Die Reise nach Alzheim - Andrea Schatz - E-Book

Die Reise nach Alzheim E-Book

Andrea Schatz

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Beschreibung

Ein Weg gegen das Vergessen ist das Schreiben. Die Erzählungen in diesem Band bilden einen Ausschnitt aus den unzähligen Möglichkeiten, die uns die menschliche Vorstellungskraft für den Umgang mit dem Leben und gegen die Leere bietet.In drei Kapiteln geht es um Freud und Leid der Protagonisten, die ihr Spiel mit unserer Fantasie treiben. Ereignisse denken nicht daran, vergessen zu werden, sonnen sich lieber in der späten Aufmerksamkeit der Gefühle. Das Leben bricht sich Bahn, bis es nach und nach vom Brausewind zum Lüftchen wird und verweht.Da ist der geheimnisvolle Besucher im Garten. Ein Liebesbrief deckt eine Offenbarung auf. Die Kollegin wird unverhofft zur Piratenbraut, eine Taube philosophiert, ja sogar der Dichter Rilke taucht auf … Erdachtes wird zu Erlebtem in der Unschuld der jungen Frau, dem trotzigen Jungen und dem Bericht eines Toten. Das Alter blinzelt bereits am Horizont, spielt mit Krankheit und Erinnerung, stimmt uns nachdenklich, weil das Ende der Reise unweigerlich bevorsteht.

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Seitenzahl: 181

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Andrea Schatz

Die Reise nach Alzheim

Erzählungen

Imprint

Texte: © Copyright by Andrea Schatz 2023

Umschlag: © Copyright by Andrea Schatz 2023

Verlag: Andrea Schatz im Selbstverlag

[email protected]

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, BerlinPrinted in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In drei Kapiteln geht es um Freud und Leid der Protagonisten, die ihr Spiel mit unserer Fantasie treiben. Ereignisse denken nicht daran, vergessen zu werden, sonnen sich lieber in der späten Aufmerksamkeit der Gefühle. Das Leben bricht sich Bahn, bis es nach und nach vom Brausewind zum Lüftchen wird und verweht.

Da ist der geheimnisvolle Besucher im Garten. Ein Liebesbrief deckt eine Offenbarung auf. Die Kollegin wird unverhofft zur Piratenbraut, eine Taube philosophiert, ja sogar der Dichter Rilke taucht auf … Erdachtes wird zu Erlebtem in der Unschuld der jungen Frau, dem trotzigen Jungen und dem Bericht eines Toten. Das Alter blinzelt bereits am Horizont, spielt mit Krankheit und Erinnerung, stimmt uns nachdenklich, weil das Ende der Reise unweigerlich bevorsteht.

Erfundenes

Womit man sich ablenkt

Die Geheimniskrämerin

Marie wusste, wer der Holzdieb war. Sie kannte ihn mit Namen. Im Dorf wurde viel darüber spekuliert, wer den Diebstahl begangen haben könnte. An den Stammtischen wurden wüste Verdächtigungen ausgesprochen und wieder verworfen. Rauchende Kamine konnten nicht länger ignoriert werden. Der Dorfpolizist, auf den Stand der Dinge angesprochen, zog wichtigtuerisch die Augenbrauen in die Höhe und gab keine Antwort. Das gefiel den Leuten nicht. Durch seine Geheimnistuerei geriet er sogar kurzfristig selbst in Verdacht. Mit der Zeit ebbten die Diskussionen jedoch ab und das Leben nahm seine gewohnte, ruhigere Gangart wieder auf. Der Frühling kam.

Der Holzdieb führte ein unauffälliges Leben. Er verkehrte nicht in den Gasthöfen, es sei denn zu Familienfeiern, derer es nicht allzu viele gab. Marie wunderte sich. Niemandem war sein verschlagener Blick aufgefallen, mit dem er um sich sah, sobald er sein Scheunentor öffnete oder schloss. Kein Mensch hatte die Reifenspuren beachtet, die am Tage der Tat in seinen Hof geführt hatten. Einmal versuchte sie, den Dorfpolizisten mit dem Hinweis auf die vielen verstreuten Sägespäne in die Straße zu lotsen, doch der hatte nur unwirsch den Kopf geschüttelt und sie stehenlassen.

