Die Reise ins Reich - Tobias Ginsburg - E-Book
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Die Reise ins Reich E-Book

Tobias Ginsburg

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Beschreibung

Acht Monate lang tauchte Tobias Ginsburg inkognito in die Szene der «Reichsbürger» und rechten Verschwörungstheoretiker ein. Er baute sich eine Scheinidentität im Netz auf und bewegte sich unter AfD-Politikern, gewaltbereiten Neonazis und friedensbewegten Esoterikern in Braun, Sektierern und Systemumstürzlern. Sein Buch ist ein ebenso erschütternder wie komischer Streifzug durch eine Welt böser Verführer und verführter Irregeleiteter, das zugleich einen neuen, literarischen Ton in die investigative Reportage einführt. Ein ungewöhnliches Enthüllungsbuch. Es erscheint hier in einer aktualisierten, überarbeiteten und um neue Kapitel erweiterten Fassung. «Ginsburg begegnet – und das ist eine große Leistung – den Menschen auf seiner Reise eher mit Neugier denn mit Abneigung.» Süddeutsche Zeitung «Ein irrwitzig-wahnsinnig-komisches Buch. Tobias Ginsburg erzählt als Literat und Aufklärer von dieser wahrhaft bedrohlichen Szene.» Günter Wallraff

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Seitenzahl: 359

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Tobias Ginsburg

Die Reise ins Reich

Unter Rechtsextremisten, Reichsbürgern und anderen Verschwörungstheoretikern

 

 

 

Über dieses Buch

Acht Monate lang tauchte Tobias Ginsburg inkognito in die Szene der «Reichsbürger» und rechten Verschwörungstheoretiker ein. Er baute sich eine Scheinidentität im Netz auf und bewegte sich unter AfD-Politikern, gewaltbereiten Neonazis und friedensbewegten Esoterikern in Braun, Sektierern und Systemumstürzlern. Sein Buch ist ein ebenso erschütternder wie komischer Streifzug durch eine Welt böser Verführer und verführter Irregeleiteter. «Die Reise ins Reich» hat bei seinem Erscheinen eine Welle von Lob in bedeutenden Medien erfahren; die Süddeutsche Zeitung befand: «Eine große Leistung», und meinte damit nicht zuletzt einen neuen, literarischen Ton, den Ginsburg in die investigative Reportage einführte. Ginsburg begegnet den Menschen eher mit Neugier denn mit Abneigung, lässt Raum sogar für Sympathie auch mit den Unsympathischen. Das Buch erscheint in einer aktualisierten, überarbeiteten und um neue Kapitel erweiterten Fassung.

 

«Ginsburg begegnet – und das ist eine große Leistung – den Menschen auf seiner Reise eher mit Neugier denn mit Abneigung.» Süddeutsche Zeitung

 

«Wortmächtig und messerscharf.» Hamburger Abendblatt

 

«Ein leidenschaftlicher Aufklärer.» MDR Sachsenspiegel

Vita

Tobias Ginsburg, Jahrgang 1986, ist Autor und Regisseur. Er studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Philosophie. 2016 war er Fellow des Hanse-Wissenschaftskollegs, 2020 erhielt er das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung.

Inhaltsübersicht

Motto

Vorbemerkung zur Neuausgabe

Ideologischer Katastrophentourismus

Eins Die Reise an den Rand des Wahnsinns

Das Königreich und die Krankheit

Das Königreich und die Nazis

Patera erwacht

Ernie und die Esofaschisten

Das Königreich und die Zukunft

Zwei Die Reise an die Querfront

Staatenlos

Die Verschwörung zu Kassel

Moskau und Frieden

Querfront marschiert

Drei Die Reise ins gute alte Deutschland

Jawoll! – Jürgen Elsässers Hassmanufaktur

Zum Beispiel Kahla

Wahlkampf und Weltenbrand

Monaco an der Memel

Vier Die Rückkehr ins Reich

Schlimme Angst in schlimmen Zeiten

Neue Symptome, alte Krankheit

Danksagung

«Du siehst, ich bin der Herr! – Auch ich war verzweifelt, da baute ich mir aus den Trümmern meines Gutes ein Reich. – Ich bin der Meister!»

Alfred Kubin, Die andere Seite

Vorbemerkung zur Neuausgabe

Das Reich reist mir hinterher.

Zweieinhalb Jahre sind vergangen, seit ich meine monatelange Undercover-Recherche in die Welt rechter Verschwörungsideologie beendet habe, seit ich Hass, Wahn und all die traurigen Geschichten hinter mir ließ und aus dem Reich wieder heimkehrte. Aber das Reich lässt mich nicht los. Es reist mir hinterher, rumort und expandiert. Es scheint mir näher und näher zu kommen. Uns allen.

Während ich diese Sätze schreibe, spült die Pandemie regelmäßig Zehntausende Menschen auf die deutschen Straßen und Plätze: Die Corona-Leugner demonstrieren. Sie demonstrieren gegen die Sicherheitsmaßnahmen und den Lockdown, sicher, aber genauso demonstrieren sie gegen das große Komplott, das sie hinter der Krankheit vermuten. Gruselgeschichten von Zwangsimpfungen, Mikrochips und Kinderhandel machen die Runde, und die Verschwörungstheorien verbreiten sich beinahe so schnell wie das Virus selbst. Rechtsextremisten, Reichsideologen, Verschwörungssüchtige und Verzweifelte stehen wieder schreiend Seite an Seite.

Dass in Krisen und nach Katastrophen der Glaube an große Verschwörungen und üble Machenschaften blüht, die Suche nach leicht verständlichen und verdaulichen «alternativen Wahrheiten» wächst, das ist keine Neuigkeit. Die Demonstrationen sind keine Überraschung. Aber das macht sie nicht weniger bedrückend. Sie sind nur die neueste Manifestation einer zusehends aggressiveren, brutaleren und tödlicheren Ausbreitung rechter Verschwörungsideologie. Nein, man darf dieses Spektakel nicht als das Treiben ein paar komischer Irrer abtun. Dafür ist viel zu viel Blut vergossen worden.

Allein in den letzten zwei Jahren ist so unfassbar viel Blut vergossen worden …

Am 1. Juni 2019 wird der hessische Regierungspräsident Walter Lübcke vor seinem Haus bei Kassel mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe ermordet. Sterben musste er, weil er sich für die Aufnahme von Geflüchteten starkmachte, denn sein Mörder ist Rechtsextremist und glaubt an Verschwörungstheorien. Der Täter war den Behörden bekannt, war früher mit seinem Spitznamen NPD-Stephan in der Neonaziszene unterwegs. Von der wandte er sich zwar zwischenzeitlich ab, versuchte wohl, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen, aber er kam nicht von seinen nazistischen Überzeugungen los. Nach seiner Verhaftung erklärte der geständige Mörder, dass ihm neben der «Ausländerkriminalität» besonders ein Thema keine Ruhe ließe: die Souveränität Deutschlands, der Glaube also, Deutschland sei kein souveränes Land, werde fremdbestimmt oder ferngesteuert. Dagegen wollte er vorgehen. Und auch deshalb griff er zur Waffe.

