Gemäuern steckte, wich allmählich, und eine warme Frühlingsbrise zog durch die hohen Räume des Waisenhauses. Draußen im Bacino di San Marco tummelten sich Lastkähne und Gondeln. Am Ufer verluden Arbeiter die Waren der Händler, bunt gekleidete Bürger und Fernreisende defilierten auf der Riva degli Schiavoni.

Oft stand Anna Maria mittags mit ihrer Geige im Schlafsaal am Fenster und betrachtete die Menschen und Schiffe im Freien, während sie Tonleitern spielte und Fingerübungen machte. Im Winter, wenn Nebelschwaden über die Lagune zogen, hatte sie sich vorgestellt, dass ihre Eltern eines Tages aus dem Nebel auftauchen und sie aus dem Waisenhaus befreien würden. Jetzt im Frühling wollte sie indes selbst nach draußen, um sie zu suchen. Ist mein Vater einer der Hafenarbeiter? Ist er Gondoliere? Oder war er gar einer der Kaufmänner, die in prachtvollen Roben und ausladenden Hüten auf der Straße lustwandelten? War ihre Mutter eine vornehme Dame, die sich in einer vorbeifahrenden Gondel spazieren fahren ließ, oder war sie eine der armen Wäscherinnen, die sie oft am Kanal sah?

Unbedingt wollte sie die Stadt kennenlernen, in der sie lebte. Was verbarg sich hinter den Fassaden der Palazzi? Wie mochte es auf der gegenüberliegenden Insel San Giorgio aussehen? Oder in den Kirchen der Stadt, deren Geläut sie hörte? Fast schon beneidete sie die grauen Tauben, die, wann immer sie wollten, in die Lüfte fliegen und die ganze Stadt betrachten konnten.

Den Winter über hatte Anna Maria große Fortschritte auf der Geige gemacht. Auch Faustina und die anderen Mädchen waren weitergekommen. Neben dem Einzelunterricht spielte Anna Maria nun in diversen Streicherensembles mit anderen Geigerinnen, Cellistinnen und Bratschistinnen zusammen. Außerdem gab ihr Schwester Filomena seit Kurzem auch Cembalo-Unterricht.

Es fiel ihr leicht, ein anderes Instrument zu erlernen. Die Noten kannte sie alle, und sie hatte dank Don Antonio eine gute Vorstellung davon, wie die Musik klingen sollte. Auf der Geige war es oft eine Geduldsprobe, so lange zu üben, bis ein Lauf klappte, bis Doppelgriffe rein klangen oder sie den Bogen in fliegender Hast über die Saiten bewegen konnte, ohne dabei die falsche Saite zu streifen oder durch zu viel Druck ein kratzendes Geräusch zu verursachen. Aber sie genoss das stundenlange Spielen, denn in dieser Zeit war sie für sich und konnte sich in ihr eigenes Reich der Klänge und Träume zurückziehen.

An diesem Frühlingstag erwartete Anna Maria nach ihrer mittäglichen Übungsstunde in Don Antonios Ensemble-Unterricht für die Jüngeren eine Überraschung.

Als die Mädchen auf ihren Plätzen saßen, sah Don Antonio eines nach dem anderen an. »Buona sera, meine Engelchen«, sagte er, »ich freue mich, euch alle zu sehen.«

»Buona sera, maestro«, antworteten sie im Chor.

»Da heute so ein wunderbarer Frühlingstag ist, habe ich mir gedacht, dass wir ihn musikalisch begrüßen sollten.« Er kramte ein paar Notenblätter aus seiner Tasche. »Wer von euch hat schon einmal einen Frühlingstag auf dem Land verbracht?«

Bertas Arm sauste in die Höhe. »Ich!«

»Ich auch«, meldete sich Gabriella. »Als ich noch bei meiner Großmutter lebte …«, fügte sie leise hinzu.

»Von den anderen keine?« Don Antonio sah in die Runde.

Anna Maria schüttelte den Kopf, und auch Faustina und die anderen Mädchen hatten diese Erfahrung leider nicht vorzuweisen.