Marie wich dem Holzdieb wann immer möglich aus. Sie fürchtete, dass er wusste, dass sie ihn auf frischer Tat ertappt hatte. Zwar lag ihr Versteck gut geschützt in einem wilden Dickicht, weil sie aber versehentlich auf einen Zweig getreten war, hatte er sehr lange in ihre Richtung geschaut, so dass ihr ganz mulmig wurde, bis er endlich sein Diebesgut abdeckte und im Anhänger wegtransportierte. Das heiße Gefühl seines bohrenden Blickes auf ihrem Gesicht ließ sie noch eine Zeitlang unbewegt im Versteck verharren, ehe sie sich heraus traute. Seither fürchtete sie ihn. Der Grund, warum sie niemandem von ihrer Beobachtung erzählte, war einerseits die Überzeugung, man würde ihr nicht glauben, denn der Mann verfügte über einen guten Ruf. Zum anderen lag ihr sehr daran, ihr Versteck nicht offenbaren zu müssen, denn es enthielt die gesammelten Schätze ihrer geheimen Streifzüge durch Wald und Flur. Man würde ihr umgehend verbieten, durch die Landschaft zu strolchen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. So hatte sich Marie entschieden zu schweigen. Sie sagte sich, dass es sich nur um Holz handle und nicht um einen Raub oder gar einen Mord. Der Wert des Diebesguts hielt sich ebenfalls in Grenzen, die Leute regten sich hauptsächlich wegen der Unverfrorenheit, der Unehrenhaftigkeit des Täters auf, denn er hätte das Holz problemlos zu einem günstigen Preis käuflich erwerben können. Da es sich nicht um eine arme Familie handelte, empörte sich Marie insgeheim mit den anderen. Doch sie schwieg, denn sobald sie sich die Szene im Wald in Erinnerung rief, durchfuhr sie die Angst vor dem durchdringenden Blick erneut. Niemals würde jemand ein Sterbenswörtchen von ihr erfahren, schwor sie sich, nicht einmal unter Folter. Es dauerte lange, bis Marie den Vorfall vergaß.

Der Sommer kam mit all seinen Möglichkeiten, die sich einem Kind auf dem Land bieten. Bevor alle Spiele gespielt und alle Abenteuer überstanden waren, stand das neue Schuljahr vor der Tür. Unbeschwerte Kindheit wurde in die bereits gewohnte Struktur eingepresst. Es wurde Herbst. In den Häusern wurden bereits die ersten Kaminfeuer entfacht, die Witterung zog die Menschen vom Freien an den warmen Herd. Als Marie eines Mittags von der Schule heimkehrte, fand sie den Vater über den Kaminofen gebeugt vor, Holzscheite aus dem Keller in den bereitstehenden Weidenkorb schichtend. An den Türrahmen gelehnt blieb sie stehen und beobachtete ihn dabei, wie er die Ofentür öffnete und ein großes Scheit hineinwarf. In dem Moment, als die Erinnerung sich ihrer bemächtigte, drehte sich der Vater um und bohrte seine Augen direkt in die ihren. Marie erstarrte. Nun stand fest, dass der Holzdieb sie damals eindeutig erkannt hatte.

Federn

Auf dem Dach unseres Carports liegt eine tote Meise. Zuerst fiel mir nur ein ungewöhnlicher Farbklecks in den Augenwinkel, auffällig auf dem rostroten Wellblechdach, dann erkannte ich mit Bedauern, dass es sich um eine Blaumeise handelt. Wie verletzlich sie da liegt. Eine Windbö spielt in ihren zarten Federn, und Fetzen von Schneeflocken bleiben darin hängen. Ein trauriger Anblick. Was ihr wohl passiert ist? Sie könnte gegen die Scheibe geflogen sein, oder eine der Katzen, die seit Tagen um das Vogelfutterhäuschen im Garten schleichen, hat sie gefangen. Der blau-gelb gefiederte Klecks auf dem roten Dach hat etwas Makabres an sich und stimmt mich traurig. Wir legen den Vogel auf einige Blätter unseres Komposthaufens.