Am 9. Oktober 2019 werden zwei Menschen in Halle ermordet. Sterben müssen sie, weil sie sich zufällig in der Nähe der Synagoge aufhalten, denn ihr Mörder ist Antisemit und glaubt an Verschwörungstheorien. Der achtundzwanzigjährige Täter wollte in die Synagoge eindringen, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Er schafft es nicht, eine Holztür verhindert das große Massaker. Stattdessen tötete der frustrierte Mörder eine Passantin und einen Gast in einem Döner-Laden. Zuvor hatte sich der Mörder überlegt, ein Blutbad in einer Moschee oder einem Antifa-Kulturzentrum anzurichten, aber die Juden, glaubt er, stünden eben doch ganz an der Spitze der großen Verschwörung: Sie seien verantwortlich für den Niedergang des deutschen Volkes, für den Feminismus, die sinkenden Geburtenraten, den «großen Austausch». Und deshalb wollte er zum Massenmörder werden.

Am 19. Februar 2020 werden neun Menschen in der Innenstadt von Hanau ermordet. Zwischen 22 und 37 Jahre waren sie alt. Sie mussten sterben, weil sie einen Migrationshintergrund hatten, wie man so hässlich auf Deutsch sagt, denn ihr Mörder war Rassist und glaubte an Verschwörungstheorien. Er glaubte an unendlich böse und unendlich mächtige Eliten, die aus der Finsternis heraus die Weltgeschicke lenken und das deutsche Volk vernichten wollen – dagegen wollte er ankämpfen. Und deshalb erschoss er neun Menschen, fuhr anschließend nach Hause, tötete dort zuerst seine Mutter und danach sich selbst.

Das sind nur drei abscheuliche Taten mit tödlichem Ausgang, Taten, die das Land seit der Erstveröffentlichung dieses Buches erschütterten.

Und dann war da ja noch das Attentat auf eine Synagoge in Pittsburgh, Pennsylvania, am 27. Oktober 2018, bei dem elf Menschen ermordet werden.

Das Attentat auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch am 15. März 2019, bei dem 52 Menschen ermordet werden.

Das Attentat in der texanischen Grenzstadt El Paso am 3. August 2019, bei dem 23 Menschen ermordet werden.

Kaum fassbare Verbrechen, allesamt getrieben vom rechtsextremen Verschwörungsglauben: dem Glauben an den «großen Austausch», an geheime Regierungen und finstere Eliten, das Aussterben der «weißen Rasse» und an mächtige Juden … Und viel zu häufig werden verschwörungsideologische Gewalttaten als pathologisch oder als Folge häuslicher Gewalt abgetan. Das Reich kommt uns näher. Auch wenn viele das nicht sehen wollen oder können.

Seit einiger Zeit reise ich als Referent zu Rechtsextremismus und Antisemitismus durch Deutschland. Und egal wo ich bin – in der Hauptschule oder im Uni-Hörsaal, im entlegensten Dörfchen oder im hippen Großstadtviertel –, die Grundlagen rechtsextremen Denkens sind den meisten Zuhörern völlig fremd.

Wie sollte es auch anders sein? In der Schule liest man «Die Welle», schaut einen kitschig-schaurigen KZ-Film, lernt Jahreszahlen – und beschwert sich hinterher, dass dieses doofe Dritte Reich und die lästige Ermordung der europäischen Juden viel zu viel durchgekaut wurde. Aber wie ein Rassist seinen Rassismus begründet, wie der Antisemit seinen Judenhass legitimiert, wo die Attraktivität solcher Vorstellungen liegt, damit beschäftigt man sich nicht.

Und Verschwörungstheorien findet man kurios und ein bisschen putzig. Die kennt man aus Fernsehbeiträgen, bei denen man sich vor armen Irren und wirren Esoterikern gruseln kann. Dass genau diese Verschwörungstheorien in Deutschland mal Konsens waren, dass sie in der rechtsextremen Szene mit religiösem Eifer geglaubt werden, dass sie Terroristen zu ihren Anschlägen verleiten – das weiß man dagegen nicht.

Na gut, vielleicht lernen wir das jetzt. Nach all dem Morden und dem in der Pandemie stetig lauter werdenden Verschwörungswahn. Ein wenig spät, aber immerhin.

Tatsächlich dürfte manches von dem, was ich während meiner Reise 2017 erlebt habe, was mich damals noch schockierte oder verblüffte, einigen Lesern mittlerweile bekannt sein: Phänomene, die man noch vor ein paar Jahren an den Rändern der Gesellschaft suchen musste, und Ideen, die nur in klebrigen Kneipen und stramm rechten Internetforen zu finden waren, sind mittlerweile so etwas wie trauriger Alltag geworden.

 

Bis auf den neuen Teil «Die Rückkehr ins Reich» habe ich den Text größtenteils unverändert gelassen. Hier und da ein paar Aktualisierungen, in erster Linie von Zahlen und Statistiken, einige Ergänzungen und ein neues Kapitel am Ende des zweiten Teils. Aber dieses Buch ist und bleibt eine literarische Reportage von einem, der etwas blauäugig in eine seltsame Welt hineinstolpert und dort in erster Linie Menschen kennenlernt – mögen sie auch bemitleidens- oder verachtenswert sein, darum ging und geht es mir.

Von den neuen Entwicklungen und dem einstweiligen Höhepunkt der Verbreitung rechten Verschwörungsglaubens, der grassierenden Pandemie aus Viren und Paranoia, erzähle ich im neuen letzten Teil. Denn natürlich musste ich mir die Corona-Demonstrationen und den «Sturm auf Berlin» aus nächster Nähe anschauen, selbstverständlich hatte ich das große Verlangen, zumindest einige meiner alten Reichsbekanntschaften wiederzusehen. Meine Neugierde war größer als jedes Infektionsrisiko und die Sorge um meine psychische Hygiene.

Das Reich lässt mich eben nicht los.

Und es lässt mich nicht in Ruhe.

Uns alle nicht.

 

Neuschwabenland, im Sommer 2021

Ideologischer Katastrophentourismus

Gute acht Monate war ich auf Reisen. In dieser Zeit schloss ich Freundschaften, studierte Verschwörungstheorien und lernte so richtig gut hassen, nahm eine neue Identität an, trank Mondwasser, ließ meine Chakren einrenken, schmiedete einen Komplott zum Sturz der Regierung, griff nach der Macht, tanzte mit Hippies, soff mit Nazis, aß viele Schnitzel, soff mit dezidierten Nicht-Nazis, aß viele Würste und plante eine neue Heimstätte für das unterjochte deutsche Volk. Und weil ich nie wusste, ob ich schon viel zu viel oder noch viel zu wenig gesehen hatte – das weiß ich übrigens bis heute nicht –, zog es mich immer wieder zurück in das schier grenzenlose Reich rechter Verschwörungsideologie. Es ist auch wirklich nicht einfach, sich zielstrebig durch eine formlose Sumpflandschaft voller Irrlichter zu navigieren.

Als ich mich aufmachte, glaubte ich noch, die Recherche nach maximal ein paar Wochen abschließen zu können. Ich wollte dem Phänomen der Reichsbürger und Staatsleugner hinterherrecherchieren, wollte diese Bewegung kennen- und verstehen lernen. Ein Phänomen, das lange Zeit als kuriose Randnotiz im Katalog des politischen Extremismus abgetan wurde. Das änderte sich schlagartig mit dem 19. Oktober 2016, als im mittelfränkischen Georgensgmünd Schüsse fielen. Die Polizei stürmte ein Haus, das vom Besitzer zum autonomen «Regierungsbezirk» erklärt worden war. Massenhaft Waffen hatte er gehortet, die sollten sichergestellt werden. Doch der Reichsbürger, der «freie Mensch Wolfgang», eröffnete das Feuer. Vier Polizisten wurden verletzt, einer von ihnen in die Lunge getroffen. Er starb am nächsten Morgen im Krankenhaus. Und mit einem Schlag richtete sich der Blick auf diese lange unterschätzte Gefahr.