»Das macht nichts«, sagte Don Antonio und lächelte schelmisch, »denn ich habe euch den Frühling mitgebracht.«

»Wie denn?« Faustina rutschte aufgeregt auf dem Stuhl hin und her.

»Ihr werdet sehen.« Er verteilte die Notenblätter. Auf jedes Blatt hatte er den Namen des Mädchens geschrieben, das die entsprechende Melodie spielen sollte.

Neugierig starrte Anna Maria auf das Notenblatt, auf das er Anna Maria geschrieben hatte. Sie erkannte in den kleinen schwarzen Punkten und Strichen die Handschrift ihres Lehrers. Kurze Vorschläge vor Achtelnoten hatte er notiert, ansonsten keine Melodie. Sie runzelte die Stirn. Was soll das denn sein?

Don Antonio nahm seine Geige aus dem Kasten. »Gabriella, Berta, was ist euch in Erinnerung geblieben an den Frühling, als ihr noch bei euren Eltern beziehungsweise der Großmutter gelebt habt?«

»Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, überall riecht es nach Blüten, und Bienen summen«, fing Gabriella an.

»Die Vögel tschilpen, und das Grün auf den Bäumen ist noch ganz hell!«, warf Berta ein.

»Ja, genau, es ist ein anderes Grün als im Sommer.« Wehmütig sah Gabriella vor sich hin. »Und die Schwalben kommen zurück.«

Berta fing plötzlich an zu weinen. Dicke Tränen kullerten über die pausbäckigen Wangen.

»Ach, Berta.« Don Antonio schien bestürzt zu sein. »Das wollte ich nicht.«

Anna Maria hatte bis dahin beinahe neidisch den Erzählungen der beiden Mädchen gelauscht. Sie selbst hatte niemals den Frühling auf dem Land erlebt. Doch als Berta nun hemmungslos schluchzte, bekam sie Mitleid mit ihr, obwohl sie sie eigentlich nicht mochte. Es muss viel schwerer sein, wenn man all das erlebt hat und es dann verliert, als wenn man es nie hatte.

Faustina, die neben Berta bei den Flöten saß, legte ihr einen Arm um die Schulter.

Dass sie so lieb zu ihr sein kann, obwohl Berta neulich noch so grässlich zu ihr war, wunderte sich Anna Maria. Faustina war wirklich ein Engelchen, wie Don Antonio sie alle nannte.

Umständlich kramte Berta ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich.

»Berta, deine Eltern sind bei unserem Vater im Himmel, und dort geht es ihnen gut.« Don Antonio beugte sich zu ihr hinab. »Dass sie nicht mehr bei dir sind, ist schlimm für dich. Aber die Zeit, die du mit ihnen verbringen durftest, kann dir keiner nehmen.«

Berta nickte.

»Jetzt bist du hier bei uns«, fuhr er fort, »und wir möchten alle, dass es dir gut geht. Sieh, Faustina hat dich gerade getröstet, obwohl auch sie oft traurig ist, dass sie keine Eltern hat. Du kannst den anderen Mädchen, denen es niemals vergönnt war, den Frühling auf dem Land zu erleben, erzählen, wie das war.« Er sah in die Runde. »Vielleicht werdet ihr später heiraten und selbst Mütter werden. Dann wisst ihr von Berta, wie ein Familienleben aussieht. Bis dahin bilden wir alle zusammen eine Familie.«

Anna Maria lächelte. Sie hatte es immer gewusst: Don Antonio war ihr Ersatzvater. Jetzt musste es auch Berta verstanden haben.

Er klopfte mit dem Taktstock auf sein Notenpult. »Aber jetzt wollen wir den Frühling zu uns ins Waisenhaus lassen!«

Er wandte sich an Anna Maria und die drei anderen Geigerinnen. »Ihr spielt die Stimme der gerade erst geschlüpften Vögelchen. Sie tschilpen und trällern so.« Er hob die Geige und spielte die Achtelnoten mit den kurzen Vorschlägen. »Jetzt seid ihr an der Reihe.«

Das ließ sich Anna Maria nicht zweimal sagen. Zusammen mit den anderen Geigerinnen machte sie die Geräusche nach, die ihr Lehrer vorgegeben hatte.