Während der Protagonist in Sartres Novelle „Le Mur“ auf seine Erschießung wartet, fällt mir der Anblick des kleinen Vogels wieder ein. Beider Mühe um Gestaltung und Erhalt ihres Lebens scheint vor der rechten Zeit beendet. Wozu sich darum sorgen und auf längere Sicht planen, wo unsere Verweildauer auf dieser Erde doch so unvorhersehbar ist? Weil wir nicht anders können. Eine gewisse Erleichterung schwappt mir wie eine leichte Welle entgegen. Nur gut, dass nicht alles vorhersehbar ist. Der Vogel hatte es immerhin besser als der zum Tode Verurteilte. Dieser beobachtet in der langen kalten Nacht die Veränderungen, die mit ihm vorgehen. Teilweise spürt er seinen Körper nicht mehr, so dass er nicht eigentlich friert, obwohl er nass in Lumpen in der Kälte ausharren muss. Er sieht zu, wie sein Leidensgenosse innerhalb der wenigen verbleibenden Stunden grau und alt wird, er weiß, dass ihm genau jetzt dasselbe geschieht, er schwitzt und uriniert unbewusst und kann das Eine, Endgültige nicht greifen. Dieser letzte Gedanke entgleitet ihm. Seine übrigen Gedanken sind ihm gleichgültig, es spielt keine Rolle mehr, ob er verliebt war und Pläne hatte oder ein schönes Leben. Abgetrennt vom Leben und unausweichlich in wenigen Stunden ausgelöscht, kann er nicht mehr nachvollziehen, wie ihn die schönen Augen seiner Gefährtin verzaubert haben oder welche Gefühle ihm innewohnten, im Leben, das jetzt das Leben der anderen ist. Die Erinnerung ist bedeutungslos; vor wenigen Tagen war sie ihm alles. Selbst die Gegenstände lösen sich auf … er erkennt fast nur noch die Umrisse und weiß, dass auch diese letzten Zeugen der materiellen Welt seine Wahrnehmung nicht täuschen, sondern sie im Gegenteil extrem geschärft haben, während sie ihm gleichgültig werden, sowie sie verblassen.

Wer würde – vor die Wahl gestellt – nicht lieber das Schicksal der Meise teilen?

Besuch

Kein Lufthauch bewegte sich unter der glühenden Sonne. Einen so heißen Sommer hatte es lange nicht mehr gegeben. Die ganze Atmosphäre schien unbeweglich zu verharren; schwer drückte die Hitze auf alles, was keinen Schatten fand.

Eine Gruppe Obstbäume des kleinen Gartens, der zu einem unauffällig gebauten Haus gehörte, bot ein wenig Schutz für die kleinen Tiere dieser Erde. Am Vormittag hatten sich Meisen, Rotschwänzchen und allerlei Insekten in einer am Kirschbaum befestigten Vogeltränke erfrischt oder darin gebadet und sich herausgeputzt. Amseln und Spatzen hatten von den verdorrenden Beeren der Sträucher genascht. Jetzt aber, zur heißesten Mittagszeit, war im Garten kein Leben zu spüren. Die Terrassentür des Hauses war verschlossen. Entweder war niemand zu Hause, oder die Bewohner hatten sich zurückgezogen, um erst am Abend wieder herauszukommen, wenn die Temperatur wieder erträglicher war. Natur und Mensch warteten auf den Regen.

Inmitten dieser bleiernen Leblosigkeit begann der alte Sauerkirschbaum plötzlich silbern zu flimmern, wie wenn die Sonne nach einem Regenguss in die noch tropfnassen Blätter scheint. Wäre es nicht absolut windstill gewesen, so hätte man meinen können, ein unerwarteter Windstoß ließe die Blätter schimmernd erzittern. Es bewegte sich jedoch kein Blatt. Nun begann es auch entlang des Baumstammes zu funkeln und zu glitzern, ähnlich einem mit Lametta geschmückten Weihnachtsbaum. Die seltsame Erscheinung hätte, wäre sie von jemandem beobachtet worden, großes Erstaunen hervorgerufen. So aber gab es keinen Menschen, der ihretwegen ins Grübeln kam.