Aber auch wenn der Staat sich nun mit diesen erklärten Feinden der Bundesrepublik auseinandersetzte und gegen sie vorging, und auch wenn die Presse nun voll war mit allzu oft sensationalistischen Berichten: Das Bild der Reichsbürger als Gruppe skurriler Außenseiter, kruder Verschwörungstheoretiker und verzweifelter Irrer blieb bestehen. Gefährlich waren sie, das hatte der Polizistenmord eindrücklich bewiesen, aber wie sollte man sie ernst nehmen? Man sah doch die Bilder gescheiterter Existenzen, die Bilder wirrer Typen, die sich zum König, Kaiser oder Kanzler aller Deutschen erklärten, oder die als Selbstverwalter ihre Wohnung zum Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Staat erklärten.

Aber solche Darstellungen kratzen bloß müde an der Oberfläche.

Als ich mich im Frühjahr 2017 aufmachte, traf ich nicht nur auf eine immens vielfältige und breite Bewegung ganz unterschiedlicher Menschen aus fast allen Gesellschaftsschichten. Ich stolperte naiv in eine Welt rechten Verschwörungsdenkens und rechtsradikaler Verschwörungsideologie.

Wo habe ich mich also rumgetrieben?

Ich war in einem Reich, das es nicht gibt und niemals gab und in dessen Zentrum eine zentrale Verschwörungstheorie steht: Das deutsche Volk ist Opfer einer weltweiten Verschwörung, und die Bundesrepublik ist ein Teil dieses üblen Komplotts – und darum eben kein souveräner, legitimer oder echter Staat.

Manchmal klingt das so: Das Deutsche Reich hat nie kapituliert und dauert immer noch an, es gelten die Grenzen von 1937!

Oder so: Deutschland hat weder Friedensvertrag noch Grundgesetz! Die Alliierten haben uns in der Hand!

Gerne auch: Die deutschen Politiker sind nur Agenten und Marionetten im Kampf gegen das eigene Volk, dahinter steckt eine gefährliche Schattenregierung!

Oder: Die BRD ist bloß eine Firma mit Sitz in Frankfurt am Main!

Oder ganz simpel: Wir leben in einer kriminellen Diktatur!

Oder, oder, oder.

Wer hinter dieser großen Verschwörung stecken soll? Meistens sind es graue Eminenzen der Hochfinanz. Oder mächtige Logen. Manchmal Illuminaten, überraschend häufig Satanisten. Manchmal gar Echsenmenschen, die im Fleischkostüm die menschliche Zivilisation unterwandern. Oder es sind die Juden.

Als ich mich auf meine Reise begab, war mir nicht klar, dass die Wahnvorstellung von der jüdischen Weltverschwörung wieder in so einem Ausmaß grassiert. Ich bin Jude – nach einer Weile nimmt man so was persönlich. Ich bin trotzdem eifrig weitergereist. Vielleicht, weil mich die Menschen, denen ich begegnete, einfach interessierten. Weil mir ein paar sogar was bedeuten. Ganz sicher aber auch, weil ihr seltsames Reich unserer scheinbar normalen Welt oft erschreckend ähnelt – und sich die Gebiete bereits großräumig überlappen.

Es war der große, halbwache Wahlsommer 2017, und viel wurde debattiert über das Erstarken der Rechten. Die ständigen Provokationen der AfD wurden analysiert, ihr Erfolg erklärt, wieder erklärt, ihre Strategien offengelegt: wie sie sich in Opferpose schmeißen. Wie sie ihre Gegner pauschal als Volksverräter oder Faschisten beschimpfen. Wie sie ein Bild zeichnen von einem unterdrückten, verratenen, verfolgten Volk im Kampf gegen eine übermächtige Elite, die uns das eigentliche, das wahre Deutschland gestohlen hat.

Und mir Reichsreisenden kam das alles so verflucht bekannt vor.

Da raunt die Rechte etwa von einem Bevölkerungsaustausch: Sie phantasiert, die illegitime oder kriminelle Regierung wolle das deutsche Volk mit muslimischen Migranten nach und nach ersetzen. Ein furchterregender Prozess mit der unheimlichen Bezeichnung «Umvolkung». Einen «Genozid am deutschen Volk» nennen das manche oder gleich einen Plan zur «Vernichtung der weißen Rasse». So klingt die Verschwörungstheorie der Stunde. Sie wird uns in diesem Buch immer wieder über den Weg laufen.

19000 Reichsbürger und Selbstverwalter soll es laut Verfassungsschutz in Deutschland geben, aber diese konservative Schätzung ist mit Vorsicht zu genießen. Denn gezählt werden können natürlich nur diejenigen, die sich auch entsprechend in der Öffentlichkeit verhalten, ihr Leben nach ihren Überzeugungen ausrichten – die wenigstens einer Gruppe angehören, sich mit den Behörden anlegen oder die Reichskriegsflagge im Schrebergarten hissen. Und die meisten, die etwas zu verlieren haben, einen intakten Lebensentwurf, eine Karriere, oder einfach etwas cleverer sind, die werden den Teufel tun und sich als Reichsbürger, Verschwörungsfundamentalist, Rassist oder Antisemit zu erkennen geben. Die meisten meiner Bekanntschaften würden sich viel eher als Systemkritiker, Querdenker oder Widerstandskämpfer bezeichnen. Das klingt auch einfach besser.

Die Verschwörungstheorien sind aus dem ideologischen Sumpfgebiet längst ausgebrochen, vom rechtsradikalen und verwirrten Rand rein in die Gesellschaft. Wo hört das Reich auf? Wo fängt das Bürgertum an? Das ist manchmal schwer zu sagen. Das Reich ist eben groß und unübersichtlich. Und so soll dieses Buch auch als kleiner Atlas dienen.

Im ersten Teil berichte ich vor allem über meine Zeit in den Kreisen und Gruppierungen, die am ehesten dem geläufigen Bild von Reichsbürgern, Selbstverwaltern und Verschwörungsgläubigen entsprechen. Es war vor allem meine Zeit im «Königreich Deutschland», einer sektenhaften Kommune, die mir diese exotisch und befremdlich wirkende Welt nahebrachte, bewohnt von Verschwörungsfundamentalisten und Esoterikern, die sich mitunter auf dem Gerippe einer hohlen Erde im Kampf gegen finstere Eliten glauben.

Wie weit das Netz dieser Denke allerdings reicht, wie anschlussfähig es ist, das beschreibt der zweite Teil des Buchs: Hier konnte ich Querfrontbestrebungen aus nächster Nähe erleben, sehen, wie qua Verschwörungsideologie gefährliche Allianzen versucht wurden, die von harten Neonazis über Ökos und hippiesken Aussteigern bis hin zu einem weißen mittelständischen Bürgertum reichten.

Und schließlich sind da eben die organisierten und institutionalisierten Rechten, um die soll es im dritten Teil gehen: nicht nur Neonazis, bei denen die Reichsideologie und Vorstellung der illegitimen Bundesrepublik ihren Anfang genommen hat, sondern auch Neu-Rechte, rechtspopulistische Spitzenpolitiker und normale «besorgte» Deutsche, die auf demselben ideologischen Boden wandeln.