»Sehr schön, sehr schön!«, rief Don Antonio aus. »Und jetzt mit kurzen Trillern!« Er machte es wieder vor.

Die Mädchen imitierten ihn.

»Die Flöten bitte dasselbe.«

Faustina und Berta stimmten ein.

»Die Bratschen haben die Stimme der Vogeleltern, also etwas tiefer.«

Gabriella und zwei andere Mädchen setzten ein.

»Jetzt brauchen wir wie immer das Fundament. Unsere Cellistinnen.« Carolina und Beatrice begannen, regelmäßige Achtelnoten dazu zu spielen.

Don Antonio klatschte begeistert in die Hände. »Genauso klingt der Frühling, nicht wahr, Berta? Gabriella?«

Die beiden Mädchen nickten und strahlten.

»Jetzt machen wir das Geräusch der Bienen nach.«

Nach einer Stunde entließ der Maestro die Mädchen.

»Das war eine tolle Probe!«, Anna Maria war ganz aufgeregt. Jetzt konnte sie sich vorstellen, wie der Frühling klang. Wenn sie ihn doch nur sehen könnte!

»Komm, wir schauen, ob wir von der obersten Etage aus den Frühling sehen!«, rief sie, und zusammen mit Faustina rannte sie die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. »Vielleicht können wir von da oben Wälder und Wiesen oder blühende Obstbäume sehen!«

Doch als sie oben angelangt waren und ihre Nasen an der Fensterscheibe plattdrückten, sahen sie keine blühenden Wiesen, sondern die Türme, Palazzi und Kanäle einer Märchenstadt. Bislang hatte Anna Maria immer den Bacino di San Marco und die gegenüberliegende Insel San Giorgio vom Fenster des Schlafsaals aus betrachtet, aber nun konnte sie wie ein Vogel auf die Häuserreihen bis zum Dogenpalast blicken.

Minutenlang verharrten die beiden Mädchen dort, ohne zu sprechen. »Wunderschön.« Faustina brach die Stille. »Ob Don Antonio auch mal die Geräusche der Stadt einfangen und zu Papier bringen kann?«

»Bestimmt kann er das.« Anna Maria hauchte die Scheibe an und malte mit ihrem Zeigefinger eine Achtelnote. »Er kann einfach alles komponieren.«

Kapitel 6

Als die Mädchen am Abend in ihren Betten lagen und mit Schwester Carmela das Nachtgebet gesprochen hatte, sagte diese: »Einige von euch haben heute mit Don Antonio die Geräusche des Frühlings geprobt.« Sie hielt einen Moment inne und lächelte dann. »Er hat der Mutter Oberin danach gesagt, dass ihr zwar alles sehr gut gemacht habt, dass es aber hilfreich wäre, wenn ihr den Frühling einmal kennenlernen würdet, um die Vogelstimmen, die rauschenden Bäche und das Säuseln des Windes noch viel besser nachzuahmen.«

Anna Maria setzte sich auf.

»Und jetzt haltet euch fest: Die Mutter Oberin hat zugestimmt, dass ihr alle in drei Tagen einen Ausflug auf die Insel Mazzorbo machen dürft!«

»Wir dürfen hinaus?«

»Mit einem Boot?«

»Wo liegt die Insel?«

»Ganz in der Nähe der Insel Burano«, sagte Schwester Carmela.

»Gibt es auf Mazzorbo Wiesen und Wälder?«

»Wilde Tiere?«

»Es gibt keine gefährlichen Tiere, die euch fressen könnten.« Die junge Nonne lächelte. »Aber vielleicht seht ihr einen Hasen oder einen Bussard.«

»Bekommen wir etwas zu essen?«

Schwester Carmela hob die Hand. »Die Mutter Oberin wird alles genau planen und uns in den nächsten beiden Tagen Bescheid geben, wann wir aufbrechen, wie viele Mädchen in ein Boot passen, was wir mitnehmen müssen, was es zu essen gibt und so weiter.«

»Kommst du auch mit?«, rief Faustina.