Nach etwa einer Minute veränderte sich das rätselhafte Bild. Anstatt in die vorherige Nichtexistenz zurückzukehren, nahm es den Umriss einer menschlichen Gestalt an, und erkennbar wurde die Figur eines hochgewachsenen Menschen mit silberner Silhouette. Ein offensichtlich sehr alter Mann trat einen Schritt aus dem Schatten heraus. Er stand aufrecht und stützte sich dabei auf einen hölzernen Stock. Seine Kleidung war abgenutzt, jedoch intakt und in Braun- und Beigetönen gehalten. Sein spärliches silbergraues Haar war schwungvoll nach hinten gelegt, als wäre es soeben erst gekämmt worden. Die silberne Silhouette war jetzt nicht mehr zu sehen.

Das Gesicht des Greises war zerfurcht, aber nicht hager; seine Haut ähnelte einem wächsernen Elfenbeinton, wie er bei lange Zeit Bettlägerigen aussehen mochte. Der Mann sah sich um. Weder besondere Neugier noch Vorsicht zeigten sich auf seinem Gesicht. Vielmehr schien er sich auf diesem Flecken Erde auszukennen, denn er begann sicheren, wenn auch langsamen Schrittes im Garten umherzugehen, als wolle er nach dem Rechten sehen. Mit seinem Stock klopfte er auf einzelne Pflastersteine der vermoosten Gartenwege und hob hie und da ein Blatt oder einen Ast in die Höhe. Dem Haus näherte er sich nicht, wenn er auch ab und an still hinüberschaute. Er umrundete einen vor einem halben Jahrhundert gepflanzten Nadelbaum und nahm schließlich auf der ausgeblichenen hölzernen Sitzfläche einer gusseisernen Gartenbank Platz. Die Patina des Holzes ähnelte seinem Haar und dem geheimnisvollen Glitzern des Kirschbaums.

Lange Zeit saß der Alte im Schatten und sah vor sich hin, wie tief in Gedanken versunken. Jeder Beobachter hätte geschworen, dass er ganz hierher gehörte, diesen Ort kannte und ein Teil davon war. Doch wer hätte diesen Vorgang begreifen können? Ein leichtes Rascheln von Blättern zeigte an, dass Wind aufgekommen war. Die Brise schien den Greis weder zu erfrischen noch zu beeindrucken, doch einen Augenblick später stand er langsam auf und schritt zum Kirschbaum zurück. Sein Blick schweifte noch einmal durch den Garten und zum Hause hin. Dann stellte er sich vor den Baumstamm und blickte mit leicht nach oben geneigtem Kopf vor sich hin wie ein Wartender, der gleich abgeholt wird. Das Rascheln der Blätter legte sich, und kurz darauf wurden die Umrisse des Besuchers undeutlich, lösten sich auf und gingen in ein silbernes Glitzern über, das von den Blättern des Sauerkirschbaumes wie Regentropfen aufgenommen wurde und flimmernd wie eine Fata Morgana verging.

Passionsbrief

Im Frühjahr des Jahres X reiste ich nach Dresden. Schnell war ich verzaubert von der schönen Stadt an der Elbe mit ihrer Architektur, ihren Kunstschätzen und kulturellen Möglichkeiten. Als ich nach einigen Tagen auch die quicklebendige Neustadt und zahlreiche Biergärten voll freundlicher Menschen kennengelernt hatte, blieb mir noch Zeit, mich entlang der Elbe ein wenig treiben zu lassen. Ich stieß auf eine Ansammlung von Menschen inmitten von Ständen und kleineren Zelten und erkannte, dass ich auf einem Flohmarkt angekommen war. Lustvoll machte ich mich daran, diesen zu durchstöbern, und freute mich über den einen oder anderen Fund, bis ich müde, aber glücklich mit meinen Schätzen beladen ins Hotel zurückkehrte.