Meine Reisen führten mich so vom äußersten Rand der Gesellschaft immer mehr in ihre Mitte – auch wenn die Grenzen oft verschwimmen. Und ständig trifft man Verirrte, die nicht begreifen, durch was für eine Ideenlandschaft sie da tappen. Ich tappte eine ganze Weile mit ihnen mit. Ich versuchte die Verschwörungssüchtigen und Reichsideologen zu verstehen, ihren Blick auf die Welt und ihren Blick auf uns.

In diesem Buch beschreibe ich all diese Menschen und ihre Gedanken, ich gebe den ganzen Mist wieder, reproduziere ihre Überzeugungen, wie man so sagt. Ich kann nur hoffen, dass es hilft: im Kampf gegen ihre Ideologien, hoffentlich auch im Umgang mit diesen Menschen. Vielleicht hilft der Blick in ihre bizarre Spiegelwelt aber auch, etwas über die unsrige zu verstehen.

An den Begebenheiten habe ich nur etwas abgeändert, wenn es mir unbedingt notwendig erschien: Mal wurde ein dreistündiges Telefonat aus dramaturgischen Gründen zu drei Sätzen, mal wurde aus drei Gesprächen eines. Generell habe ich die Namen aller Personen verändert, solange sie nicht selbst in der Öffentlichkeit stehen oder sie aktiv suchen, gelegentlich auch Umstände und Lebensläufe leicht umgeformt, um einzelne Identitäten unkenntlich zu machen. Na gut, und zwei-, dreimal habe ich Personen auch verunklart, weil ich mir Sorgen mache, sie sonst irgendwann vor meiner Haustür wiederzutreffen. Das muss auch nicht sein.

EinsDie Reise an den Rand des Wahnsinns

Von Königen, Faschisten und der Esoterik

Das Königreich und die Krankheit

Das Versprechen

Wir sitzen um ein hoch in den Himmel fackelndes Lagerfeuer herum. Wenn das Wetter es zulässt, hocken die Bewohner des Königreichs Deutschland hier jeden Abend. Die Feuerstelle liegt hinter dem Hauptgebäude, zwischen Parkplatz und lichtem Birkenwäldchen, inmitten des neun Hektar großen Staatsgebietes, einem ehemaligen Krankenhausgelände, umgeben von Maschendrahtzaun, umschlossen von der Bundesrepublik Deutschland.

Feindesland.

Betäubende Harmlosigkeit sickert aus jedem milden Lächeln, albernen Witz und verständnisvollen Nicken der knapp dreißigköpfigen Abendgesellschaft. Drei Männer umkreisen mit sachkennerischem Gesichtsausdruck das Feuer und legen übertrieben große Holzscheite nach, die Mädchen piksen sich gegenseitig ihre Finger in die Rippen und lachen quietschend auf, und der Österreicher verteilt ein paar Bierflaschen aus seinem Privatbesitz. Das sind die aufregenden Geschehnisse. Die anderen sitzen in gemäßigter Lustigkeit um das Feuer herum, und Elrond der Hund jagt eine Heuschrecke oder etwas Vergleichbares durch das hohe Gras.

Selbst wenn ich nicht wüsste, was hinter diesem einträchtigen Beisammensein steckt (und ich weiß es zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur so halb), selbst dann wäre mir der hart harmonische Umgangston fürchterlich nervig vorgekommen. Aber dann beginnt Johannes neben mir auf der Bank zu erzählen, und mir wird immer schlechter.

Johannes und ich sind beide Wochenendgäste des Königreichs. Wir haben uns beim Rauchen am Zollhäuschen kennengelernt, denn das Königreich ist ein strenges Nichtraucherreich, und qualmend sind wir dann die deutsch-deutsche Grenze entlangspaziert, haben uns die Vorgärten auf der BRD-Seite angesehen, über unsere Zukunftsängste geredet und über einen ganz abscheulichen Gartenzwerg gelacht. Irgendwie war das sehr nett. Johannes ist zwar völlig irre, aber ich kann ihn gut leiden. Er ist Anfang vierzig, wirkt beim Lachen wie ein kleiner Junge und führt ein normales Leben in Deutschland. Er hat einen guten Job bei einem großen Industriekonzern, verdient sein Geld, zahlt seine Steuern, fährt sein Auto, geht in den Supermarkt, ins Kino und zum Elektrogroßhandel, schaut Fußball, streichelt Hunde, reserviert Tische, leckt an Briefmarken, frühstückt belegte Vollkornbrötchen, wartet an roten Ampeln, geht bei Grün, atmet Sauerstoff ein und Kohlenstoffdioxid aus. Aber dann ist er eben auch aus tiefster Seele davon überzeugt, dass der Staat eine von finsteren Kräften geführte Firma und Foltermaschinerie ist, die ihn und das deutsche Volk bestrafen soll.

Gerne würde er sich wehren, sagt Johannes, eigentlich müsste er sich wehren, sagt er, irgendwas müsse man ja tun, müsse man doch, und er schaut suchend in die Runde und dann auch flehentlich zu mir. Glutfunken sausen durch den dunkelblauen Abend, und Johannes berichtet vom Albtraum, als den er seinen Alltag in der BRD wahrnimmt. Seine Familie, seine Freunde und Bekannten sind alle hirngewaschen und kaputt, völlig kaputt, sagt er, machen sich über ihn lustig, nennen ihn einen Verschwörungstheoretiker. Vor ein paar Monaten hat ihn schließlich seine Frau verlassen. Sie hat ihn und seine Wahrheiten nicht mehr ertragen. Er hatte kurz zuvor beinahe seine gesamten Ersparnisse abgehoben und dafür Gold und Silber gekauft. Der Edelmetallhändler hatte amüsiert den Kopf geschüttelt, seine Frau ihn als dummen Idioten beschimpft. Aber die werden sich noch wundern, sagt Johannes, sobald der große Knall kommt. Die milden Gesichter der Anwesenden trösten ihn, aber Johannes ist einsam. Er ist verzweifelt. Aufrichtig verzweifelt. Alles Gute, Wahre und Schöne ist ihm von bösen, nein, von dämonischen, nein, satanischen Mächten genommen worden, und er weiß nicht mehr weiter.

Die milden Gesichter nicken, und Elrond der Hund schnüffelt an einem Blümchen.

Vieles an dieser Situation kann einem Angst einjagen. Zum Beispiel, dass Menschen so einen albtraumfarbenen Mist denken können und dass andere Menschen solche Gedanken teilen – oder, schlimmer noch, solche Gedanken hinnehmen, ohne sie selbst zu glauben. Es kann einem Angst machen, dass Menschen, die so was denken, so normal aussehen. Und dass die Menschen, die zuhören, dabei so brutal milde rumglotzen können.

Aber am erschreckendsten ist die Verworrenheit, die entsetzliche Ununterscheidbarkeit in diesem Moment. Ich kann nicht zwischen gefährlich und verschroben unterscheiden, zwischen Überzeugung und Psychose, zwischen Wahnsinn und Kalkül.

Wenn ich mit Sicherheit sagen könnte, dass ich hier im Königreich von Spinnern und Geisteskranken umrundet wäre, dann würde es mir bessergehen. Dann wäre es leicht, das alles auszuhalten. Dann könnte man nach Hause fahren. Aber auch wenn die wirren Gedanken im Reich wie Fieberschübe wirken – dahinter steckt System.