Die junge Nonne lächelte. Im Gegensatz zu den anderen Nonnen schien sie es zu mögen, wenn die Kinder sie duzten. »Natürlich komme ich mit. Und ihr könnt mir glauben: Ich freue mich mindestens genauso sehr auf unseren Ausflug wie ihr. Aber jetzt müsst ihr schlafen.« Sie löschte die Kerzen und schloss leise die Tür.

Kaum war sie draußen, brach reges Flüstern und Rascheln aus. Faustina schlüpfte bei Anna Maria unter die Bettdecke. »Ich kann es kaum glauben!«

»Ich auch nicht.« Anna Maria stützte sich auf einem Ellbogen auf. »Don Antonio schenkt uns tatsächlich einen Frühlingstag.«

»Ob er auch mitkommt?«

»Kann ich mir nicht vorstellen, aber wer weiß?«

Die Tür ging wieder auf, und Schwester Carmelas Stimme erklang: »Ihr Lieben, nicht so laut. Ihr wisst doch, dass ihr schlafen müsst.«

Daran war jedoch nicht zu denken. Anna Maria verspürte ein warmes Kribbeln im Bauch. Sie würde tatsächlich die Blumen riechen, die Bienen summen hören, die Vögel fliegen sehen und den Wind auf ihrer Haut spüren.

»Ich bin genauso aufgeregt wie vor dem Weihnachtsfest«, flüsterte Faustina.

»Ich auch. Eigentlich noch aufgeregter«, sagte Anna Maria. Denn obwohl sie jedes Jahr auf die Heilige Nacht mit den Hunderten von Kerzen und erhabenen Gesängen hin fieberte, war sie jetzt noch viel aufgewühlter. Ein Ausflug in die Natur!

Drei Tage später standen die Mädchen und drei Nonnen, darunter Schwester Carmela, vor dem Portal des Ospedale della Pietà.

Anna Maria wäre am liebsten vor Freude herumgehüpft, aber Schwester Teodora hatte bereits beim Frühstück unmissverständlich klargestellt, dass alle, die aus der Reihe tanzten, im Waisenhaus zurückbleiben mussten. Daher war Anna Maria ebenso wie die anderen Mädchen bemüht, ihre überschäumende Freude zu unterdrücken. Brav standen sie zu zweit nebeneinander, bis die Gondeln kamen.

Der Gondoliere ihres Bootes, ein braun gebrannter Jüngling mit makellos weißen Zähnen, reichte jedem Mädchen zum Einsteigen die Hand.

Anna Maria war es nicht geheuer, in dieses wackelige Gefährt zu steigen, doch der Gondoliere lachte, als sie zögerte, den alles entscheidenden Schritt ins Boot zu machen. »Wenn du erst einmal drin bist, gleiten wir über das Wasser wie die Schwäne, die du sicher manchmal schon vom Fenster aus gesehen hast. Nur Fliegen könnte schöner sein.«

Tatsächlich war es ein erhabenes Gefühl, über das Wasser zu gleiten. Anna Maria lehnte sich zurück und ließ sich die Morgensonne aufs Gesicht scheinen. Rechts und links säumten prachtvolle Palazzi den Kanal. Auf den Brücken standen Menschen und winkten.

Zaghaft winkte sie zurück. Vielleicht war dort oben ihre Mutter. Oder vielleicht da, auf der anderen Seite …

Der Gondoliere erklärte ihnen jedes Gebäude, an dem sie vorbeifuhren. Dort wohnte der ehemalige Doge mit seiner Familie. Hinter einem anderen Palazzo befand sich eine kunstvolle Skulptur im Innenhof, dort drüben war das Teatro, in dem allabendlich, vor allem im Karneval, diverse Aufführungen stattfanden.

Anna Maria konnte sich nicht sattsehen an den Gebäuden. Was hätte sie darum gegeben, in eines hineinzudürfen und die mächtigen Kronleuchter, die vom Boot aus sichtbar waren, bei Abendlicht leuchten zu sehen oder in die türhohen Spiegel zu blicken, die der Gondoliere erwähnte.