Meine Abreise war für den nächsten Tag geplant, und so begann ich, die nicht mehr benötigten Kleidungsstücke etc. gleich einzupacken. Ich habe die Angewohnheit, neu Erworbenes immer noch einmal in die Hände zu nehmen, um die Schätze zufrieden zu betrachten, bevor sie den ihnen zugewiesenen Platz einnehmen. So freute ich mich auch in meinem Hotelzimmer an meinen Einkäufen, seien es im Museum erworbene Kunstbände, Ansichtskarten, Mitbringsel oder Flohmarktkuriositäten. Besondere Freude hatte ich an einem Buch mit Novellen von Maupassant, das noch in der ehemaligen DDR gedruckt worden und in gutem Zustand war. Solch wertvolle Werke zu günstigen Preisen findet man nur auf Flohmärkten. Der diesen Büchern eigene Charakter ist unbezahlbar, bedenkt man ihren „Werdegang“, ihre Ausstattung, Beschaffenheit, Haptik etc. Oft enthalten sie eine persönliche Widmung an den einstigen Empfänger, persönliche Notizen an den Seitenrändern, schöne Abbildungen oder alte Stiche. Impressum und eventuell noch vorhandener Schutzumschlag informieren nicht nur über die Drucklegung und den Inhalt oder Autor, sondern tun dies auf interessante Art in der Sprache früherer Zeiten; manchmal findet sich ein ex libris, ein vergilbter Zeitungsausschnitt oder ein Lesezeichen darin.

So war ich nicht erstaunt, als beim Durchblättern der Seiten etwas aus dem Buch flatterte und auf meinem Schoß landete. Erstaunt war ich allerdings, als ich sah, dass es sich um einen verschlossenen Umschlag handelte. Er war cremefarben, nur an den Rändern leicht verblichen und mit einer aufgeklebten roten Rose, wie man sie als vorgefertigte Abziehbilder für Poesiealben kennt, verziert. Meine Neugier war schneller entfacht als ich denken konnte. Dennoch zügelte ich den unwiderstehlichen Drang, den Umschlag sofort zu öffnen. Da es sich höchstwahrscheinlich um etwas sehr Persönliches handelte, musste ich Respekt walten lassen und durfte die Botschaft und deren Geheimnis nicht rücksichtslos entweihen. Auch wäre die Befriedigung eines simplen Anfalls von Neugier meiner Freude am Erwerb der Literatur nicht würdig. So legte ich Buch und Umschlag beiseite, um beides später, nach Erledigung der Rückreisevorbereitungen und einem guten Abendessen, in aller Ruhe zu betrachten.

Früh am Abend kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich blätterte noch einmal durch die Kapitel des Buches und griff dann, fast übertrieben vorsichtig, nach dem Briefumschlag, strich über die aufgeklebte Rose und öffnete ihn vorsichtig. Ein einzelnes, einmal gefaltetes Blatt kam zum Vorschein. Ich zog es heraus. Es trug das Datum des XX. November 19XX. Eine enge, steil geschwungene Handschrift begrüßte mich in regelmäßigen, geraden Zeilen:

„Geliebter P.,

dies sind die letzten Worte, die ich an Dich richten kann, denn ich muss fort. Meine Seele weint; ich weine, denn diese Zeilen sind unwiderruflich und endgültig. Verzeihe mir meine Worte. Du sollst wissen, dass ich nie einem Menschen so sehr vertraut habe wie Dir. Unsere zart erblühende Zuneigung und Liebe hat uns vor vielen Jahren zusammengeführt. Wie alle jungen Menschen waren wir uns unserer Liebe sicher und hatten unsere gemeinsame Zukunft fest im Blick. Durch viele glückliche Jahre hat uns unsere Überzeugung und Sicherheit geführt, und ich hätte mir kein anderes als unser gemeinsam gelebtes Leben gewünscht, denn ein besseres gibt es nicht. Vieles haben wir zusammen erreicht und verwirklicht, auf schönen Reisen glücklich unsere Freiheit genossen. Auch anstrengende und schwierige Zeiten haben wir überstanden, weil wir uns blind aufeinander verlassen konnten. Warum schreibe ich Dir also, wo all dies doch wahr und richtig ist?