Ach, Johannes: Man kann zwar nur mutmaßen, wie es klinisch gesehen um seinen Kopf bestellt ist, aber seine seelischen Schmerzen sind offensichtlich. Das Königreich Deutschland verspricht ihm Linderung: Es ist nicht weniger als die Utopie eines wahren und besseren Landes, in dem all das empfundene Übel dieser Welt keinen Platz mehr hat. In diesem Deutschland wird Johannes’ Goldschatz Millionen wert sein und seine Frau zu ihm zurückkommen. Ganz sicher.

Dieses Heilsversprechen wird ihm überbracht vom Freiherrn Benjamin von Michaelis.

Der Adelstitel hat es verraten: Freiherr Benjamin ist eine große Nummer in dem kleinen Land. Seit der König im Juni 2016 in Untersuchungshaft kam, steht von Michaelis gemeinsam mit Vizekönig Martin an der Spitze des neun Hektar großen Staates. Freiherr Benjamin ist jung, drahtig und geschniegelt. Er trägt Gel im dünnen Haar, ein Henri-Quatre-Bärtchen im Gesicht und ein eingefrorenes Lächeln auf den Lippen. Er hat sich zu uns gesetzt und aufmerksam Johannes’ Wehklagen gelauscht.

Die übrigen Untertanen widmen sich ihren eigenen Gesprächen, während Benjamin auf Johannes einredet. Mit weichgespülter Sprache und öligem Timbre präsentiert er dem verwirrten Johannes Antworten: Man müsse nur an das Königreich glauben. Egal wie schlimm die Welt jenseits des Maschendrahtzauns auch sein mag: Das Böse könne besiegt werden, allein mit Liebe und mit Glaube an das wahre Deutschland. Das wiederum könne niemand niemals nie vernichten.

Das sagt der Freiherr mit furchtbar vielen Worten. Mit langsamen und präzise gesetzten Bewegungen spiegelt er dabei sein Gegenüber. Er fixiert Johannes mit intensivem Blick und blinzelt nur an Satzenden oder wenn er einen Punkt ganz besonders hervorheben will. Von Zeit zu Zeit berührt er Johannes’ Schulter und nickt ein ungeheuer langsames Nicken. Ich kenne solche suggestiven Kommunikationspraktiken in erster Linie von Weiterbildungsseminaren, die gerne überambitionierten BWL-Studenten und Unternehmensberatern angeboten werden. Aber für den Anwendungsbereich Psychosekte eignen sie sich offensichtlich auch hervorragend.

Und warum leidet Johannes so? Der Freiherr gibt die Antwort: Weil Johannes nicht genug an die gemeinsame Vision glaube und nicht genug dafür tue, so spricht der junge Aristokrat, und Johannes schrumpft vor ihm zusammen. «Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin … Ich bin so wütend», murmelt er mit verblüffend leerem Gesichtsausdruck. Benjamin wirkt im flackernden Licht des Feuers mit seinen weit aufgerissenen Augen wie ein regelrechter Bösewicht. Er, der Phantasieadelige, hat den verzweifelten Mann jetzt fest in der Hand, und ich bin begeistert, gleich an meinem ersten Tag hier einen skrupellosen Demagogen kennenzulernen.

Irgendwann später wird Benjamin mir erzählen, dass seine Mutter von Anfang an eine glühende Verehrerin des Königs war und ihn bald hinzuholte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dazuzugehören. Täter und Opfer: noch so eine Kategorie, die sich hier auflöst … Oder es fällt mir bloß schwer, die Existenz skrupelloser Demagogen zu akzeptieren. Besonders wenn man mit ihnen zusammen am Lagerfeuer sitzt und die Grillen so nett zirpen.

Johannes und der Freiherr sprechen noch lange miteinander. Über die Unmöglichkeit, da draußen zu leben, über die Schwierigkeiten, es hier drinnen zu tun, über die Notwendigkeit, es dennoch zu versuchen und sich nicht von der ganzen Anti-Reichsbürger-Propaganda fertigmachen zu lassen. Manchmal bricht die Wut aus Johannes, und die Worte zischen zwischen seinen Zähnen hervor: «Wir sind doch die Friedlichen», schäumt er dann etwa, «die suchen doch den Kampf! Da muss man doch …» Aber der Freiherr Benjamin beruhigt ihn gleich wieder mit kontrolliert-sanfter Körpersprache und geradezu postkoitalem Tonfall. Er bestätigt Johannes in allen seinen Ängsten und bietet ihm Hoffnung. Im Austausch für Hingabe. Und finanzielle Unterstützung, versteht sich.

«Aber wir können ja nicht alle im Königreich leben», traue ich mich irgendwann zu sagen. «Wie soll man denn friedlich bleiben, wenn man da draußen im Feindesland leben muss? Wenn du recht mit allem hast, dann müssen wir uns doch irgendwann wirklich wehren.»

Benjamin verzieht keine Miene, aber er hat offensichtlich bemerkt, dass ich weder die richtige Lingo noch den korrekten Umgangston beherrsche. «Es gibt weder Freund noch Feind», belehrt er mich. «Das Universum spiegelt gute Energien zurück, das ist das Resonanzprinzip. Behalte deine Hoffnung, dann hast du nichts zu befürchten.» Das Problem sei nur meine Denke, «und auf lange Sicht sind natürlich alle Menschen im Königreich willkommen. Das wird auch möglich werden, wenn die Menschen endlich aufwachen und aufhören, so skeptisch zu sein.»

«Aufwachen» soll ich. Um dieses Wort dreht sich viel, nicht nur im Königreich, sondern in der ganzen verschwörungsideologischen Szene. Wir sind die Aufgewachten. Die da draußen schlafen tief und fest. Das sind die «Schlafschafe». Sheople auf Englisch: die dummen, gutgläubigen Schafsmenschen, die nicht sehen wollen oder können. Und dann sind da natürlich noch die Verschwörer selbst, die mächtigen Drahtzieher und ihre Lakaien. Denen müssen wir die Stirn bieten, wir wenigen. Wir wachen, wahren Deutschen.

Johannes knufft mich aufmunternd in die Seite: «Ist doch phantastisch hier, oder?» Dann verkündet er, dass er in einigen Monaten genug Geld beisammenhabe, vielleicht schon Ende des Sommers, dann werde er seine Wohnung verkaufen, seinen Job kündigen, die letzten Verbindungen zu seinem bürgerlichen Leben kappen und herziehen. «Wenn ihr mich haben wollt», fügt er an.

So einfach ist das nicht, sagt der Freiherr und lächelt zufrieden, es gibt da natürlich eine Probezeit. Aber er sei da ganz optimistisch.

 

«Das war so ein schöner Tag», sagt später einer der aufgewachten Untertanen und guckt romantisch in das kleiner werdende Feuer: «Manchmal glaube ich, ich träume.» Der Freiherr Benjamin pfeift Bobby McFerrins «Don’t Worry, Be Happy». Dann ein leises Donnern und erste Regentropfen, ein Gewitter zieht auf. Das ist mir viel zu dramatisch. Aus Protest gehe ich sofort ins Bett.

Es war aber auch wirklich ein langer erster Tag.

Hinter Hitlers Sprengstofffabrik

Aber noch mal von vorne.