Sie streckte einen Arm aus und ließ ihre Hand durchs Wasser gleiten. Es fühlte sich ganz weich an.

»Da unten liegen viele tote Säuglinge«, raunte ihr Faustina zu.

»Was?« Eilig zog Anna Maria ihre Hand zurück. »Woher weißt du das?«

»Berta hat es mir erzählt. Sie hat es früher vom Dienstpersonal gehört, als sie noch bei ihren Eltern gelebt hat. Sie sagt, dass viele Mütter, die nicht verheiratet sind, ihre Säuglinge in den Kanal werfen.«

»Wie schrecklich.«

»Ja.« Faustina machte eine gewichtige Miene. »Daher hat der Stadtrat irgendwann beschlossen, Waisenhäuser zu errichten, damit die ungewollten Kinder dort abgegeben werden können.«

»Das heißt, wenn es das Ospedale della Pietà nicht gäbe, wären wir beide auch hier am Grund des Kanals gelandet?«, fragte Anna Maria entsetzt.

»Nun ja, vielleicht schon.«

Anna Maria konnte es nicht fassen. Glitten sie womöglich über Hunderte toter Säuglinge hinweg? »Wir sind also die Schande der Stadt?«

»Eben nicht! Wir sind ihr Stolz.« Faustina rückte näher an sie heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn die ungewollten Kinder die Waisenhäuser füllen anstatt den Kanal, tragen sie zum Reichtum der Stadt bei, denn unsere Konzerte locken viele Bürger und Reisende an und füllen die Kassen. Auch die Handarbeiten der figlie del commun werden verkauft und tragen zum Wohlstand bei.«

Mit einem Mal war Anna Marias Hochstimmung dahin. Don Antonio hatte zwar gesagt, dass es sein könne, dass ihre Eltern zu arm waren, um sie zu ernähren. Doch wie Berta neulich behauptet hatte, war es noch wahrscheinlicher, dass sie ein Kind war, das ihre Eltern nicht haben wollten.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wer weiß. Wahrscheinlich werde ich es nie erfahren. Diese Gedanken machten sie wahnsinnig.

»Was hast du, Anna Maria?« Schwester Carmela tippte ihr von hinten auf die Schulter.

»Nichts. Ich überlege gerade, hinter welcher Fassade meine Eltern leben«, antwortete sie trotzig.

Schwester Carmela strich ihr sanft über den Kopf. »Grübel nicht zu viel. Wir sind alle Kinder Gottes, das weißt du doch. Und du …«, raunte sie ihr ins Ohr, »… bist Don Antonios Lieblingsschülerin. Er ist doch dein Ersatzvater, oder etwa nicht?«

Anna Maria drehte sich zu Schwester Carmela um.

Die Nonne zwinkerte. »Stimmt’s oder hab ich recht?«

»Woher weißt du das?«

Schwester Carmela lachte. »Erinnerst du dich, als ich vor ein paar Monaten im Schlafsaal einen Streit zwischen Faustina und Berta geschlichtet habe? Ich hatte euch schon ein paar Minuten davor belauscht.«

Anna Maria wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann hatte die junge Nonne damals gehört, dass sie Don Antonio mit dem heiligen Josef verglichen hatte.

»Don Antonio ist tatsächlich so gut zu euch wie ein Vater«, sagte Schwester Carmela. »Und dich, meine Liebe, mag er besonders, denn wenn er eine Tochter haben könnte, die er als Priester natürlich niemals haben kann, dann würde er eine so gute Geigerin haben wollen wie dich.«

»Meinst du?«

Die junge Nonne lächelte.

Anna Maria überlegte. Es ergab Sinn, was Schwester Carmela sagte. Zwar bemühte sich Don Antonio immer, alle Mädchen gleichzubehandeln, aber tief in ihrem Innern spürte sie, dass er ihr ganz besonders zugetan war. Vielleicht weil sie gut Geige spielen konnte. Vielleicht weil sie ihm verraten hatte, dass sie sich ihn vom Christkind als Ersatzvater gewünscht hatte.