Es gibt etwas, das mir bereits zu Beginn unserer gemeinsamen Reise bewusst wurde. Auch habe ich es Dir gegenüber einmal erwähnt, allerdings nicht gleich zu Beginn unserer Beziehung, sondern erst nachdem wir uns bereits mehrere Jahre kannten. Ich glaube heute, dass du es damals gar nicht bemerkt oder überhaupt aufgenommen hast. Zuerst dachte ich ja selbst, es sei nicht von Bedeutung, da doch alles so gut und für uns beide stimmig war. Und dies ist auch der Grund, warum ich Dir jetzt davon berichten kann, ja muss, weil ich mir darüber keine Vorwürfe machen darf.

In jedem Menschen stecken ja viele unterschiedliche Eigenschaften, und wenn der große Teil davon in Übereinstimmung mit dem jeweiligen Lebensweg und Partner steht oder wenn man eine dieser Eigenschaften nicht zu wichtig nimmt, ist alles gut. Wenn aber der Mensch erkennt, dass eine Ahnung tief in seinem Innern sitzt, die er auf Dauer nicht unterdrücken kann, wird die Ahnung zur Wahrheit und beharrt eines Tages auf ihr Recht. Ein Mensch wird unglücklich, zumindest teilweise, wenn er ihm wichtige Überzeugungen oder Neigungen nicht ausleben kann. Ich meine wohlgemerkt keine kriminellen oder gar unethische, ganz boshafte Neigungen. Ein noch so glückliches Umfeld hält keiner subjektiven gefühlsmäßigen Prüfung stand, wenn es sich um etwas von elementarer Wichtigkeit für diesen Menschen handelt. Was will ich dir mitteilen? Ich spreche von der Leidenschaft. Nicht von jener unserer ersten Jahre, sondern von der tiefen, niemals vergehenden, notfalls bis zum bitteren Ende führenden Leidenschaft. Diese spüre ich seit vielen Jahren tief in meinem Herzen, doch wir haben sie nie geteilt. Bei der Lektüre, in der Musik, in manchem Gespräch habe ich sie immer wieder gespürt: erst ansatzweise, mit der späteren Erkenntnis ganz und gar. Ich weiß, wozu ich fähig bin. Ich bin bereit, für diese Leidenschaft alles andere aufzugeben und notfalls den höchsten Preis dafür zu bezahlen. Denn ich habe nur dieses eine Leben, und ich würde stets das Gefühl haben, nicht wirklich gelebt und mich selbst darum betrogen zu haben, nicht ganz Teil der Schöpfung zu sein, wenn ich jetzt, nachdem mir alles klar ist, weiterlebe wie bisher. Dieses Gefühl, dieses Wissen, trage ich seit langer Zeit in mir und kann und will es nicht weiter verdrängen. Ich habe jemanden kennengelernt. Sie wird diesen Weg mit mir gehen. Was auch immer daraus wird, es gibt für mich nur diesen Weg.

Bitte hasse mich nicht dafür. Behalte das Gute an mir in Deiner Erinnerung, verurteile und vergesse mich nicht. Du bist die Liebe meines Lebens.