Das Königreich liegt in Sachsen-Anhalt, Lutherstadt Wittenberg, Apollensdorf-Nord, Bushaltestelle Hirschsprung. Wenn man der Busfahrerin die Haltestelle nennt, dann grunzt sie verächtlich. Ein Schild am Waldrand: «Vorsicht Lebensgefahr!» Es ist munitionsbelastetes Gebiet, das man dort passiert: das Gelände der ehemaligen Westfälisch-Anhaltischen Sprengstoff AG. Seit 1894 wurde hier TNT hergestellt. Hitler ließ die Fabrik 1933 ausbauen. Zwei Jahre wurde hier auf Hochtouren produziert, dann gingen 27 Tonnen Sprengstoff in die Luft und rissen fast einhundert Arbeiter in den Tod. Das Waldstück ist «Kampfmittelverdachtsfläche. Betreten verboten!» Hier muss ich also hin: hinter Hitlers zerstörter Sprengstofffabrik gleich rechts.

Der Bus hält am Rand einer Wohnsiedlung. Deutschlandflaggen in Vorgärten, Backsteinhäuser, ein zerbrochener Kaugummiautomat. Der Bus fährt ab, gibt den Blick frei auf das Königreich Deutschland in seiner ganzen Pracht.

Das Königreich ist die bekannteste Gruppierung der Reichsbürgerbewegung, in jedem Fall die medienwirksamste. Unzählige Journalisten und Kamerateams wurden im Königreich empfangen. Bild-Zeitung, Spiegel TV, MDR und Vice scheinen in Apollensdorf-Nord ganze Dependancen errichtet zu haben. Aktivistengruppen warnen vor den gefährlichen Wahnsinnigen, und knallbunte Esoterikseiten im Internet machen Werbung bei Aussteigern. Das riesige Interesse an der Politsekte ist nicht zuletzt der lautstarken Öffentlichkeitsarbeit des Königs zuzuschreiben. Wenn Peter Fitzek eine Sache kann, dann Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Fitzek war Koch, Karatelehrer, Videothekenbesitzer und betrieb einen Esoterikladen in Wittenberg, aber eigentlich begriff er sich schon immer als Diener Gottes und des Menschen. Sagt er zumindest. Die BRD hingegen begreift er als Lügenkonstrukt der Besatzer und Hort der Ungerechtigkeit. Und weil er ein Macher ist, machte er sich an die Arbeit.

2009 gründete er zunächst den Verein «NeuDeutschland», dann eine Gesundheitskasse für Homöopathie, Geistheilung und ähnlich phantasievolle Verfahren. Es folgten eine Haftpflichtversicherung, eine Rentenkasse, eine Internet-Handelsplattform, die Königliche Reichsbank samt Filiale in der Wittenberger Fußgängerzone und eine eigene Währung: der Engel oder auch E-Mark. Im September 2012 wurde der gelernte Koch zum Souverän, zum Imperator Fiduziar, zu König Peter I. Und davon gibt es ein Video.

Seinen beeindruckenden Titeln entsprechend trägt Peter bei der Gründungszeremonie seiner Mikronation einen Hermelinmantel, auch wenn der arg nach Karneval und Polyester aussieht. Die Bühne ist in ein grünlich dämmerndes Scheinwerferlicht gehüllt und von Klassikradiohits beschallt, die Wittenberger Industriehalle mit zweihundert zahlenden Gästen gefüllt. Alle schauen sie bedeutsam drein, aber keiner so bedeutsam wie Peter. Ein Mann mit ausgeprägter Nase und Kinn, dünnen dunkelroten Lippen und forderndem Blick, sein verbliebenes Haar am Schädel festgegelt und zu einem unappetitlichen Pferdeschwanz gebunden, der ihm wie ein nasses Seil vom Hinterkopf baumelt. Mit einem Stab schlägt ein Zeremonienmeister dreimal auf den Boden, und Fitzek lässt sich Reichsapfel, Krone und Schwert überreichen. Alles passiert mit großen Gesten und stocksteifen Bewegungen. «In dem Bestreben, den Deutschen nach über sechzig Jahren wieder eine Heimat in wahrer Freiheit» zu geben, ruft Peter Fitzek seinen neuen deutschen Staat aus. Nur zwanzig Minuten und einen Kniefall dauert es, schon ist die Monarchie gegründet. Später gibt es warmes Buffet und die musikalische Darbietung eines wahrheitsbewegten Hiphop-Duos, das über die 9/11-Verschwörung rappt. Besonders wichtig sei ihm gewesen, sagt Peter, dass der Gründungsakt «in der juristisch korrekten Reihenfolge» abgehalten werde.

Geholfen hat das nicht. Als ich sein Reich besuche, treffe ich den König selbst nicht an: Peter Fitzek sitzt gerade im Gefängnis. Gut 1,3 Millionen Euro sind aus seinen Kassen verschwunden. Wo das Geld hin ist? Nicht mehr nachzuvollziehen. Die Engel sind einfach weggeflogen. Die Bank wurde geschlossen, die bunt bedruckten Banknoten beschlagnahmt. Der Regent kam für illegale Bankgeschäfte und Veruntreuung ins Gefängnis. Zwei Wochen bevor ich sein Reich besuche, spricht das Landgericht Halle das Urteil: drei Jahre, acht Monate. Er geht natürlich sofort in Revision.

Ich nähere mich dem Zollhäuschen mit dem weiß-rot gestrichenen Grenzbaum. «Königreich Deutschland» prangt da in goldener Schnörkelschrift, wie auf einem Groschenroman über verliebte Fürsten. Vom Dach des Hauptgebäudes weht mir die Landesflagge fröhlich entgegen: gold, rot, schwarz mit einer weißen aufgehenden Sonne, die einundzwanzig weiße Strahlen über die patriotischen Farben wirft.

Sie ist sehr hässlich.

Vision und Tat

Kaltstrenges Lächeln, entschlossener Händedruck. Freiherr Benjamin bringt mich über die Grenze, die Einreiseformalien können wir später regeln, sagt er, denn das Treffen hat schon begonnen. Auf dem Vorplatz, dem «Petersplatz», wie ein Straßenschild in gotischen Lettern verrät, steht eine Gruppe von knapp vierzig Menschen, die Hälfte davon Gäste.

Ich versuche, die Menschen zu kategorisieren. Da sind drei proper gekleidete junge Männer mit selbstsicherem Blick, das Emblem des Königreichs auf die Hemden gestickt. Ansonsten ältere Herrschaften in bunten Funktionsjacken, fusselige Öko-Typen, kleinbürgerliche Flanellhemdträger und, noch viel erstaunlicher, entsetzlich normal ausschauende Leute. Johannes ist einer von ihnen. Er strahlt mich an, als habe er auf mich gewartet. Leises Geplapper, Ferienlageratmosphäre.

«Wir fangen hier in der Regel pünktlich an», schimpft ein glatzköpfiger Mann mit Klemmbrett. Er weist die anstehenden Arbeiten zu: Holz sägen, Böden schrubben, Küchendienst, Pflanzen umtopfen. Man besucht das Königreich nicht einfach so, man arbeitet hier ganz praktisch an der besseren Welt. «Vision und Tat» nennen sich diese Wochenenden.

Optisch liegt das Reichsgelände zwischen bürgerlicher Spießigkeit und ruinösem Zerfall, durch und durch schwer einzuschätzen, nicht viel anders als seine Bewohner und Besucher. Auf der nördlichen Seite ist der Komplex gepflegt, das Gebäude sauber, der Rasen gemäht. Der Südflügel hingegen verwittert, Wildwuchs und halbkompostierte Laubhaufen auf braun geflecktem Rasen.