In diesem Moment erreichten sie die offene Lagune. Der Wind brauste nur so um ihre Ohren.

Faustina hob die Arme. »Mach das auch, der Wind kitzelt mich!«

Anna Maria machte es ihr nach und lachte, als der Wind ihre Ärmel flattern ließ. Jetzt freute sie sich, dass sie lebte und dank ihres Ersatzvaters einen Tag in der Natur erleben durfte.

Der Frühling war noch viel schöner, als sie ihn sich nach Don Antonios Musik erträumt hatte. Als sie auf Mazzorbo ankamen, war es fast schon Mittag. Eine grüne, weite Wiese breitete sich vor ihnen aus. Sie war von zartgrünen Bäumen gesäumt, deren Blätter sich leicht im Wind bewegten. Anna Maria schloss die Augen und spürte die Brise um ihre Nase tanzen. Ihre Haare wehten ihr ins Gesicht, und als sie sich drehte, flatterten sie im Wind. Ein wunderschönes Gefühl! Sie rannte mit Faustina und den anderen Mädchen auf die Wiese. Sie spielten Fangen.

Schwester Carmela stand lächelnd daneben. Schwester Teodora und Schwester Agata hingegen beobachteten das Geschehen mit ihrem üblichen mürrischen Gesichtsausdruck. Aber das war Anna Maria egal. Sie hatte einen Tag Freiheit. Sie pflückte einen Blumenstrauß und schenkte ihn Schwester Carmela. Für sich selbst bewahrte sie auch ein paar Blumen auf; sie wollte sie pressen und als Erinnerung an diesen schönen Tag behalten.

Dann rannte sie einem Schmetterling hinterher, und als sie die Bäume erreichte, hielt sie Ausschau nach einem Vogelnest. »Dort oben ist eines!«, rief sie Faustina aufgeregt zu.

Tatsächlich landeten zwei Meisen abwechselnd auf einem Ast über ihnen und verschwanden in einer Baumhöhle, aus der es hernach eifrig tschilpte. »Hörst du?«

Faustina nickte. »Don Antonio hat es gut imitiert. Er sollte ein richtiges Frühlingsstück komponieren.«

»Wird er bestimmt, wenn wir ihm erzählen, wie schön es heute war.« Ab jetzt würde sie jedes Mal, wenn sie Achtelnoten mit kurzen Trillern spielte, an diesen Tag denken.

Sie liefen zu den anderen zurück und genossen ein Picknick unter freiem Himmel.

Doch viel zu schnell war der Tag vorbei. Sie mussten wieder in die Boote steigen, um vor der Dämmerung zurück im Waisenhaus zu sein. Sehnsüchtig blickte Anna Maria zu den flatternden Vögeln am Himmel. So frei wie sie wollte sie auch sein. Sie wollte nicht wieder hinter den dicken Mauern des Waisenhauses leben. Sie wollte zurück auf die Insel. Selbst die zartrosa Wolken am Himmel, die ein mildes Licht über die Lagune warfen, vermochten ihre Wehmut nicht zu vertreiben.

Als die Gondel vor dem Waisenhaus anlegte, wollte sie gar nicht aussteigen. Faustina ging es genauso. Sie blieben einfach sitzen und ließen den anderen Mädchen den Vortritt.

»Signorine?« Der Gondoliere sah sie fragend an. »Ihr seid doch diejenigen, die heute Morgen vor dem Einsteigen ein bisschen Angst gehabt hatten, oder? Hat euch die Gondelfahrt also gefallen?«

Anna Maria lächelte. »Ja, sehr.«

»Möchtet ihr noch eine Ehrenrunde durch die Stadt mit mir machen?« Er zwinkerte.

Anna Maria erhob sich und seufzte. »Wir dürfen nicht.«

»Dann ein andermal, wenn ihr größer seid?«

»Au ja!«, rief Faustina und stand nun auch auf.

Er lächelte und streckte den Arm aus, um ihnen beim Aussteigen zu helfen.

Anna Maria nahm seine Hand und machte einen großen Schritt ans Ufer. Der schönste Tag ihres Lebens war nun vorbei.