Deine L.“

Perspektivenwechsel

Nach zähen Regentagen zeigte sich endlich wieder einmal die Sonne am Horizont, und als es nach einem kühlen Morgen im Laufe des Vormittags sommerlich warm wurde, beschloss ich, den Rest des Tages im Freien zu verbringen. Es war Freibadwetter, und meine Freundinnen erwarteten mich bereits an der großen Linde, unserem üblichen Treffpunkt. Nach einer Weile wurde mir das ununterbrochene Plätschern und Gurren unserer Unterhaltung zu anstrengend und ich zog mich zurück, um eine Weile ganz für mich allein zu sein. Leise entschwand ich durch eine kleine Pforte und gelangte an einen ruhig gelegenen Ort, ein ruhiges Plätzchen im Schatten, wo ich mich gerne niederließ. Hier ließ es sich wunderbar vor sich hinträumen und nebenbei die Menschen beobachten. Ein kurzer Blick in die Runde genügte und ich räkelte ein wenig herum, bis ich eine komfortable Stellung gefunden hatte, in der ich verharrte. Nun konnte ich meine Umgebung in aller Ruhe studieren und, sollte ich müde werden, ein wenig vor mich hindösen. Erst nach und nach nahm ich auf, was um mich herum vor sich ging. Ich befand mich unter einer recht kleinen Ansammlung von Menschen, die aktiver waren als ich. Einige von ihnen hoben Gewichte in ruhigen, regelmäßigen Bewegungen, andere drehten und wendeten sich, und das Ganze wurde ständig wiederholt. Wieder andere bewegten sich in gleichmäßigen Schritten auf derselben Stelle. Verrückte Typen! Bei dieser Hitze … sie schwitzten ziemlich, doch alle miteinander schienen sie zufrieden in ihrem Tun, trotz ihres teilweise angestrengten Gesichtsausdrucks. Zum Glück vergaßen sie nicht zu pausieren, denn immer wieder gingen sie aufeinander zu und unterhielten sich und lachten. Ich fühlte mich wohl in dieser Gesellschaft, auch wenn ich selbst keinerlei Anstalten machte, aktiv zu werden, sondern mich als den ruhenden Pol am Rande der Gruppe betrachtete. Glücklich und zufrieden, wie ich war, dauerte es nicht lange, bis ich schläfrig wurde. Ich war schon fast eingeschlafen, als es PLATSCH machte und ich aus meinen Tagträumen hochfuhr. Einer dieser Typen hatte ein Handtuch nach mir geworfen! Was ging da vor sich? Alle starrten mich an. War etwas nicht in Ordnung mit mir? Ein prüfender Blick auf meinen Körper sagte: Alles okay. Ich überlegte kurz, ob ich die Augen wieder schließen sollte, doch eine leichte Gänsehaut – ob vom Halbschatten oder vom Schreck, kann ich nicht sagen – veranlasste mich, meinen Standort zwei, drei Meter weiter weg in geschütztes Terrain zu verlegen. Ich konzentrierte mich wieder auf meine begonnene Meditation, doch mit der Ruhe war es nun vorbei. Plötzlich ertönte laute Musik, und schnell erkannte ich die Melodie meines Lieblingsliedes. Falls die mich loshaben wollten, hatten sie also falsch gewettet, denn ich krächzte das fröhliche Gurru-gurru-gurru der Musikband mit und bewegte meinen Kopf im Takt. Die Gruppe um mich herum schien etwas ratlos, aber was sollte ich erst sagen? Ich hatte keine Ahnung, was sie von mir wollten, sie beobachteten mich weiterhin, sagten aber nichts. Die Musik wurde lauter, aber diesmal klang sie nicht mehr schön. Ich sah mich um und sehnte mich plötzlich sehr nach meinen lebhaften Freundinnen. Am besten machte ich mich wieder auf den Weg zu ihnen. Jemand bemerkte, dass ich mich schon ziemlich lange hier unter ihnen befinden musste. Das hörte sich nach verbotener Zone an. Ein anderer wollte wissen, wie lange genau. Ein Dritter zuckte mit den Achseln. Ich war verwirrt von diesem Geplänkel und sah mich nach dem Ausgang um. Leider konnte ich die kleine Pforte, durch die ich hier hereingekommen war, nicht gleich finden, agierte daher hektischer als es sonst meine Art ist, und es dauerte geraume Zeit, bis ich den Weg in die Freiheit entdeckte. Erleichtert bewegte ich mich darauf zu und vernahm, während ich diesen Ort verließ, im Hintergrund Gejohle. Den Nachmittag hatte ich mir anders vorgestellt, aber immerhin konnte ich nun bei meinen Freundinnen mit einer interessanten Story aufwarten. Auf deren Frage, wo ich denn so lange gewesen sei, antwortete ich lässig, ich hätte zwei Stunden an einem höchst seltsamen Ort mit einer noch seltsameren Art von Menschen verbracht … das klang beeindruckend, die Neugier war geweckt und ich erzählte ihnen von meinem seltsamen Erlebnis.