Abenteuerspielplatz, Schrebergarten, Ruine. Alles zugleich.

«Also an die Arbeit! Wir sehen uns um halb eins beim Mittagessen.»

Der Österreicher und die Romantik

Der Österreicher, der mich zu meinem Zimmer führt, ist ein massiver Mann mit Herrendutt. Ein verwaschenes Tattoo schlängelt sich bis unter seinen Kiefer. «Wir leben Alternativen» steht auf seinem Shirt. Er lächelt liebenswürdig.

Wir passieren einen langen und sterilen Gang, den ersten von sehr vielen. Das Reich besteht zu einem guten Teil aus einer Reihe solch langer und steriler Gänge. Einzelne kurios platzierte Sessel und Stühle sollen dem Ganzen wohl eine heimelige Atmosphäre verleihen. Heimelig und unheimlich liegen bekanntlich nah beieinander.

Der Österreicher redet ununterbrochen, erzählt von Gott und der Welt, wobei der Fokus klar auf Gott liegt. Seit er im Königreich lebt, sagt er, spürt er wieder den göttlich-kosmischen Funken in seiner Seele. Seine Schuhsolen quietschen bei jedem Schritt. Er deutet auf die Türen: Verwaltungsbereich. Filmstudio. Büros. In einer kleinen Bibliothek stehen Bücher wie «Machtwechsel auf der Erde», «Der Kult mit der Schuld» oder «Das schwarze Reich. Templerorden – das Dritte Reich – CIA». Dazu ein halbes Regal voll mit juristischen Standardwerken. Und «Wege zur Entdeckung feinstofflicher Welten. Praxisbuch zur Entwicklung medialer Fähigkeiten». Das hat Peter Fitzek selbst verfasst.

«Wir machen weiter, auch ohne Peter. Besonders ohne Peter», sagt der Österreicher. «Das sind wir ihm schuldig.» Seine Stimme beginnt zu hüpfen, wird zu einem zärtlichen Singsang. «Ich habe nie einen Menschen wie Peter kennengelernt, mit so viel Liebe. Und Geschäftsgeist!»

Im Treppenhaus zwei dekorative Holzgiraffen. Sie schauen mich mit blicklosen Augen an und wirken immens deplatziert. Ich kann mich gut mit ihnen identifizieren. Dann Topfpflanzen, Traumfänger und bunte Bilder von lichtumspülten Engelsgestalten im Wohnbereich, handbeschriebene Namensschilder an den Türen. Auch an meiner.

Im Vorfeld eines Besuchs hat man per «E-Post» eine Kopie des Reisepasses ans Königliche Meldeamt zu senden. Ich schaue auf meinen Namen und ärgere mich. Was, wenn mir so ein Österreicher irgendwann aufs Maul geben will? «Das Königreich ist ein Ort des Friedens», sagt er, ganz so, als wolle er mich beruhigen. «Ich freue mich für dich. Der erste Besuch ist was ganz Besonderes. Für mich war das wie Nach-Hause-Kommen.» Und er führt mich ins cremig rosafarbene Zimmer, ein ehemaliges Patientenzimmer, lehnt sich in den Türrahmen und stellt die Frage, vor der ich mich ein wenig gefürchtet habe.

«Jetzt erzähl mal. Was machst du so? Was hat dich zu uns geführt?»

 

Über diese Frage habe ich viel nachgedacht, vielleicht auch zu viel. Aber ich kann die Romantik nachvollziehen. Die Romantik des Aussteigens, der Verweigerung, des Rückzugs. Nach dem Abitur saß ich auch irgendwann mit meinem riesigen Rucksack vor einer altersschwachen Bretterbude in Christiania. Der autonome Stadtteil steht mitten in Kopenhagen, zwischen Hafen und Festungsgraben, zwischen Kommune, Drogenparadies und Touristenattraktion. Dreadlock-Studenten aus Spanien reichten mir einen speichelfeuchten Joint. Mit einem einheimischen Bildhauer diskutierten sie gerade die Abschaffung der Nationalstaatlichkeit. Man sprach über Urbanisierung und Regionalisierung, ein großes Ganzes voller Kommunen und ohne Grenzen. Ein Spanier mit besonders filzigen Wursthaaren kam dann irgendwann auf Fela Kuti: Der legendäre nigerianische Aktivist und Musiker hatte im Kampf gegen die Militärdiktatur seine Kommune zur befreiten Republik erklärt. Man könne dem Establishment kein größeres Fuck you entgegensetzen, als sein eigenes Land zu gründen, sagte der Wursthaarspanier. Ich weiß nicht mehr, wie schlau das Gespräch wirklich war, aber damals hustete ich süße Haschischwolken und war schwer angetan.

Von al-Baghdadi und seinem Islamischen Staat hatten wir damals alle noch nichts gehört. Und was ein Reichsbürger sein soll, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können.

 

«Was hat dich zu uns geführt?», fragt der Österreicher, und ich überlege mir, was in meinem Leben hätte anders laufen müssen, um mich zum Aussteiger zu machen, um mich aus der BRD und vor meinem Leben fliehen zu lassen.

Die Antwort: Gar nicht mal so viel.

Meine Misserfolge mache ich etwas größer, meine Erfolge kleiner. Wo ich Glück hatte, streu ich Pech drüber, und zum großen Glück habe ich eine klinische Depression, die hilft bei meinen Ausführungen ungemein. Klingt alles ganz plausibel. Ich mag die Vorstellung, nicht lügen zu müssen, sondern mich, oder eine Version von mir, in dieses Reich fallen zu lassen. Jetzt sei ich eben auf der Suche nach Alternativen, sage ich, nach einem Leben, in dem ich wieder atmen könne.

Der Österreicher hört mir lange zu, nickt, schaut, schweigt und spielt an den riesigen Steckern in seinen Ohrläppchen herum. «Peter hat mein Leben gerettet», sagt er, lächelt sein liebenswürdiges Lächeln, diesmal ganz besonders warm, schaut mich voll Verständnis an und lacht dann. Lang, laut und ansteckend, und ich lache mit. Gerne würde ich wissen, wie seine Lebensrettung aussah und worüber wir eigentlich lachen, aber da marschiert er schon wieder los. «Komm, ich bring dich runter. Am Anfang verläuft man sich hier leicht.»

 

Der Österreicher legt mir fürsorglich seine Hand auf die Schulter. Wir stehen wieder vor der Klinik in der Sonne, und er sagt etwas über eine göttliche Schöpfungsordnung. Allein um die gehe es in der Welt. Also in seiner Welt. In Fitzeks Welt. Und er will mir Mut machen, glaube ich, er redet mir jedenfalls gut zu. «Das ganze System da draußen soll uns von der Wahrheit abbringen, aber das schaffen die nicht», oder so was in die Richtung sagt er, und ohne dass ich gefragt hätte, beginnt er mir aufzuzählen, wie die-da-draußen die göttliche Ordnung vernichten wollen: mit ihrer Bundesrepublik, ihren Behörden, ihrem Kapitalismus – der Österreicher verliert sich in den Beispielen, spricht von genmanipuliertem Essen und der Kirche und von Impfungen, besonders von Impfungen, die unsere Kinder krankmachen und willenlos …

Es sind nur Bruchstücke von Verschwörungstheorien, aber sie reichen aus, um ihn in Aufregung zu versetzen. Kaum hat er einen Gedanken gefasst, wird der schon vom nächsten verdrängt. Diese seine Welt ist voller Gefahren, zu viele, um sie gedanklich zu ordnen. Alles hängt zusammen. Die Welt hat sich verschworen. «Du verstehst das schon, oder?»

«Ich glaube schon», antworte ich. Das Gefühl, überwacht zu werden, ausgebeutet, verfolgt, das kennt man. Mehr oder weniger. Zumindest abstrakt. Aber der Österreicher wacht jeden einzelnen Morgen mit diesen Überzeugungen auf. Er hat sich in seinem Albtraum eingerichtet, hat ihn zur Realität werden lassen. Er quasselt weiter, immer noch und immer schneller, ganz so, als wolle er so dieses albtraumhafte System aus seinem Schädel bekommen. Aber er schafft es nicht.

Der Österreicher hat Kafka im Kopf.

Irgendwann stoppt er. Schaut mich wieder an, so wie oben im Patientenzimmer, und umarmt mich. Fest und herzlich.

«Es ist gut, dass du da bist. Wir müssen an der Vision arbeiten, dann wird das alles gut.»

Er löst die Umarmung und lächelt sein liebenswürdiges Lächeln. Er wirkt optimistisch.

Die Prinzessin

Den Großteil der Tage verbringe ich damit, den gläsernen Vorbau des verlotterten Südflügels auf Vordermann zu bringen. An meiner Seite ein Mädchen, Anfang zwanzig vielleicht, die mit großer Euphorie und Wischmopp zur Sache geht, und ein älterer Herr, der sorgfältig Quadratzentimeter um Quadratzentimeter des Treppengeländers poliert.

Das Mädchen ist erst vor drei Wochen ins Königreich immigriert, um bei ihrem Freund zu sein. Sie ist nicht mit irgendwem zusammen, sondern mit dem Vizekönig, Freiherr Martin von Schulz, der Nummer zwei im Staat. Die beiden haben sich auf einem Homöopathieseminar kennen- und lieben gelernt, und wer träumt nicht davon, in ein Königshaus einzuheiraten? Also packte sie ihre Koffer und bezog eines der creme-, minz- oder pfirsichfarbenen Patientenzimmer.

«Du bist also quasi von Adel. Die Prinzessin des Königreichs!»

«So ein Quatsch!», lacht sie und grinst bis über beide Ohren.

Die Prinzessin mag es hier. Sie mag die Spiritualität. Sie mag die Gemeinschaft. Sie mag den streng geregelten Tagesablauf: Für die 24 ansässigen Untertanen ist es eine ganze Menge Arbeit, das Gelände instand zu halten, aber sie macht es gerne. Irgendwann will sie hier im Reich ein Yogazentrum oder ein Café aufmachen. Oder ein Yogazentrum mit angeschlossenem Café. Mit italienischem Kaffee! Das Wort italienisch gefällt ihr besonders gut, sie sagt es oft und lässt es über ihre Zunge gleiten wie warmen Milchschaum.

Der Herr, der mit unsagbarer Bedacht- und Langsamkeit am Treppengeländer beschäftigt ist, heißt Arjun. Früher hieß er Uwe. Er spricht mit sanfter Stimme, trägt eine dünnrandige Brille und eine unauffällige Steppjacke. Sanft, dünn, unauffällig. Für spirituelle Menschen ist das Königreich ein wichtiger Ort, sagt er. Ein Guru legte es ihm auf einem Esoterikseminar ans Herz. Wie oft er mittlerweile hier gewesen ist, kann er nicht mehr sagen. Er fährt, wann immer er das Geld beisammenhat. Nur im Winter nicht. «Die heizen hier sehr wenig», flüstert er mir zu, «das geht nicht mit meinem Rücken.» Arjun ist siebzig Jahre alt, man sieht es ihm nicht an. Er lebt aber auch sehr gesund. Seit einer Woche ernährt er sich ausschließlich von Fruchtsaft und Meditation.

 

Ich stehe auf einer Leiter und schabe die Schichten verkrusteter Vogelscheiße vom Dach. Die Prinzessin redet viel und gerne, und bald schon sagt sie etwas, das mich sehr überrascht, obwohl ich es schon wusste: Das Königreich liegt im Sterben. Ganz so hart sagt sie es natürlich nicht, aber sie weiß, dass das Gelände nie ganz abbezahlt wurde und dass «die verbrecherischen Abwickler» nun das ganze Reich weiterverkaufen wollen. In fröhlicher Gleichmütigkeit sprudelt es aus ihr heraus, während Arjun sich vor Schock am Geländer festkrallen muss.

Sie zuckt mit den Schultern und fegt das Schmutzwasser die Stufen herab. Im schlimmsten Fall würde man einen noch besseren Ort finden. Aber so ein Projekt wie das Königreich werde so schnell nicht verschwinden, «egal wie brutal die Kräfte gegen uns vorgehen! Hier ist so eine superpositive Energie und ein superschönes Gemeinschaftsgefühl, und Geld ist hier superegal», findet die Prinzessin. «Das ist völlig einzigartig!» Ich überlege kurz, ob ich ihr von Hippiekommunen erzählen soll, Wagenburgen, Ökodörfern, Hausbesetzern, Aussteigerkolonien oder Kibbuzim. Ich lass es bleiben. Sie würde eh nicht gehen. Und was wäre schon ein Königreich ohne Prinzessin?

Arjun kennt die Schikanen des Establishments noch von früher. In den Achtzigerjahren war er Teil der Bhagwan-Bewegung, lebte mit Hunderten Gleichgesinnten in einem Berliner Mietshaus und studierte die Worte von Meister Osho.

«‹Jugendsekte› haben die uns damals genannt. Die Deutschen hassen alles, was sie nicht verstehen. Das war auch nichts anderes, als was sie jetzt mit Peter machen.»

Er sagt das ganz sachte, wie alles ganz sachte ist, was er sagt und tut. Als sich die Kommune auflöste, zog Arjun in ein Meditationszentrum. Ein Leben ohne spirituelle Gemeinschaft war für ihn nicht mehr möglich. Im Zentrum schaute er nach dem Rechten und kochte gelegentlich. Und er hatte Atma, seinen kleinen grauen Kater. Jetzt gibt es auch das Meditationszentrum nicht mehr. Arjun lebt nun in der Stadt von ein paar hundert Euro Grundsicherung. Den Kater musste er zurücklassen. Seine Wohnung ist nicht groß genug für einen alten Mann und eine Katze.

Arjun ist nicht wütend, hat auch kein Problem mit dem Staat, so wie er mit niemandem ein Problem hat: «Die Welt ist doch nur ein Traum, und alles wird irgendwann lange her sein.» Manchmal fährt er mit dem Bus raus zum ehemaligen Meditationszentrum, dann sitzt er da und streichelt Atma. Vielleicht wird er das ja auch noch dürfen, wenn die neuen Mieter kommen. Und wenn Peter dann auch wieder freigelassen wird, sagt er, dann wäre er völlig zufrieden. Er beguckt sich das Treppengeländer und beginnt den nächsten Quadratzentimeter zu putzen. Ich schau ihm dabei zu, frage mich, ob hinter der sanften Tristesse womöglich wirklich so was wie Glück steckt.